Hector Guimard in Paris (2):  Die  Synagoge in der rue Pavée (4. Arrondissement) und das Grabmal  auf dem Père Lachaise (20. Arrondissement)

Es gibt auf diesem Blog schon einen  Beitrag über die Bauten Hector Guimards im 16. Arrondissement von Paris (Hector Guimard: Jugendstil in Paris. Eingestellt Februar 2018).  In dem nachfolgenden Beitrag wird nun eine außergewöhnliche und einzigartige Arbeit des Architekten vorgestellt, die etwas aus dem Rahmen der sonstigen von ihm entworfenen Bauten fällt, nämlich die Synagoge in der rue Pavée im Marais, immerhin  die weltweit bekannteste Pariser Synagoge.[1] Dazu  wird ein Blick auf  ein von ihm entworfenes Grabmal auf dem Friedhof Père Lachaise geworfen, einen Höhepunkt des Art nouveau. Damit soll das Bild der Jugendstil-Arbeiten Guimards in Paris abgerundet werden.

Die Synagoge in der rue Pavée

Das Marais (3. und 4. Arrondissement)  gilt gemeinhin als DAS jüdische Viertel von Paris und die berühmte  Rue des Rosiers  in seiner Mitte steht –laut Wikipedia- „sinnbildlich für die jüdische Gemeinde von Paris“.[2] In der Tat gibt es dort auf engem Raum eine ganze Reihe jüdischer Geschäfte, Lebensmittelläden, Bäckereien, in denen man z.B. Mohnstriezel, Apfelstrudel oder Käsekuchen kaufen kann, Buchhandlungen, Restaurants, die lautstark ihre Falafel anpreisen, das wunderbare  Café des Psaumes und Vieles mehr, was die jüdische Präsenz sichtbar macht. Und  in der Nähe  befindet sich das jüdische Museum von Paris (musée d’art et d’histoire du Judaïsme), das Mémorial de la Shoah und –nicht zuletzt- die wunderbare Synagoge Hector Guimards.

Die verbreitete Vorstellung vom Marais als DEM jüdischen Viertel von Paris hat also seine guten Gründe, beruht aber auch auf einem Mythos, der sich allmählich entwickelt hat. Es gab im Marais zwar schon im Mittelalter eine Ansiedlung von Juden, die aber mit ihrer  Vertreibung aus Frankreich im Jahr 1394 gewaltsam beendet wurde. Im 18. Jahrhundert waren es dann vor allem Juden aus dem Elsass und aus Lothringen, die sich im Marais niederließen, das damals schon seine besten –aristokratischen- Zeiten hinter sich hatte und zu einem dicht bevölkerten, handwerklich geprägten Viertel geworden war. Nach einer zur Zeit Napoleons erstmals erstellten Statistik lebten 1808 immerhin 82% der Pariser Juden im Marais. Dabei handelte es sich nicht um ein Ghetto, sondern die Juden suchten aus verständlichen sozialen, religiösen und landsmannschaftlichen Gründen Nähe und Gemeinschaft- so wie ja auch viele andere Gruppen von Einwanderern nach ihnen. Ganz anders dann das Bild Mitte des 20. Jahrhunderts am Vorabend der Shoah. Ein von der association L’enfant et la Shoah (Yad Layeled France) erstelltes Schaubild zeigt, dass vor dem  Beginn der großes Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen der mit Abstand größte Anteil der in Paris lebenden Juden im 11. Arrondissement wohnte, während das Marais mit dem  3. und 4. Arrondissement in dieser Hinsicht eine eher bescheidene Rolle spielte.[3] Inzwischen hatten sich viele Juden auch in anderen Stadtvierteln niedergelassen, eine nicht unbeträchtliche Anzahl auch im noblen 16. Arrondissement- so wie es ja auch in Deutschland nach Aufhebung der Ghettos entsprechende Wanderungsbewegungen gab: In Frankfurt am Main zum Beispiel die Ansiedlung von Juden im noblen Westend, während im früheren Ghetto im Ostend eher arme und orthodoxe Juden verblieben.

DSC02356 Shoah jüd. Kinder 11. Arrondissement (13)

Auch im Marais waren es vor allem arme und orthodoxe Juden, die sich dort niederließen und seinen Ruf als jüdisches Viertel erneuerten und festigten: Um 1850 kamen polnische Juden, gefolgt von einer großen Einwanderungswelle um 1900:  Über 100 000 Juden aus Ost- und Mitteleuropa – Russen, Polen, Rumänen- flohen damals vor Pogromen, zum Beispiel dem Pogrom von Chisinau in Bessarabien im Jahr 1903. Viele fanden im  Marais Zuflucht, wo es schon eine jüdische Tradition gab. Außerdem war das Viertel damals ziemlich heruntergekommen,  die Mieten waren also  günstig und erschwinglich für die meist armen Zuwanderer. Dies war dann die Blütezeit des „Pletzl“, wie es auf yiddisch, der Sprache der zugewanderten Juden, hieß. [4]

Die Juden im Marais benötigten natürlich auch Räume für ihren Gottesdienst. Das  waren im 18. Jahrhundert  heimliche, von außen nicht erkennbare Gebetshäuser (oratoires). Eines davon, das nach der Überlieferung auf das Jahr 1780 zurückgehen soll, existiert noch in der rue des Rosiers Nummer 17. Von der Straße aus ist nicht erkennbar, dass es sich um ein Gebetshaus handelt. Durch das bei Wohnhäusern des Viertels übliche Portal und einen Hof gelangt man über eine alte, enge Treppe in den einfach ausgestatteten Gebetsraum, der heute von den Anhängern des Rabbi Loubavitch genutzt wird, die im jüdischen Viertel sehr präsent sind.[5]  Mit der 1791 in Frankreich erfolgten Judenemanzipation und der Anerkennung  der jüdischen Religion im Jahr 1808  wurde eine  erste staatlich anerkannte Vertretung des Judentums, das Consistoire de Paris, geschaffen. Jetzt war auch der Bau  von großen Synagogen möglich. Die erste entstand 1822 im Marais in der rue Notre-Dame- de-Nazareth, die zweite 1876  in der rue de Tournelles, in der Nähe der place des Vosges. Gleichzeitig war das Consistorium bestrebt, die kleinen, seiner Verwaltung und Kontrolle nicht unterworfenen Gebetshäuser zu schließen. Allerdings fühlten sich die orthodoxen Juden und die jüdischen Neuankömmlinge aus Mittel- und Osteuropa in den „Kathedralen“ des Consistoriums nicht aufgehoben und gründeten neue orthodoxe Gebetshäuser. Angesichts der Einwanderungswelle um 1900 forderten sie, dass ihr (orthodoxer) Rabbiner an die große Synagoge in der rue de Tournelles berufen würde. Das Consistorium lehnte das jedoch ab, „pour conserver la suprématie aux Français“, um also nicht die Vormachtstellung der alteingesessenen französischen Juden, vor allem aus dem Elsass und Lothringen, nicht zu gefährden.[6]

Dies ist der historische Hintergrund für die Entstehung der Synagoge in der rue Pavée. 1911 schlossen sich neun  Organisationen von Juden aus Russland, Polen und Rumänien, die bisher eigene Gebetsräume unterhalten hatten, in der Union Agoudath Hakehilot zusammen, um eine gemeinsame Synagoge zu bauen. Gekauft wurde zu diesem Zweck das Grundstück in der rue Pavée Nummer 10, das zwar sehr ungünstig geschnitten war, dafür aber den entscheidenden Vorteil hatte, mitten im jüdischen Viertel zu liegen. Es gibt mehrere Gründe, die die orthodoxen Juden des Pletzl bewogen haben mochten, die bisherigen kleinen Gebetsräume gegen eine große neue Synagoge zu tauschen. Einmal sollte es sicherlich Ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs sein, den manche Mitglieder der Vereinigung seit ihrer Installierung in Paris z.B. als Diamantenhändler zu verzeichnen hatten. Dieser Zweck wurde mit der Synagoge auch in hohem Maße erreicht. Jedenfalls schrieb 1915, kurz nach der Fertigstellung des Baus etwas spitz ein Kunstkritiker, die Juden im Marais  könnten doch nicht so arm sein, wie man es manchmal denke oder es den Anschein habe.  Immerhin hätten sie in der rue Pavée eine Synagoge gebaut, die für dieses talmudistische Dörfchen  (“petit village talmudiste“)  gewissermaßen wie Notre Dame oder Sacré Cœur sei.[7]

Die Synagoge in der rue Pavée war damit auch ein Ausdruck von Selbstbewusstsein. Immerhin war sie die erste überhaupt, die für Einwanderer aus Osteuropa gebaut wurde.  Ein weiteres Motiv wird aus der in französischer und hebräischer Sprache gehaltenen Einladung deutlich, die der Präsident von Agoudath Hakehilot, Joseph Landau,  zur Grundsteinlegung der Synagoge am 6. April 1913 verschickte:

„Wir werden es nicht mehr nötig haben, in privaten und provisorischen Räumlichkeiten unterzukommen, wohin uns unsere Kinder nicht begleiten wollen, was sie von unserer heiligen Religion entfremdet. Wir werden eine große Synagoge haben, die mit allem modernen Komfort ausgestattet ist.“[8]

Waren die oratoires eher Orte der Rückwärtsgewandtheit und der Abschottung, so sollte die neue Synagoge Ausdruck des Wunsches sein, sich gegenüber der Gegenwart zu öffnen und damit auch für die nachfolgende, stärker in die französische Gesellschaft integrierte Generation attraktiv zu sein.  Die Wahl von Hector Guimard als Architekt des Baus ist sicherlich in diesem Kontext zu sehen und zu verstehen. Bis dahin wurden Synagogen ja im romanisch-byzantinischen Stil gebaut. Die Eigenständigkeit von Agoudath Hakehilot und ihre Unabhängigkeit von dem architektonisch traditionellen Consistorium ermöglichten aber einen Bruch mit der bisherigen Bautradition.  So entbehrt es  nicht einer gewissen Delikatesse, dass die bis dahin einzige in Paris im „modernen  Stil“  errichtete Synagoge ausgerechnet von denen in Auftrag gegeben wurde, die als rückwärtsgewandt galten …  Insofern passt auf die Synagoge in der rue Pavée das, was der Rabbiner Jacob Kaplan etwa 50 Jahre später sagte, als er die zeitgemäß konzipierte Synagoge in der rue Roquette (11. Arrondissement) einweihte:

„Cette synagogue d’une conception architecturale des plus modernes est élevée par une Communauté profondément attachée à nos plus anciennes traditions religieuses.“[9]

Die Synagoge in der rue Pavée vereinigt und veranschaulicht damit gewissermaßen die beiden gegensätzlichen Elemente, die für die europäischen Juden im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren (Dan Diner): Nämlich einerseits -in vielen Bereichen-  „Pioniere der Modernisierung“  zu gewesen zu sein, andererseits aber auch „Residuen der Vormoderne.“ (9a)

In Darstellungen der Synagoge werden, wenn es um die Auftragsvergabe an Hector Guimard geht,  auch gerne die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Joseph Landau und Adeline Oppenheim angesprochen. Adeline war die Nichte Landaus und die Ehefrau Hector Guimards.  Allerdings: Adeline Oppenheim, in New York geboren und Malerin, war zwar Jüdin, stand allerdings den orthodoxen russisch-polnischen  Kreisen, die den Bau  der Synagoge betrieben, kaum nahe. Sonst hätte sie wohl nicht eine christliche Trauung mit Guimard in der Kirche Notre-Dame-d’Auteuil akzeptiert.[10] Eine Rolle spielte aber sicherlich ihr Vater, der von seinem Vermögen Geld zum Bau der Synagoge beisteuerte, ebenso wie Joseph Landau und auch  Hector Guimard selbst, womit ja wohl  die Bedeutung unterstrichen wird, die er diesem Auftrag beimaß. Jedenfalls konnten die „Archives israélites“ anlässlich der Eröffnung des Bauwerks vermelden, es habe die jüdische Bevölkerung von Paris keinen Sou gekostet.[11]

Der Bau der Synagoge war für Guimard eine große Herausforderung angesichts der Enge und Länge des Grundstücks: weniger als 12 Meter Breite und 30 Meter Tiefe. Schon ein Blick auf die Fassade zeigt aber, wie brillant er mit dieser Herausforderung umgegangen ist. Durch die Verbindung konvexer und konkaver Elemente erzeugt Guimard eine Wellenbewegung und Dynamik.  Zwischen zwei konvexen Wölbungen an den Rändern gibt es in der Mitte der Fassade eine breite und relativ ausgeprägte konkave Einbuchtung. Bei diesem rhythmischen  Spiel von konvexen und konkaven Formen auf engstem Raum drängt sich der Gedanke an den barocken Baumeister Borromini auf, der das in der Kirche San Carlo alle Quatro Fontane in Rom meisterlich inszeniert hat.[12] Dort allerdings ist der Mittelteil konvex, was sich aber angesichts der engen rue Pavée für Guimard nicht angeboten hat. Und weil die Synagoge –im Gegensatz zu Borrominis Bau- eingezwängt ist zwischen den Nachbargrundstücken, verbot sich für Guimard eine zusätzliche horizontale Strukturierung. Insofern ist die Fassade der Synagoge eher barock in ihrer Schwingung und, betont durch die durchgängigen Pilaster, gotisch in ihrer Vertikalität – und beides geht eine sehr harmonische Verbindung ein.[13]

DSC02378 Fassade rue Pavée

Bemerkenswert ist die Zurückhaltung,  mit der Guimard den religiösen Charakter des Gebäudes zum Ausdruck bringt. Die beiden Gesetzestafeln sind oben in die Fassade integriert, ihre Doppelstruktur bestimmt aber auch durchgängig die Gliederung der Fenster.

Bemerkenswert ist auch die ornamentale Zurückhaltung bei der Gestaltung der Fassade. Bei genauerem Hinsehen kann man allerdings durchaus „die Handschrift“ Guimards erkennen.

DSC02667 Marais Synagoge (1)

Was die Nutzung des Gebäudes im Innern angeht, ging es nicht nur darum, wie es bei den consistorialen Synagogen einen Gebetsraum zu schaffen, sondern auch  Räume für Unterricht und Verwaltung, wie es im orthodoxen Judentum üblich war. Guimard ordnete diese Räume der Straßenseite zu, so dass man durch sie hindurch bzw. an ihnen vorbei in den festlichen Gebetsraum der Synagoge gelangt.[14]

Marais etc Nov 10 056

Wie bei der Fassade ist auch hier die Vertikalität dominierend, zumal der Innenraum durch die kultbedingt erforderliche Einfügung von für die Frauen bestimmten Doppelemporen auf beiden Seiten noch zusätzlich  eingeengt wurde. (Wobei die Emporen auch gleichzeitig die Funktion haben, die deutlichen Verwerfungen des Grundrisses auszugleichen und dem Innenraum damit eine Ebenmäßigkeit zu verleihen, die das Guimard zur Verfügung stehende Grundstück eben nicht hatte.)

Marais etc Nov 10 058

Eine besondere Herausforderung für die Gestaltung des Innenraums war das Problem  der Beleuchtung. Auf den Seiten waren durch die anschließende Bebauung keine Fenster möglich.

Guimard löste das Problem durch den Einbau großer Glasflächen in die Decke und durch ein  großes Fenster in der den Raum abschließenden Wand über dem achtarmigen Leuchter.

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Der Menora- Leuchter ist übrigens das einzige Ausstattungsstück, das nicht von Guimard entworfen wurde. Die Lampen, die Stuckverzierungen, die Geländer der Emporen und das Mobiliar tragen mit ihren geschwungenen Linien und ihrer Pflanzenornamentik durchweg seine Handschrift.

Modern war übrigens auch die von Guimard verwendete Bautechnik. Das Gerüst, das den Baukörper trägt, ist nämlich aus Stahlbeton, einem damals ausgesprochen innovativem Material, das es Guimard ermöglichte, den Zwängen und Einschränkungen des ihm zur Verfügung stehenden Raumes zu trotzen. Und es ermöglichte – zusammen mit der für Guimard schon typischen Verwendung standardisierter Bauteile- eine ausgesprochen kurze Dauer der Bauzeit: Die Grundsteinlegung erfolgte am 6. April 1913, die offizielle Einweihung am 7. Juni 1914. An dieser feierlichen Einweihung, für die auch ein berühmter Kantor aus Warschau gewonnen wurde, nahm kein Repräsentant des französischen Judentums teil, das es vorzog, wie es in einer Darstellung heißt, eine Initiative von eingewanderten Juden zu ignorieren, die sie nicht hatten verhindern können.[15]

Der Anschlag von 1941 auf die Synagoge

In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1941, am Vorabend von Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, wurde ein Anschlag auf die Synagoge in der rue Pavée verübt. Bei meinen (allerdings nicht umfassenden) Recherchen dazu bin ich auf verschiedene Versionen der Darstellung dieses Ereignisses gestoßen. Zunächst  auf die Darstellung auf einer Internet-Seite über das Marais (parismarais.com), die sich ihrer über 16 Millionen Besucher rühmt.[16] Der dortige  Beitrag über das jüdische Viertel stammt aus der Feder von Tomi L. Kamins, die immerhin einen „complete jewish guide to France“ veröffentlicht hat.  In diesem Beitrag wird mitgeteilt, dass „die Deutschen“ die Synagoge in die Luft gesprengt hätten („les Allemands  firent exploser cette synagogue mais elle fut depuis restaurée“). Natürlich erscheint diese Darstellung durchaus plausibel, gerade da sie sich auf das jüdische Viertel im Marais bezieht, in dem viele plaques commemoratives an  Opfer des nationalsozialistischen Rassewahns erinnern. Dass bei dem Anschlag auf die Synagoge „die Deutschen“ die Akteure waren, entspricht allerdings nicht der historischen Wahrheit. Tatsächlich war es die französische faschistische und antisemitische Kollaborationsgruppierung MSR (Mouvement social révolutionaire) Eugène Deloncles, die –sicherlich mit wohlwollender Billigung und vielleicht auch logistischer Unterstützung der Besatzungsbehörden-  an diesem Tag gleichzeitig Anschläge auf sechs der damaligen sieben Pariser Synagogen  verübte, die damit also  gewissermaßen eine französische Version der „Reichskristallnacht“ inszenierte.[17] Ich weiß nicht, wann die fehlerhafte Version von parismarais verfasst bzw. ins Netz gestellt  wurde. Wohl kaum  in einer glücklicherweise lange zurückliegenden Zeit, in der es in Frankreich noch geboten war, über den französischen Anteil an der Judenvernichtung schamhaft hinwegzusehen und in der deshalb noch die cépis der französischen Gendarmen in Alain Resnais Film „Nacht und Nebel“ wegretuschiert werden mussten[18]; und wir sind auch nicht im Polen Kaczynskis, wo man mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, wenn man wahrheitsgemäß feststellt, dass es auch Polen gab, die die Nazi-Besatzung ausgenutzt haben, um Juden zu erpressen, zu berauben oder zu ermorden.[19]

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Jedenfalls wurde die Synagoge  1941 nicht völlig zerstört; beschädigt wurde aber der Eingangsbereich, der nach dem Krieg restauriert und mit dem großen Davidstern versehen wurde- vielleicht ein trotziger und demonstrativer Ausdruck jüdischer Selbstbehauptung nach dem  Holocaust.

Dass es übrigens auch im Frankreich der Nachkriegszeit einen militanten Antisemitismus gab und noch gibt, wird ganz in der Nähe der Synagoge an der Ecke der rue des Rosiers und der rue Ferdinand-Duval deutlich, wo sich  früher das Restaurant von Jo Goldenberg befand, auf das 1982 ein Anschlag verübt wurde.

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Antisemitisches Attentat vom  9. August  1982  Durch eine Schießerei und die Explosion  einer Granate sind hier,im Restaurant Goldenberg,6 Menschen getötet und 22 verletzt  worden.

Zur Erinnerung anMohamed Benemmon,  André Hezkia Niego,  Grace Cuter, Anne van Zanien,  Denise Guerche Rossignol, Georges Demeter    Opfer des Terrorismus

DSC02667 Marais Goldenberg (1)Inzwischen gibt es das Restaurant, das einmal zu den Schmuckstücken und Anziehungspunkten des „Pletzl“ gehörte, nicht mehr. Nachdem zwischenzeitlich dort ein edles Modegeschäft eine Filiale eingerichtet hatte, sind die Räume derzeit (Februar 2018) wieder zur Vermietung ausgeschrieben… Ein trauriger Anblick.

Das Goldenberg- Attentat von 1982 [20] und der Überfall auf den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher vom Januar 2015 markieren Tiefpunkte eines inzwischen überwiegend islamistischen antisemitischen Terrorismus in Frankreich. Daneben gibt es aber auch eine erschreckende Vielzahl von antisemitischen Gewalttaten wie Anfang 2018 gegen ein 15 Jahre altes jüdisches Mädchen und einen 8 Jahre alten Jungen in Sarcelles bei Paris, dem sogenannten „Klein-Jerusalem“, das sich traditionell eher durch ein friedliches Nebeneinander von Juden, Christen und Muslimen auszeichnete. [21]

Wenn man, am besten im Rahmen eines Spaziergangs durch das alte „Pletzl“,  die Synagoge in der rue Pavée besucht und bewundert, wird man von diesem historischen und aktuellen Hintergrund nicht absehen können. Ihn aber genauer zu beleuchten, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Vielleicht ein anderes Mal mehr dazu….

  

Praktische Informationen zur Synagoge in der rue Pavée:

Métro Linie 1, Station Saint Paul

Eine Besichtigung ist nur bei besonderen Gelegenheiten wie den Tagen des offenen Denkmals (jourées du patrimoine) möglich.  Man kann aber auch einmal  Glück haben und darf zum Beispiel anlässlich eines Gottesdienstes einen Blick in die Synagoge werfen.

 

Das Grabmal auf dem Père Lachaise

Guimard hat mehrere Grabmäler entworfen. Solche Entwürfe gehörten zu den üblichen Aufgaben, die den Schülern der École des Beaux-Arts, die der junge Guimard besuchte, gestellt wurden. Bei seinem Besuch in Belgien (1895) konnte er neben Victor Hortas hôtel Tassel, das ihn tief beeindruckte, auch einige von Horta entworfene Grabmäler kennenlernen. Unter den verschiedenen von Guimard entworfenen  Grabmälern ist das auf dem Père Lachaise sicherlich dasjenige,  das mit seinen geschwungenen Linien am eindrucksvollsten den Stil des Art Nouveau repräsentiert. „L’Art Nouveau trouve son accomplissement dans l’admirable tombe de la famille Ernest Caillat“, wie es in dem Katalog der Guimard-Ausstellung heißt.[22]

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Das Grab wird  noch genutzt, es ist sehr gepflegt und –dem verwendeten Granit sei Dank- gut erhalten. Man findet es in der zweiten Division des Friedhofs, nicht weit vom Haupteingang  entfernt auf der rechten  Seite an der Friedhofsmauer.

DSC01758 Pere lachaise Guimard Dez 2017 (9)

Ist man eher auf der nord-östlichen Seite des Friedhofs unterwegs –z.B. bei einem Spaziergang auf den Spuren der Commune (siehe den Blog-Bericht über den „Bürgerkrieg in Frankreich“), dann kann man das Grab auf dem  Weg zum Ausgang kaum verfehlen.

 DSC01758 Pere lachaise Guimard Dez 2017 (1)

Literatur:

Philippe Thiébaut (Hrsg.): Guimard. (Ausstellungskatalog musée d’Orsay und musée des Arts décoratifs et des Tissus de Lyon)  Paris 1992. Darin Beitrag über die Synagoge in der rue Pavée S. 414 – 419

Dominique Jarrassé, Guide du Patrimoine Juif Parisien. Paris: Parigramme 2003, S, 121-126

Weitere Blog-Beiträge mit thematischem Bezug zum Père Lachaise:

Anmerkungen:

[1] Jarrassé, S. 121

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rue_des_Rosiers

[3] Das Schaubild war Teil einer Ausstellung über „Enfants juifs à Paris 1939-1945“, die Ende Januar 2018 in der mairie des 11. Arrondissements gezeigt wurde.

[4] Siehe dazu: Le Pletzl ou le quartier juif du Marais. In: Anna Radwan, Mémoire des Rues. Paris 4e Arrondissement 1900-1940. Paris 2004, S. 91ff Das Pletzl bezeichnete zunächst einen kleinen Platz in der rue des Hospitaliers-Saint-Gervais, dann bezog er sich allmählich auf das ganze Viertel, „une enclave orientale“. (S.91)

[5] Jarrassé, S. 112/113

[6] Jarrassé, S. 44

(7) zit. von Isabelle Backouche, Rénover un quartier  parisien sous Vichy. In: Genèse 2008 4 (78)

https://www.cairn.info/revue-geneses-2008-4-page-115.htm

[8] Zit. von Jarrassé S. 121. Übersetzung aus dem Französischen von mir.

[9] Zit. von Jarrassé, S. 138

(9a) Ich beziehe mich hier auf einen Vortrag von Dan Diner in der Maison Heinrich Heine in Paris vom 15.3.2018 bei der Vorstellung der von ihm herausgegebenen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

[10] Jarrassé 122 und Thiébaut, S. 416

[11] https://fr.wikipedia.org/wiki/Joseph_Landau unter Bezugnahme auf: Nancy L Green,.The Pletzl  of Paris. Jewish Immigrant Workers in the Belle Epoque. Holmes & Meier: New York & London, 1986

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/San_Carlo_alle_Quattro_Fontane

Den Hinweis auf Borromini gibt es auch in der kurzen Beschreibung der Synagoge in: Nicolas Jacquet, Le Marais, secret et insolite. Paris: Parigramme 2012, S. 152; siehe auch Thiebaut, der die aus einer englischen Darstellung die Charakterisierung „borrominiesque“ zitiert. (S. 427)

[13]  Bild aus: Thiébaut, S. 414

[14] https://fr.wikipedia.org/wiki/Synagogue_de_la_rue_Pav%C3%A9e  unter Verweis auf:

Magalie Flores-Lonjou et Francis Messner, Les lieux de culte en France et en Europe : Statuts, pratiques, fonctions.  Louvain & Paris & Dudley 2007, S. 237.

[15] http://www.le-top-des-meilleurs.fr/histoire-juive-du-marais/

[16] http://www.parismarais.com/fr/decouvrez-le-marais/histoire-du-marais/le-quartier-juif-du-marais.html Unzutreffend ist übrigens auch die Feststellung in diesem Text, die Frau von Guimard habe Frankreich verlassen und in die USA flüchten müssen wegen des Nationalsozialismus. Die Guimards siedelten aber schon 1938 in die USA über, also vor Krieg und occupation.

[17] Zu den Anschlägen siehe:  Cécile Desprairies. Paris dans la Collaboration. Préface de Serge Klarsfeld. Éditions du Seuil: Paris, 2009

https://fr.wikipedia.org/wiki/Synagogue_de_la_rue_Pav%C3%A9e

https://fr.wikipedia.org/wiki/Grande_synagogue_de_Paris                                                                     siehe auch: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1004121

[18]  siehe Henry Rousso, Le syndrome de Vichy. Paris:  Edition du Seuil 1987, S.244/245.  Trotzdem wurde der Film aber 1956 nicht in das offizielle Programm der Filmfestspiele von Cannes aufgenommen. Die Originalversion des Films konnte erst in den  1990-er Jahren  gezeigt werden.

[19] http://www.sueddeutsche.de/politik/ns-zeit-polens-regierung-will-eine-heldenhafte-opfernation-darstellen-1.3849672

siehe auch: Serge Klarsfeld, Les Polonais doivent trouver un terrain d’entente et réviser la loi. Und: Anna Zielinska, En Pologne, plusieurs démons du passé se sont réveillés. Beide Beiträge in: Le Monde,21.2.2018, S. 23

[20] https://fr.wikipedia.org/wiki/Attentat_de_la_rue_des_Rosiers

[21] Siehe http://www.actuj.com/2018-02/france-politique/6348-juifs-de-sarcelles-entre-attachement-et-inquietude#

[22] Thiébaut, S. 270. Dort weiter: „La synthèse entre les éléments verticaux et horizontaux est ici réalisée dans une ondulation continue de lignes courbes, d’une abstraction presque totale, où la petite croix de fonte semble faire corps avec la mouvante masse de granit de la stèle.“

Geplante Beiträge:

  • Das Pantheon der großen (und weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen (1): Die Frauen des Pantheons
  • Street-Art in Paris (2):  Mosko, Jef Aérosol und Jerôme Mesnager
  • 50 Jahre Mai 1968: Plakate der Revolte. Eine Ausstellung in der École  des Beaux- Arts in Paris
  • Die Seineufer in Paris: Der schwere Abschied vom (Alp-)traum einer autogerechten Stadt
  • Auf dem Weg nach Paris: Die Mühle von Valmy, ein Fanal der Französischen Revolution
  • Street-Art in Paris (3):  Der Invader
  • Street-Art in Paris (4): M Chat, Miss Tic und Fred le Chevalier

7 Gedanken zu “Hector Guimard in Paris (2):  Die  Synagoge in der rue Pavée (4. Arrondissement) und das Grabmal  auf dem Père Lachaise (20. Arrondissement)

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