Milly-la-Forêt: Jean Cocteau, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely

Für einen Besuch von Milly-la-Forêt benötigt man ein Auto. Von Paris ist man in einer Stunde in Milly. Wenn man zeitig losfährt, kann man am späten Vormittag die Kapelle von Cocteau ansehen, dann eine kleine Mittagspause am Marktplatz von Milly machen, so dass  am Nachmittag  genug Zeit ist für den Cyklop und für einen Spaziergang in den nahe gelegenen Forêt de Fontainebleau hat.

Die Chapelle Saint-Blaise-des-Simples von Jean Cocteau

Die kleine Kapelle Saint-Blaises-des-Simples, stammt aus dem 12. Jahrhundert und war, außerhalb der Stadt gelegen, Teil einer von Tempelrittern erbauten Anlage zur Pflege von Leprakranken- die Krankheit war von Teilnehmern der Kreuzzüge nach Europa gebracht.

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Der heilige Blasius, dem die Kapelle geweiht war – seine Reliquien liegen in St. Blasien in der Schweiz-,  hatte der Legende nach Tiere und Menschen gepflegt und geheilt.  Das  Hospital von Milly-la-Forêt verwendete als Arzeneimittel Heilpflanzen, wie sie in der Natur vorkommen –deshalb auch „simples“ genannt- die  in dem zur Kapelle gehörenden Garten angebaut wurden. Dieser Garten ist inzwischen wieder als Kräutergarten eingerichtet und man liest mit Erstaunen, wie vielfältige Wirkungen die Kräuter haben können.

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1958 wurde die Kapelle, die allein von der mittelalterlichen Hospital-Anlage erhalten ist, von Jean Cocteau ausgemalt, der sich 1947 auf der Flucht vor der Sittenpolizei, der „Brigade Mondaine“, mit seinem Freund, dem Schauspieler Jean Marais, hierhin zurückgezogen hatte. Hier fand er, nach seinen eigenen Worten, „la  chose la plus rare du monde: un cadre“. In den Boden der Kapelle ist der Grabstein des am 11. Oktober 1963 verstorbenen Künstlers eingelassen, der hier bestattet wurde; anstatt eines Altars gibt es eine Bronzebüste des Cocteaus: Angefertigt von Arno Breker, der –von den Nazis zunächst als zu avantgardistisch und frankophil abgelehnt- zum  Starbildhauer des Dritten Reichs avancierte!

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Breker hatte Cocteau 1924 bei seiner ersten Paris-Reise kennen gelernt und war in Frankreich, wo  er von 1927 bis 1934 lebte,  hoch geschätzt: Aristide Maillol bezeichnete seinen  Freund Breker sogar als „den deutschen Michelangelo des 20. Jahrhunderts“ und Salvadore Dali meinte, Breker sei der einzige Bildhauer seiner Zeit.  der Portraits modellieren könne, wozu übrigens auch die heroische Büste Adolf Hitlers gehörte!  1942 versammelte sich viel deutsche und französische Prominenz  bei der großen Pariser Breker-Ausstellung in der Orangerie im Tuilerien-Garten.

Die Kapelle ist im typischen Cocteau’schen Stil ausgemalt.

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Der wiederauferstandene Christus

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Neben der Signatur gibt es diese schöne Katze, die -nach Cocteaus eigenen Worten- „wie von einem Kind gemalt“ ist. „Dans le style des farces des églises médiévales: chat-pelle“.  (Zitiert in Dominique Mamy, Jean Cocteau, Le roman d’un funambule)

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Die Motive, die Cocteau für die Ausgestaltung der Kapelle wählte, sind  vor allem die „simples“, die Heilpflanzen, und da vor allem wiederum eine besondere Minze, die berühmte „menthe poivrée“,  die für Milly-la-Forêt eine besondere Bedeutung hat.

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Wegen ihrer verdauungsfördernden Wirkung wurde die Minze  schon seit dem Mittelalter  in Milly angebaut. Der Minze-Anbau  erlebte dann im 19. Jahrhundert mit der „menthe poivrée oder Menthe de Milly“ einen regelrechten Boom: Dies ist eine spezielle Züchtung aus schwarzer und grüner Minze, die sich durch einen sehr hohen Menthol-Gehalt, also durch besondere Frische, auszeichnet, gleichzeitig aber nicht –wie die gängige Pfefferminze- am Einschlafen hindert. Noch 1950 gab es in Milly 50 kleine Betriebe, in denen vor allem die menthe poivrée angebaut wurde, die natürlich auch in dem kleinen Kräutergarten der Kapelle ihren Platz hat. Darunter war auch die  1887 gegründete Firma Darégal, heute ein international tätiges Unternehmen, das  sich stolz als  „N°1 Mondial des herbes aromatiques surgelées“ bezeichnet. (http://www.daregal.com/)

Heute gibt es –jedenfalls in Milly selbst- nur noch einen Gartenbaubetrieb für Heilpflanzen, den „Herbier de Milly La Forêt“. Er betreibt am Marktplatz mit seiner großen mittelalterlichen  Markthalle ein kleines sympathisches Geschäft, wo man auch nach einem Besuch der Kapelle einen Pfefferminztee mit der echten „menthe poivrée“ von Milly kaufen und –wenn man  Glück hat- auch trinken kann.

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Gut kombinieren kann man den Besuch der Kapelle auch mit einem Rundgang durch das ehemalige Wohnhaus von Cocteau in der Nähe des Marktplatzes. Dort ist ein kleines Museum eingerichtet, in dem man u.a. Cocteau-Portraits von Picasso, Buffet, Modigliani, Man Ray, Warhol und Hans Richter findet. Cocteau fand dort die Ruhe und die Natur, die ihm in Paris fehlte:

« C’est la maison qui m’attendait. J’en habite le refuge, loin des sonnettes du Palais-Royal. Elle me donne l’exemple de l’absurde entêtement magnifique des végétaux. J’y retrouve les souvenirs de campagnes anciennes où je rêvais de Paris comme je rêvais plus tard, à Paris, de prendre la fuite. L’eau des douves et le soleil peignent sur les parois de ma chambre leurs faux marbres mobiles. Le printemps jubile partout. » (Jean Cocteau – La Difficulté d’être)

 Von der Kapelle ist es aber auch nicht weit zu der in dem in der gleichen Straße gelegenen Conservatoire national des Plantes médicinale, aromatiques et industrielles, in dem insgesamt 1200 Pflanzen angebaut bzw. aufbewahrt werden. Es gibt einen Garten, eine große Trocknungsanlage, „un lieu magique“, und ein Gewächshaus für tropische aromatische Pflanzen.

Wer die Wahl hat….

Der Cyclop von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle

Unverzichtbar ist in Milly-la-Forêt allerdings der Cyclop der beiden Künstler Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely. Die sind in Paris  keine Unbekannten: Im Foyer der Bastille-Oper gibt es von beiden eine ausladende  tanzende Dame auf einer sich drehenden Weltkugel, aber vor allem gibt es den wunderbaren Stravinsky-Brunnen am Centre Pompidou, in dem sich bizarre bunte Figuren drehen und Wasser verspritzen; eine der vielen Pariser Attraktionen.

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Weniger bekannt –selbst bei alteingesessenen Parisern!-  ist der grandiose Cyklop im Wald von Fontainebleau bei Milly-la-Forêt.

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Der Cyclop ist ein stählerner Koloss, mitten im Wald aufgetürmt, 22 ½ Meter hoch, 350 Tonnen schwer. 1969 begannen die Arbeiten, 10 Jahre dauerte es, bis der „Rohbau“ errichtet war. Da es immer wieder zu Akten des Vandalismus kam, übereigneten Tinguely und Niki de Saint Phalle das Werk 1987 dem französischen Staat, um seinen Schutz und seine Erhaltung zu sichern. An dem „Innenausbau“ beteiligten sich dann zahlreiche weiteren Künstler, und 1994 konnte der Cyclop endlich –3 Jahre nach dem Tod Jean Tinguelys- eingeweiht werden.

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Von außen erkennt man den großen Kopf des Cyclopen mit einem einzigen sich drehenden und in der Sonne blinkenden Auge und  einem riesigen Mund, aus dem ein kleiner Bach läuft, der über eine Rutsche in ein Becken am Boden fließt. Was schon hier –von außen- auffällt, ist eine eigenartige Mischung von massivem, cyklopisch-gewalttätigem rohen Material und einer poetischen Verspieltheit durch die Verwendung von bunten Farben, Spiegeln und kleinen Formen.

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Und durch ironische Zitate der Kunstgeschichte- wie die neben dem Eingang aufgebahrten Figuren, die an die Königsgräber in Saint-Denis erinnern. Aber hier sind es keine Könige, sondern Alltagsfiguren: Vielleicht Arbeiter an dem  Cypklop-Projekt,  die sich –noch mit Gummistiefeln an den Füßen- entspannt einen kleinen Mittagsschlaf gönnen.

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Diese faszinierende Mischung setzt sich fort, wenn man –im Rahmen einer obligatorischen Führung- den Koloss betritt und besonders, wenn sich dann die Maschinen mit einem ohrenbetäubenden Lärm in Bewegung setzen.

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Überall kracht, hämmert und dröhnt es, Räder drehen sich, riesige Kugeln rollen durch Stahlgestelle und auf Laufbändern, aber die Bewegung der Maschinen ist völlig sinnentleert. Vielleicht soll damit, wie ich es in einem Führer gelesen habe, auf die „Exzesse und Absurditäten der Konsumgesellschaft“ hingewiesen werden. Vielleicht aber doch noch mehr auf die gewalttätige Seite der Industriegesellschaft- denn der Tod ist überall in dem Cyklopen präsent: In eher verspielter Form wie in den Kacheln von Niki de Saint Phalle

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oder ganz extrem in Form des in 20 Meter Höhe über dem Abgrund hängenden Eisenbahnwagens. Es ist ganz exakt der Wagentyp, mit dem die französischen Juden nach Auschwitz transportiert wurden und der auch im ehemaligen Durchgangslager Drancy aufgestellt ist.  Hat der Cyklop noch einzeln die Gefährten des Odysseus verschlungen, so steht der Eisenbahnwagon für den industriellen Massenmord im 20. Jahrhundert.

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Und ganz oben auf dem Dach dann, mit Blick in die Wipfel der Bäume, ein großes Wasserbecken, in dem sich die Köpfe der Besucher und  -was bei unserem Besuch leider nicht der Fall war- das Blau des Himmels spiegeln: Eine wunderbare Hommage an Yves Klein, den Maler des „geheimnisvollen Blaus“, zu dessen Pariser Ausstellung 1958 selbst der Obelisk auf dem Place de la Concorde blau verkleidet wurde!

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Insgesamt ein hier nur ganz ansatzweise vorgestelltes faszinierendes Kunstwerk: voller Ideen, Anspielungen, Bildern,  Überraschungen, Schönem und Verstörendem; ein spannender Raum für Erfahrungen –wenn man sich etwa durch die Klangstäbe hindurchzwängt- und Anstoß zum Nachdenken

Praktische Hinweise: Geöffnet von Mai bis Ende Oktober, freitags und samtags ab 14.00 und sonntags ab 11.00 Uhr. (nur mit Führung, 45 min, franz.). Zufahrt von Paris über die A 6, Abfahrt Nr. 13 nach Milly-la-Forêt, dann weiter Richtung Etampes (D837), nach 200 Metern rechts in den beschilderten Waldweg einbiegen. Ab Parkplatz zu Fuß. Die Reservierung einer Führung ist nicht möglich.

Die Cocteau-Kapelle, rue de l’Amiral de  Graville, route de Nemours,  hat geöffnet von Ostern bis Allerheiligen von 10 bis 12.30  und von 14 bis 18 Uhr, außer Dienstag. Zwischen Allerheiligen und Ostern nur am Wochenende von 10.15 bis 17.00 Uhr. http://www.chapelle-saint-blaise.org/

Das Haus von Cocteau: 15, rue du Lau, März bis Oktober 14 – 19 Uhr geöffnet. Mit boutique und salon de thé . http://maisoncocteau.net/informations-pratiques

Das Conservatoire (Route de Nemours) ist geöffnet vom 1.4.-15.10. montags bis freitags von 9-17 Uhr, vom 1.Mai bis 15. 9. außerdem an Wochenenden zwischen 14 und 18 Uhr

Das Kräuterlädchen: 16, Place du Marché. www.herbier.com

 

Ergänzung 2016: Die Ausstellung zum 25. Todestag von Jean Tinguely in Paris (Sept./Okt.2016)

Zum 25. Todestag von Jean Tinguely findet/fand im September/Oktober 2015 eine Ausstellung von frühen Werken  des Künstlers aus den 1960-er Jahren in der Galerie Vallois in Paris statt. (33 und 36 Rue de Seine).

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Die ausgestellten Werke werden zu jeder vollen Stunde -bzw. in der schräg gegenüber liegenden Dependence der Galerie jeweils 15 Minuten später in Gang gesetzt. Dazu gibt  es kurze Erläuterungen. Eine große Freude!

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Außerdem  gibt es einige Bilder von Jean Tinguely im Atelier und bei der Materialsuche

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Und es  werden zwei Filme gezeigt: einen schwedischen Film über eine wunderbare Demonstration im Quartier Saint Germain

und einen zweiten Film über eine Aktion in den USA: in einer wüstenähnlichen  Gegend setzt Tinguely eine ganze Reihe von kleinen und großen Maschinen in Bewegung. Ein grandioses Spektakel, das aber in der -geplanten- totalen  und spektakulären Zerstörung endet.

Sehr zu empfehlen!

 

Noch ein Nachtrag (februar 2023): Eine Ausstellung über Niki de Saint Phalle in der Frankfurter Schirn mit einem Modell des Cyklop

Ein Modell des Cyklop von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely (1986)

Ausschnitt

Das Maul

Spiegelungen des Cyklop

Bedauerlich ist, dass in der Frankfurter Ausstellung nicht wenigstens in Foto des Cyklopen in Milly-la-Forêt gezeigt wurde.

Ein weiteres Objekt, das an den Cyklopen im Milly erinnert:

Scbädel. Meditationsraum 1990

Schloss und Park von Chantilly- eine Alternative zu Versailles

Natürlich reichen Schloss und Park von Chantilly bei weitem nicht an Versailles heran. Es gibt dort weder einen Spiegelsaal noch die grandiosen Wasserspiele im Park. Aber immerhin: Auch der Park von Chantilly mit seinem großen Kanal wurde, und zwar noch vor dem von Versailles,  vom großen Le Nôtre entworfen und Chantilly war sogar von den vielen Parks, die er entwarf, ihm der liebste. Das kleine Dörfchen im Park diente sogar als Vorbild für den hameau Marie Antoinettes in Versailles. Wenn man also den Besucherschlangen und dem Gedränge von Versailles entgehen und in Ruhe ein prächtiges französisches Schloss mit seinem Park und seinen Kunstschätzen bewundern will, dann ist man in Chantilly richtig. Auch wenn der Ort weiter von Paris entfernt ist als Versailles: Die Fahrtzeiten sind ganz ähnlich, und vom Bahnhof aus gibt es einen  schönen Fußweg direkt zum Schloss.

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Außerdem hat Chantilly auch einiges zu bieten, was Versailles nicht hat: beispielsweise die riesigen Reitställe (Ecuries), an denen man auf dem Weg vom Bahnhof zum Schloss vorbeikommt und die ich zunächst –wegen ihrer Größe und Pracht-  für das eigentliche Schloss gehalten habe.

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Oder das Musée Condé, eine außerordentliche Sammlung klassischer Kunst, die die Schlossherren, zunächst der „Große Condé“ im 18. und danach der Duc d’Aumale im 19. Jahrhundert,  zusammengetragen haben: Es ist die zweitgrößte Sammlung klassischer Malerei in Frankreich nach dem Louvre, das allerdings mit den drei Raphaels von Chantilly nicht konkurrieren kann.

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Zu den drei Raphaels des Musée Condé gehören neben zwei Gemälden der Madonna mit Kind auch die drei Grazien, ein Motiv, das auf Lucas Cranach zurückgeht. Und immerhin hat das Louvre kürzlich dieses Cranach-Bild mit Hilfe einer groß angelegten Spendenkampagne erworben. Wir konnten es allerdings immer noch nicht sehen, weil dieser Teil des Louvres oft wegen der Personaleinsparungen geschlossen ist…  Es gibt auch eine Reihe schöner Portraits im Musée Condé, unter anderem von der Reine Margot, der ersten Frau Henri Quatres.

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Das ist insofern etwas delikat, weil ja die letzte Liebe des Königs, die blutjunge Charlotte de Montmorency, ausgerechnet in Chantilly zu Hause war- und von der gibt es natürlich auch ein Portrait.

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Die Ausstellungstücke sind zwar –unverändert seit dem 19. Jahrhundert- etwas chaotisch und überbordend angeordnet, aber das hat auch seinen Reiz und strahlt Authentizität aus.

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Das Schloss selbst ist zwar viel bescheidener als das von Versailles und stammt –aufgrund der Zerstörungen während der Französischen Revolution- in wesentlichen Teilen erst aus dem 19. Jahrhundert. Aber die alte Schlosskapelle, die Bibliothek, die das allerdings nur in Faksimile ausgestellte wunderbare Stundenbuch des Duc du Berry zu ihren Schätzen zählt,  und die Galerie der Psyche mit einer Serie von 42 exquisiten Glasfenstern aus der Renaissance lohnen alleine schon einen Besuch.

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Der Park mit seinem großen Kanal und dem „Philosophenweg“, auf dem zur Blütezeit Chantillys La Fontaine, La Bruyère, Mme de Sévigné, Molière und viele andere wandelten, lädt zu einem Spaziergang ein. Den spektakulären, von einer unterirdischen Quelle gespeisten Wasserfall gibt es allerdings nicht mehr.Der ist, wie so vieles in Schloss und Park Chantilly, den Zerstörungen während der Französischen Revolution zum Opfer gefallen.

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Dafür aber die echte Crème Chantilly, die im hameau serviert wird, einem idealisierten Bauerndörfchen, das  zum ersten Mal in einem französischen Schlosspark  aufgebaut wurde.  Dort konnte sich die adlige Gesellschaft ungezwungen verlustieren. Heute gibt es dort ein kleines Café und bei schönem Wetter kann man auch draußen sitzen.

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Die Crème Chantilly soll  von Francois Vatel erfunden worden sein: Geschlagene Sahne, die mit Puderzucker gesüßt und mit Vanille aromatisiert wird.  Ursprünglich hieß der Erfinder mal als biederer Schweizer Fritz-Karl Watel. In Frankreich hat er dann aber eine steile Karriere als Prominenten-Koch und Maître de Plaisir gemacht (was bei Wikipedia sehr schön mit: Event-Manager übersetzt wird):  zunächst bei Nicolas Fouquet, dem reichsten Mann Frankreichs, in Vaux-le-Vicomte (was ein anderes grandioses Schloss bei Paris und  eine andere schöne Geschichte ist- das vielleicht in einem späteren Bericht), dann beim großen Condé in Chantilly. Mit Vatel nahm es allerdings ein trauriges Ende: Am 23. April 1671 erschien Ludwig XIV. mit einem großen 3000 Mann und Frau-starken Gefolge in Chantilly. Es sollte feierlich die Versöhnung mit dem Großen Condé besiegelt werden, der an der Adelsfronde gegen den jungen Ludwig teilgenommen hatte. Außerdem hoffte der hoch verschuldete Condé auf ein einträgliches Militär-Kommando. Nach einer gemeinsamen Jagd gab es ein festliches Souper mit Feuerwerk. Und das war auch schon der Beginn des Dramas, über das wir durch einen Brief von Madame de Sévigné an ihre Tochter anschaulich informiert werden (26. April 1671): Das Feuerwerk funktionierte wegen schlechten Wetters nicht recht, und beim Abendessen fehlte an zwei Tischen der Braten, weil das Gefolge des Sonnenkönigs größer war als erwartet. Vatel sah sich in seiner Ehre beschädigt, auch wenn ihn sein Herr wiederholt beruhigte und tröstete. Am nächsten Tag sollte dann wenigstens alles perfekt sein. Da es Karfreitag war, stand auf dem Speiseplan –vor der Créme Chantilly – Fisch. Doch welche Tragik: Als Vatel am frühen Vormittag die Vorräte inspizierte, stellte er fest, dass die bestellten Fisch-Lieferungen nicht eingetroffen waren! Das war zu viel! Vatel  stürzte sich voller Scham in seinen Degen  und machte so seinem Leben ein Ende. Kurze Zeit später trafen aus allen Häfen Frankreichs die Fische in riesigen Mengen ein! Madame de Sévigné soll jedenfalls in einem Gespräch Vatel als ein Vorbild für Verantwortungsbewusstsein gerühmt haben.

Es erscheint selbstverständlich, dass das Schlossrestaurant den Namen Vatels trägt. Und vielleicht sind auch die vielen Karpfen, die  sich in den Schlossgewässern tummeln, eine Hommage an Vatel: Mit ihnen könnte man jedenfalls sicherlich ohne Mühe ein 3000-köpfiges Gefolge verköstigen.

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Es gibt im Schlosspark von Chantilly –hinter dem hameau- übrigens auch ein Labyrinth- ein grünes, aus Hainbuchen-Hecken. Kunstvoll angelegt, ohne jeden metaphysischen Anspruch, aber eines, in dem man sich wirklich verirren kann!

Die Menagerie, die nach dem Vorbild von Versailles eingerichtet wurde, gibt es allerdings nicht mehr.

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Exposition “La ménagerie de Chantilly”

Und es gibt auch einen Film über Vatel, der sogar 2000 als Eröffnungsveranstaltung der Filmfestspiele von Cannes gezeigt wurde. Die Hauptrolle spielt natürlich….. Gerard Dépardieux, was auch –wenn ich mir die respektlose Bemerkung gestatten darf- plausibel macht, dass es –wie Madame Sévigné berichtet- dreier Versuche bedurfte, bis sich Vatel „erfolgreich“ den Degen in die Brust gerammt hatte. Vorher darf  Dépardieu aber seinen Finger in alle Töpfe stecken, und eine schöne Frau (Uma Thurman) für ihn gibt es natürlich auch … Von 3sat, das den Film am 23.12.10 ausstrahlte, wurde der Film als „opulentes Historiendrama“ angekündigt. Selten habe ein Film „das Übermaß an Prunk und Pracht im Umfeld Ludwigs XIV. so sinnlich ansprechend in Szene gesetzt“. Jedenfalls der passende Film zum Schloss!

Praktische Information: Fahrt mit dem TER Picardi vom Gare du Nord Richtung Creil bis Chantilly-Gouvieux

25 Minuten Fahrzeit. Die Fahrkarten kann man an jeder Metro-Station kaufen und damit auch gleich zum Gare du Nord fahren. Fahrplan im Internet. (SNCF, Gare du Nord – Creil).  Vom Bahnhof Chantilly-Gouvieux aus noch ein Fußweg zum Schloss (beschildert) durch den Wald, dann entlang der Pferderennbahn bis zu den Ställen und von dort zum Schloss.

Täglich außer dienstags geöffnet.

Das Labyrinth von Chartres

Einen Ausflug nach Chartres zu empfehlen, ist sicherlich nicht sehr originell. Die Bedeutung und Schönheit der Kathedrale sind hinlänglich bekannt: Das Königsportal im Westen ist „l’une des merveilles de l’art roman“ (eines der Wunderwerke der Romanik; Michelin, Ile de France 1998, S. 81), und die Glasfenster mit ihrem unnachahmlichen Blau und insgesamt 5000 Abbildungen sind selbst im Land der Kathedralen einmalig. Rodin nannte Chartres „l’acropole de la France“, und als vor Jahren einmal Pepsi Cola ein begehrliches Auge auf den französischen Lebensmittelkonzern Danone geworfen hatte, machte dessen Vorstandsvorsitzender unmissverständlich klar: „Danone, c’est la cathédrale de Chartres. On n’achète pas la cathédrale de Chartres“.  (Le Monde, 26.10.2010. Danone ist die Kathedrale von Chartres. Man kauft nicht  Chartres). Damit war die Unantastbarkeit seiner Firma gewissermaßen in Stein gemeißelt.

Dass ich trotzdem Chartres in die kleine Sammlung meiner Ausflugsempfehlungen aufnehme, hängt mit einer Entdeckung zusammen, die wir gemacht haben, als wir auf der Rückfahrt von ein paar Tagen am Meer (St. Malo)  in Chartres Station machten. Es war ein Freitag  Nachmittag, die Stühle im vorderen Teil des Kirchenschiffes waren weggeräumt. Einige Besucher –manche mit einer Kerze in der Hand- gingen langsam herum, manchmal nebeneinander, manchmal in entgegengesetzter Richtung, aber ohne sich zu berühren,  manchmal drehten sie sich, aber es waren immer kreisförmige Bahnen, eine eigentümliche ruhige Choreographie.

Als wir näher kamen, sahen wir auf dem Boden die kreisrunden schwarzen und hellen Bänder, denen die Besucher vorsichtig folgten und entdeckten das Labyrinth von Chartres.

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Ich war schon mehrfach in Chartres gewesen,  zuerst vor  50 Jahren mit meinem Schulkameraden Winfried – (Paris per Anhalter!) – aber das Labyrinth war mir nie aufgefallen. Wohl nicht nur, weil man in der Kirche eher nach oben zu den Fenstern blickt: Außer freitags ist das Labyrinth immer mit Kirchenbänken zugestellt, so dass man es kaum sehen kann- und diesmal hatten wir –zufällig- gerade einen Freitagnachmittag erwischt. Auch in dem großen Bildband über französische Kathedralen, den ich mir nach meiner ersten Frankreich-Fahrt von meinen Eltern zu Weihnachten gewünscht hatte, ist kein Bild eines Labyrinths enthalten. Und selbst in meinem Reiseführer, der auf mehreren Seiten die Kathedrale beschreibt und rühmt, ist das Labyrinth mit keiner Zeile erwähnt.

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Das Labyrinth von Chartres: Aus dem  Skizzenbuch des Villard de Honnecourt (um 1232)

Das ist nur allzu bedauerlich, denn das Labyrinth von Chartres ist –wie die Kathedrale insgesamt- ganz einzigartig. Es ist mit einem Durchmesser von fast 13 Metern das größte und älteste französische Labyrinth, um 1200 entstanden, Vorbild für viele nachfolgende. Dass  das Labyrinth von Chartres ein architektonisches Vorbild war, wird auch daran  deutlich, dass es von dem mittelalterlichen Archtekten Villard de Honnecourt in sein Skizzenbuch aufgenommen wurde.

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Das Labyrinth in der Kathedrale von Amiens – in der Nachfolge des Labyrinths von Chartres

Das Labyrinth von Chartres  befindet sich im Langhaus direkt hinter dem großen Eingang im Westen. Die kreisrunden Wege des Labyrinths bestehen aus 20-30 cm großen grauen Steinen, die Trennlinien –Mauern- dazwischen aus dunkleren. Insgesamt ist der Weg, den die Gläubigen in dem Labyrinth zurücklegen müssen, 294 Meter lang. Um ihn, wie es im Mittelalter üblich war, knieend und betend zurückzulegen, brauchte man etwa eine Stunde, soviel wie man zu Fuß für eine Meile (lieue) brauchte, deshalb auch der Name La Lieue für das Labyrinth von Chartres. In der Mitte des Labyrinths befand sich eine Kupferplatte, auf der der Kampf des Theseus mit dem Minotaurus abgebildet war.

Der Anklang an den antiken Mythos ist also deutlich, allerdings verändert das Labyrinth von Chartres –wie die anderen christlichen Labyrinthe- die antike Bedeutung völlig: Folgt man in der Kirche dem vorgezeichneten Weg kann man sich nicht verirren. Der Weg ist zwar verschlungen, manchmal erscheint das Zentrum schon ganz nahe, dann entfernt man sich wieder: Der Weg zum Heil ist verschlungen, auf ihm sind Reue und Buße für die begangenen Sünden gefordert. Nicht von ungefähr umfasst der Weg insgesamt 11 Kreise- und 11 ist die Zahl des Irrtums: 10 Gebote plus 1 oder 12 Apostel weniger 1.  Schließlich gelangt man aber doch zum Ziel.  Der Ariadne-Faden ist hier der Glaube, der einen, wenn man nur geduldig genug ist, unweigerlich ins „himmlische Jerusalem“ führt. Danach geht man den Weg zurück und kann als neuer, geläuterter Mensch vor den Altar treten.

Die spirituelle Bedeutung dieses irdischen Wegs zum Heil wird noch dadurch unterstrichen, dass das Labyrinth die gleiche Größe hat wie die große Fensterrose im Westen, die das Jüngste Gericht zum Thema hat. Und das ist kein Zufall: Der Architekt Villard de Honnecourt hat 1230 den Plan der Rosette und den des Labyrinths gleichzeitig gezeichnet. Und nicht nur das: Würde man die Westfassade ins Kirchenschiff absenken, so würde die Rosette des Jüngsten Gerichts genau das Labyrinth bedecken. Aber der Gläubige ist auf dem Weg zum

Heil/zum Licht nicht alleine: Am 15. August jeden Jahres, dem Fest der Jungfrau Maria, strahlt die Sonne genau durch das Marienbild im großen mittleren Fenster der Westfassade und erleuchtet die Kupferplatte in der Mitte des Labyrinths!

Ich muss gestehen, dass ich mich  schon beim Weg durch das Labyrinth von Chartres und danach bei der weiteren Beschäftigung mit ihm seiner Faszination nicht entziehen konnte. Und was für ein Glück, dass es –bis auf die zentrale Platte- unverändert durch die Jahrhunderte erhalten geblieben ist. Andernorts war das nicht so: In der Kathedrale von Reims beispielsweise wurde das große Labyrinth kurz vor der Französischen Revolution zerstört. Man hatte die religiöse Bedeutung der Labyrinthe vergessen, sie wurden als Orte des Aberglaubens verstanden, auch für Tanzvergnügungen und dergleichen zweckentfremdet, so dass  sie vielfach auf Veranlassung des Klerus beseitigt wurden.

Übrigens gibt es in der Kathedrale von Chartres auch noch weitere geometrische (und sicherlich auch arithmetische) Besonderheiten. Beispielsweise lässt sich der Grundriss auf drei flächengleiche geometrische Figuren zurückführen: ein Rechteck mit dem Seitenverhältnis 2:1, das die Größe des Chores bestimmt; ein Quadrat, das mit seinen Ecken die Breite des Langhauses festlegt; und ein Kreis, der am Hauptportal endet und damit die Länge des Langhauses bestimmt. Zufall? Symbol der Dreieinigkeit? Es gibt sicherlich noch viel zu entdecken! Und noch viele offene Fragen!

Praktische Information: Nach Chartres gelangt man mit dem Auto, aber auch gut in ca. einer Stunde vom Bahnhof Montparnasse aus. Das Labyrinth ist zugänglich jeden Freitag, beginnend vom ersten Freitag der Fastenzeit bis zum letzten Freitag im Oktober.