Von allen Vergnügungsbauten Hittorffs sind sein Sommer- und sein Winterzirkus die bedeutsamsten, nicht allein wegen ihrer Größe, sondern weil sich hier seine Architektur der Sinne am eindrucksvollsten zeigt. [1]
Bei keinem der bereits vorgestellten Bauten, war die Herausforderung für den Architekten so groß, einen Bau zu schaffen, der schon durch sein Äußeres den Eindruck vermittelte, dass hier ein großartiges Spektakel zu erwarten sei und der in seinem Inneren, rund um die Manege bis hoch in die Zirkuskuppel, ein Ort unerhörter Begebenheiten, eine Welt der Magie, der Heiterkeit und des Nervenkitzels sein konnte.
Wir wollen im Folgenden zeigen, wie dies Hittorff gelang. Beim nicht mehr existierenden Sommerzirkus an den Champs-Élysées sind wir auf literarische Quellen und historische Bilder angewiesen. Der Winterzirkus am Boulevard des Filles-du-Calvaire ist noch heute zu erleben. In seiner Grundkonzeption folgt er der des Sommerzirkus.
Der Sommerzirkus
Der einfache Holzbau, in dem in den Sommermonaten Pferdedressuren, akrobatische und andere zirzensische Darbietungen der aus Venedig stammenden Kunstreiterfamilie Franconi gezeigt wurden, war zu klein, zu wenig komfortabel und zu wenig attraktiv für die neuen Parkanlagen an der Avenue des Champs-Élysées.
Abb. 1 : Franconi’s Cirque d’Été
Die Franconis hatten von dem Engländer Philip Astley, dem Erfinder der modernen Zirkusmanege, das Zirkusgebäude übernommen, das dieser 1782 an der Rue du Faubourg du Temple als ersten derartigen Bau in Frankreich errichtet hatte und das als Cirque d’Astley oder Cirque Anglais bekannt war. Die Franconis verlegten den Zirkus zunächst in das Gelände des ehemaligen Kapuzinerklosters, dann an die Rue du Mont-Thabor. Dieser Platz musste wegen städtischer Baumaßnahmen aufgegeben werden, und der Zirkus kehrte zurück an die Rue du Faubourg du Temple, wo das alte Astley-Theater umgebaut und in Cirque Olympique umbenannt wurde. Nach einem Brand wurde der Cirque Olympique an den Boulevard du Temple umgesiedelt. Wegen finanzieller Schieflage übernahm 1836 der Kaufmann Louis Dejean von Adolphe Franconi, dem Enkel seines Gründers, die Lizenz am Cirque Olympique. Dejean entwickelte sich im Laufe der folgenden Jahre zum größten Zirkusunternehmer Frankreichs.
Hier im Carré Marigny an den Champs-Élysées hatte Louis Dejean Großes vor. Für ihn sollte Hittorff den alten primitiven Holzbau durch einen prachtvollen Steinbau ersetzen. Die Sommerresidenz des Théâtre Franconi, der Reitertruppe des Cirque Olympique, wurde 1841 vollendet.
Dejean hatte Hittorf für diesen Zirkus, Cirque National des Champs-Élysées, auch Cirque des Champs-Élysées, Cirque de l’Impératrice, zuletzt Cirque d’Eté genannt, als Baumeister ausgewählt, weil dieser sich beim Bau der Rotonde des Panoramas an den Champs-Élysées als ein Architekt erwiesen hatte, der in der Lage war, in kurzer Zeit und zu möglichst geringen Kosten attraktive Bauten zu errichten. Hittorffs Bau hatte überdies den Vorteil, dass er sich an wechselndes Publikumsinteresse anpassen ließ und auch für Konzerte und andere Veranstaltungen genutzt werden konnte.
Abb. 2 : Der Cirque National (Cirque d’Été) auf den Champs-Élysées, Fotografie von 1847
Der Bau hatte die Form einer geschlossenen, sechzehneckigen Rotunde mit einem Durchmesser von 41 Metern und ein zeltförmiges Dach mit einer Laterne. An seine Nordseite lehnte sich ein rechteckiges Gebäude für die Pferdeställe an. Der Zirkus bot Platz für 4000 bis 6000 Zuschauer.
Gerade dieser Bau als Ort des Vergnügens und der Zerstreuung erlaubte es Hittorff, die Möglichkeiten der polychromen Architektur auszuschöpfen. Schon beim Bau der Kirche Saint-Paul de Vincent hatte Hittorff „die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen antiker und moderner Architektur aufgehoben“. [2]
In seinem richtungsweisenden Werk zur Farbigkeit der griechischen Architektur von 1851, LaRestitution du temple d’Empédocle à Selinonte; ou, L’architecture polychrôme chez les Grecs par J.J. [sic] Hittorff, architecte, analysierte er auch die Bedeutung der Polychromie für seine eigene Arbeit als Architekt und veranschaulichte diese Bedeutung neben der Zeichnung der polychromen Fassade der Kirche Saint-Vincent de Paul auch durch die des Portikus des Cirque d’Été auf den Champs-Élysées.
In einer Passage dieser Schrift machte Hittdorff klar, was er aus der Antike übernahm.:
„Ich bemühte mich also überall dort, wo es die Vernunft mir als zweckmäßig erscheinen ließ, in der Verteilung und in den Konstruktionsmitteln der Gebäude, die ich zu errichten hatte, das umzusetzen, was mir die Studien als vorteilhafte Verwendung zeigten. […] Aber ich habe niemals ein antikes Element benutzt, nur weil ich es von griechischen und römischen Künstlern angewandt gesehen hatte, sondern weil ich es von ihnen für richtig angewandt hielt, und weil seine neue Verwendung unabhängig von seinem Ursprung zu einem befriedigenden Ergebnis führen sollte. Es war also nicht die Entdeckung der Anwendung von Farben bei der äußeren Dekoration der griechischen Monumente und die scheinbare Neuheit dieses Systems, die mich dazu veranlasste, es beim Zirkus und seiner Vorhalle zu verwenden, sondern der Grund war, dass die Malerei in Paris mehr als in Athen ein Mittel zur Darstellung unserer Materialien ist. Und wenn die Farben unter dem Himmel Griechenlands, Siziliens und Italiens dazu beitragen, die Skulpturen und die wichtigsten Teile der architektonischen Formen besser zu unterscheiden, so ist ihr Beitrag in dieser Hinsicht unter einem Himmel ohne Sonne weitaus wirksamer und notwendiger. […] Die Skulpturen unserer Denkmäler sind jedoch dazu bestimmt, gesehen zu werden, da sie sonst weder ihrem Charakter noch ihrer Schönheit entsprechen würden, … Diese Überlegungen haben mich dazu veranlasst, die Mehrfarbigkeit zu verwenden.” [3]
Da wir keine farbigen Bilder der Außenseite des Baus besitzen, sind wir auf die von Karl Hammer erforschten literarischen Quellen verwiesen: „Von den in zarten Tönen gehaltenen Außenfassaden hoben sich die antikisierenden Ornamente des den ganzen Bau umziehenden breiten Frieses auf kräftig blauem und rotem Grunde ab; die Pilaster und Säulen, die Gesimse, die Fensterstürze und die Türeinfassungen erhielten dagegen lebhafte Farben, so wie sie der Entdecker der Polychromie in Selinunt und an anderen Orten Siziliens vorgefunden hatte.
Abb. 3: Portikus des Sommerzirkus
Besondere Aufmerksamkeit widmete der Baumeister der antiken Säulenvorhalle des Zirkus. Ihre Ausstattung war ungewöhnlich farbenprächtig, formenreich und antiken Mustern nachgebildet.” [4]
„So waren die korinthischen Säulen des Zirkusportals, die den Giebel trugen, gelblich getönt. Auf dem Fries hob sich in Erinnerung an die Metopen von Selinunt vergoldetes Laubwerk von einem blauen Hintergrunde ab, und auf rotem Grund erschienen in dem Tympanon Flachreliefs spielender Meerjungfrauen. Den Giebel bekrönte auf einem grünen Sockel eine auf wildem Pferde kühn dahinsprengende, halbentblößte Amazone, ein Werk von Pradier. An den seitlichen Giebelzinnen befanden sich andere plastische Gruppen, die wilde Tiere bändigende Kinder zeigten. Die Eingangswand des Gebäudes schmückten über drei gleichgroßen braunroten Fensterstürzen mit Goldleisten farbige Flachreliefs mit Reiterszenen.“ [5]
Während das Äußere des Zirkus auf Formen der antiken griechischen Architektur zurückgriff, war sein Inneres mit seinem weiten amphitheatralisch angelegten Raum eher in orientalischer Pracht ausgeschmückt. Der hölzerne Dachstuhl ruhte auf schlanken gusseisernen Säulen, die den Blick von den Zuschauerrängen auf die Arena nicht störten. Ein besonders prachtvoller Anblick bot die Zirkuskuppel mit ihren fächerartig sich entfaltenden Stoffbahnen, die den Dachstuhl wie ein riesiges Zirkuszeltdach verdeckten.
Abb.4: Cirque d’Été. Vorentwurf für den Deckendekor.
Dessen Reiterszenen, umrahmt von vielgestaltigen farbigen Verzierungen und Vergoldungen, und die Dekorationsmalerei an den Wänden mit ihren Darstellungen von Jagdszenen, Tieren, Pferderennen und Schlachten, ausgeleuchtet von einem Ring von Leuchtern um einen riesigen zentralen Kronleuchter, verwiesen auf die Bestimmung des Gebäudes.
Der Kunsthistoriker Franz Theodor Kugler rühmte das „lustige“, „zeltartig gedeckte Amphitheater mit seinen leichten Eisen-säulchen“ und fand auch die „Außenseite heiter griechisch, mit etwas Farbe sehr wohltuend“, der berühmte Architekt Henri Labrouste bezeichnete den Zirkus in seinem Nachruf auf Hittorff vor dem Institut in Paris als„son oeuvre le meilleur“ („als sein bestes Werk“) und der englische Kollege Donaldson ging bei einer gleichen Gelegenheit in London sogar soweit, ihn „sur le même rang que les plus grandes et les plus précieuses productions de même nature que nous a laissées l’antiquité“ zu stellen.(„auf denselben Rang wie die größten und wertvollsten Produktionen derselben Art, die uns das Altertum hinterlassen hat“) [6]
Abb. 5 : Cirque de L’Impératrice
Der Zirkus wurde vom Publikum geliebt. Ein Stich von Philippe Benoist zeigt den abendlichen Andrang vor dem Zirkus, der auch bei der Kritik große Zustimmung fand.
Kurzzeitig diente er auch als Konzertsaal. 1845 wurde an Sonntagnachmittagen unter der Leitung von Hector Berlioz eine Mischung von Klavierkonzerten, Arien, Chorstücken bis hin zu Ballettaufführungen geboten. Aber auch andere Veranstaltungen, wie ein Festival zur Ehren von Friedrich Schiller oder eine Konferenz von M. Jules Favre, der zusammen mit Léon Gambetta am 4. September 1870 in Paris die Dritte Republik ausrief, fanden hier statt.
Abb. 7: Hector Berlioz dirigiert ein Konzert im Cirque Olympique
Seine erfolgreichste Zeit erlebte der Zirkus im Zweiten Kaiserreich, wo er den Namen Cirque de l’Impératrice trug. Aber auch nach 1871, da hieß er Cirque d’Été, muss er wohl noch sehr beliebt gewesen sein, wovon die zahlreichen Reklame-Poster (zu sehen im Musée Carnavalet) zeugen, die ein vielfältiges Programm ankündigten.
Nach den 1880er Jahren ließ das Interesse nach. Der Bau wurde noch bis 1898 betrieben und nach 1900 (wahrscheinlich 1902) abgerissen. Die Rue du Cirque erinnert mit ihrem Namen noch an ihn.
Der Winterzirkus
Der Erfolg der Pferdeshows im Cirque d’Été an den Champs-Élysées war so groß, dass der Bedarf an einem neuen Winterzirkus entstand, zumal der bisherige Winterstandort im Cirque Olympique am Boulevard du Temple 1847 verloren ging, als dessen neue Eigentümer ihn in ein lyrisches Theater umwandelten. Außerdem war Louis Dejean mit dem 1845 geschaffenen Hippodrome de l’Étoile neue Konkurrenz erwachsen.
Dejean beauftragte wiederum Jacques Hittorff mit dem Bau eines neuen Zirkus, für den nach längerer Suche am Boulevard des Filles du Calvaire im bevölkerungsreichen 11. Arrondissement ein Standort gefunden wurde. Seine bisherigen Entwürfe mit einem zweigeschossigen Vorbau, einem Säulendurchgang im Erdgeschoss und einer Loggia im Obergeschoss oder einem Portikus ähnlich dem des Sommerzirkus konnte Hittorff wegen der Enge des Bauplatzes nicht realisieren.
Abb. 8 : Projekt von Hittorff für den Cirque impérial (Napoléon)
Dieser Schwierigkeiten bewusst, soll Dejean zu Hittorff gesagt haben: „Bauen Sie mir darauf… in acht Monaten einen Zirkus für fünftausend Zuschauer, Stallungen für 200 Pferde, und sorgen Sie dafür, dass das Ganze zu einem Monument gerät. Ich weiß, dass dies unmöglich ist, aber deshalb bitte ich gerade Sie darum.“[7]
Hittorff schaffte das nahezu Unmögliche: Der Zirkus war im Oktober 1852 wie vorgesehen inmitten turbulenter Zeiten vollendet: Am 2. Dezember 1852, dem Jahrestag seines Staatsstreichs, ließ sich der Prinz-Präsident Louis-Napoléon Bonaparte zum Kaiser der Franzosen ausrufen.
Abb. 9 : Außenansicht des neuen Cirque Napoléon aus dem Jahr 1853
Eine größere öffentliche Aufmerksamkeit, einen grandioseren Werbeeffekt hätten sich der Bauherr und Entrepreneur Louis Dejean und sein Architekt Jacob Ignace Hittorff für den Winterzirkus nicht wünschen können: Am 11. Dezember 1852 wurde der Bau feierlich im Beisein von Kaiser Napoleon III. eingeweiht.
Dejean, der sich des Werbeeffektes wohl bewusst war, hatte sogleich die Gelegenheit ergriffen und das Bauwerk dem Kaiser gewidmet. Und Hittorff, einst Chef der Menus Plaisiers du Roi und so mit dem Repräsentationsbedürfnis der Mächtigen wohl vertraut, hatte umgehend reagiert: Er hatte bei dem Bildhauer Bosio Trophäen, Adler und Bronzedekorationen bestellt, die die Inschrift „CIRQUE NAPOLEON“ über dem Haupteingang umrahmen sollten.
Über der blaugrünen Marmortafel mit der (damaligen) Inschrift CIRQUE NAPOLÉON in goldenen Lettern thronte das Insignum des Kaisers, der Aigle couronné, ein goldener gekrönter Adler, verbunden über eine Girlande mit dem Aigle de drapeau beidseits der Tafel, dem Fahnenadler, dem Feldzeichen, das Napoleon Bonaparte 1804 für jedes Regiment der Grande Armée zusätzlich zur Truppenfahne eingeführt hatte.
Abb. 10 : Tafel mit heutiger Inschrift und ungekröntem Adler über dem Portal
Bei der Einweihung des Zirkus wurde das ganze Huldigungs-Register gezogen, musikalisch begleitet von dem Lied „Gott hat ihn uns zurückgegeben!“, vorgetragen von Schauspielern des Théâtre Lyrique.
Leider konnte Hittorff nicht auch die Umgebung des Zirkus so gestalten, wie er geplant hatte: ein repräsentativer Platz mit zwei Brunnen, Bänken und Bäumen, sowie eine freie Sicht schon vom Boulevard du Temple her auf die Rotunde. Dejean war es nicht gelungen, die dazu erforderlichen Grundstücke zu erwerben. Um wieviel prächtiger der Zirkus in seine Umgebung ausgestrahlt hätte, macht eine Zeichnung von Hittorff deutlich. Leider obsiegten die Gesetze des Marktes bei der einsetzenden Bauspekulation.
Abb. 11: Hittorffs Projekt zur Gestaltung der Zirkusumgebung.
Eingezwängt zwischen den blinden Wänden der Nachbarhäuser ist seine städtebauliche Eingliederung, wie Mark Deming mit Recht meint, ein Fehlschlag. [8]
Der Cirque Napoléon, nach Ende von Napoleons III. Herrschaft in Cirque d’Hiver umbenannt, hat die Form einer zwanzigeckigen Rotunde mit einem Durchmesser von zweiundvierzig Metern, und einer Höhe von achtundzwanzig Metern. Dem polygonalen Bau ist ein rechteckiger Bau für Pferdeställe und Magazine angegliedert.
Abb. 12: Cirque d’hiver am Boulevard des Filles du Calvaire
Wie schon bei der Panorama-Rotunde gelang Hittorff auch hier eine kühne Dachkonstruktion ohne die Sicht behindernde Zwischenstützen, sodass sich der Innenraum maximal entfaltet. Schon als Schüler von Bélanger hatte er sich beim Bau der Metallkuppel für die Pariser Kornhalle, der Halle au Blé, mit den technischen Anforderungen des Kuppelbaus beschäftigt. Auch beim Winterzirkus ruht das Dach ohne Seitenschub direkt auf den Umfassungsmauern: die 20 Dachbinder (Träger) sind in jedem Winkel des Polygons verankert und laufen am Fuß der Laterne zusammen, die gewissermaßen als riesiger Verschlussdeckel dient. Die leichte Dachkonstruktion wurde mit dem für Paris typischen Zink gedeckt und im Inneren mit dekorativen Zeltbahnen verkleidet. Die „Weite des Daches, das ohne sichtbare Stützen in der Luft aufgehängt zu sein schien“, erregte „die Bewunderung zu jeder Zeit“.[9]
Die Außenfassade
Da die Enge des Geländes keinen Skulpturen-geschmückten Portikus wie beim Sommerzirkus zuließ, wurden auf Dejeans Wunsch beidseits des Eingangs auf Vorsprüngen des Unterbaus wie auf einem Art Podest zwei gusseiserne Reiterstandbilder aufgestellt, links eine Amazone von Jean Jacques (o. James) Pradier, rechts ein antiker Krieger von Francisque Duret und Bosio.
Abb. 13: Krieger von Francisque Duret und Bosio
Reiter und Amazone sollten auf die Bestimmung des Baus verweisen und ihm, eingefügt in klassizistische Stilelemente, Glanz verleihen.
Abb. 14: Amazone von Jean Jacques (o. James) Pradier
Die Amazone gleicht jener, mit der Pradier schon den Giebel des Portikus am Sommerzirkus im Carré Marigny bekrönte und die, wie Fotografien von 1903 zeigen, als Kopfbedeckung eine phrygische Mütze, Zeichen der Revolution, der Französische Republik und der Freiheit trug.
Abb. 15: Amazone vom abgerissenen Cirque d’Été bei einem Abrissunternehmer
Hier beim Winterzirkus tragen beide Reiterfiguren den gleichen griechischen Helmschmuck. Eine Zeichnung, aufbewahrt im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, zeigt, dass auch für den Winterzirkus eine Amazone mit einer phrygischen Kappe vorgesehen war. Dieses republikanische Symbol ließ man im neu angebrochenen Kaiserreich dann doch lieber verschwinden.
Die Außenmauern werden an den Ecken über einem massiven, bossierten Sockel – Ausdruck von Kraft und Festigkeit – von korinthischen Säulen – Signum von Schönheit und Pracht – verstärkt. Soweit wir vom Originalzustand wissen, waren der Unterbau der Außenfassade in einem weißlichen, das erste Stockwerk und die Säulen in einem blassen Ocker gehalten.
Den polygonalen Bau umfasst ein breiter Fries mit weißen Bas-Reliefs auf ockerfarbenem Untergrund, ein Werk der berühmtesten französischen Bildhauer ihrer Zeit, darunter Jean Jacques Pradier, Francisque Joseph Duret und François Joseph Bosio.
Eine Fülle von Figuren und Szenen breiten sich vor unseren Augen aus: Im Zentrum, über dem Eingang steht Apollon, Gott der Künste, der Unheil abwendende, Heil bringende Gott, dargestellt als Jüngling mit Lorbeerkränzen in seinen Händen, begleitet von den geflügelten Göttinnen des Ruhmes mit ihren Trompeten.
Abb. 16: Apollon mit Siegesgöttinen
Um ihn versammeln sich Jongleure zu Fuß oder zu Pferde mit ihren Tellern, Ringen und Bällen. Reiterinnen vollführen ihre Dressur-Kunststücke. Eine Artistin im Schmetterlingskostüm springt durch einen Reifen auf ein Pferd.
Abb.17: Artistin springt durch einen Reifen auf ein Pferd
Ein Musikant mit seinem Tamburin und eine Musikantin mit Handzimbeln schlagen den Takt. Ein Akrobat läuft auf seinen Händen, ein anderer schlägt ein Rad, einer rennt unter der Last eines Mannes auf seinen Schultern. Möglicherweise ist dies die Darstellung eines Ephedrismos[10], ein „Spiel, bei dem man auf einem Besiegten reitet“. Antike Autoren berichten über diesen Wettkampf, dessen Darstellung man auf griechischen Vasen, als Skulpturengruppe und auf Wandmalereien findet.
Abb.18: Jongleur, Läufer mit der Last eines Mannes und Radschläger
Herkules bekämpft zwei Amazonen und triumphiert auf seinem Streitwagen, Reiter bestreiten ein Rennen um einen Obelisken, andere scheinen sich einen Kampf zu liefern. Szenen aus antiken Wettkämpfen und der Mythologie vermengen sich mit Bildern aus dem Zirkus, gehüllt in antike Gewänder.
Abb.19: Herkules im Kampf
Abb. 20: Jongleur und Musikant mit Zimbeln
Abb. 21: Pferderennen
Der Fries, meint der Architektur-Historiker Mark Deming, „erschien den Zeitgenossen wie eineglückliche Wiedergabe des feierlichen ‚Festzuges der Panathenäen“, der die Cella-Außenwand des Partheon-Tempels“ in Athen schmückte. [11]
Abb. 22 : Parthenon-Fries: Ausschnitt aus dem Festumzug der Großen Panathenäen von Phidias-
Fragmente dieses Frieses (heute in London, Berlin und Athen) zeigen das wohl größte und bedeutendste Fest Athens, die Großen Panathenäen, welche alle vier Jahre anlässlich des Geburtstags der Schutzgöttin der Stadt Athena gefeiert wurden und mit Wettkämpfen verknüpft waren. Auf dem ursprünglich knapp 160 m langen und circa 1 m hohen Fries war der Festzug zu sehen, welcher Götter, Frauen mit Weinkrügen, Männer mit Opfertieren, Athleten, Reiter und Musikanten zeigte.
Ein weiterer Fries am Cirque d’Hiver mit weißen Reliefs auf rotem Grund über dem Kranz von vierzig Fenstern schließt die Rotunde nach oben hin ab. Mit seinen drei Hauptmotiven, den Köpfen von Poseidon (griech.)/Neptun (röm.), von Pferden und Athena (griech.)/Minerva (röm.) weist er auf die Erschaffung des Pferdes durch Poseidon und seine Zucht und Beherrschung durch Athena und, wie schon der andere Fries, auf die ursprüngliche Bestimmung des Baus als Reiterzirkus.
Abb. 23 und 24: Details aus dem oberen Fassadenfries
Der Meeresgott Poseidon bzw. Neptun ist mit Girlanden und Blumen bekränzt, ebenso die Pferdeköpfe, die an einen Dreizack, Neptuns Attribut, gelehnt sind. Auf den Ecken des Polygons erscheint oberhalb der korinthischen Säulenkapitelle die behelmte Athena bzw. Minerva.
Abb. 25: Athena am oberen Fries des Cirque d‘Hiver
In Korinth wurde Athena als Pferdebändigerin und Göttin der Hippike, der Reitkunst, verehrt und der Kriegsgöttin zu Pferd gleichgesetzt und erhielt große künstliche Pferde, Pferdestatuetten, aber auch lebende Pferde als Weihegeschenke. So soll im griechischen Ilion (in Attika) ein Pferd aus Holz der Athena als Beschützerin der Rossezucht geweiht gewesen sein. Das hölzerne Pferd von Troja, an dessen Bau Athena mitgewirkt haben soll, geht auf diesen alten Kult zurück.
Auf dem Hippeios Kolonos, dem Pferdehügel, in Athen waren der Athena Hippia und dem Poseidon Hippios (o. Hippos) ein gemeinsamer Altar geweiht. Beide verbindet in der griechischen Mythologie der Streit auf der Akropolis um den Namender Hauptstadt von Attika. Das beste Geschenk an die Bewohner sollte darüber entscheiden. Poseidon brachte das Pferd, Athena die Pflanzung und Nutzung des Ölbaums. Von den anderen Göttern wurde ihr der Sieg zugesprochen und die ihr zu Ehren in Athen abgehaltenen berühmtesten Feste hießen Panathenäen. Die Themen beider Friese verknüpfen sich auf diese Weise.
Hittorff, vertraut mit der Mythologie der Griechen, verband mit den Darstellungen der Friese seinen Reiterzirkus und dessen Darbietungen mit der Antike und gab dem Bauwerk zugleich eine höhere Weihe und bedeutungsvolle Ausstrahlung. Hittorff war ein Meister der Anverwandlung. Er kopierte nicht einfach antike Formen und Bilder im Sinn einer einseitigen Aneignung. Vielmehr schuf er durch die Verschränkung von der Antike mit der Funktion des Zirkus neue Inhalte.
Aus der griechisch-römischen Antike ist auch die Ausschmückung der Vorderkante des Daches entlehnt: das grüne, gusseiserne Gesims ist mit floralen Ornamenten und aufgesetzten gefiederten Masken oder Fabelwesen sowie Palmetten-Akroterien an den Eckpunkten des Polygons dekoriert.
Abb. 26: Antifix am vorderen Dachabschluss
Aus der Antike sind derartige figürliche und florale Bauelemente aus Ton oder Stein als Abschluss von Dachziegeln oder als Dach-verzierungen bekannt und werden als Antefixe bezeichnet. Ein Antefix in Form eines Medusenhauptes, des Kopfes eines Mischwesens oder eine Göttin/eines Gottes sollte Unheil vom Haus abhalten.
Der Innenraum
Im Inneren des Baus steigerte sich noch die Vielfarbigkeit des üppigen Dekors. Ein Haupteingang und zwei Nebeneingänge führen in weite Vestibüle. Dort ist eine Marmortafel befestigt, die an die Einweihung des Winterzirkus durch Napoleon III. erinnert. (Abb.27)
In ehrendem Gedenken an Kaiser Napoleon III., der am 11. Dezember 1852 den Winterzirkus, damals Cirque Napoleon, einweihte, der von dem Architekten Jacque Hittorff errichtet wurde
Umgang, der zu zahlreichen Treppenhäusern führt, über die die sechstausend (nach anderen Quellen 4000-5000) rot gepolsterten, amphitheatralisch in Stufen ansteigenden Sitzplätze leicht erreicht werden können. (Abb. 28)
Der Unterbau der Tribünen ist mit italienischem Stuckmarmor verkleidet, den vorgestellte gelbe Säulen mit vergoldeten Kapitalen aus dem gleichen Material verzieren; die Balustrade erstrahlt in blendend weißem Carrara-Marmor.
Den Umgang über den Sitzreihen dekorieren 20 Gemälde von Nicolas-Louis Gosse und Felix-Joseph Barrias. Sie bilden das Gegenstück zum Fries an der Außenfassade. Die Künstler erzählen die Geschichte der Reitkunst von der Antike bis zur unmittelbaren nationalen Vergangenheit.
Abb. 29: Cirque d’Hiver, 1854
Zu sehen sind u.a. der Aeropag, Ort des höchsten Gerichts in Athen – Pferderennen bei den Griechen – Römische Wagenrennen – Römische Tänze – Darbietungen auf dem galoppierenden Pferden – Olympischer Siegeszug – Faustkampf bei den Römern – ein Gallier, der den Speer schleudert – Siegeszug nach einem Turnier im 16. Jahrhundert – Hohe Schule zur Zeit Henri II. – Ringstechen unter Louis XIV. – Hohe Schule unter Louis XV. – Viktoria krönt die Kraft und Geschicklichkeit in Anwesenheit der Zuschauer aller Zeiten und Länder“.
Auch diese Bilder stellen die aktuellen Darbietungen im Zirkus in einen geschichtlichen Rahmen. Aber es ging hier nicht allein um historische Verweise. Mit ihrer opulenten Farbenpracht sollte die Bildersequenz die Fantasie der Zuschauer anregen, sie verzaubern, in andere Welten versetzen.Die gleiche Absicht verfolgte Hittorff in der Gestaltung der Zirkuskuppel. In jedem Winkel des Zwanzigecks hat eine antikisierende Zeltstange ihr Auflager, und zwischen diesen mit zierlichen Ornamenten geschmückten Pfosten ist ein mit Borten verziertes Zeltdach gespannt.“ [12] Durch dieses farbenprächtige Zeltdach bleibt die Konstruktion des Dachstuhls dem Zirkuszuschauer verborgen.
Die Zeltstangen und die übrigen Ornamente waren aus getriebenem Kupfer; die Stangen wurden rot- braun gestrichen, die Ornamente vergoldet, das Zelttuch aus weißer Kaschmirwolle war mit einer „Fülle von Palmen, Rosetten, geflochtenen Bändern, Girlanden, Sternen Schnörkeln und Gewinden“ (Deming) bestickt und strahlte im Glanz „der 20 Glaslüster, die wie Satelitten einen riesigen Kronleuchter in der Mitte des Saales umgaben“ [13]
Abb. 30 : Cirque Napoléon (1852)
Die Glaslüster gibt es auch heute noch (Abb.31), den Kronleuchter in der Mitte aber nicht mehr: Er musste Platz machen für die Trapez-Vorführungen unter der Zirkus-Kuppel
Leider ist die Figur der Siegesgöttin von François Joseph Bosio mit der Nationalfahne in der einen und einer Fackel in der anderen Hand über der Laterne des Zirkusdaches längst verschwunden. Bei Vorstellungen wurde die Gasflamme der Fackel entzündet.
Abb. 32 : Entwürfe der Siegesgöttin für das Zirkusdach.
Alles andere, mit dem Hittorff die Besucher anlockte und auf das Zirkusspektakel einstimmte, blieb erhalten. Im Zirkus selbst übernahm 1934/35 die Familie Bouglione bis auf den heutigen Tag das Zepter.
Der Grund, dass der Zirkus nicht zerstört wurde und damit das Schicksal fast aller Zirkusbauten erlitt, dass er immer noch vom Publikum geliebt wird, liegt sicherlich auch daran, dass Hittorff einen seiner Funktion angemessenen Bau geschaffen hat. Deshalb sei hier ein Exkurs gestattet:
Exkurs: Gedanken zur angemessenen Architektur
Die Farbe
Gottfried Semper, in Deutschland der prominentester Verfechter der Polychromie in der antiken Architektur, schreibt in seinen 1834 erschienenen »Vorläufigen Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten«: „Aber sind die heiteren Farben des Südens unserem grauen, nordischen Himmel angemessen? Was die Sonne nicht färbt, bedarf umso mehr des Kolorits.“[14] Einen ähnlichen Gedanken hatten wir schon bei Hittorff gesehen. Semper hatte aber – und das gilt auch für Hittorff – nicht die Absicht, „seine Zeitgenossen zu bereden, ihre Gebäude auf einmal alle nach Art der alten Tempel von Athen und Sicilien zu bemalen“. [15]
Bei seinen Vergnügungsbauten aber nutzt Hittorff gezielt die „emotionale Energie“ [16] der Farbe als Stimmungsträger, um die Sinne zu erregen, um Lust, Glück und Freude hervorzurufen.
Er nutzt gleichermaßen die rationalen Eigenschaften der Farbe mit ihrer Fähigkeit etwas zu gliedern, hervorzuheben, in den Vordergrund zu rücken, „etwas wertvoll erscheinen zu lassen“ [17]. Um es mit den Worten von Le Corbusier zu sagen: „Die Polychromie war und ist Teil der großen Baukunst und wird es auch in Zukunft sein. […]Die Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie der Grundriss und der Schnitt. Oder besser: die Polychromie, ein Bestandteil des Grundrisses und des Schnittes selbst.“[13] Farbe gibt Identität. Farbe ist, wie die Konstruktion, ein funktionelles Mittel, das ästhetisch eingesetzt, Schönheit, Pracht hervorbringt, ein Sinneseindruck, der gerade den Vergnügungsbauten, die die Besucher anziehen sollen, eine große Rolle spielt. Am Cirque d’Hiver sehen wir diesen Satz bestätigt.
Er gehört, wie Mark Deming meint, „zu den wenigen Bauwerken, die repräsentativ für eine aus dem Studium der Polychromie bei den alten Griechen erwachsene Architektur sind.“ [19]
Der Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion, der „alle nicht-konstruktiven architektonischen Gestaltungsmittel – mithin auch Farbe – als ‚dekorativen Schleim‘ disqualifizierte“ [20] und für den Hittorff ohnehin mehr „Dekorateur“ als bedeutender Architekt war, hat den von ihm ansonsten bewunderten Le Corbusier nicht verstanden. Eine sich auf das rein Konstruktive beschränkende Architektur wäre bei den Vergnügungsbauten völlig unangemessen, unproduktiv, ja geradezu geschäftsschädigend gewesen.
In seinem Aufsatz über die Polychromie in der griechischen und römischen Architektur hat Stefan Zink die Bedeutung der Farbe als „integraler Bestandteil der antiken architektonischen Gestaltung“ und ihre „Schlüsselrolle für die sinnliche und atmosphärische Erfahrung von Architektur“ hervorgehoben. [21]
Für Hittorff mit seinem Gespür für die Symbol- und Wirkkraft der Architektur war die Farbigkeit mehr als nur angemessen, sie war geradezu essentiell an Orten der Imagination und des Vergnügens.
Das Triviale
Am Beispiel des Cirque d’Hiver lässt sich aufzeigen, wie Hittorff Elemente und Bilder der antiken Baukunst, die nur einem kleinen Kreis der Kenner mit erlesenem Geschmack zugänglich waren, aus ihrem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund herauslöst und sie als Ausschmückung für eine breite Schicht zugänglich macht und dabei – ganz wesentlich – in einen neuen Sinnzusammenhang stellt.
Nur derjenige, der mit der griechischen Geschichte und Mythologie vertraut ist, weiß, dass es beim Panathenäen-Fries und der Darstellung von Poseidon und Athene auf dem Westgiebel des Parthenon um die „agonale Kultur der Griechen“ [22] , um die Kultur des Wettstreites (griechisch agon) geht. Die antike griechische Mentalität ist von dem schweizerischen Kulturhistoriker Jakob Burckhardt „als grundsätzlich kompetitiv“ charakterisiert worden [23], als kämpferisch, kampfeslustig, keinem Streit aus dem Weg gehend, streitbar. Immer der Beste zu sein, ständige Exzellenz (arētē), der Sieger zu sein, war das Ideal und Ziel der griechischen Aristokraten und freien Bürger, auch der Götter.
Die Friese des Cirque d’Hiver lösen sich aus dem Kontext des Streitbaren, des Kampfes, des Strebens nach Ruhm und Ehre und werden hier zur Anspielung, Ankündigung und Einstimmung auf das heitere zirzensische Spiel und Belustigungen.
Diese „Trivialisierung“ von Formen, Elementen und Bildern der klassischen Baukunst, diese „Kombination von Klassik und Konsum“, diese „Hybride … in denen sich high und low art zu einer neuen heterogenen Entität verfugten“ [24], charakterisierte Hittorffs Bauten für die Unterhaltungsindustrie. Sein Erfolg als Architekt der Unterhaltungsindustrie bestand gerade darin, dass es ihm diese Verschmelzung, diese Befreiung des „Klassischen aus dem Sperrbezirk des Akademischen“ (Pisani) gelang.
Epilog
Bei der Place de la Concorde und der Place de l’Étoile haben wir Jakob Ignaz Hittorff als Gestalter repräsentativer städtischer Plätze kennengelernt. Beim Gare du Nord hat er sich den Erfordernissen des neuen Massentransportmittels Eisenbahn gestellt und einen Bahnhof geschaffen, der durch die Verschmelzung der Bauprinzipien der École des beaux-arts mit der Eisenarchitektur zu einer machtvollen Demonstration des Fortschritts wurde. David Van Zanten ist beizupflichten: »Die Sprache, die Hittorff in seinem Gare du Nord spricht, ist die der vielfältigen Materialien«, die eine »Komplexität der Architektur« zulässt.« Diese »„neue“ Architektur [war]„neuer“«, als viele seiner Kritiker dachten, und mit ihr setzte „eine ganz neue architektonische Technologie ein.« [25]
Bei den Vergnügungsbauten im Park der Champs-Élysées, insbesondere beim Panorama und dem Cirque d’Été und beim Cirque d’Hiver am Boulevard des Filles du Calvaire haben wir einen Architekten gesehen, der mit Abwandelungen aus dem großen Warenlager der klassischen Baukunst, mit ihrer Polychromie, auch gültige Normen ignorierend, Groteskes nicht scheuend, die Klassik in das Spielerische, Leichte überführte. Er errichtete so alle Sinne anregende Vergnügungsbauten und schuf eine Architektur der Heiterkeit und des Nervenkitzels.
Hittorffs Zeitgenossen haben die sinnlichen Aspekte seiner Architektur begriffen. Charles-Ernest Beulé, ständiger Sekretär der Academie des Beaux-Arts, wird 1868 in seiner Eloge auf Hittorff dessen Kunst „poetische Erinnerungen“ nennen. Mit der Leichtigkeit seiner innovativen Konstruktionen habe er scheinbar die Schwerkraft überwunden.
Das Meisterwerk seiner Vergnügungsbauten, der Cirque d’Hiver, seit 1934 im Besitz der Familie Bouglione, ist noch immer mit seinen zirzensischen Vorstellungen ein Ort des Staunens und der Poesie, des Erinnerungszaubers.
Abb 33: Werbeplakat des Zirkus Bouglione (Oktober 2024)
Ein kleiner sympathischer Auftritt mit Rappe und Pony erinnert noch etwas an die Zeit, in der Pferde die Hauptrolle im Cirque d’hiver spielten. (Abb. 34) Es ist die einzige Darbietung mit Tieren.
Der Zirkus ist ein Ort der Magie, der Illusionen, einer Mischung aus Präzision und Virtuosität, der Grenzüberschreitung, auch der atemlosen Spannung, „ein Angriff auf die Sinne, die Nerven, die Wollust“ [26]
Abb. 35: Die grandiose Trapez-Truppe des Zirkus Bouglione. Ihr Auftritt ist der Höhepunkt und Abschluss der Zirkusvorführung. Dezember 2024
Die Zuschauer erleben ein Wechselbad der Gefühle, wenn die großen Kronleuchter erlöschen und farbige Lampen das Zirkusrund in ein magisches Rot, Blau oder Violett tauchen, Spotlights ihre Lichtkegel auf die Artisten im Zentrum der Manege und am Trapez in der Zirkuskuppel werfen. Außergewöhnliches kündigt sich an: das Spiel, das Jonglieren am Abgrund der Instabilität, das Risiko des Sturzes immer präsent, eine Inszenierung des Risikos. Dann das Aufatmen, wenn die Akrobaten die eben noch gefährdete Balance wiederherstellen, wenn die Angst vor ihrem Absturz abfällt und sich vollends auflöst beim Auftritt des Clowns, im Lachen über seine Komik, sein groteskes Aussehen, seine Ungeschicklichkeit. Er, der Clown ist der Gegenheld, das Gegenbild des Akrobaten, „der fast noch besser, noch hinreißender nicht kann, was der andere kann. … Der alles gründlich verkehrt macht“[27]. Er ist wie in Hans Christian Anderson der Schatten des Mannes, der sich selbständig gemacht hat und als „ungeheures Minus“, „als negative Größe die Darbietung zum wirklichen Licht wie Schatten umfassendes Gesamtspiel herausschält, somit vollendet.“[28] Er ist „der Kontrapunkt“, der „den Zuschauer von der Darstellung permanenter Überlegenheit des Körpers über den Geist [erlöst]“. [29]
Es sind diese Grenzüberschreitungen, es ist dieser unmittelbar erlebte Spannungswechsel vom Übermenschlichen der Artisten, die die Gesetze der Physik und der Anatomie zu überwinden scheinen, hin zum allzu Menschlichen der Clowns, „eine Sorte mehlbestäubte Bäcker, die das Brot des Lachens für alle zubereiten“. [30]
Die Faszination des Zirkus mit seinem Rausch von Formen und Farben, wo die Welt auf den Kopf gestellt wurd und die Gesetze der Physik scheinbar aus den Fugen geraten und alles in eine phantasiebeflügelnde Verbindung übergeht, hat eine Vielzahl von Künstlern zu großartigen Bildern inspiriert.
Abb. 36: Marc Chagall – Cirque, 1964 ;Privatsammlung;
Trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen und medialer Konkurrenz (Kino, Fernsehen, Internet, Smartphone) lebt der Zirkus, auch weil er eine visuelle Darstellungskunst ist, ohne Sprachbarriere, selbst nicht für den Clown. Der Zirkus lebt, auch weil er zu neuen Formen gefunden hat, in denen Tanz, Akrobatik, Pantomime und Theater in das Spiel mit Licht und Farben integriert werden und wo anstelle einer Abfolge unzusammenhängender Nummern Geschichten erzählt werden und wo manch zweifelhafte Tierdressuren verschwunden sind. Damit besteht die Hoffnung, dass auch Hittorffs Zirkusbau, mit seinem Alter von über 170 Jahren der älteste seiner Art auf der Welt, noch lange besteht und ein Ort der Freude bleibt, in der „wir uns für eine kurze Spanne verlieren, uns auflösen in Wunder und Seligkeit … eine Welt voll Magie…“ [31]
Walter Benjamin schrieb in seiner Rezension von Ramon Gomez de la Sernas Le cirque: [32] „Aber er [der Zirkus] ist auch ein Ort des Friedens in anderm Sinne: mit Recht hat Serna in einer berühmten Rede, die er in einem Mailänder Zirkus, vom Trapez herab, hielt, gesagt, der wahre Völkerfriede werde einst in einem großen Zirkus besiegelt werden.“ Und: „Im Cirkus kehren wir alle ins Paradies zurück, darin wir gerechter, unbefangener und toleranter sein müssen.“ [33] Aber das ist wohl eine Illusion.
Anmerkungen
[1] Titelbild: Sommerzirkus (Cirque National des Champs-Élysées.) Abb. aus L’Illustration, Journal universel; 1843, S. 249
[2] Adeline Grand-Clément. Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce. Anabases – Traditions et réceptions de l’Antiquité, 2007, 6, pp.135-156. halshs-00951738
[3] zitiert nach Adeline Grand-Clément, ebd. und Karl Hammer, ebd.
[7] Zitiert nach Mark Deming: Der Cirque d’Hiver oder Cirque Napoléon, in: Die Ausstellung Jakob Ignaz Hittorff – Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts; Katalog der Ausstellung Wallraf-Richartz-Museum Köln, 21. Januar bis 22. März 1987; S.237-248
[10] Informationen hierzu bei : Louis Becq de Fouquières: Les jeux des anciens: leur description, leur origine, leurs rapports avec la religion, l’histoire et les mœurs. Paris, C. Reinwald, Libraire-Éditeur, 1869 ; Peter Zazoff : Ephedrismos. Ein altgrie-chisches Spiel. Antike und Abendland; Hamburg, etc. Bd. 11, (Jan 1, 1962): 35; Frank Brommer: Huckepack. The J. Paul Getty Museum Journal, Vol. 6/7 (1978/1979), pp. 139-146
[14] Eckart Hannmann: Aspekte der Farbigkeit in der Architektur des 19. Jahrhunderts. Text aus: Tagung ,,Historische Putze am Außenbau“, in DENKMALPFLEGE in Baden-Württemberg, Bd. 8 Nr. 3 (1979), S. 108-114;
[22] Alexander Meeus: „Immer der Beste zu sein“: Die agonale Kultur der Griechen; 9. Juni 2017 AGON- Blog der Universität Mannheim, Philosophische Fakultät.
[25] David Van Zanten : Hittorff’s Gare du Nord and visions of a new Paris; in: El modelo beaux-arts y la arquitectura en América Latina, 1870-1930 – Transferencias, intercambios y perspectivas transnacionales, Fernando Aliata y Eduardo Gentile (compiladores); Universidad Nacional de La Plata. Facultad de Arquitectura y Urbanismo, 2022, S.27-43
[26] Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Krull; Drittes Buch, Erstes Kapitel, S.269 ff; zitiert aus Sonderausgabe, S.Fischer Verlag, 1981
[27] Karl Wolfskehl: Gegenspieler zur Metaphysik des Clowns. Der Querschnitt, Band 9, Heft1, Januar 1929
Abb 1: Cirque des Champs-Élysées, par Jean Victor Adam, série Loisirs, planche 14, Imprimerie Lemercier (Paris), 1840 ; BnF, département des Arts du spectacle, FOL-ICO CIR-6
Abb 2: Der Cirque National (Cirque d’Été) auf den Champs-Élysées, alte Fotografie von Hippolyte Bayard, Paris, 1847 – Getty Museum; Wikipedia
Abb 3: Portikus des Sommerzirkus aus : Jacques Ignace Hittorff, Restitution du temple d’Empédocle à Sélinonte, ou l’architecture polychrôme chez les Grecs (Band 2): Pl. XXIII; Atlas 1851. Bildquelle: Heidelberger historische Bestände – digital; https://doi.org/10.11588/diglit.4797#0028
Abb 4: Cirque d’Été. Vorentwurf für den Deckendekor. Kat.-Nr. 245 Abb. aus: Jakob Ignaz Hittorff. Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Wallraf-Richartz-Museum Köln, Graphische Sammlung, 21. Januar bis 22. März 1987, S.208, Kat.-Nr. 248
Abb 5: Cirque de L’Impératrice, A.Provost del et. Lith., Paris Imp. Par Auguste Bry, Rue du Bac
Abb 6: Cirque de l’Impératrice aux Champs Élysées, par Ph. Benoist, Musée Carnavalet (Ausschnitt)Im Vordergrund die Fontaine des Quatre-Saisons,dahinter der Zirkus, rechts das Café-Restaurant Le Laurent
Abb 7: Concert donné par M.Berlioz dans la salle du Cirque Olympique, aux Champs-Elysées ; L’Illustration Journal universel, Nr.100, Vol. 4, p. 325
Abb 8: Numéro d’inventaire: RF 36167, Recto. Référence de l’inventaire manuscrit : vol.28, p.153; Collection: Département des Arts graphiques , Cabinet des dessins. Fonds des dessins et miniatures, collection du musée d’Orsay
Abb 9: Vue exterieure du nouveau Cirque Napoléon, Boulevard des Filles-du-Calvaire, Abb. aus L’Illustration : Journal universel 1853
Abb 10: Tafel mit heutiger Inschrift und ungekröntem Adler über dem Portal Foto Wolf Jöckel
Abb 11: Hittorff, Jakob Ignaz, Cirque d‘ Hiver oder Cirque Napoléon, Projekt zur Gestaltung der Zirkusumgebung., Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. Ci. N. 8. Rheinisches Bildarchiv Köln, Reproduktions-Nr: rba_c002181
Abb 12: Cirque d’hiver am Boulevard des Filles du Calvaire. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 13: Krieger von Francisque Duret und Bosio. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 14: Amazone von Jean Jacques (o. James) Pradier. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 15: Fotografie der Amazone vom abgerissenen Cirque d’Été bei einem Abrissunternehmer in Montrouge
Abb 16: Apollon mit Siegesgöttinen. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 17: Artistin springt durch einen Reifen auf ein Pferd. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 18: Jongleur, Läufer mit der Last eines Mannes und Radschläger. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 19: Herkules im Kampf. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 20: Jongleur und Musikant mit Zimbeln. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 21: Pferderennen. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 22: Parthenon-Fries- Cavalcade, von Phidias (um 440 v.Chr.) Teil aus dem Festzug der Großen Panathenäen (Britisches Museum).
Abb 23: Poseidonkopf aus dem oberen Fassadenfries. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 24: Pferdeköpfe aus dem oberen Fassadenfries. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 25: Athena am oberen Fries des Cirque d‘Hiver. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 26: Antifix am vorderen Dachabschluss. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 27: Erinnerungstafel an die Einweihung des Cirque Napoléon. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 28: Unterer Umgang mit Zugang zu den Treppenhäusern. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 29: Cirque d’Hiver, par Sulpice et Bury, colorierte Zeichnung nachCirque Napoléon par J.I.Hittorff in der Revue générale de l’architecture et des travaux publics, (1854).
Abb 30: Cirque Napoléon, Zeichnung Hercule Louis Catenacci, in Le Musée des Familles (1852); Dominique Jando Collection
Abb 31: Glaslüster im Cirque d’hiver. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 32: Entwürfe der Siegesgöttin für das Zirkusdach. Abb. bei Mark Deming (siehe Bibliographie)
Abb 33: Werbeplakat des Zirkus Bouglione . Foto: Wolf Jöckel Oktober 2024
Abb 34: Pferdenummer im Zirkus Bouglione. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Abb 35: Trapeztruppe des Zirkus Bouglione. Foto: Wolf Jöckel Dezember 2024
Alle Fotos dieses Beitrags von Frauke und Wolf Jöckel, aufgenommen am 14.1.2025
Zur Vermeidung längerer Wartezeiten empfiehlt es sich, ab jeweils zwei Tage vor einem geplanten Besuch kostenlose Zugangskarten zu reservieren: https://www.notredamedeparis.fr/visiter/reserver/ (FR/EN)
Allerdings sind die Kontrollen am Eingang der Kathedrale sehr locker, so dass die Wartenden in beträchtlichen Tempo eingelassen werden. Man sollte sich also -auch wenn man keine Karte hat- von der langen Warteschlange nicht abschrecken lassen. (Anm. Februar 2025)
Es gibt jeweils einen guten Grund für Zeitpunkt, Gegenstand und Ort dieser Ausstellung zu Jacques Prévert:
1924 veröffentlichte André Breton sein erstes Manifeste du surréalisme. Im gleichen Jahr erschien auch die neue Revue La Révolution surréaliste. 2024 gilt deshalb als Jahr des 100. Geburtstages des Surrealismus.
Jacques Prévert und seine Freunde entdeckten diese neue Zeitschrift im Jahr ihres Erscheinens in der Buchhandlung von Adrienne MonnierLa Maison des Amis des Livres. Prévert hat sich intensiv mit dem Surrealismus auseinandergesetzt und er hat sein Werk wesentlich beeinflusst. Man hat von einem esprit surréaliste im Werk Préverts gesprochen.[1]
Jacques Prévert hat zwar entscheidende Jahre seines Lebens im Quartier Latin verbracht, aber 1955 bezog er eine Wohnung in der Cité Véron, direkt hinter und oberhalb der Moulin Rouge in Montmartre/im 18. Arrondissement. Das Musée Montmartre bietet sich also deshalb, aber auch wegen seines besonderen Charakters, als Ort dieser Ausstellung an.
Jacques Prévert in der Cité Véron/Montmartre
Erinnerungstafel am Haus 6b (hinten rechts in der Cité Veron, Ausschnitt). Vian und Prévert hatten eine gemeinsame Terrasse mit Blick auf Moulin Rouge
Prévert auf dem Balkon seiner Wohnung in der Cité Véron
Päckchen an Prévert aus der Ausstellung musée de Montmartre
Prévert an seinem Schreibtisch in der Cité Veron
Jacques Prévert ist vor allem als Lyriker bekannt, zumindest in Frankreich ist er der wohl populärste, Nach keinem Schriftsteller sind mehr französische Schulen benannt. Prévert liegt da mit deutlichem Abstand an der Spitze vor Saint-Exupéry und Victor Hugo! [2] In vielen seiner Texte geht es um universelle menschliche Themen wie Freiheitsstreben, Liebe, Glück und Enttäuschung. Sie sprechen noch heute viele Leser an und werden in Schulen als Unterrichtsstoff verwendet: Selbst in meinem rudimentären schulischen Französisch-Unterricht habe ich Bekanntschaft mit Prévert gemacht: Sein Gedicht Déjeuner du matin diente als Übungsmaterial für das passé composé…. Auch als Drehbuchautor ist Prévert bekannt, er gilt sogar als einer der bedeutendsten des französischen Films.[3]
Das musée de Montmartre möchte allerdings eher unbekannte Facetten des Schaffens von Prévert zeigen, seine „verborgenen Talente“ (BeauxArts[4]) oder, wie es in der Ankündigung des Museums heißt: „Jacques Prévert wie Sie ihn wahrscheinlich noch nie gesehen haben“. Dazu gehören seine originellen Drehbücher, seine Zeichnungen und Collagen, seine Zusammenarbeit und Freundschaft mit vielen bedeutenden Künstlern…
1932 schreibt Prévert zum ersten Mal ein Drehbuch: für seinen Bruder Pierre. Bis Ende der 1940- er Jahre entstehen weitere Drehbücher, bei denen Prévert eine sehr spezifische Methode verwendet: Er heftet an die Wand seines Ateliers große Blätter, auf denen er das Aussehen und die Charaktere der Personen skizziert, ebenso einzelne Dialoge. „Diese Blätter sind ein einzigartiges Zeugnis des kreativen Schaffens Préverts“. (Beigefügte Informationstafel)
Aus dem gezeichneten Scenario für Les Enfants du paradis
Prévert hat mit mehreren Regisseuren zusammengearbeitet, vor allem aber mit Marcel Carné. In den 1930-er und 1940-er Jahren entstanden mehrere gemeinsame Filme, darunter auch die „Enfants du Paradis“ von 1945.
Das in der Ausstellung präsentierte Kinoplakat.[6]
Dies sind Ausschnitte aus dem gezeichneten Scenario für den Film Les Visiteurs du soir, ein Klassiker des französischen Films.
Auch dieser Film entstand in Zusammenarbeit mit Marcel Carné im Jahr 1942, also in der Zeit der deutschen Besatzung. Der Film spielt im Mittelalter, um die Zensur zu umgehen, aber die Botschaft ist unverkennbar: Der Teufel (Hitler) wird schließlich besiegt, das Gute (die résistance) triumphiert….[7]
Collagen
Nach einem schweren Unfall 1948 begann Prévert in einer längeren Zeit der Rekonvaleszenz Collagen anzufertigen. Seitdem arbeitete er gerne mit dieser Technik, für ihn eine andere Form der Poesie.[7a]
Diese Collage, die auch als Motiv für das Plakat der Ausstellung verwendet wurde, entstand vor 1963 und trägt den Titel Le Désert de Retz: Ein nobel gekleideter, schreibender Hirsch posiert vor einem Fenster, das einen Blick in die Natur zeigt. Wie der Titel angibt, handelt es sich um den Désert de Retz. Dies ist ein westlich von Paris gelegener Landschaftspark. Er entstand nach englischem Vorbild in den Jahren vor der Französischen Revolution, ausgestattet mit zahlreichen „fabriques“, besonderen Blick- und Anziehungspunkten, so wie es sie ja auch im Park Rousseaus in Ermenoville gab. Und wie dieser zog auch der Park von Retz zahlreiche prominente Besucher an: König Gustav III. von Schweden, Marie Antoinette, aber auch Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und viele französische Aufklärer. Der Park war „einer der berühmtesten Orte seiner Zeit.“[8] Sein Schöpfer war Racine de Monville, ein reicher, höchst kultivierter Adliger, interessiert an Gartenbau, Botanik und Musik – er war befreundet mit dem in Frankreich damals hochberühmten Christoph Willibald Gluck, dem er in Retz auf seiner Harfe vorspielte. Monville war auch begeisterter Jäger, weshalb ihn Prévert wohl in Gestalt eines Hirsches darstellte. Während der Französischen Revolution entging Monville nur knapp der Guillotine, starb völlig verarmt und sein Park verfiel immer mehr. Die Surrealisten um André Breton entdeckten diesen verwunschenen Ort für sich, und es war (neben Colette) besonders Prévert, der sich für seine Erhaltung engagierte. Für die Collage verwendete er das Foto eines Fensters der Colonne détruite, einer künstlichen Ruine, wie sie damals beliebt war.[9]
Das von Prévert für seine Collage verwendete Fensterbild stammt von Izis, einem vor allem für Paris-Match arbeitenden Fotografen und Freund. Beide verband die Liebe zur Seine und dort entstand auch dieses Portrait aus dem Jahr 1949[10]:
In der Ausstellung sind auch weitere Collagen Préverts zu sehen. So eine Serie zu etwas verfremdeten Pariser Sehenswürdigkeiten wie die nachfolgende Collage zu Notre- Dame…
Jacques Prévert, Souvenir de Paris
…. oder satirische politische Collagen im Geiste des antiklerikalen und antiautoritären Engagements Préverts. Dies war wohl auch eine Reaktion auf seine strikte religiöse Erziehung, wesentlich geprägt von einem royalistischen und ultra-religiösen Großvater. „Er zögert nicht, sich in seinen Werken, in denen die Kirche und der Staat bevorzugte Ziele sind, sich mit schwarzem Humor über unantastbare Personen und Symbole lustig zu machen.“ [11]
Der Kaiser (ohne Datum)
Der Papst (ohne Datum)
Préverts Wochenplan
Préverts Wochenplan bestand aus einzelnen Blättern für jeden Tag, die er an der Wand befestigte. Darauf notierte er nicht nur die vorgesehenen Projekte und Verabredungen, sondern er schmückte die Blätter auch jeweils mit Blumenzeichnungen.
Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Künstlern
Jacques Prévert hatte einen ausgeprägten Sinn für Freundschaft, viele Maler der Avant-garde waren seine Freunde. Eine besonders enge Freundschaft verband ihn mit Pablo Picasso. Beide vergand eine große Bewunderung für das jeweilige Werk des anderen. So widmete Prévert die letzten beiden Gedichte der Sammlung Paroles seinem Freund: Promenade de Picasso und Lanterne magique de Picasso. [12]
„Prévert ist mein Freund, Prévert ist mein Kumpel“. Karte von Pablo Picasso an Jacques Prévert.
Aus: Diurnes. Bilder/Photographien von Pablo Picasso und André Villers, Texte von Jacques Prévert (Berggruen, Paris)
Alexander Calder, Mobile. Ein Geschenk für Jacques Prévert
Auf dem Boden ausgestellt: Alexander Calder, Chat serpent (1968)
Aus: Adonides. Künstlerbuch von Prévert (Gedichte) und Joan Miró (Maeght Editeur)
Illustrationen zu dem Künstlerbuch von Max Ernst und Jacques Prévert, Le schiens ont soif. 1964
Es gibt auch gemeinsame Projekte von Jacques Prévert und seinem Freund Marc Chagall. Hier eine Illustration von Chagall zu dem 1965 erschienenen Buch Le Cirque d’Izis (éditions André Sauret Paris)
Zum Abschluss dieses Rundgangs durch die Ausstellung im Musée de Montmartre noch zwei dort ausgestellte Portraits von Jacques Prévert:
Dieses Portrait hat Picasso für eine Neuauflage von Préverts Paroles angefertigt.
Robert Doisneau, Jacques Prévert und sein Hund Ergé. 1954
Dies ist ein Bild aus der Sainte – Chapelle, der ehemaligen Palastkapelle der französischen Könige auf der Île de la Cité. König Ludwig IX. ließ dieses hochgotische Meisterwerk für die Passionsreliquien errichten, die er 1238 in Konstantinopel erworben hatte. Wichtigstes Stück dieser Reliquien war die Dornenkrone Christi. Auf sie verweist die von zwei Engeln getragene steinerne Dornenkrone unter dem Baldachin.
Seit 1804 gehört die von katholischen Christen verehrte Reliquie zum Domschatz von Notre-Dame und ist jetzt in der neueröffneten Kathedrale ausgestellt.
Am 21. Dezember hatte ich die Möglichkeit, an einem vorweihnachtlichen Chorkonzert in der wunderbaren Sainte – Chapelle mitzuwirken. Deshalb die Auswahl dieses Fotos.