Auf den Maler Hans Hartung wurden wir aufmerksam anlässlich der ihm gewidmeten großen Ausstellung 2019/2020 im Musée d’Art Moderne de Paris.[1]


Alle Ausstellungsfotos: Wolf Jöckel

Aufgefallen ist uns vor allem, welche Bedeutung die Farbe Schwarz im Werk Hartungs hat. In seinem Selbstportrait schreibt er, er möge das Schwarz: „Es ist zweifellos meine Lieblingsfarbe. Ein absolutes, kaltes, tiefes, intensives Schwarz.“ (S. 186).

T 1963- E 45
Das erinnerte uns an Pierre Soulages, in dessen Werk ja die Farbe Schwarz in unterschiedlichen Facetten dominiert und dessen großformatige Arbeiten wir in den Museen von Rodez und Montpellier bewundert haben.[2] Und auch Hartung hat die großen Formate geliebt und genutzt. In seinem Selbstportrait spricht er von dem „Bedürfnis, große Bilder zu malen.“
„Ich bin davon überzeugt, dass in der abstrakten Kunst den Dimensionen eines Bildes eine außerordentliche Bedeutung zukommt. … Ein Strich, der quer über eine zwei Meter hohe Leinwand verläuft, drückt Gewalt, Energie und Stärke aus. Ist er nur zehn Zentimeter lang, ist er bedeutungslos. Eine Wut, ein Aufbegehren, eine Begeisterung, eine Leidenschaft von zwanzig Zentimetern, das erscheint lächerlich“. (S. 191)
Und wie bei Soulages gibt es auch bei Hartung keine Titel für seine Werke, sondern nur Nummern. Auch dazu Hartung:
„Von Anfang an habe ich meinen Bildern niemals Titel gegeben, sondern Nummern. Denn ich möchte den Betrachter nicht beeinflussen. … Man muss ihnen (den Leuten W.J.) ihre Freiheit lassen. Völlige Freiheit.“ (S. 79)
In der Tat verband Hartung seit 1947 nicht nur eine künstlerische Nähe, sondern auch eine bis zu seinem Tod fortdauernde Freundschaft mit dem 15 Jahre jüngeren Pierre Soulages.[3]

Hartungs Werk ist von einer großen Experimentierfreude und Variabilität geprägt. Immer wieder erschloss er sich neue Gestaltungsmöglichkeiten. Man hat sogar von einer „kopernikanischen Wende“ seines Schaffensprozesses gesprochen, in der die Farbe „zur Triebkraft seines grandiosen Spätwerks wird.“[4]

Es waren aber nicht nur die Bilder, die für uns Anlass waren, uns näher mit Hartung zu beschäftigen, sondern auch seine ganz besondere deutsch- französische Lebensgeschichte, die sicherlich auch eine Grundlage für die Freundschaft mit Soulages war.
Geboren wurde Hartung 1904 in Leipzig. Sein Selbstportrait von 1922, das seinen festen Platz in Antibes hat, zeigt einen jungen Mann, der selbstbewusst, fast von höherer Warte aus, auf den Betrachter und die Welt blickt.

Schon als Kind schien ihm klar zu sein, dass er sich mit der Malerei ausdrücken konnte, dass er Ängste damit in etwas anderes verwandeln konnte. Als Sechsjähriger habe er sich mit dem Malen „von der Angst befreit“. Vor Gewittern zum Beispiel. Ans offene Fenster sei er gelaufen, um „die zuckenden Blitze im Fluge“ einzufangen. „Noch vor dem Donnerschlag mussten sie auf dem Blatt sein, so beschwor ich den Blitz. Mir konnte nichts geschehen, wenn mein Strich so schnell wie der Blitz war.“ Er füllte ganze Schulhefte mit den Zeichnungen von Gewitterblitzen. “Blitzbücher” nannte sie sein Vater.[5]

1955 Tusche auf Papier 19 x 12,5 cm
Und schon seit 1926 hatte er eine enge Beziehung zu Frankreich. Damals fand eine internationale Ausstellung in Dresden statt, bei der er die französische Malerei kennenlernte:
„Daraufhin unternahm ich mehrere Reisen durch Frankreich, und die Vielfalt der Landschaften, die Schönheit und das Klima Südfrankreichs haben mich überwältigt. Es war nicht allein die Malerei, sondern auch die Architektur -die romanische, gotische, die der Loire-Schlösser, der kleinen Dorfkirchen und der Festungen von Vauban- und eine gewisse Art zu leben, die mich faszinierten, ganz zu schweigen von der Küche und den Weinen aus Bordeaux. Hinzu kam die ungeheure Anziehung, die Paris als kulturelles Zentrum auf mich ausübte, mit seinem internationalen Leben, mit Montmartre -Josephine Baker nicht zu vergessen!- und dem außergewöhnlichen Leben, das sich damals zu seiner großen Zeit am Montparnasse abspielte“.[6]
1926 setzte er seine künstlerische Ausbildung in Paris fort, 1935 ging er dorthin ins Exil, weil das Leben im Nazideutschland für ihn unerträglich und als Maler unmöglich war. Die Nazis entzogen ihm denn auch die deutsche Staatsbürgerschaft und machten ihn zum Staatenlosen. Nach Ausbruch des Krieges meldete sich Hartung zur Fremdenlegion, die einzige Möglichkeit, seiner Internierung als „feindlicher Ausländer“ ein Ende zu machen. Als Legionär war Hartung -zusammen mit anderen Nazigegnern und Juden, die in der Legion dienten, in Nordafrika stationiert. Die Stimmung war sehr gut, wie er später berichtete, zumal er als Maler zur Ausgestaltung des Speisesaals abgestellt wurde. Nach dem Waffenstillstand 1940 wurde er entlassen, ohne je einen Feind gesehen zu haben.[7]

Hartung als Fremdenlegionär in Nordafrika
Danach wurde Hartung demobilisiert und kam im unbesetzten Teil Frankreichs unter. Aber im November 1942 besetzte die Wehrmacht auch diesen Teil Frankreichs. Zunächst versuchte Hartung noch, heimlich dort weiterzuleben, doch dann erschien es ihm ratsam, sich in Nordafrika in Sicherheit zu bringen. Das gelang aber nicht, und wieder war die erneute Verpflichtung zur Fremdenlegion die einzige Möglichkeit, Internierung und Gefängnis zu verhindern und stattdessen gegen das faschistische Deutschland zu kämpfen, für das er Scham empfand: Das sei für ihn „eine moralische Frage“ gewesen. „Ich fühlte mich ein wenig verantwortlich. ‚Verantwortlich‘ ist nicht genau das richtige Wort, aber auf jeden Fall sehr betroffen.“[8] Unter dem Namen Pierre Berton nahm Hartung im November 1944 als Sanitäter an den Kämpfen im Elsass teil. In seinem Lebensbericht schreibt er: „Die Kämpfe waren (…) sehr hart, und wie immer stand die Legion in vorderster Linie. Man schickte die Legion voraus, sobald es offensichtlich war, dass es große Verluste geben würde.“ Bei einem solchen -und dazu auch noch sinnlosen- Einsatz wurde Hartung verwundet: Ein Bein musste amputiert werden. Immerhin entging er, wie er lakonisch bemerkt, auf diese Weise einem vielleicht sogar lebenslangen Dienst in der Fremdenlegion und konnte wieder seiner Bestimmung als Maler folgen.[9] Allerdings verlor er bei dem Transport in das Krankenhaus von Toulouse sein Gepäck mit allen Zeichnungen, die seit Spanien entstanden waren. Das traf ihn fast noch mehr als der Verlust des Beins. 1946 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft und wurde in die Ehrenlegion aufgenommen. 1947 präsentierte die Pariser Galerie Lydia Conti Hans Hartung in ihrer Eröffnungs- Ausstellung, der junge Alain Resnais drehte dazu einen Kurzfilm über den Maler: Beginn eines grandiosen Aufstiegs, markiert von internationalen Ausstellungen und Preisen.
Zu der Ausstellung des Musée d’Art Moderne gehörte auch ein Foto mit entsprechender Erläuterung von Haus und Atelier in Antibes, in dem Hans Hartung zusammen mit seiner Frau Anna-Eva Bergman von 1973 bis zu seinem Tod 1989 lebte und arbeitete. Inzwischen ist es für die Öffentlichkeit zugänglich. Grund genug also für einen Besuch.
Das Anwesen liegt oberhalb von Antibes an einer langen Einbahnstraße. Da wir unserem Navi nicht recht vertrauten, baten wir mehrere Anwohner um Auskunft, die aber nur ratlos mit dem Kopf schüttelten: Erstaunlicher Weise hatte keiner von ihnen etwas von der Fondation Hartung-Bergman gehört… Offenbar also ein echter „Geheimtipp“….
Die Fondation Hartung-Bergman in Antibes
In seinem Selbstportrait beschreibt Hans Hartung das Haus in Antibes so:
„Es ist weiß und umschließt zwei Patios, die mich an das Atrium Romanum erinnern, das mir seit meiner Schulzeit nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, und dem ich in Italien und Südspanien wieder begegnet bin. Ein Patio mit freiem Himmel, aber rundum geschlossen, der andere nach Süden hin geöffnet; die Mauern des Gebäudes sind von einfachen Öffnungen durchbrochen; das ganze liegt inmitten eines Olivenhains. Zusammen mit Anna-Eva habe ich dafür die Pläne bis ins kleinste Detail gezeichnet.“ (S. 173)
Das Haus ist auch eine Reminiszenz an die frühe Ehezeit des Paares Hartung-Bergman auf Menorca Anfang der 1930-er Jahre. Dort hatte sich das junge Paar ein Haus auf den Felsen gebaut: „Es war ein großer, weißer Block, sehr schlicht, an der Höhe eines Hügels gebaut, mit weiter Sicht über Meer und Insel.“ (S. 71). Damit erinnerte es an die Häuser der spanischen Fischer: schlichte weiße Würfel mit in die Breite gezogenen Fenstern. … Es war purer Minimalismus und wilde Romantik. Aber das Idyll währte nur kurz: Hartung und Bergman wurden von den spanischen Behörden der Spionage verdächtigt und mussten Fornells verlassen. Das Haus wurde im spanischen Bürgerkrieg zerstört.[10]

Das Haus auf Menorca[11]
Der Bau der Anlage in dem Olivenhain oberhalb von Antibes dauerte insgesamt sechs Jahre – eine Kraftprobe für Hartung und Bergman, bis endlich das Haus so geworden war, „wie wir es uns erträumt hatten.“ (Selbstportrait, S. 175). Von 1973 bis zu ihrem Tod (Bergman 1987, Hartung 1989) lebten und arbeiteten die beiden Künstler hier.
„1994 gingen die Gebäude an die Fondation Hartung-Bergman über. Sie wurde zum Erhalt des Werks beider Künstler gegründet. Die Stiftung verfügt nicht nur über den größten Bestand an Originalwerken von Hans Hartung und Anna-Eva Bergman, sondern ebenso über ein bedeutendes Archiv in Form von Werkkatalogen, Skizzen, Fotografien und Notizbüchern, sowie der beachtlichen Privatbibliothek der Künstler. Bisher war es jedoch nur Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern oder auf Anfrage auch kleinen Gruppen von Privatpersonen gewährt, diesen Schatz sowie die Original-Ateliers der Künstler in Augenschein zu nehmen.“[12] Seit 2022 sind nun auch individuelle Besuche möglich.
Bilder und Texte zu den wichtigsten Lebensstationen der Künstler sind in dem neuen turmähnlichen Eingangsgebäude angebracht, das sich nahtlos in die Ursprungsarchitektur einfügt und als erste Station auf dem Rundgang dient.

Danach gelangt man in den Olivenhain mit den teilweise zweihundert Jahre alten Bäumen. Die Fotos von der Fondation: F. und W. Jöckel

Im Schatten der alten Bäume gibt es Sitzgelegenheiten und einen kleinen Stand mit Getränken und mittags auch mit landestypischen Spezialitäten. Ein wunderbarer Ort der Ruhe und der Einstimmung in den genius loci.

Und dann geht es zum Herzstück der Fondation: den ehemaligen Ateliers der Künstler, die teilweise zu Ausstellungsräumen umgestaltet wurden.

Immer wieder gibt es dort Ausblicke nach draußen: „Die Fenster sind meine Bilder“, schreibt Hartung. „Durch sie zeichnet sich eine unbewegliche Landschaft ab, doch mit einem ständig sich wandelnden Himmel, der durch die silbernen Blätter der Olivenbäume schimmert.“ (Selbstportrait, S. 176)


Im ersten Gebäude befinden sich die ehemaligen Arbeitsräume von Anna-Eva Bergman. Hartung hatte die junge Norwegerin 1929 in Paris auf einem Fest der Skandinavier kennengelernt.
„Auf diesem Ball habe ich mich heftig gelangweilt, weil ich die Sprache der Tänzerinnen nicht verstand. Bis ein zierliches jungen Mädchen mit großen, blauen Augen auftauchte. Sie war zwanzig Jahre alt, hieß Anna-Eva Bergman und sprach fließend deutsch. Ich wich den ganzen Abend nicht mehr von der Seite. Das war am 9. Mai 1929. Am 11. Mai, als wir uns zum zweiten Mal sahen, gestanden wir es uns gegenseitig: wir hatten uns ineinander verliebt. Am 25. Mai bei einem Ausflug nach Versailles kam es durch die Sonne, die zarten Kräuter, den Duft der Liebesgeschichten von einst, der immer noch in dieser Welt der Spiegelgläser und des Reichtums des Palastes schwebt, zu dem, was kommen musste: wir beschlossen, zu heiraten!“ (S.63)
Allerdings wurde die Ehe 1938 wieder geschieden. Einer der Gründe für Bergmans Trennung von Hartung war die Erkenntnis, dass sie sich nur allein, in völliger Unabhängigkeit künstlerisch entwickeln könnte.[13] 1939 heiratete Hartung die Tochter des spanischen Künstlers Julio Gonzáles, in dessen Haus und Atelier bei Paris er damals lebte und arbeitete. 1952 nahmen aber Hans Hartung und Eva-Maria Bergman ihre Beziehung wieder auf. Sie trennten sich von ihren jeweiligen Ehepartnern, vermählten sich 1957 erneut und blieben bis zu ihrem Tod zusammen.
Im ehemaligen Atelier von Anna-Eva Bergman kann man einige ihrer eindrucksvollen Bilder betrachten und bewundern.
Die teils mehrere Meter oder nur handgroßen Gemälde im minimalistisch abstrakten Stil bestechen durch ihre ungeheure Leuchtkraft, die etwas Sakrales hat. Von Horizonten erzählen sie, von den Felsen und vom Licht der norwegischen Landschaften, von den Himmelskörpern und dem Universum. Die norwegische Malerin – immer auf der Suche nach Licht – entwickelte eine ganz eigene Technik, indem sie Blattsilber oder Blattgold auf mit Acrylfarbe bearbeitete Leinwände auftrug und dann die metallisierte Fläche mit Ritzungen und Übermalungen bearbeitete.[14]

Anna-Eva Bergman, Cap d’Antibes 1974 (Acrylfarbe und oxydiertes Kupferblatt auf Leinwand)

Anna-Eva Bergman, La nuit 1959 (Ölfarbe und Metallblatt auf Leinwand)

Anna-Eva Bergman N°42A-1966 Oxydation A (1966) 32×49,5 cm

Von 31. März bis 16. Juli 2023 wird im Musée d’Art moderne de Paris die erste große Retrospektive präsentiert, die Anna-Eva Bergmann gewidmet ist. In der Ankündigung der Ausstellung wird sie als eine „Schlüsselfigur der Nachkriegsmalerei“ bezeichnet, als „freie und visionäre Künstlerin“, und ihr Werk als eine eindrucksvolle Hommage an die Schönheit der Natur, an die Landschaften des Nordens und des Mittelmeers.[15] Zu dieser Ausstellung ist auch ein Blog-Bericht geplant.

Ausstellungsplakat in einer Pariser Metro-Station
Im „Heiligtum der Fondation“
Neben den Ausstellungsräumen Bergmans befindet sich das Atelier Hartungs mit seinen Nebenräumen, die jetzt für Ausstellungen genutzt werden. Anhand selten gezeigter Werke, wie dem Selbstporträt von 1922, lässt sich dort der Weg des Künstlers von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion nachvollziehen.

T 1956-26 (1956) 122 x 180 cm
Hier sind natürlich auch „die ausgefächerten, aus der Ferne an Palmenblätter erinnernden dunklen Formkonstellationen“ zu sehen, „die seine Arbeiten der 1950-er Jahre beherrschen und die zu einer ikonischen Formel für sein Werk wurden.“[16]

T1958-3 (1958) 92 x 73 cm (Ölfarbe auf Leinwand)
Diese großen Gemälde haben unverkennbar ihren Ursprung in kleineren Tuschezeichnungen. Diese Skizzen waren in den langen Jahren großer Armut für Hartung die einzige Möglichkeit künstlerischer Arbeit. In seinem Selbstportrait berichtet er von dem Besuch im Atelier eines englischen oder amerikanischen Malers in Paris, der ihm von Freunden empfohlen worden war:
„Er besaß ein riesiges Atelier mit ausgezeichneten Lichtverhältnissen. Der ganze Boden war übersät mit angefangenen, halbfertigen und sogar fertigen Bildern; überall verstreut lagen Farbtuben – vertrocknet, aufgeplatzt, zerquetscht, eine unglaubliche Vergeudung. Und ich, er ich nach dem letzten kleinsten Tropfen Farbe in meinen Tuben suchte, stand fassungslos, mit einem Würgen im Hals, vor solcher Verschwendung. Ich stammelte schnell ein paar höfliche Worte und sah zu, dass ich von dort fortkam, damit man mir meine Entrüstung und Verzweiflung nicht anmerkte.“ (S.92)
Als Hans Hartung dann genug Geld für den Kauf von Leinwänden und Farben hatte, folgte er dem Rat eines Freundes, seinen Skizzen treu zu bleiben und sie -auch das Zufällige und Unvorhergesehene- auf die Leinwand zu übertragen. „Ihm habe ich zu verdanken, dass ich trotz meiner Armut über die ganze Zeit meiner düsteren Jahre hinweg eine gewisse Anzahl von Bildern ausführen konnte, ohne Gefahr zu laufen, die Hälfte davon zu verderben.“ Das, was so spontan und „gestisch“ erscheint, ist also oft – und oft auch zum Missfallen eines Teils der internationalen Kunstkritik- das Ergebnis einer peniblen maßstabsgetreuen Übertragungstechnik.[17] Die große Bedeutung der Skizzen für sein Schaffen macht insofern auch verständlich, warum ihn der kriegsbedingte Verlust von in mehreren Jahren entstandenen Skizzen so sehr traf.

Direkt-spontan waren aber sicherlich diese Kieselsteine bemalt, die in der Stiftung ausgestellt sind. In den 1950-er Jahren hatte Hartung an der Côte d’Azur „die unbekannte Welt der verzauberten Kieselsteine“ entdeckt, die er sammelte und im Stil dieser Jahre verzierte. (Selbstportrait, S. 176).
Und „schließlich steht man im Heiligtum der Fondation: das vollkommen intakte Atelier, in dem Hartung bis zu seinem Tod arbeitete. Sein Rollstuhl steht vor einem Gemälde, daneben, fein säuberlich geordnet, für ihn angefertigte Pinsel, Bürsten, und die Sprühflasche, mit der er seine großformatigen Bilder direkt auf die Leinwand spritzte. Durch die Boxen tönt Bach, die Wände sind mit mehreren Schichten Farbspritzern bedeckt: Das Atelier wird sie (sic!) Teil eines Gesamtkunstwerks. Es fühlt sich so authentisch an, als würde Hartung gleich selbst erscheinen, um dem Gemälde auf der Leinwand noch schnell den letzten Schliff zu verleihen. Nirgends kann man dem Schaffensprozess von Hartung so nahe kommen, wie in diesem Raum, in dem absolut alles von der ungebrochenen Inspiration des Künstlers zeugt.“ [18]

Fotos des Ateliers: F. und W. Jöckel
Besonders auffällig und beeindruckend ist das gewaltige Arsenal an ungewöhnlichen Malerutensilien- Stahlbürsten, Gummipeitschen, Reisigbesen und Farbwalzen.

Dazu experimentierte Hartung auch mit Druckluftaggregaten: Zunächst mit einem umgebauten Staubsauger, dann mit einer Spritzpumpe, wie man sie auch im Garten verwendet, und schließlich einer Farbspritzpistole.

Die Wirksamkeit dieser technischen Hilfsmittel lässt sich an den zahllosen, nie übermalten Farbspritzern ablesen. „Als Zeichen eines ziemlichen Streuverlustes bedecken sie Boden und Wände, und man kann sich gut vorstellen, wie die Produktion seiner Arbeiten in dieser Alchimistenküche vonstattenging.“[19]

…. „Augenzeugen berichten von den Farbkaskaden, die auf die Bildern herabregneten, und von der Schnelligkeit, in der sich die Gestaltungsprozesse gerade in seinen letzten Lebensjahren vollzogen. 1988 entstehen in kurzer Taktung 216 Gemälde, 1989 (in Hartungs Todesjahr, W.J.) gar 360.“ Malen war also für Hartung nicht nur Experiment, sondern, wie Bettina Wohlfahrt ihren Bericht über die Ausstellung im Musée d’Art Moderne überschrieb, „das beste Mittel, um den Tod zu besiegen“.[20] Natürlich wird Hartung letztendlich dem Tod nicht entgehen, aber es ist doch eindrucksvoll, wie er nach den künstlerischen und körperlichen Verlusten der Kriegszeit mit großer Energie, Neugier und Kreativität weiterarbeitet, ja sich in seinem Alter neu erfindet – ähnlich wie der Matisse der Scherenschnitte oder der späte Monet.[21] Mit den neuen Techniken gibt es keinen direkten Kontakt mehr zwischen der Hand des Künstlers und der Leinwand: Dies bedeutet auch ein Loslassen, eine Vorbereitung auf den Tod: „Peindre pour apprendre, pour nous apprendre à mourir.“[22]

Hartungs neue und experimentelle Mal- und Arbeitsweise bedeutete auch den radikalen „Abschied von jener ‚zeichnerischen‘ Geste, die lange ein Markenzeichen seiner Kunst war, ihn künstlerisch aber auch festgelegt hatte.“[23] Dieses Markenzeichen verlor Mitte der 1960-er Jahre auf dem Kunstmarkt immer mehr an Wert zugunsten der konsum- und medienfreundlichen Pop-Art eines Warhol und Lichtenstein. Nach und nach büßte Hartung den Nimbus des Avantgardisten ein und wurde in den Augen der Kunstkritik und der informierten Öffentlichkeit zum ‚Klassiker‘, zu einer nicht mehr künstlerischen, sondern nur noch kunsthistorischen Größe.
Insofern ist der Wechsel an die Côte d’Azur „auch als eine Art Rückzug zu werten. Er bot allerdings die Chance, sich künstlerisch neu zu definieren, eine Chance, die Hartung eindrucksvoll zu nutzen wusste.“ In seinen letzten Lebensjahrzehnten gelang es sich, sich „vom Mythos der eigenen Person zu lösen und in seinem selbst gewählten Exil eine neue Freiheit zu erlangen.“

T 1989-N10, 73 x 92 cm: Das letzte Bild Hartungs (Fondation Hartung-Bergman)
Das Spätwerk Hartungs ist von einem Paradox geprägt: sein Leben wird immer mühseliger, seit dem Sommer 1987 ist er Witwer, seine Gesundheit ist angegriffen – „und dennoch bringt er eruptive Werke hervor.“[24] Seine letzte Arbeitssitzung fand am 16. November 1989 statt, 3 Wochen später, am 7. Dezember starb er.
Das Schwimmbad
Die Wohnräume des Künstlerpaares sind nicht zugänglich. Es ist aber möglich, bei einem Besuch der Fondation auch einen Blick auf den Swimmingpool Hartungs zu werfen, der im Herzen der weitläufigen Anlage liegt.

Zu Lebzeiten Hartungs war das Wasser sommers wie winters auf 35 Grad aufgeheizt und Hartung zog dort allmorgendlich seine Bahnen. „Umgeben von der blockhaften Architektur seines Anwesens ermöglichte es dem durch eine Kriegsverletzung behinderten Künstler das Eintauchen in eine amorphe Welt, die ihre Analogie in der dampfenden und sprühenden Bildsprache seines informellen Spätwerks findet.“[25]

Hans Hartung: Schwimmbad (Foto, Ausschnitt)
Bettina Wohlfarth schreibt in ihrem Artikel über die Hartung-Ausstellung im Musée d’Art Moderne (FAZ vom 20.10.2019): “Hans Hartungs intensives Schaffen mit fünfzehntausend Werken hat seinem Nachleben nicht nur gutgetan. (…) Es ist an der Zeit, dem deutsch-französischen Maler einer expressiven, lyrischen Abstraktion auf den Grund zu gehen, und seine wie besessene Suche nach der Emotion von Licht, Farbe und der malerischen Geste in den kunsthistorischen Kontext des zwanzigsten Jahrhunderts zu stellen.”
Verwendete Literatur:
Hans Hartung, Selbstportrait. Zusammengestellt und bearbeitet von Monique Lefebvre. Schriftenreihe der Akademie der Künste Band 14. Berlin 1981k
Hans Hartung. La fabrique du geste. Musée d’Art Moderne de Paris. Beaux Arts 2019
Hans Hartung. Malerei als Experiment. Werke 1962-1989. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bonn 2018
Simone Hoffmann, Eine langersehnte Eröffnung. Fondation Hartung-Bergman in Antibes.. 17.5.2022 https://www.monopol-magazin.de/eine-langersehnte-eroeffnung-fondation-hartung-bergman-antibes
Beau Geste. Hans Hartung. Peintre et légionnaire. Paris: Gallimard/Fondation Hartung-Bergman 2016
Christoph Schreier, Das Bild als Ereignis- Hans Hartungs späte Gemälde. In: Hans Hartung. Malerei als Experiment. Werke 1962-1989. Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Bonn 2018
Bettina Wohlfahrth, Künstler-Ehepaar in Antibes: Mit Malpistole und Spritzgerät. FAZ 7.8. 2022https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/villa-der-kuenstler-hans-hartung-und-anna-eva-bergman-in-antibes-18224290.html
Bettina Wohlfahrth, Hans Hartung in Paris: Das beste Mittel, um den Tod zu besiegen. FAZ 20.110.2019 Hans-Hartung-Retrospektive im Pariser Museum für moderne Kunst (faz.net)
Anmerkungen
[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/hans-hartung-retrospektive-im-pariser-museum-fuer-moderne-kunst-16439874.html
[2] Siehe dazu die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2021/04/01/der-maler-pierre-soulages-in-rodez-und-in-conques/ und https://paris-blog.org/2021/06/24/das-musee-fabre-in-montpellier-soulages-courbet-houdon-und/
[3] https://fresques.ina.fr/soulages/fiche-media/Soulag00044/pierre-soulages-et-hans-hartung.html In seinem Selbstportrait spricht auch umgekehrt Hartung von Pierre Soulages als seinem Freund. (S. 163)
[4] Schreier, S. 13
[5] Petruschkis Fahrt ins Blaue – Kapitel 7 – Hans Hartung, vom Kind zum Mann Blitze bannend — PETRUSCHKI .
[6] Selbstportrait S. 161. Zur Faszination, die Josephine Baker ausübte, siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2021/12/26/sie-passte-in-kein-schema-die-republikanische-heiligsprechung-josephine-bakers/
[7] Siehe dazu: C’était un peu une question morale…. 18 février 1981. Entretien de Hans Hartung avec Laurence Bertrand Dorléac. In: Hans Hartung, peintre et légionnaire, S. 98ff. Nachfolgendes Foto aus: https://www.legion-etrangere.com/mdl/page.php?id=507&titre=Hartung-de-tous-les-combats
[8] Hans Hartung im Gespräch mit Laurence Bertrand Dorléac. a.a.O., S. 106. In dem Gespräch spricht Hartung sogar vor einer Wahl, die er gehabt habe: nämlich einer Einladung nach New York zu folgen oder in der Legion gegen die Nazis zu kämpfen. Allerdings scheint es so zu sein, dass es diese Alternative für ihn gar nicht gab, sondern dass er erst nach dem Krieg davon erfuhr, dass es die hätte geben können. A.a.O., S. 106, Anm. 10
[9] Lebensbericht, S. 126/7. Siehe dazu auch: Alexis Neviaski, Le légionnaire Hans Hartung …. dit Pierre Berton. In: Hans Hartung, peintre et légionnaire, S. 34 ff. Dort wird Hartung eher als heroisches Mitglied der Fremdenlegion präsentiert und seine Kritik an der Legion heruntergespielt. 1989 wurde Hartung sogar von der Legion als „un légionnaire exemplaire et représentatif“ herausgestellt. (a.a.O., S. 47)
[10] Selbstportrait S. 173 und https://www.monopol-magazin.de/eine-langersehnte-eroeffnung-fondation-hartung-bergman-antibes
[11] http://www.c-bentocompany.es/215844931?i=101634420
[12] https://www.monopol-magazin.de/eine-langersehnte-eroeffnung-fondation-hartung-bergman-antibes
[13]Bettina Wohlfahrt, Mit Malpistole und Bürste. FAZ 6. August 2022 https://www.maxhetzler.com/files/8616/6144/2895/08062022_Hartung_Frankfurter_Allgemeine_Zeitung.pdf
[14] https://www.monopol-magazin.de/eine-langersehnte-eroeffnung-fondation-hartung-bergman-antibes
und Bettina Wohlfahrt, Mit Malpistole und Bürste, FAZ 6.8.2022 https://www.maxhetzler.com/files/8616/6144/2895/08062022_Hartung_Frankfurter_Allgemeine_Zeitung.pdf
[15] https://www.mam.paris.fr/fr/expositions/exposition-anna-eva-bergman Siehe auch: https://www.lemonde.fr/culture/article/2023/04/02/au-musee-d-art-moderne-de-paris-anna-eva-bergman-celebre-la-nature-brute_6167983_3246.html
[17] Selbstportrait, S. 86. Siehe dazu auch Judicaël Lavrador, Geste libre et pure expressivité? In: Hans Hartung, La fabrique du geste, S. 21
[18] https://www.monopol-magazin.de/eine-langersehnte-eroeffnung-fondation-hartung-bergman-antibes
[19] Schreier, S. 13/14, auch nachfolgendes Zitat.
[20] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/hans-hartung-retrospektive-im-pariser-museum-fuer-moderne-kunst-16439874-p2.html
[21] Zum „neuen“ späten Monet siehe den Bericht über die Monet/Mitchell-Ausstellung in der Fondation Louis Vuitton: https://paris-blog.org/2022/11/01/frank-gehrys-fondation-louis-vuitton-und-eine-ausstellung-mit-uberraschenden-bezugen-der-spate-monet-und-der-abstrakte-expressionismus-der-amerikanerin-joan-mitchell/
[22] Pierre Wat, Vaporisation du moi. In: Hans Hartung, peintre et légionnaire, S. 112
[23] Schreier, S. 13, auch die nachfolgenden Passagen sind wörtlich bzw. sinngemäß von dort übernommen.
[24] Hans Hartung, Malerei als Experiment, S. 107
[25] Schreier, S. 12
meine Großmutter hat mir als Jugendlichem in den 50zigern die ersten Postkarten mit Arbeiten von Hans Hartung geschickt. Beeindruckt hat mich seit dem seine Malerei begleitet. 2019 war meine erste Ausstellung, die ich gesehen habe. Ihr Bericht habe ich heute, am Karfreitag, mit großer Freude gelesen. Herzlichen Dank.
Giselher Hartung
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Vielen Dank für Ihre persönliche Rückmeldung. Ja, Hartung ist ein beeindruckender Maler mit einem bewundernswert gemeisterten Leben. Und dazu Ihr Namensvetter….. Merci und schönes Osterfest! Wolf Jöckel
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