60 Jahre Straßenkunst (art urbain) in Paris: Eine Ausstellung im Hôtel de ville (Street-Art in Paris 7)

Seit dem 15. Oktober 2022 ist im Pariser Rathaus, dem Hôtel de ville, eine Ausstellung über art urbain zu sehen, die aufgrund der großen Nachfrage noch bis Ende März verlängert wurde. Der nachfolgende Beitrag soll einen Eindruck von dieser Ausstellung vermitteln und zu ihrem Besuch anregen. Und in jedem Fall handelt es sich um einen schönen Überblick über die Geschichte und die Breite der Pariser Street-Art/art urbain…

Foto: Wolf Jöckel

Mit dem Oberbegriff der art urbain werden die eher anarchistische Graffiti- Produktion und die inzwischen eher arrivierte street-art zusammengefasst. Ziel der Ausstellung ist es, einen Überblick über 60 Jahre Straßenkunst in Paris zu geben, „einem der wichtigsten Schauplätze dieser künstlerischen Bewegung“´, wie es in dem Faltblatt zur Ausstellung heißt. Man wird in der Ausstellung manchen „alten Bekannten“ begegnen, Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken wesentlich dazu beigetragen haben, die Stadt zu bereichern und denen man immer wieder begegnet. Es gibt aber auch viel Neues zu entdecken: Insgesamt eine sehr kompakte, übersichtlich und abwechslungsreich gestaltete Ausstellung!

Hier einige Beispiele aus dem historisch angelegten Parcours:

Die Ausstellung beginnt mit Vorläufern der art urbain wie dem 1940 in Paris geborenen Gérard Zlotykamien, der 1963 als erster Künstler überhaupt begann, im öffentlichen Raum zu arbeiten.

Hier sieht man ihn beim -natürlich illegalen- Sprayen 1984 in der Rue Condorcet in Paris. Bekannt wurde er durch seine Strichfiguren, die sogenannten Éphémères (die Vergänglichen/vom baldigen Verschwinden Bedrohten).

Inspiriert wurden diese Figuren durch die eingebrannten Schatten der Menschen nach dem Atombomenabwurf auf Hiroshima und durch die Shoah. In der Ausstellung wird einer der Éphémères aus dem Jahr 1978 gezeigt.

Die 1980-er Jahre war dann die große Zeit der Schablonenmalerei (pochoir):  Vorbereitete gezeichnete und dann zurechtgeschnittene Schablonen werden auf dem ausgewählten Untergrund befestigt.  Die auf den Schablonen ausgesparten Flächen werden dann mit einer Farbe oder auch mehreren eingesprüht, die den Untergrund entsprechend färben. Diese Technik kann vor Ort mit großer Schnelligkeit angewendet werden: Gerade bei den meist illegalen Aktionen ist das ein erheblicher Vorteil.  Außerdem eröffnet die Verwendung von Schablosen einen beträchtlichen Variationsspielraum: Die Farben können verändert, die Schablonen unterschiedlich kombiniert werden. Paris wurde in den 1980-er Jahren ein Zentrum der Schablonenmalerei: Künstler wie Miss Tic,  Mosko, Jeff Aérosol, Jérôme Mesnager und viele andere haben das Stadtbild mit ihren Arbeiten bereichert.

Dies ist ein Selbstportrait von Miss Tic (1985), begleitet von einem programmatischen Satz mit einem für sie typischen Wortspiel (art mur – Mauerkunst- und armour -Rüstung, aber auch amour – Liebe):  Ich wappne mich mit Mauerkunst, um  Herzensworte an die Wände zu sprühen. Vergleicht man in dem beigefügten Text die mehrfach verwendeten Buchstaben, kann man sehr gut die Verwendung der Schablonentechnik erkennen.

Am 22. Mai 2022 ist Miss Tic gestorben, aber ihre Werke sind inzwischen Bestandteil des Pariser Stadtbildes. Sie werden jetzt auch nicht mehr, wie zum Teil noch in den 1980-er Jahren, als Sachbeschädigung gewertet mit entsprechenden juristischen Folgen, sondern eher gehegt und gepflegt wie dieses mit Glas geschützte Bild in der rue de la forge royal im 11. Arrondissement von Paris.

Foto: Wolf Jöckel

Viele der Pariser pochoristes sind inzwischen arrivierte Künstler, deren Werke in Galerien ausgestellt werden und hohe Preise erzielen. Das gilt z.B. für Jérôme Mesnager.

Bonhomme blanc 1987 (Ausschnitt)

Zwei seiner in einer ausgelassenen Stunde geborene weiße Männer sind im Pariser Rathaus zu sehen: Die sind nicht mehr auf Wände gesprüht, sondern auf handliche und transportable Untergründe. Und der Fonds d’Art Contemporain der Stadt Paris hat sie in seine Sammlung aufgenommen.

Die 1980-er Jahre sind auch die Blütezeit der Graffiti. Voraussetzung für die Graffiti wie auch für die Schablonenmalerei sind die Farbdosen, mit denen die Farbe (peinture aérosol)  versprüht wird.

Im Französischen heißt das bombarder – und manchmal  schienen früher und scheinen manchmal auch heute noch die graffeurs diese Bezeichnung allzu wörtlich zu nehmen. In Paris und Umgebung waren es besonders oft über und über besprühte Lastwagen, Eisenbahn- und Metro- Züge, die die Verbreitung der jeweiligen Tags/Signaturen garantieren sollten.

Ein Wagen  von Marktbeschickern im 11. Arrondissement. Die tags  werden  nicht mehr entfernt,  weil sie sonst sofort wieder neu „dekoriert“ würden. (Fotos: Wolf Jöckel, Februar 2023)

Hier wurde direkt mit Sprühdosen, aber auch mit einer Schablone „gearbeitet“.

Besonders Aufsehen-erregend war eine Aktion, der in der Ausstellung sogar ein eigner Abschnitt gewidmet ist:    Am 1. Mai 1991 „bombardierten“ drei graffeurs Wände und Statuen der Station Louvre-Rivoli,  der schönsten  Metro-Station von Paris, wie die Zeitschrift Télérama damals schrieb. Mehrdeutiger Titel ihres Berichts:  „Paris sous les bombes“…

Brian Lucas ancien vandale de la station Louvre. [1]

Einer der „Vandalen“ war der damals 19-jährige Brian Lucas (Pseudonym Oeno), der dafür eine Gefängnisstrafe von eineinhalb Monaten absitzen musste. Inzwischen allerdings gehört Oeno -wie die Schablonenmaler/innen der ersten Stunde- zu den anerkannten und arrivierten Personen der Kunstszene[2]: Street Art und Graffiti sind unter dem Dach der art urbain friedlichvereint.

Als Reminiszenz an die  wilden Graffiti-Zeiten und Kunstobjekt wird in der Ausstellung ein Metro-Schild von Nasty präsentiert:

Der wurde schon mit einem Arte-Film gewürdigt, und eine Internet Galerie bietet seine Werke für Preise zwischen 180 und 5998 Euro an (Stand Februar 2023)[3]

Auf seinem zum Verkauf angeboten Metro-Plan bezieht sich Nasty mit der ironischen Frage „can you catch me?“ auf das frühere Katz- und Maus-Spiel mit den Verfolgern der graffeurs…[4]

Diese Zeiten gehören wohl eher der Vergangenheit an: Die Tags sind zum Objekt von Kunstliebhabern und Sammlern geworden:

Vues macroscopiques de tags parisiens. Photographie von Nicolas Gzeley (Ausschnitt)

Es ist ein Vorteil der Ausstellung, auf begrenzten Raum einen Überblick über die Pariser Street-Art/Graffiti-Szene zu geben: Einige weitere Beispiele:

Fotos: Wolf Jöckel

Die Geschöpfe von Kraken, dem „Docteur Octopus du street art“[5], gehören zum Pariser Stadtbild.  Hier zum Beispiel einer seiner typischen Oktopusse mit den in sich verschlungenen Tentakeln am Boulevard de Belleville.

Zwei seiner Oktopusse hat er auf die Wände der Ausstellungsräume gezeichnet.

C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten französischen Street-Art-Vertreter. Ihm sind auch schon zwei Beiträge auf diesem Blog gewidmet.[6]  Vor allem ist C 215 Portraitist.  Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf  Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte. Mittels eines beigefügten QR-Codes konnte man an Ort und Stelle Näheres über das Schicksal der jeweiligen Person erfahren.

Zu dieser Aktion gehörte auch ein Portrait von Simone Veil an der Metro-Station Saint-Paul, das im Hôtel de Ville ausgestellt ist. Fotos: Wolf Jöckel

Ein ganz außergewöhnlicher Vertreter der Street-art ist der Portugiese Alexandre Farte, alias Vhils. Er ritzt seine Motive, vor allem Portraits, in weiß verputzte Hauswände. Auf diesem Blog ist er uns schon am Gartenhaus der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles begegnet, aber auch in Paris, natürlich im 13. Arrondissement, war er schon aktiv.

Erst aus dem Abstand ist zu erkennen, was da jeweils mit Hammer und Meißel entstanden ist.[7]

Fotos: Wolf Jöckel

In der Pariser Ausstellung ist er auch vertreten. Allerdings konnte er da ja kaum die Wände des Rathauses entsprechend bearbeiten. Als Alternative nutzte er zusammengepresste Kartons: 

Wenn man mit etwas Abstand genau hinsieht, erkennt man das auf diesem Untergrund entstandene Gesicht eines alten  Mannes….

Es gibt allerdings auch in Paris ein in den Putz gemeißeltes Wandbild von VHILS: Natürlich im 13. Arrondissement, der der rue du château des rentiers:

Vielleicht ein Portrait von Leonard Cohen?

Ein alter Bekannter der Pariser Street-Art-Szene ist Clet Abraham mit seinen verfremdeten Straßenschildern.

Foto: Wolf Jöckel

Bemerkenswert ist, dass sie -hier eines im 11. Arrondissement- nach meiner Beobachtung doch längere Zeit von der Pariser Straßenverwaltung oder Polizei geduldet werden. Aber ein Verkehrsteilnehmer hätte bei einer Missachtung des Durchfahrtsverbots sich sicherlich kaum mit Erfolg auf diese Version des Schildes berufen können….

Hier handelt es sich um ein vom Rost angefressenes und wohl ausrangiertes Schild, das Clet Abraham dann zu einem Kunstobjekt transformiert hat.  Und dies mit einer eindeutigen und angesichts der aktuellen Debatten um Panzerlieferungen an die Ukraine brisanten politischen Botschaft.

Am bekanntesten von allen Street-Art-Künstlern der Stadt ist sicherlich der Invader , der deshalb auch in der Ausstellung entsprechend gewürdigt wird.

Auf einem großen Pariser Stadtplan sind alle seine Werke markiert und mit Nummern versehen. Die über 1000 Pariser Invaders haben die Stadt gewissermaßen in ihren Besitz genommen.

Man hat also gute Chancen, beim Bummeln durch die Stadt auf Spuren des Invaders zu stoßen. Und sie sind auch immer unterschiedlich und oft angepasst an den jeweiligen Ort wie dieser schöne Hinweis auf den nahe gelegenen Gare de Lyon, auf dem die Züge in den warmen Süden abfahren. Entdeckt und aufgenommen habe ich diesen Invader im März 2023: Es gibt also nach so vielen Jahren Paris immer noch/wieder Neues!

Das Mosaikbild aus der rue de Montreuil im 11. Arrondissement, das das Ankleben eines Invaders zeigt, dient als Motiv für das Ausstellungsplakat.

Foto: Wolf Jöckel

Alle bisher angeführten Werke der Pariser art urbain sind, soweit sie nicht direkt für Galeriezwecke entstanden sind, in den Straßen der Stadt auf Augenhöhe angebracht – oft, wie bei dem Invader, kurz oberhalb des Erdgeschosses, um sie vor Vandalismus zu schützen – oder auch vor Souvenirjägern….

 Die Street-Art-Szene ist aber nicht nur in diesem Bereich sichtbar, sondern auch darunter und darüber. Schon in den 1980-er Jahren war der Pariser Untergrund ein beliebter Ort für Sprayer.

Diesen Raum haben Jerôme Mesnager und der im Untergrund besonders aktive Alexandre Stolypine, alias Psychoze, ausgestaltet.[8]

Vor allem aber geht es inzwischen hoch hinaus mit der Street Art.  Großen Street-Art-Wandbildern begegnet man in Paris sehr oft, vor allem natürlich dort, wo es Flächen gibt, die dazu einladen. Das gilt besonders für das 13. Arrondissement mit seinen Neubauten entlang der Hochbahntrasse  der Metro-Linie 6 und den Hochhäusern im sogenannten Chinesenviertel. In der Ausstellung werden mit entsprechenden Erläuterungen versehene Fotos einiger besonders markanter Wandbilder gezeigt.

Eines der ersten großen Wandbilder in Paris stammt von dem Amerikaner Keith Haring. Es schmückt seit 1987 einen Turm im Kinderkrankenhaus Necker in Paris. Auf der Gondel eines Krans postiert malte Haring in drei Tagen ein großes farbiges und zum Ort passendes Fresko auf den Beton.

Foto: Wolf Jöckel

Die großformatigen Wandbilder entlang des Boulevard Vincent Auriol, der sich von der Seine  bis zur Place d’Italie hinzieht, gehören inzwischen  zu den Attraktionen der Stadt. Mit Recht hat man von einer open-air-Kunstgalerie gesprochen, die auch noch ständig weiterentwickelt wird.

Dieses im Hôtel de Ville ausgestellte Plakat zeigt eine Marianne des amerikanischen Künstlers Shepard Fairey. Bei dem originalen Wandbild im 13. Arrondissement handelt es sich um das größte existierende Marianne-Bild:  Ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.

Naheliegend also, dass ein Abzug des Bildes an der Wand eines Arbeitszimmers von Präsident Marcron im Elysée-Palast hängt.

Foto: Wolf Jöckel

Auf dem originalen Gemälde weint die Marianne allerdings eine Träne: Überrest einer Aktion von Aktivisten, die auf den Widerspruch zwischen Ideal und Realität der französischen Republik aufmerksam machen wollten.

.Mehr dazu in dem Blog-Beitrag über die XXL- Formate im 13. Arrondissement: https://paris-blog.org/2022/09/16/street-art-xxl-entlang-des-boulevard-vincent-auriol-eine-open-air-kunstgalerie-im-13-arrondissement-von-paris/

Zu den bekanntesten großformatigen Wandbilder von Paris gehört auch Seths gamin de Paris/Kind von Paris im 13. Arrondissement. Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt,

Ecke Boulevard Vincent Auriol/rue Jeanne d’Art Foto: Wolf Jöckel

Für Seth, der im banlieue von Paris aufgewachsen ist,  repräsentiert der kleine Junge die Kindheit in den großen Metropolen der Welt.  Er habe in seiner Jugend die Farben vermisst, aber sie in seiner Lektüre, seinen Spielen und seinen Phantasiereisen gesucht. Der Junge blicke auf die andere Seite der Mauer und Licht und Farbe strahlten auf die umliegenden Gebäude aus. „Das ist die Macht der Phantasie, die das verändert, was uns umgibt.“[9]

In der Ausstellung wird nicht nur ein Photo des Wandgemäldes gezeigt, sondern auch eine leuchtende, gläserne Version des kleinen Jungens. Und es wird hingewiesen auf ein neues Wandbild  in der rue Buot, ebenfalls im 13. Arrondissement, das Seth aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine hergestellt hat.

Sicherllich wird „die Macht der Phantasie“ nicht ausreichen, um diesen Krieg zu beenden, aber sicherlich ist sie auch hier unabdingbar….


Anmerkungen

[1] https://www.telerama.fr/sortir/graffiti-illegal-cette-nuit-ou-des-tagueurs-ont-ravage-la-station-louvre-rivoli,n5624371.php

[2] https://www.leparisien.fr/paris-75/paris-oeno-pionnier-du-graff-parisien-expose-les-femmes-27-03-2018-7631391.php

[3] https://www.artsper.com/fr/artistes-contemporains/france/1969/nasty

[4] https://www.artsper.com/fr/oeuvres-d-art-contemporain/edition/1186143/paris-city-subway-map

[5] https://www.telerama.fr/sortir/qui-est-kraken-ce-street-artiste-qui-colonise-les-murs-de-paris-avec-des-pieuvres,156965.php

[6]  https://paris-blog.org/2020/04/20/grosse-maenner-und-frauen-des-marais-eine-ortsbesichtigung-anhand-der-portraits-des-street-art-kuenstlers-c-215-teil-1-grosse-maenner/  und   https://paris-blog.org/2020/05/10/grosse-maenner-und-frauen-des-marais-eine-ortsbesichtigung-anhand-der-portraits-des-street-art-kuenstlers-c-215-teil-2-grosse-frauen/

[7] https://street-art-avenue.com/2013/04/vhils-a-paris-361

[8] Siehe: https://www.telerama.fr/sortir/psyckoze-du-street-art-dans-les-catacombes,141822.php

[9] https://boulevardparis13.com/project/sethuntitled/

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