Séraphine Louis und Wilhelm Uhde: Die wunderbare und tragische Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen „Entdeckers“

Aufmerksam wurde ich auf Séraphine Louis durch eine Ausstellung, die 2019/2020 im Musée Maillol in Paris gezeigt wurde: Vom Zöllner Rousseau bis Séraphine. Die großen naiven Meister.

Die dort ausgestellten Bilder Séraphines fand ich faszinierend, zum Teil auch verstörend. Und ich fragte mich, wer diese mir bis dahin ganz unbekannte Malerin war. Dabei stieß ich auf eine wunderbare und tragische deutsch-französische Geschichte, und die begann so:

Im Jahr 1912 suchte der deutsche Kunsthändler und –sammler Wilhelm Uhde, der damals in Paris lebte, einen  ruhigen Platz auf dem Lande zum Arbeiten. Seine Wahl fiel auf Senlis,  „das mittelalterliche Städtchen mit seinen engen Gassen, seiner Kathedrale und den vielen gotischen Kirchen … mit seinen Klöstern und von hohen Mauern umfriedeten Adelssitzen.“  So Wilhelm Uhde in seinen Erinnerungen.  „Obgleich es nur vierzig Kilometer von Paris entfernt liegt, kam selbst an den Sonntagen niemand in diesen Ort. Er hatte nicht viel mehr als 4000 Einwohner.“

Senlis war ein verschlafenes Nest, das sich im 19. Jahrhundert geweigert hatte, an die Eisenbahnverbindung Paris- Lille angebunden zu werden – und das auch noch heute nicht über einen Bahnanschluss verfügt. Die freiwillige Distanzierung von der nahen Metropole kam dem Bedürfnis Uhdes aber gerade entgegen. Er schreibt weiter:

 „… Es waren seltsame enge Gassen da mit kleinen grauen Häusern, auf deren Fensterbänken rote Blumen standen.“  Die Kathedrale „hatte über der Pforte das Wappen Franz I. mit dem Salamander und in den äußeren Galerien wuchs Farren und blaue Glockenblumen.“[1] „Wenn man an der Kathedrale vorbeiging und dann an der Ruine eines Schlosses, das Heinrich IV. bewohnt hatte …

…. und sich dem Ende des Städtchens näherte, … kam man zu einem ganz kleinen Platze, auf dem das Gras zwischen den Steinen wuchs. Dort mietete ich drei Zimmer, für die ich fünfzehn Francs im Monat bezahlte …  Hier brachte ich jetzt von Zeit zu Zeit einige Wochen in Besinnung und Arbeit zu…[2]

Und hier beginnt auch  die wunderbare und tragische Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen „Entdeckers“.

Eine  Künstlerin wird entdeckt

Wilhelm Uhde hat in seinen 1938 zuerst erschienen Erinnerungen (Von Bismarck bis Picasso) und dann noch einmal in seinem  Buch Fünf primitive Meister: Rousseau, Vivin, Bombois, Beauchant, Séraphine von 1947 berichtet, wie er auf die Malerin Séraphine aufmerksam wurde:

Eines Tages fand ich bei Bürgern auf einem Stuhl ein Stillleben, das mir seltsam den Atem benahm.

Granatäpfel auf blauem Grund. Aus der Ausstellung der Werke Séraphines im Museum Senlis[3]

Das waren Früchte, in schwerer, schöner Materie gebildet, nicht so hingestrichen: das sollen Äpfel sein, sondern sie waren in Schönheit geschaffen und Wirklichkeit geworden. Der junge Cézanne hätte sie gemalt haben können. Ich fragte nach dem Künstler und erhielt zur Antwort ‚Seraphine‘. Als ich damit nichts anfangen konnte, erklärte man mir, dass es meine Aufwartefrau sei, eine Alte, die seit einigen Tagen meine Zimmer machte und der ich noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.[4]

„Als Séraphine am nächsten Tag bei mir ankam, sah sie auf einem Stuhle das Stillleben“. Uhde hatte es  seinen Gastgebern gleich für 8 Francs abgekauft. „Sie begann zu lachen.  ‚Monsieur hat mein Bild gekauft? Es gefällt also Monsieur?‘ – ‚Sehr gut. Haben Sie noch mehr?‘  Sie brachte ein halbes Dutzend, von denen jedes einen gleich großen Eindruck auf mich machte, wie das erste. Eine seltene Leidenschaft, ein heiliger Eifer, eine mittelalterliche Glut lebte in diesen Stillleben.“[5]

Einige dieser Bilder zeigte Uhde seinen Pariser Freunden. „Sie waren ebenso erstaunt und beglückt wie ich, und einer rief: ‚Es hat doch keinen Sinn, weiter zu malen, wenn eine ungebildete Frau solche gewaltigen Sachen fertig bringt.‘“[6]

Beten, putzen, malen: Das Leben der Séraphine Louis

Wer war diese Séraphine, die Wilhelm Uhde entdeckte, und die nach dem Urteil ihres Biographen Jean-Pierre Foucher zu den Unsterblichen gehört, die  den Rahmen einer Bewegung oder einer Schule durchbrechen?[7]  Geboren wurde sie 1864 in einfachen Verhältnissen, verlor früh ihre Eltern und erhielt nur eine rudimentäre Schuldbildung. Von 1881 bis 1901  arbeitete sie wohl als Laienschwester im Couvent de la Charité de la Providence in  Clermont-de-l’Oise, das sie dann aber verließ. Sie nahm Stellungen  als Haushaltshilfe bei  Familien in Senlis an, wo sie sich in der  rue du Puits-Tiphaine  ein eigenes Zimmer anmietete.[8]

Erinnerungsplakette am Haus, in dem Séraphine de Senlis von 1906 bis 1932 wohnte

Von dort  hatte sie es nicht weit zur Kathedrale, die sie, von einer tiefen, naiven Frömmigkeit geprägt, täglich besuchte. Es war dann auch ein Engel, der ihr in der Kathedrale von Senlis  den Auftrag Marias zum Malen übermittelte:

„Séraphine, tu dois te mettre à dessiner!“

 Séraphine folgte diesem Auftrag mit großer Beharrlichkeit. Weil sie sich keine Leinwände leisten konnte, malte sie Blumen und Früchte auf alles, was ihr in die Hände fiel, zum Beispiel auf diese beiden Crème-fraîche-Töpfe, die im Museum von Senlis ausgestellt sind.

Das nachfolgend wiedergegebene,  um 1910 entstandene Bild ist wahrscheinlich das früheste bekannte,  an Allgäuer Bauernmalerei erinnernde Werk von Séraphine. Hier nutzte sie offensichtlich die Wasserfarben eines Kindes, bei dessen Eltern sie als Haushaltshilfe beschäftigt war.[9]

Schon hier wie auch später verwendet Séraphine florale Motive. Die Vorlage waren wohl Blumen, die  sie auf ihren Spaziergängen fand – wie den Weißwurz, das Vergissmeinicht-Ästchen oder die beiden Hahnenfüße  auf diesem Bild. 

Christine Bourcey, Hommage à Séraphine. (2020) Abgebildet ist die von einer Aura umgebene Séraphine in ihrer typischen Kleidung und dem schwarz angemalten Strohhut beim Blumensammeln auf den Feldern um Senlis

Aber man kann auch von einer weiteren Inspirationsquelle ausgehen: „Die Tätigkeit als Reinemachefrau eröffnete ihr den Zugang zu den Büchern ihrer Dienstherren. Zum üblichen Bestand bürgerlicher Hausbibliotheken gehörten auch und gehören botanische Nachschlagewerke. In diesen wird sie manche Anregung für ihre Früchtestilleben gefunden haben.“[10]

Die Farben für ihre Bilder erstand sie in der örtlichen Drogerie Duval,  mischte sie aber auch selbst an. Vor allem verwendete sie Ripolin, eine von dem Holländer Riep 1889 entwickelte Farbe  für die Lackierung von Karosserien und Oberflächen in Feuchträumen.[11]

Ripolin war billig und hatte eine große Leuchtkraft. Das kam Séraphine sehr entgegen, so dass sie daran noch festhielt, als sie über Künstlerölfarben verfügte.  Zur Anmischung ihrer eigenen Farben verwendete  sie auch, so Uhde 1947, „Öl aus der kleinen Lampe des Muttergottesbildes“. Manches spricht dafür, dass es sich dabei um eine „literarische Fiktion“ Wilhelm Uhdes handelt. Aber  die Vorstellung, dass diese „Malerin des heiligen Herzens“, die ihre Bilder mit frommen Gesängen begleitete, als Bindemittel heiliges Öl verwendete, war nur allzu verführerisch. Wie auch immer: „Man muss“, so Körner/Wilkens, „die Maltechnik nicht mystifizieren, um sich von der Kunst dieser malenden Mystikerin faszinieren zu lassen.“[12]

Die Kapelle Saint-Denis der Kathedrale, in der sich auch die von Séraphine verehrte Marien-Statue befindet,  ist mit leuchtend –  bunten Glasfenstern aus dem 16. Jahrhundert ausgestattet, und man kann davon ausgehen, dass diese Fenster einen großen Einfluss auf ihr Werk gehabt haben. Wilhelm Uhde hatte ja spontan die „mittelalterliche Glut“ und die  „geheimnisvolle mittelalterliche Wirkung“  der Bilder seiner Zugehfrau bewundert.[13]

Nachfolgend  drei Fenster der Kapelle und drei m.-E. dazu passende- Bilder Séraphines  aus verschiedenen Phasen ihres Schaffens[14]:

Vogel und Kirschzweig (Oiseau et branche de cerisiers) 1925

Ausschnitt aus: Blumen und Früchte, um 1920

Ausschnitt aus: Les Grappes de raisins, um 1930

Der Entdecker  Séraphines: Wilhelm Uhde

Wilhelm Uhde, der 1912 das künstlerische Talent seiner Haushälterin erkannte, war ein ebenso außergewöhnlicher Mensch wie Séraphine. Und vielleicht war es ja diese Gemeinsamkeit, die sie verband.

Es gibt vier Portraits von Wilhelm Uhde, die diese Außerordentlichkeit etwas veranschaulichen:

Dieses Portrait Uhdes malte Robert Delaunay 1907. Drei Jahre zuvor hatte sich Uhde in Paris niedergelassen, wo er von seinen Artikeln zur modernen Kunst, vor allem aber von dem Verkauf von Bildern lebte, die er –ein hervorragender Kenner der zeitgenössischen Kunst- gesammelt hatte.[15]  Mit vielen Malern dieser Zeit war Uhde befreundet. So auch mit Robert Delaunay und der russischen Malerin Sonia Terk, die er 1906 heiratete. Allerdings war das eine Vernunftehe, und als Sonia Terk ihre Liebe zu Uhdes Freund entdeckte, wurde die Ehe geschieden und Sonia ging als Sonia Delaunay in die Kunstgeschichte ein.

Uhde hatte damals seine Homosexualität erkannt und sich zu ihr bekannt.  Ende des 1. Weltkriegs lernte er in Frankfurt  den 20 Jahre jüngeren Maler Helmut Kolle kennen, mit dem er bis zu dessen Tod 1931 zusammenlebte.  Hier das Portrait Wilhelm Uhdes, das Kolle um 1930 malte.[16]

Der heute fast vergessene Maler André Lanskoy (1902-1976) hat 1929 das nachfolgend abgebildete Portrait Uhdes in einem blauen Frauenkleid gemalt. Als „Zeugnis schwuler Selbstinszenierung“ war es allerdings nicht für die öffentliche Präsentation bestimmt. 2016 hat es ein bayerischer Kunstsammler aus Privatbesitz erworben,  und 2018 wurde es im schwulen Museum Berlin ausgestellt. .[17]

Das vierte Portrait Uhdes stammt von Pablo Picasso und entstand 1910.[18]

Picasso kannte Uhde seit 1905 – oder treffender: Uhde lernte Picasso  1905 kennen. Wie das kam, beschreibt er in seinen Erinnerungen:

„An der Ecke des Boulevard Rochechouart und der Rue des Martyrs hatte eine alter … Mann einen Laden, in dem er Betten und Bettzeug verkaufte. Vor der Tür des Ladens aber hatte er, der ein Bilderfreund war, die Malereien unbekannter junger Maler zu wohlfeilen Preisen aufgestellt. Dort fand ich eine Leinwand, auf der ein weiblicher Akt mit gelbem Haar abgebildet war. Ich zahlte die zehn Francs, die man für dieses Bild verlangte, das mir sonderlich gefiel. Die Signatur des Namens, der mit einem P begann, war mir durchaus unbekannt.“[19]

Am nächsten Tag traf Uhde den jungen Maler in Montmartre. Es war der  damals noch unbekannte Pablo Picasso, von dem er wohl als erster ein Bild erworben hatte und dem er sein Leben lang freundschaftlich verbunden war. Das kubistische Portrait ist „das bedeutendste Zeugnis der Freundschaft zwischen Picasso und Uhde“.[20] 

Georges Braque war Uhdes zweite große Entdeckung: Er wurde dessen erster Käufer und Händler. Der dritte „Große“, den Uhde in seinem ersten Pariser Jahrzehnt entdeckte, war der „Douanier“, der  „Zöllner“ Rousseau.  Uhde tat auch alles dafür, „seine“ Maler durch publizistische Beiträge und Ausstellungen bekannt zu machen. Die  erste Werkausstellung Rousseaus beispielsweise brachte er, tief beeindruckt von der Charmeuse de serpents, 1908 in Paris auf den Weg.  Der Douanier soll Uhde, als er an der Schlangenbeschwörerin arbeitete, „wiederholt um Rat gefragt haben, was die Komposition und das Kolorit betraf, sodass Uhde ein Stück Autorschaft an diesem Meisterwerk beanspruchen kann.“[21] 1921 widmete er Rousseau eine erste Monographie.  Der Maler wurde damals als nicht ernst zu nehmender Spaßvogel abgetan, und der „Figaro“ machte sich über den närrischen Ausländer lustig, „der sich mit diesem abwegigen Unfug französischer Kunstproduktion abgab“.[22] In den Jahren vor dem Krieg besuchte Uhde öfters Rousseau in dessen Atelier. Uhde berichtet in seinen Erinnerungen:

„Einmal sprach er vom Kriege, den er verabscheute. Er wurde heftig: ‚Wenn ein König Krieg führen will, soll eine Mutter zu ihm gehen und es ihm verbieten.‘ ….Der schönste Tag bei ihm war ein vierzehnter Juli, an dem das französische Nationalfest ist. An diesem Tag hatte, wie immer, ganz Paris geflaggt. Aber man sah natürlich nur die französische Fahne. Ich besuchte Rousseau in seinem Atelier, wo außer mir noch französische Bürger waren, alte Rentner aus demselben Stadtviertel. … Bevor wir tranken, nahm mich der alte Rousseau bei der Hand und zeigte mir die deutsche Fahne, die er am Fenster neben der französischen angebracht hatte. Dann erhob er sein Glas und forderte uns alle auf, mit ihm auf den Frieden anzustoßen.“[23]

Es war auch Uhde, der die erste Ausstellung von Bildern der Marie Laurencin organisierte, die damals völlig unbekannt war und noch kein einziges Werk verkauft hatte.

Uhde war also ein hervorragender Kenner der zeitgenössischen Kunst, „ein Geburtshelfer der Avantgarde“ (Bernd Roeck). Er hatte ein Auge für noch unbekannte, aber  vielversprechende Maler und Malerinnen, auch für sogenannte „naive“ – und so war die Begegnung mit Séraphine in Senlis zwar ein Zufall, aber es war dann keinesfalls ein Zufall, dass Uhde ihren  außerordentlichen künstlerischen Wert  erkannte.

Allerdings blieb dies zunächst ohne Folgen. Denn durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste Uhde als „feindlicher Ausländer“  Frankreich verlassen und nach Deutschland zurückkehren.  Die Folgen waren gravierend: Die Einrichtung von Uhdes Wohnung in Senlis wurde verkauft, und damit auch die Bilder Séraphines. „Ich habe niemals erfahren können“, schreibt Uhde 1947, „wer sie erworben hat.“[24] Vielleicht wurden die Bilder Séraphines wie andere aus dieser Zeit bei „Entrümpelungen“ entsorgt…. Uhdes Pariser Kunstsammlung  wurde -wie auch die ebenso bedeutende  seines Freundes Henri Kahnweiler- vom französischen Staat als Kriegsentschädigung beschlagnahmt und 1921 im Auktionshaus Hôtel Druot  versteigert. Der Katalog umfasste  73 Gemälde und Zeichnungen: neben Arbeiten von Matisse, Rousseau,  Laurencin u.a. auch  18  Werke von Braque und 16 von Picasso, darunter das oben abgebildete Portrait Uhdes. Als Sachverständiger fungierte der Pariser Kunsthändler Léonce Rosenberg, der die von Uhde und Kahnweiler gesammelten Werke „lächerlich niedrig taxierte. …. Er nutzte die Chance, seine deutschen Konkurrenten auf dem Pariser Markt ausschalten zu können.“ Was diese „boches“ gesammelt hatten, konnte ja nur minderwertig sein. Als der im Krieg hochdekorierte und schwer verwundete Braque sah, wie Kahnweilers Sammlung verschleudert wurde, stürzte er sich auf Rosenberg und konnte nur mühsam gebändigt werden. Der ebenfalls anwesende Henri Matisse unterstützte Braque dabei lautstark und protestierte gegen diesen –im Grunde gegen die Interessen Frankreichs verstoßenden-„Akt nationalistischer, kulturpolitischer Aggression“.[25]

Uhdes Rückkehr nach Frankreich und Séraphines „Jahre des Ruhms“

1924 kehrte Uhde –trotz alledem- in seine Wahlheimat Frankreich zurück, nachdem er die dafür erforderlichen Bürgschaften erhalten hatte.  Er  begann nun, eine neue Sammlung aufzubauen.  Die Maler seiner  verlorenen Vorkriegssammlung waren inzwischen berühmt und ihre Werke für ihn unerschwinglich. Zufällig entdeckt er bei einem Ausstellungsbesuch ein Werk von Rousseau, das er besonders geliebt hatte: Es wird ihm zum Preis von 300 000 Francs zum Rückkauf angeboten. Er selbst hatte es vor dem Krieg für 40 Francs von einer Wäscherin gekauft….    Uhde konzentrierte sich also auf noch unbekannte naive Maler wie Bombois und Vivin,  die er – auch weil die Kirche Sacré Cœur zu ihren bevorzugten Motiven gehörte-  die Maler vom Heiligen Herzen nennt.

                               Louis Vivin,  Basilique du Sacré-Cœur de Montmartre. 1930

Mit Séraphine nahm Uhde  allerdings –merkwürdiger Weise- zunächst keinen Kontakt auf. Über die Gründe kann nur spekuliert werden.  Möglicherweise hatte er sie schlicht aus den Augen verloren. Erst 1927, als er mit Helmut Kolle und seiner Schwester Anne-Marie-Uhde im benachbarten Chantilly wohnte, kam es zu einem Wiedersehen.  Anlass war eine Ausstellung heimischer Künstler (Exposition de la Société des Amis des Arts de Senlis) im Rathaus von Senlis:

„Jetzt ging ich die hohe steinerne Treppe des Rathauses hinan, betrat den Saal, an dessen Wänden Bilder, Aquarelle, Zeichnungen hingen. Die übliche Provinzkunst, angefertigt in ihren Mußestunden von Schlossbesitzern und adeligen Fräulein, eine enge Welt, klein gesehen und klein gemalt, beliebig, dünn und bunt. Und indem mein Blick dieses alles suchend schnell abtastete und wieder verließ, entdeckte er plötzlich in einem Winkel drei große Bilder von packender Gewalt, die ihn hielten, einen Fliederstrauß in schwarzer Vase, einen Kirschbaum, zwei Weinstöcke, einen roten und einen weißen. Und als ich diesen Bildern Séraphines ruhig und fest ins Gesicht sah, da war es, als fingen draußen längst verstummte Glocken an zu läuten.“[26]

 „Alles suchend“ abgetastet: Das gilt natürlich den Bildern Séraphines. Denn als Uhde nach Senlis zur Ausstellung fuhr, war die  Pariser Kunstöffentlichkeit schon auf die Ausstellung in Senlis und auf Séraphine aufmerksam geworden. Und zwar durch einen Aufsatz des renommierten Kunsthistorikers Louis Gillet, der Séraphine rühmte:

„Seit drei Tagen gibt es in Senlis, das nicht gerade ruhmverwöhnt ist, Genialität. Senlis hat zur Avantgarde gefunden. (…) Senlis hat seine Legende. Senlis hat Séraphine.“[27]

Ist es unter diesen Bedingungen so wahrscheinlich, dass –wie Uhde berichtet- die für die Ausstellung Verantwortlichen es mit „Mitleid und Spott“ quittierten, als er drei Bilder Séraphines aufkaufte? Und es waren dem Katalog der Ausstellung zufolge auch gar nicht die einzigen, die sie dort ausgestellt und –kaum erstaunlich nach der Eloge Gillets- verkauft hatte.[28] Da hat Uhde wohl seine Rolle etwas überhöht, so wie er ja auch die Legende der Séraphine von Senlis nach Kräften befördert hat.

Eines der drei von Uhde gekauften Bilder der Ausstellung war wohl das mit Ripolin gemalte Bild Les Grappes (1927, heute in Privatbesitz), das auf der anfangs erwähnten Ausstellung im Musée Maillol zu sehen war.

 Uhde erneuerte nun den Kontakt mit Séraphine, die inzwischen nur noch für die Malerei lebte: „Ich diene nicht mehr bei Leuten“, sagte sie Uhde, „aber es ist furchtbar schwer, denn ich bin alt und ein Anfänger, der nicht viel kann.“[29] Da war Uhde aber völlig anderer Meinung. Er  kaufte alle ihre Bilder auf, vermittelte ihr Kontakte zu anderen Interessenten und ließ ihr die gewünschten zwei Meter hohen Leinwände bringen.

Und Uhde unterhielt sich auch intensiv mit Séraphine über ihre Kunst und ermutigte sie wohl dazu, mit dem Anspruch auf exakte Gegenständlichkeit in ihren Bildern souveräner umzugehen. So eröffneten sich für sie gestalterische Möglichkeiten, das „Bild einer anderen – paradiesischen- Vegetation überzeugender zu realisieren“[30] -– so wie auf dem nachfolgend gezeigten um 1929 entstandenen Bild Grappes et feuilles roses.      

 „Unter starker Anspannung, in schlaflosen Nächten malte sie nun ein Meisterinnenwerk nach dem anderen. …. Gallot vermutet, dass in diesen produktivsten Jahren drei bis vier Bilder pro Monat entstanden. Regelmäßig kam ein von Uhde geschickter Lastwagen, der ihr neues Material brachte und die fertigen Werke abholte.“[31] 

Ohne Uhde und seine Schwester, die einen engen persönlichen Kontakt mit Séraphine Louis pflegte, hätte sich ihr künstlerische Werk nicht in dieser Weise entfalten können. Die Förderung  durch die Uhdes bedeutete für sie das Versprechen, eine große Künstlerin zu sein. So entstand in einem kurzen Zeitraum von drei, höchstens vier Jahren ein „in der Tat einzigartiges und großartiges künstlerisches Werk“.[32]

Es waren Jahre eines kurzfristigen Ruhms,  zu dem auch Geld gehörte, das  Séraphine mit (mehr als) vollen Händen wieder ausgab. Ihre  frühere, fast unterwürfige Demut legte sie, überzeugt von der Größe ihres Werkes, ab. Ihre Briefe unterschrieb sie nun mit Séraphine Louis Maillard –sans rivale (ohne Rivalin): Louis war der Name ihre Vaters, Maillard der ihrer Mutter. Uhde adelte sie mit dem Künstlernamen Séraphine de Senlis.  

Séraphine Louis, fotografiert von Anne-Marie Uhde in den 1920-er Jahren.[33] Margeriten waren eine Lieblingsblume von Séraphine Louis. Es gibt viele Gemälde mit diesen Blumen, so „Die großen Margeriten“ von 1929/1930 im Museum Senlis. [34]

Séraphine Louis hat ihren Bildern nie Namen gegeben- sie stammen von Wilhelm Uhde oder seiner Schwester.  Wie die floralen Motive spielt auch der Baum eine wichtige Rolle in ihrem Werk.  Dabei scheint die christliche Ikonographie des Mittelalters auf: Der Paradiesgarten, das himmlische Jerusalem, Getreide und Trauben, Brot und Wein, der Baum des Wissens und der Baum des Jesse, der Himmel und Erde verbindet. 

L’arbre de vie, Der Baum des Lebens (1928/1930) Museum Senlis.

Dass sie sich dabei auch von faszinierenden Schilderungen der exotischen Fauna und Flora in den französischen Kolonien inspirieren ließ, legen Wilkens und Körner in ihrem Buch dar. Als Quelle können dafür die in Senlis ansässigen und auch in der Missionsarbeit tätigen Schwestern von Saint-Joseph de Cluny gedient haben, mit denen Séraphine in Kontakt stand. In dem Buch einer in Martinique tätigen Ordens- und Namensschwester findet sich jedenfalls ein Satz über die Vegetation in Martinique, der auch zum Werk der Séraphine Louis passt: „Die Vegetation kennt keine Erholung; die Bäume erneuern ständig ihre Blüten und ihre Früchte und übersetzen die Erinnerung an das irdische Paradies in lebende Bilder.[35]

Hier zwei Ausschnitte aus dem in diesen Jahren entstandenen Paradiesbaum  (L’arbre de paradis, 1929/1930), einem der in jeder Hinsicht größten Werke der Künstlerin.[36] 

Dies ist in Stück des Blätterwaldes, „dessen einzelne Formen an  Muscheln, Vulven, Pfauenfedern erinnern…

….  Und genau in der Bildmitte ‚thront‘ ein Blatt in der Form eines Auges, das natürlich als das Auge Gottes erscheint.“[37]

Wilhelm Uhde in seinen Erinnerungen:  „In den Bildern der Séraphine erwachte in neuen Formen die Inbrunst des Mittelalters, da in den Klöstern die ekstatischen Gebete von Gott besessener Nonnen gen Himmel stiegen. Sie lebte wie Rousseau auf einer anderen Ebene, wie bei diesem lag der Ursprung des Werkes im Mystischen, in einem unbeschreiblichen Zustand der Seele, der schöpferisch ist. … Diese Herkunft aus einer Welt, zu der wir keine Beziehungen haben, gibt den Bildern Séraphines ihre geheimnisvoll mittelalterliche Wirkung. Sie war fähig, dem großen Erlebnis die große Form zu geben, auf der begrenzten Fläche der Leinwand das unbegrenzte Erlebnis zu gestalten. Ihr Werk gleicht dem Hohenlied Salomonis“. [38]

Zunehmende Verwirrung, Krankheit und Tod der Séraphine Louis

Séraphine Louis galt in Senlis schon seit den 1920-er Jahren als wunderliche Person. Sie malte vor allem nachts, und der ganze Stadtteil hörte, wie sie dabei, schrill und falsch, Choräle sang. Man machte sich lustig über ihre Kleidung, ihren Weinverbrauch (sie liebte den ‚natürlichen Wein‘ und hatte immer eine Flasche ‚Roten‘ bei sich‘), ihre Visionen und natürlich über ihre Malerei. Séraphine war – gemildert in den Jahren ihres Ruhms, der von Paris ausstrahlte- dem „Hohn der kleinen Stadt“ ausgesetzt.[39] Das verstärkte sich 1931, als die Zeichen ihrer geistigen Verwirrung immer deutlicher wurden. Dazu beigetragen hat wohl nicht zuletzt der Rückzug Uhdes[40]: Der hatte in der Weltwirtschaftskrise zunehmend Schwierigkeiten, Ausstellungen zu organisieren und Bilder zu verkaufen. Er forderte Séraphine auf, sparsamer zu sein und keine weiteren Schulden zu machen, für die er bisher immer aufgekommen war. Schließlich stellte er die Zahlungen vollständig ein und brach –wohl auch bedingt durch den qualvollen Tod Helmut Kolles- die Beziehung zu Séraphine ganz ab.  Séraphine war nun allein mit ihren Phantasien von Weltruhm und Reichtum, mit ihren Ängsten und ihrem Verfolgungswahn, mit ihren wahnhaften Anschuldigungen.  Als Haushaltshilfe hatte sie eine klar definierte soziale Stellung gehabt, danach als erfolgreiche Malerin. Als  das endet, verliert sie ihren sozialen Ort, alles löst sich auf. Séraphines Malerei, ihr Spiel mit den Farben waren Mittel, „die Bruchstücke ihrer Persönlichkeit zusammenzufügen“. Jetzt hört sie auf zu malen und der Wahnsinn nimmt von ihr Besitz.[41] 

Unter der Überschrift „Débilité mentale“ berichtet der Courrier de l’Oise am 7. Februar 1932:  Am 31.Januar 1932 sei das geistig verwirrte Fräulein Séraphine Louis, die sich als Malerin bezeichne (se disant artiste-peintre), in das Krankenhaus von Senlis eingeliefert worden. Se disant artiste-peintre: Dem Journalisten des Courrier de l’Oise, der dies schrieb, konnte nicht unbekannt sein, dass Séraphine Louis, damals die wohl prominenteste Einwohnerin der Stadt, eine erfolgreiche Malerin war. Durch diese Formulierung wird aber die Malerei als Ausdruck ihres Wahnsinns denunziert. Und so kündigt denn auch der Courrier de l’Oise im weiteren Verlauf des Artikels an,  dass diese stadtbekannte Senliser Erscheinung  sicherlich in ein Asyl überführt würde, „wo ihr alle Fürsorge zuteil werden wird, die sie benötigt“.[42] Eingeliefert wurde Séraphine Louis dann in der Tat  am 25. Februar 1932 in die psychiatrische Anstalt von Clerment-de l’Oise, wo sie bis zu ihrem Tod im Dezember 1942 blieb.

Von der hier angekündigten Pflege und Behandlung konnte allerdings kaum die Rede sein. Die Anstalt war völlig überfüllt: Der Pavillon, in dem Séraphine untergebracht war, war nach einem Bericht aus dem Jahr 1938 für 160 Kranke gedacht, allerdings mit der doppelten Anzahl Patienten belegt. Der Krieg verschlimmerte die Situation noch erheblich: Die Mehrheit der Ärzte und Krankenpfleger wurde eingezogen, viele flohen vor der anrückenden Wehrmacht. Die Insassen waren sich weitgehend selbst überlassen. Die Wäscherei funktionierte nicht mehr, die Toiletten auch nicht, viele Kranke schliefen im eiskalten Winter nackt auf dem Boden, es gab nicht genug zu essen, worüber sich Séraphine immer wieder beklagte. Im Sommer 1942 riss sie Kräuter aus, um sie nachts zu essen: Die psychiatrischen Kliniken des Landes wurden während des Krieges zunehmend mangelhaft versorgt, so dass viele Insassen an Hunger und Verwahrlosung  starben, wahrscheinlich auch Séraphine Louis.[43] Man hat in diesem Zusammenhang von einer „extermination douce“ gesprochen, einer „sanften“ bzw. eher einer grausam sich hinziehenden, allmählichen Vernichtung, der etwa 45 000 Insassen psychiatrischer Anstalten in Frankreich zum Opfer fielen: Unter dem von Krieg und der deutschen Besatzung verursachten allgemeinen Nahrungsmittelmangel litten besonders die Menschen am Rand der Gesellschaft, deren Leben als unwert oder als am ehesten entbehrlich angesehen wurde und die keine eigenen Mittel hatten oder erhielten, ihr Überleben zu ermöglichen. [44] Zu diesen Menschen gehörte auch die Bildhauerin Camille Claudel, deren Leben erstaunliche Parallelen zu dem von Séraphine Louis aufweist. Auch sie verbrachte –ohne weiter künstlerisch tätig zu sein-  die letzten Jahre ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt  und starb  ein Jahr nach Séraphine Louis.[45]

Séraphine Louis  hatte es sich gewünscht, dass nach ihrem Tod eine großartige Prozession in Senlis und eine Totenmesse mit Chor und Solisten für sie in der Kathedrale gefeiert würde und dass auf dem Grabstein in ihrem Geburtsort Arsy, wo sie bestattet werden wollte, folgende Inschrift mit goldenen Lettern eingemeißelt wäre:

„Ici repose Séraphine Louis Maillard,   sans

rivale, en attendant la résurrection bienheureuse“.

Hier ruht Séraphine Louis Maillar, ohne Rivalin, in Erwartung der glücklichen Auferstehung.

Tatsächlich gab es aber für sie weder eine Totenmesse, noch ein Grab mit Grabstein in Arsy. Sondern bestattet wurde sie  wie andere mittellose Insassen des Asyls in einem anonymen Gemeinschaftsgrab (fosse commune) in Clermont. Niemand war bei der Beerdigung anwesend.

Erst am 5. April 2005 wurde auf dem Friedhof eine schlichte Tafel eingeweiht mit dem von Séraphine gewünschten Text: [46]

Wilhelm Uehde: Überleben in Frankreich während des Dritten Reichs und der deutschen Besatzung

Und Wilhelm Uhde? Natürlich hatte er erfahren, dass Séraphine Louis in das Asyl von Clermont eingeliefert worden war. Er habe  deshalb -so wird berichtet- bei den Ärzten angefragt  und sich nach ihr erkundigt, aber die  Auskunft erhalten, sie nicht zu besuchen, weil dies Krisen auslösen könne. Uhde habe aber Geld nach Clermont geschickt, um die Unterbringung Séraphines in einem Einzelzimmer zu ermöglichen und ihre Situation insgesamt zu verbessern. 1934 habe er, wie und von wem auch immer, die Nachricht vom Tod Séraphines erhalten.[47] In seinen Erinnerungen und in den „Fünf primitiven Meistern“ stirbt Séraphine Louis in der Tat 1934, und dieses Todesdatum verbreitete sich auch in Paris und hielt sich lange in der Literatur. Uhdes Vordatierung des Todes von Séraphine Louis  ist nach Körner/Wilkens „eine Konstruktion“: Für ihn war Séraphine als Künstlerin 1934 gestorben und nicht mehr „von Belang“. [48]

Im gleichen Jahr kehrte Uhde nach Paris zurück. Das freiwillige Leben im geliebten Frankreich wurde nun unter den Bedingungen des Dritten Reichs zum auferlegten politischen Exil. Seiner Arbeit für die Kunst und für die Popularisierung der von ihm geförderten Maler  tat dies aber zunächst keinen Abbruch:  1937 präsentierte eine große Pariser Ausstellung seine „maïtres populaires“ , wozu auch zahlreiche Exponate von Séraphine Louis aus seiner Sammlung  gehörten. Anschließend wurde die Ausstellung im Kunsthaus Zürich und im Museum of Modern Art in New York gezeigt.[49]

Daneben suchte Uhde  den Kontakt mit der deutschen Emigration und schrieb für Willi Münzenbergs Zeitschrift Die Zukunft. Die Nazis entzogen ihm die deutsche Staatsangehörigkeit, was ihm aber von den französischen Behörden nicht bescheinigt wurde. So galt er in Frankreich auch weiterhin als Deutscher.[50] Immerhin blieb ihm, aufgrund seiner guten Kontakte, nach Ausbruch des Krieges die Einweisung in eines der Internierungslager für „feindliche Ausländer“ erspart- anders als seiner Schwester.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht floh er – immer in Angst, den Nazis in die Hände zu fallen – aus Paris. Während mehrerer Monate beherbergte und schützte ihn Jean Cassou, der Chefkonservator des Musée du Luxembourg und spätere Direktor des Pariser Museums der modernen Kunst.  Und immerhin wurden er und seine Schwester, anders als der Maler Otto Freundlich, der ebenfalls in der zone libre Zuflucht gesucht hatte, nicht verraten…[51]

Uhdes Wohnung  in der rue de l’Université wurde von der Gestapo allerdings verwüstet und geplündert.  Teile seiner Sammlung, die nicht vorher in Sicherheit gebracht werden konnten,  gingen wieder verloren. 1944 kehrte Uhde in das befreite Paris zurück, wo er noch zwei Ausstellungen für Séraphine Louis und für Helmut Kolle organisieren und deren Anerkennung erleben konnte. Eines der geretteten Bilder, Séraphines Stillleben mit Kirschen (ca 1925),  schenkte Uhde 1945 Jean Cassou.[52]

Im  Musée National d’Art Moderne , ehemals im Palais de Tokyo in Paris –heute im Centre Pompidou- richtete Cassou einen den Namen Uhdes tragenden Saal mit Bildern  der „Fünf primitiven Meister“ Henri Rousseau, André Bauchant, Camille Bombois, Louis Vivin und Séraphine Louis ein.[53] Dazu gehörte auch der arbre rouge  (Der rote Baum, 1928/1930), der Teil von Uhdes Nachkriegsausstellung war und den Cassou für das Museum aufgekauft hatte.[54]

Auffällig ist hier die asymmetrische Komposition und die Spannung zwischen dem zur Seite geneigten Baumstamm und den Blättern, die den größten Teil des Bildes einnehmen: Ein Bruch mit der für diie Bilder Séraphines sonst meist üblichen Ordnung und Harmonie, den das Centre Pompidou in seinem Begleittext schon in den Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung rückt.

                             Detail des ‚arbre rouge‘

Im Centre Pompidou gibt es heute keine salle Uhde mehr und die nach dem Krieg dort versammelten Bilder sind heute im Museum von Senlis ausgestellt, das dazu auch noch weitere Bilder Séraphines präsentiert.[55]

Die verbliebene Sammlung des  1947 verstorbenen Uhde wurde von Dina Vierny, dem Modell und der „Muse“ Aristide Maillols,  erworben. Die Ausstellung im Musée Maillol Vom Zöllner Rousseau bis Séraphine, auf die am Beginn dieses Beitrags hingewiesen wurde, konnte aus diesem Fundus schöpfen.

Bestattet wurde Uhde auf dem Friedhof Montparnasse, in der Stadt und dem Viertel, das er so sehr liebte. (Chemin Circulaire, 1./2. Division).

Im gleichen Grab sind auch seine Schwester Anne – Marie und Helen Hessel beigesetzt, die ihre letzten Lebensjahre gemeinsam verbrachten.

Helen Hessel:  Das ist die in den 1930-er Jahren in Sanary-sur-mer,  der damaligen „Hauptstadt der deutschen Literatur“ im Exil lebende Frau Franz Hessels, die Mutter des (ebenfalls auf dem Friedhof Montparnasse bestatteten) französischen Diplomaten Stéphane Hessel und die im Film von François Truffaut von Jules und Jim umworbene junge Frau… Aber das ist eine andere Geschichte…[56]

Der Wahlspruch auf dem Grabstein: vivens flagro (Lebend brenne ich) passt für die drei hier bestatteten Personen, genauso aber auch für Séraphine Louis.

Zum Ansehen:

Sehr sehenswert ist der mehrfach ausgezeichnete deutsch-französische Film „Séraphine“ von Martin Provost aus dem Jahr 2008. In den Hauptrollen Yolande Moreau und Ulrich Tukur.[57]

Neues aus Uhdes Jugend- und Studienzeit?

Im Vorstand der Uelzener Familienstiftung Johannislehn bin ich, Walter Bellingrodt, für genealogische Fragen zuständig. Aus den Einnahmen von Erbpachtgrundstücken werden an Nachfahren der Stifterfamilien auf Antrag Studienstipendien verteilt, auch heute noch. Die Stiftung wird im Jahr 2026  650 Jahre alt. Nach intensiver Einarbeitung, Aufstellen von alphabetischen und chronologischen Listen zu den über Tausend in den letzten 250 Jahren Geförderten und dem Vergleich mit Biographien der Namen unter Wikipedia ist mir erst im letzten Jahr aufgefallen, dass Wilhelm Uhde auch zu den Geförderten gehörte:

Investition Meltzingsche Commende 1896, Jahre der Auszahlung 1896, 1897, 1898
Johannislehn: Investiert am 21. Mai 1896., Jahre der Auszahlung: 1898, 1899, 1900.

Er erhielt Geld aus den beiden Stiftungen, er musste sich bewerben, vielleicht hat er sich auch bedankt und etwas zu seinem Werdegang geschrieben. Das Archiv des Johannislehn wurde vor wenigen Jahren dem Archiv der Stadt Uelzen übergeben, und weil die Dokumente erst jetzt chronologisch und nach Sachgebieten geordnet wurden, stehen sie erst jetzt für Forschungszwecke zur Verfügung. Ich nehme, dass dies als Information für an dem Leben von Uhde besonders Interessierte von Bedeutung ist.

Weitere Informationen zur Stiftung: www.stiftungjohannislehn.org und walter.bellingrodt@ewe.net

Postscriptum

Im Internet habe ich zufällig folgenden schönen Hinweis auf diesen Blog-Beitrag gefunden:

 In seinem Paris-Blog schreibt der Historiker Wolf Jöckel gern erfreulich lange Beiträge zu seinem jeweiligen Thema – sehr differenziert und detailreich, selbstverständlich unter Angabe der Quellen und großzügig bebildert. Eine schätzenswerte Ausnahme im Internet!

Im Dezember 2020 widmete er einen Artikel der »wunderbaren und tragischen Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen ‚Entdeckers’«. Dabei handelt es sich um Séraphine Louis (1864–1942), die der Kunsthändler und Sammler Wilhelm Uhde in Senlis 1912 als seine Haushaltshilfe kennenlernte und mit Erstaunen ihr außergewöhnliches Talent als naive Malerin entdeckte. Als Kenner der zeitgenössischen Kunst (und als Förderer von Pablo Picasso, Georges Braque, dem »Zöllner« Rousseau und Marie Laurencin ) hatte Uhde ein Auge für unbekannte, aber vielversprechende Maler und Malerinnen… Was sich so märchenhaft anließ, endete traurig und tragisch.

Dieser Text, über den ich mich natürlich sehr gefreut habe, stammt aus dem schönen Blog „Zwischenstopp“ von Gabriele Kalmbach: https://gabrielekalmbach.de/ueber-gk/  Merci!

Benutzte Literatur/Zum Weiterlesen:

Françoise Cloarec, Séraphine. La vie rêvée de Séraphine de Senlis. Paris 2008 (Cloarec ist Psychoanalytikerin und hat mit einer Arbeit über Séraphine Louis promoviert)

Manfred Flügge, ‚Was unser Dasein in die Ferne trägt…‘  Ein deutscher Kunsthändler in Paris: Wilhelm Uhde. In: Manfred Flügge, Paris ist schwer. Deutsche Lebensläufe in Frankreich. Berlin 1992, S.41-57

Hans Körner/Manja Wilkens, Séraphine Louis 1864 – 1942. Biographie/Werkverzeichnis. Biographie/Catalogue raisonné. Traduit par Annette Gautherie-Kampka.   Berlin: Reimer-Verlag  2. erweiterte Auflage 2015. Das Kapitel: Erste Bilder ist im Internet einsehbar unter:  https://www.reimer-mann-verlag.de/pdfs/101547_2.pdf

Musées de Senlis (Hrsg), Séraphine 1864-2014. 150e anniversaire. Broschüre zur Ausstellung in Senlis 2014/2015

Bernd Roeck, Über die Kunst, das Schöne zu sehen- Wilhelm Uhde, ein Geburtshelfer der Avantgarde. In: Wilhelm Uhde, Von Bismarck bis Picasso. Zürich 2010, S. 353 – 375

Andrea Schweers, Séraphine Louis (genannt Séraphine de Senlis) 1864-1942. Malerin von Maris Gnaden. In: Sibylle Dua und Luise F. Pusch, Wahnsinnsfrauen.  Suhrkamp taschenbuch 2439  FFM 1996, S. 39 -70

Wilhelm Uhde, Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren. Mit einem Nachwort von Anne-Marie Uhde. In: Manfred Flügge, Paris ist schwer. Deutsche Lebensläufe in Frankreich. Berlin 1992, S. 59 – 108 (auch enthalten in: Wilhelm Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 305f)

Wilhelm Uhde, Von Bismarck bis Picasso. Erinnerungen und Bekenntnisse.  Zürich 2010

Wilhelm Uhde, Fünf primitive Meister. Rousseau/Vivin/Bombois/Bauchant/Seraphine. Zürich: Atlantis Verlag 1947

Alain Vircondolet, L’art jusqu’à la folie. Camille Claudel, Séraphine de Senlis, Aloïse Corbaz. Monaco: Éditions du Rocher 2016

Praktische Hinweise:

Das Musée d’Art et d’Archéologie: Place Notre-Dame 60300 Senlis

Tel. +33 (0)3 44 24 86 72

Öffnungszeiten (außer zu Covid-19-Zeiten):

Mittwochs bis sonntags 10-13 Uhr und 14-18 Uhr

Zufahrt Senlis:

Von Paris aus: Autobahn A 1, Ausfahrt 8 Senlis  (45 km)

oder

SNCF: vom Gare du Nord nach Chantilly, von dort aus Bus Linie 15

Ein Ausflug nach Senlis kann gut kombiniert werden mit einem Besuch von


Anmerkungen:

[1] Wilhelm Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 170/171 Foto aus: https://www.flickr.com/photos/jrthibault/8380847336/lightbox/ 

[2] A.a.O., S. 171

[3] Die meisten der  in diesem Beitrag wiedergegebenen Bilder Séraphines befinden sich in dem Museum von Senlis und sind dort aufgenommen.  Bei dem hier abgebildeten Bild handelt es sich nicht um das Stilleben, durch das Uhde auf Séraphine Louis aufmerksam wurde. Das ist verschollen. Aber es ist eines ihrer Bilder „bei denen am ehesten noch (wie bei Uhde. W.J.) die Erinnerung an Cézanne-Stilleben wach werden könnte“. (Körner/Wilkens, S. 53)

[4] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 172/3

[5] Uhde, Fünf primitive Meister, S. 123

[6] Uhde, von Bismarck bis Picasso, S. 173  Allerdings gibt es verschiedene andere Versionen über den ersten Kauf eines Werkes von Séraphine durch Uhde: Vielleicht entdeckte er ein Bild von ihr auch bei dem lokalen Photographen, Schneider, Schuster oder Antiquitätenhändler. Aber die Uhde’sche Version von 1947 ist natürlich eindrucksvoller. Siehe Körner/Wilkens, S. 47

[7] Zitiert im Vorwort von Françoise Cloarec, Séraphine. La vie rêvée de Séraphine de Senlis.

[8] Im Tourismus-Büro der Stadt (place du Parvis Notre-Dame) ist ein Faltblatt Séraphine erhältlich mit einem kleinen Stadtrundgang, auf dem Drehorte des Films (s.u.) angegeben sind und natürlich auch das Haus in der rue du Puits Tiphaine Nummer 1.

[9] Siehe den sehr empfehlenswerten Beitrag von Andrea Schwer, Séraphine Louis, 1864-1942. Malerin von Maria Gnaden. In: Wahnsinns-Frauen. Hrsg. von Sibylle Duda und Luise F. Pusch. Suhrkamp taschenbuch 2493. Ffm 1996, S. 39 – 70.   Diesem Aufsatz habe ich auch den biographischen Dreiklang „beten, putzen, malen“  entnommen (S.43) und ich stütze mich auch im Weiteren auf ihn, ebenso wie auf das grundlegende Werk von Körner und Wilkens.

[10] Körner/Wilkens, S. 55

[11] Plakat von Eugène Charles Paul Vavasseur https://www.moma.org/collection/works/7829

Siehe dazu das Kapitel aus Körner/Wilkens: Ripolin aus der Drogerie Duval, S. 41ff

[12] Zitat Uhde aus: Fünf primitive Meister, S. 125 Körner/Wilkens, S. 113

[13] s.o. und Uhde, Von Bismarck zu Picasso, S. 259 Im Begleittext zur Ausstellung der Bilder Séraphines im Museum von Senlis ist die Rede von einer „luminosité particulière, qu’elle affectionne peut-être parce qu’elle rappelle les vitraux de la cathédrale de Senlis“

Siehe auch: Nathalia Brodskaya in L’Art naïf (2014): „Les vitraux de l’église de Senlis eurent également une influence diffuse tout en long de son Œuvre“.

[14] Der Vogel mit Früchten ist im Museum Senlis ausgestellt. Die beiden anderen Bilder wurden 2019/2020  in der Ausstellung Du Douanier Rousseau à Séraphine. Les grands maîtres naïfs gezeigt.

[15]https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Uhde_(Kunsth%C3%A4ndler)#/media/Datei:Robert_Delaunay,_1907,_Portrait_of_Wilhelm_Uhde..jpg

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Uhde_(Kunsth%C3%A4ndler)  Im Museum von Senlis sind auch Werke Kolles ausgestellt. Ein Selbstportrait Kolles befindet sich auch in der Sammlung des Städel-Museums Frankfurt. https://sammlung.staedelmuseum.de/de/person/kolle-helmut

[17] Bild aus https://www.nordbayern.de/kultur/laufer-kunstsammler-fand-wieder-eine-raritat-1.5630063  24.11.2016 https://www.schwulesmuseum.de/ausstellung/portraets-aus-wilhelm-uhdes-kunstsammlung-in-tapetenwechsel-2-04/  In Wilhelm Uhdes Erinnerungsbuch „Von Bismarck bis Picasso“ sind die Portraits von Delauney, Kolle und Picasso abgebildet (S.350-352), das von Lanskoy aber nicht.  

[18] https://www.phaidon.com/agenda/art/articles/2015/march/17/the-amazing-life-story-of-wilhelm-uhde/  

[19] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 146/7

[20] Zitat und zum Nachfolgenden: Roeck, Über die Kunst, das Schöne zu sehen. S. 361

[21] Roeck, Über die Kunst, das Schöne zu sehen, S. 362

[22] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 158

[23] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 162

[24] Uhde, Fünf primitive Meister, S. 119f

[25]   https://www.deutsche-biographie.de/pnd117267716.html und Roeck, Über die Kunst, das Schöne zu sehen, S. 367/8. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das abschließende Zitat stammt nicht von Matisse, sondern von Roeck. Zum Hintergrund siehe die Darstellung Roecks über die damals in Frankreich gängige Abwertung des Kubismus. Die Preise für diese „scheußlichen Werke“ würden durch „unerwünschte Ausländer““, vor allem Deutsche, in die Höhe getrieben.

[26] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 258

[27] Zit. Körner/Wilkens, S. 65

[28] Körner/Wilkens, S. 69/71

[29] A.a.O., S. 259

[30] Körner/Wilkens, S. 75

[31] Schweers, Séraphine Louis, S. 49/50

[32] Körner/Wilkens, S. 71

[33] Bild aus: https://www.wikiart.org/de/seraphine-louis

[34] Katalog von Körner/Wilkens Nr. 65. https://musees.ville-senlis.fr/Collections/Explorer-les-collections/Rechercher-une-oeuvre/Musee-d-Art-et-d-Archeologie/Les-grandes-marguerites

[35]  Hans Körner/Manja Wilkens, Séraphine Louis 1864 – 1942. Biographie/Werkverzeichnis.  Berlin: Reimer-Verlag  2. Auflage 2015, S. 31

[36] Schweers, S. 52; Körner/Wilkens, S. 19

[37] Schweers, S. 61; Körner/Wilkens, S. 19

[38] Uhde, Von Bismarck bis Picasso, S. 259

[39] Schweers, S. 48 und 51

[40] Siehe dazu: Cloarec, S. 140ff

[41] „sa place n’est plus assurée dans le circuit sociale. Tout se défait.“ Cloarec, S. 32 und S. 31 siehe auch Vircondelet, S. 146ff

[42]  Körner/Wilkens, S. 12/13

[43]https://www.lefigaro.fr/cinema/2008/10/01/03002-20081001ARTFIG00411-seraphine-de-senlis-enfin-rehabilitee-.php  (morte probab­lement de faim)

[44]  Der Begriff der Extermination douce geht zurück auf ein Buch des Psychiaters Paul Lafont aus dem Jahr 1987: L’extermination douce. La mort de 40000 malades mentaux dans les hôpitaux psychiatriques en France sous le régime de Vichy. Siehe dazu: Pierre Broussolle, L’Extermination douce. La Cause des fous 40000 malades mentaux morts de faim dans les hôpitaux sous Vichy. https://www.cairn.info/revue-vie-sociale-et-traitements-2001-1-page-45.htm# Neuer und auf einem breiteren Forschungsstand:   Isabelle von Bueltzhingsloewen (Hrsg), « Morts d’inanition ». Famine et exclusions en France sous l’Occupation, Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2005 und dies., L’Hécatombe des fous. La famine dans les hôpitaux psychiatriques français sous l’Occupation, Paris: Aubier 2007. Siehe dazu: Danièle Voldman in:https://www.cairn.info/revue-d-histoire-moderne-et-contemporaine-2008-4-page-234.htm

siehe auch Vircondolet, S. 167: er zitiert aus einem Rundschreiben der Regierung von Vichy vom 3. März 1942, wo von menschlichem Abfall (déchets) gesprochen wird, dessen Ernährung nicht zu rechtfertigen sei.

[45] Siehe dazu: Séraphine Louis und Camille Claudel- zwei parallele Leben. In: Schweers, Séraphine Louis, S. 62f. Zu Camille Claudel siehe auch den Beitrag auf diesem Blog: https://paris-blog.org/2019/12/22/camille-claudel-orte-der-erinnerung-an-eine-grosse-bildhauerin/ 

[46] Bild des Epitaphs aus: https://docplayer.fr/9911326-Seraphine-louis-1864-1942-artiste-peintre.html  Wie schwer sich die Gemeinde auch heute noch mit Seraphine tut, die dort ja viele Jahres ihres Lebens verbracht hat, wird aus dem entsprechenden Text der lokalen homepage deutlich: Elle meurt en 1942, et sera inhumée dans la fosse commune du cimetière de Clermont, et recevra comme épitaphe:  « Ici repose Séraphine Louis Maillard sans rivale, en attendant la résurrection bienheureuse ». https://www.clermont-oise.fr/ville/monuments-clermont  Da werden weder die (schlimmen) Umstände ihres Todes angegeben noch der (späte) Zeitpunkt,  wann die Tafel  installiert wurde.

[47] Siehe Cloarec, S. 159; Vircondolet, S. 159

[48] Körner/Wilkens, S. 115/116

[49] Siehe Körner/Wilkens, S. 271/272

[50] Das wird aus seinen Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren deutlich. Siehe auch Cloarec, S. 170: „Il n’a jamais pu obtenir la nationalité française.“  Manfred Flügge schreibt allerdings in seinem Buch über Stéphane Hessel (Portrait d’un rebelle heureux) über Uhde: Il avait été naturalisé français dans les années 1930.

[51] Siehe den Blog-Beitrag über Otto Freundlich: https://paris-blog.org/2020/04/01/der-maler-und-bildhauer-otto-freundlich-ein-deutsch-franzoesisches-kuenstlerschicksal-eine-ausstellung-im-museum-montmartre/ 

[52] Siehe Cloarec, S. 169. Bild aus: https://www.artcurial.com/en/lot-seraphine-louis-dite-seraphine-de-senlis-1864-1942-nature-morte-aux-cerises-circa-1925-huile Es wurde 2012 für 25,741 Dollar verkauft.

[53]  „Fünf primitive Meister“ ist der Titel eines 1947 erschienenen Buches von Walter Uhde über Rousseau, Vivin, Beauchamp, Bombois und Séraphine Louis.

[54] Bilder  aus:  https://www.centrepompidou.fr/fr/ressources/oeuvre/cn74brg und   http://espacetrevisse.e-monsite.com/pages/mes-travaux-personnels-notes-etudes/l-arbre-rouge-de-seraphine.html

[55] Im Juni 2020, als wir das Centre Pompidou zuletzt besuchten, war dort leider kein einziges Werk von Séraphine Louis zu sehen.

[56] Siehe dazu den Blog-Beitrag  https://paris-blog.org/2016/04/18/exil-in-frankreich-sanary-les-milles-und-marseille/

[57] Bild aus: https://www1.wdr.de/fernsehen/kinozeit/sendungen/seraphine100.html

Merci, Gabriele Kalmbach!

In ihrem Blog „Zwischenstopp“ hat Gabriele Kalmbach einen sehr sympathischen Hinweis auf meinen Artikel über Seraphine Louis und Wilhelm Uhde veröffentlicht, den ich nachfolgend wiedergebe.

https://gabrielekalmbach.de/zweimal-frankreich-im-netz-2021_kw03/

Mit meinem Dank verbinde ich die Empfehlung, sich auch einmal auf dem schönen, professionellen Blog von Gabriele Kalmbach umzusehen. Neben kulinarischen Empfehlungen lädt die Reisejournalistin auch zu Entdeckungsreisen in La Belle France ein.

Paris-Blog: In seinem Paris-Blog schreibt der Historiker Wolf Jöckel gern erfreulich lange Beiträge zu seinem jeweiligen Thema – sehr differenziert und detailreich, selbstverständlich unter Angabe der Quellen und großzügig bebildert. Eine schätzenswerte Ausnahme im Internet! Im Dezember 2020 widmete er einen Artikel der »wunderbaren und tragischen Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen ‚Entdeckers’«. Dabei handelt es sich um Séraphine Louis (1864–1942), die der Kunsthändler und Sammler Wilhelm Uhde in Senlis 1912 als seine Haushaltshilfe kennenlernte und mit Erstaunen ihr außergewöhnliches Talent als naive Malerin entdeckte. Als Kenner der zeitgenössischen Kunst (und als Förderer von Pablo Picasso, Georges Braque, dem »Zöllner« Rousseau und Marie Laurencin ) hatte Uhde ein Auge für unbekannte, aber vielversprechende Maler und Malerinnen… Was sich so märchenhaft anließ, endete traurig und tragisch.

Séraphine Louis und Wilhelm Uhde: Die wunderbare und tragische Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen „Entdeckers“

Die Rousseau-Sammlung des Museums Jacquemard-André im ehemaligen königlichen Kloster Chaalis

Eine schöne und im wahrsten Sinne des Wortes nahe liegende Ergänzung zu einem Besuch des jardin Jean-Jacques Rousseau in Ermenonville ist die Rousseau-Sammlung im Museum Jacquemard-André in Chaalis.

Zu Ermenonville siehe  den Blog-Beitrag:   https://paris-blog.org/2020/09/01/der-park-jean-jacques-rousseau-in-ermenonville-der-erste-landschaftspark-auf-dem-europaeischen-kontinent-und-die-erste-begraebnisstaette-rousseaus/

Die heruntergekommene ehemalige Klosteranlage in Chaalis war im 19. Jahrhundert von der reichen Familie de Vatry gekauft worden, die daraus „einen der schönsten Adelssitze der romantischen Generation“ machte.[1]

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Links das Schloss/Museum, vorne rechts und in der Mitte die Reste der mittelalterlichen Klosteranlage mit der chapelle Sainte-Marie  und hinten rechts der Rosengarten

Mme Vatry hatte auch 1874 von den verschuldeten Erben des Marquis de Girardin, auf dessen Einladung hin Rousseau die letzten Tage seines Lebens in Ermenonville verbrachte, den nördlichen Teil des Schlossparks gekauft. Sie war eine Verehrerin Rousseaus, wie wohl auch Nélie Jacquemart,  die Witwe des Bankiers Édouard André, die 1902 Chaalis  kaufte, wo sie  eine Zweigstelle   ihres Pariser Museums  einrichtete.  Zu der dort präsentierten Sammlung von Kunstwerken gehörte auch eine Büste Rousseaus, die der bedeutende Bildhauer Houdon  nach der Todesmaske Rousseaus  1778 angefertigt und dem Marquis de Girardin geschenkt hatte.

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Auch eine ebenfalls Houdon zugeschriebene Büste Voltaires gehörte zu den Sammlerstücken Nélie Jacquemarts und ist heute in Chaalis ausgestellt.

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1924 kaufte dann das Institut de France,  inzwischen Eigentümerin des Museums, die Rousseau-Sammlung von Fernand de Girardin, dem letzten Nachkommen der Schlossherren von Ermenonville.  Und seit 2012, dem Jahr des 300. Geburtstages von Rousseau,  gibt es  eine eigene, neu konzipierte Abteilung des Museums, die Rousseau gewidmet ist.

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Hier ein Portrait von Rousseau, die Büste Houdons und ein Jean-Baptiste Greuze zugeschriebenes Gemälde, das  René de Girardin neben einer Büste Rousseaus zeigt.

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Die Ausstellung versucht einen Überblick über das ganze Leben Rousseaus und die immense Spannweite seines Schaffens zu geben, wobei seine Beschäftigung mit der Musik einen Schwerpunkt bildet. Und immerhin war es ja die Musik, die René de Girardin und Rousseau zuerst zusammenführte. Aber natürlich ist die Sammlung vor allem auf die letzten Tage Rousseaus in Ermenonville konzentriert.

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Georges- Frédéric Meyer, Die Familie Girardin und Jean-Jacques Rousseau. Aquarell 1778/1779

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Der Marquis René de Girardin, der Gastgeber Rousseaus (1735-1808). Ölgemälde 1778/1779, zugeschrieben Georges-Frédéric Meyer

DSC08674 Chaalis (20)Lithographie der Hütte von Rousseau am Lac du désert nach einer Zeichnung von Charles Guérard

DSC08674 Chaalis (39)Georges-Frédéric Meyer: Le Petit-Clarens. Aquarell 1778/1779. Es zeigt das Chalet, das der Marquis de Girardin für Rousseau bauen ließ, das dieser allerdings nicht mehr beziehen konnte. Der Name des Chalets bezieht sich auf den im Émile beschriebenen Garten, der Vorbild für die Anlage des Parks von Ermenonville wurde.

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Rousseau beschäftigte sich in Ermenonville vor allem mit dem Sammeln und Einordnen von Pflanzen. Georges-Frédéric Meyers Zeichnung des Pflanzen sammelnden Rousseau (Jean-Jacques Rousseau herborisant) hat denn auch wesentlich das Bild des letzten Lebensabschnitts Rousseaus bestimmt. Hier eine nach der Zeichnung Meyers angefertigte Lithografie. [2]

Johanniskraut (Le Millepertuis).  Von Rousseau getrocknete Pflanze mit der eigenhändigen botanischen Bezeichnung  hypericum humifusum (links)

Von Rousseau getrocknete Pflanze mit der Aufschrift: „Je ne connais pas cette plante à moins que ce ne soit Andromeda Paniculata“ (rechts)

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Hierbei handelt es sich ebenfalls um den  Teil  einer  von Rousseau gesammelten und  gepressten Pflanze, die der Enkel von René de Girardin 1844 einem Freund geschenkt hatte und das 2019 vom Institut de France für den Espace Rousseau erworben wurde. Es handelt sich um eine Goldrute (Verge d’or), deren heilsame Wirkung seit dem 15. Jahrhundert erkannt wurde.

Portrait von Rousseau an seinem Schreibtisch. Lithografie des 19. Jahrhunderts nach einer Zeichnung von Girardin. (linkes Bild)

Auf diesem Sessel wurde der sterbende Rousseau zu seinem Bett getragen und dort aufgebahrt. (rechtes Bild)

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Georges-Frédéric Meyer: Aquarell des Parks von Ermenonville mit der Pappelinsel. (Um 1778) Hier ist noch das provisorische Grabmal mit der Urne zu sehen. Das endgültige Grabmal von Lesueur wurde am 23. Mai 1780 errichtet.

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Jacques –Philippe Lesueur: Modell  des Grabmals von Jean-Jacques Rousseau. 1791

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Diese Lithographie des „Wasserfalls von Ermenonville“ veranschaulicht eindrucksvoll die  Überhöhung des Ortes, wo Rousseau gestorben ist und begraben wurde. Der gewaltige Wasserfall der Darstellung  hat mit  der Realität im Park von Ermenonville wenig zu tun – besonders wenig,  wenn man das traurige Rinnsal im Dürresommer 2020 vor Augen hat.

Entsprechend überhöht wird natürlich auch und vor allem Rousseau selbst. Gegenstand  dieser Lithografie (Ausschnitt) ist seine „Auferstehung“.  Rousseau, von einer freudigen Jugend und Engeln gefeiert und bekränzt,  entsteigt gerade dem Grab auf der Pappelinsel.

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Die stillende Mutter auf der banc des mères gehört natürlich auch zu den Feiernden.

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Sehr schön ist auch die Abteilung mit den Rousseau-Devotionalien.

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Teller mit dem Abbild Rousseaus: Porzellan von Nevers, 19. Jahrhundert

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Für alle Zwecke und Geldbeutel ist etwas dabei.

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Pendeluhr aus vergoldeter Bronze.

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Es gibt sogar das Firmenschild eines Schusters: Ein schönes Zeichen für die große Popularität Rousseaus.

Gar nicht zur Überhöhung Rousseaus passt das Verhältnis zu den fünf Kindern, die er mit seiner  Lebensgefährtin Thérèse Le Vasseur hatte, ein Thema,  das im Espace Rousseau immerhin nicht ausgespart wird.

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Thérèse Le Vasseur. Anonyme Tuschezeichnung (Ausschnitt). Ca 1778/1780

Thérèse kam aus einfachsten Verhältnissen, sie war Wäschefrau in einem Pariser Hotel  und konnte kaum lesen und schreiben. Rousseau schätzte sie aber sehr wegen ihres von ihm als „pur, excellent et sans malice“ beschriebenen Charakters. 1768 heirateten die beiden, und nach dem Tod Rousseaus bezog sie das Petit – Clarens, das sie aber nach einem Streit mit Girardin bald wieder verließ. Seine/ihre fünf Kinder  gab Rousseau sofort nach ihrer Geburt in eine Einrichtung für Findelkinder (Enfants – Trouvés) ab und  interessierte sich in keiner Weise für ihr weiteres Schicksal. In der Ausstellung wird in einem Begleittext verständnisvoll erläutert, der Adel und das Bürgertum hätten sich damals wenig für die Erziehung ihrer Kinder interessiert, und in Paris seien damals 40% aller Kinder der öffentlichen Fürsorge überlassen worden. Aber auch die von Rousseau, dem Autor des Erziehungsromans Émile?! Immerhin wird in dem Begleittext konzediert, dass (der von Rousseau sehr geschätzte) Diderot, der ebenfalls eine Frau aus sehr einfachen Verhältnissen geheiratet hatte, sich sehr wohl um die Erziehung seiner Kinder gekümmert habe.

Rousseaus Umgang mit seinen Kindern gehört offensichtlich zu den Widersprüchen zwischen Denken und Handeln, die es oft bei „großen Männern“ gibt….

Das Kloster Chaalis

Ein Besuch von Chaalis lohnt natürlich nicht nur wegen der Rousseau-Sammlung: Die Ruinen des königlichen Klosters lassen noch etwas von der großen Bedeutung und der Schönheit der im 12/13. Jahrhundert errichteten zisterziensischen Klosterkirche erkennen.

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Hier eine Zeichnung der noch voll erhaltenen Anlage aus dem 18. Jahrhundert. Wie bei allen zisterziensischen Klosteranlagen gibt es nur einen kleinen Vierungsturm, aber keine großen Kirchtürme.

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Chaalis war auch aufgrund seiner Nähe zur Residenz der Kapetinger in Senlis ein sehr bedeutendes und reiches Kloster. Es hatte großen Landbesitz und Niederlassungen in mehreren Städten, wo landwirtschaftliche Produkte des Klosters gelagert und verkauft wurden – so auch in Paris  in der rue François Miron Nummer 68, dem heutigen  hôtel Beauvais  und Sitz des obersten französischen  Verwaltungsgerichtshofs, in dessen Keller noch die gotischen Gewölbe des früheren Klosterhofes erhalten sind. (3)

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Im 18. Jahrhundert lösten sich Verfall und Erneuerung des Klosters ab. 1793 wurde die Anlage an einen Privatmann verkauft, der alles, was von der alten Kirche noch erhalten war, zu Geld machte. Auch die Steine wurden als Baumaterial verkauft.

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Erhalten ist aber noch die gotische Kapelle Sainte Marie aus dem 13. Jahrhundert, auch chapelle du Roi genannt.

DSC08674 Chaalis (82)Ein origineller Wasserspeier in Form eines Elefantenkopfes

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Besonders bedeutend und schön sind die Deckengemälde des italienischen Malers Primatice aus dem 16. Jahrhundert, nach dem Urteil eines Fachmanns  die wohl schönsten italienischen Fresken dieser Zeit in Frankreich.

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Auf der Rückseite der Fassade, deren Fensterrose dadurch verdeckt wurde, malte Primatice die Verkündigungs-Szene: Der Erzengel Gabriel mit der Lilie in der Hand verkündet Maria, dass sie ein Kind gebären werde, den Sohn Gottes, dem sie den Namen Jesus geben solle. Dieses Motiv war gerade in der Renaissance besonders beliebt -man denke nur an Leonardo da Vinci und Boticelli- und damit ist wohl auch zu erklären, dass dafür in der Kapelle die Fensterrose über dem Portal innen verschlossen wurde. (Von außen ist sie mit ihrem schönen Maßwerk noch vorhanden, aber eben sozusagen blind.)

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Aus der Zeit der Renaissance stammt auch noch die Umfassungsmauer des Klostergartens, die von Sebastiano Serlio entworfen wurde, einem italienischen Architekten, der im Dienste des französischen Königs François Ier stand.

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Die Mauer schließt heute einen Rosengarten ein, einen jardin remarquable, der allerdings im Juli 2020, als wir dort waren, einen eher traurigen Eindruck machte- Hitze und Covid 19 hatten daran wohl einen erheblichen Anteil. Im Juni jeden Jahres gibt es dort allerdings die „journées de la rose“ – das wird es sicherlich ähnlich aussehen wie aus diesem dem Internet entnommenen Foto (4) ….

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Anmerkungen

[1] Jean-Pierre Babelon und Jean-Marc Vasseur, L’abbaye royale de Chaalis et les collections Jacquemart-André. Éditions du patrimoine, S. 25. Auf dieses Büchlein beziehe ich mich auch im Folgenden.

Bild aus:  https://www.1001salles.com/mariage/ABBAYE-DE-CHAALIS. 

[2] Zu Meyer und sein Grab an der Pappelinsel siehe den Blog-Beitrag über den Park Jean-Jacques Rousseau.

(3)  https://www.musesetmusees.com/lhotel-de-beauvais-marais/5615

(4) https://www.1001salles.com/mariage/ABBAYE-DE-CHAALIS. 

Weitere geplante Beiträge:

Dessine-moi Notre – Dame/male mir Notre – Dame: Kinderzeichnungen am Bauzaun

Das Palais Royal (3): revolutionärer Freiraum und Sündenbabel in den „wilden Jahren“ zwischen 1780 und 1830

Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung

Der Garten der tropischen Landwirtschaft (jardin d’agronomie tropicale) im Bois de Vincennes: Ein „romantisches“ Überbleibsel der Kolonialausstellung von 1907

Der Park Jean-Jacques Rousseau in Ermenonville: der erste Landschaftspark auf dem europäischen Kontinent und die erste Begräbnisstätte Rousseaus

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Der Landschaftspark von Ermenonville liegt etwa 50 km nordöstlich von Paris.  Von 1763 bis 1776 wurde er  durch den Marquis René Louis de Girardin geschaffen, der dort ein großes Anwesen und ein Schloss besaß. Es ist der erste und am besten erhaltene französische Landschaftspark, der erste sogar auf dem europäischen Kontinent.[1]  Benannt ist er  nach Jean-Jacques Rousseau: Nicht nur, weil seine Entstehung wesentlich dem Einfluss der Philosophie Rousseaus zu verdanken ist, sondern und vor allem auch deshalb, weil Rousseau die letzten Tage seines Lebens in Ermenonville verbrachte und dort auch bestattet wurde. Dies machte den Park zu einem „Wallfahrtsort“ von Verehrern Rousseaus, Anhängern der Aufklärung und Revolutionären zur Zeit der  Französischen Revolution.

In der Nähe des Eingangs zum Park befindet sich das Tourismus- Büro von Ermenonville. Dort sind mehrere Marmortafeln befestigt: Eine zur Erinnerung an den Besuch des schwedischen Königs Gustav III. von Schweden und eine andere darunter zur Erinnerung an den Besuch des österreichischen Kaisers  Joseph II.

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Daneben eine dritte Tafel mit folgender (hier ins Deutsche übertragenen) Inschrift:

Die Gaststätte zur goldenen Sonne war etwa 100 Jahre lang in diesem  bescheidenen, im 18. Jahrhundert gebauten Haus untergebracht.

Von 1765 bis 1800 hat der Wirt Antoine Maurice hier unzählige Persönlichkeiten empfangen.

  • 1777 Joseph II, den Kaiser von Österreich und Bruder von Marie Antoinette, der Königin von Frankreich
  • 1778 Jean-Jacques Rousseau, der hier gerne die Bewohner von Ermenonville traf
  • 1783 den König von Schweden Gustav III. sowie zahlreiche Liebhaber der Gärten, die hier von dem Marquis René de Girardin geschaffen worden waren
  • Vor und nach 1789 sind die meisten der großen Revolutionäre hier eingekehrt, nachdem sie sich über dem Grab von Jean-Jacques Rousseau verneigt hatten.[2]

Nicht erwähnt ist unter den prominenten Gästen übrigens Friedrich Schiller, der noch im Todesjahr Rousseaus 1778 Gast des Marquis de Girardin in Ermenonville war und ein Gedicht auf Rousseau und sein Grab auf der Pappelinsel schrieb:

Monument von unsrer Zeiten Schande   Ew’ge Schmachschrift deiner Mutterlande, Rousseaus Grab, gegrüßet seist du mir!   Fried‘ und Ruh‘ den Trümmern deines Lebens!      Fried‘ und Ruhe suchtest du vergebens   Fried‘ und Ruhe fandst du hier!

Und in der zweiten Strophe wird Rousseau zu den Weisen gerechnet, die Licht ins Dunkel der Welt brachten, und die dafür -wie Sokrates- mit dem Leben bezahlten.

Ein weiterer deutscher Besucher des Grabs war der Schriftsteller, Pädagoge, Verleger und  Publizist Joachim Heinrich Campe, der dann -wie auch Schiller- zu den achtzehn Ausländern gehörte, denen die französische Nationalversammlung 1792 das Bürgerrecht verlieh, weil sie in vorbildlicher Weise „der Sache der Freiheit gedient“ hätten.  Als Campe im Juli 1789  von den revolutionären Ereignissen in Paris erfuhr, machte er sich sofort -zusammen mit Wilhelm von Humboldt-  auf den Weg, „um dem Leichenbegräbnis des französischen Despotismus beizuwohnen.“   Zu seinem Besuchsprogramm gehörte dann natürlich auch das Grab Rousseaus in Ermenonville. (3)

1. Das Grab Rousseaus auf der Île des peupliers

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Rousseau starb am 4. Juli 1778 als Gast des Marquis René Louis de Girardin in Ermenonville. Zu Mitternacht wurde er im Schein von Fackeln auf der Pappelinsel im See des Schlossparks begraben. Nach den Entwürfen des Landschafts- und Ruinenmalers Hubert Robert wurde in der Mitte der Insel ein großer Sarkophag errichtet.

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Am Rand des Sees, da wo der Sarkophag besonders nah und gut sichtbar ist, steht im Gras eine steinerne Tafel mit folgender schon leicht verwitterter, aber noch lesbarer Aufschrift:

Là sous ces peupliers, dans ce simple tombeau

Qu’entourent les eaux paisibles

Sont les restes de Jean-Jacques Rousseau.

Mais c’est dans tous les cœurs sensibles

Que cet homme si bon, qui fut tout sentiment

De son âme a fondé l’éternel monument

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Dort unter diesen Pappeln, in diesem einfachen Grab

Umgeben von friedlichen Gewässern

Liegen  die Überreste von Jean-Jacques Rousseau.

Aber  in allen sensiblen Herzen

Errichtete  dieser so  gute Mann, der ganz Gefühl war,

Aus seiner Seele heraus  ein ewiges  Denkmal.[4]

Dass der nach antiken Vorbildern gestaltete mächtige Sarkophag  hier als einfaches Grab bezeichnet wird, mag verwundern.

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Es lässt aber wohl damit erklären, dass es auch andere, wesentlich aufwändigere Entwürfe für ein Grabmal Rousseaus gab. Das zeigt ein Gemälde Hubert Roberts, der  bei der Anlage des Parks eine wichtige Rolle spielte.  Sein Gemälde  Der Park von Ermenonville von 1780 zeigt einen solchen  wohl von Robert selbst stammenden Entwurf, der aber nicht ausgeführt wurde. In der Bildmitte ist die Pappelinsel zu erkennen, auf der dann der ebenfalls von Hubert Robert entworfene bescheidenere Sarkophag  aufgestellt wurde.[5]

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Rückseite des Sarkophags mit der Inschrift:

ICI REPOSE L’HOMME DE LA NATURE ET DE LA VERITE

(Hier ruht der Mann der Natur und der Wahrheit)

Im April 1794 beschloss allerdings der Nationalkonvent, dass die sterblichen Überreste Rousseaus nach Paris ins Pantheon überführt werden sollten. Im Antrag des zuständigen Komitees heißt es:

Beeilt Euch,  Bürger, diesen großen Mann aus seinem einsamen Grab zu reißen, ihm die Ehre des Pantheons zu erweisen und ihn mit Unsterblichkeit zu krönen. Ehrt  in ihm das wohltätige Genie der Menschheit; ehrt den Freund, den Verteidiger, den Apostel der Freiheit und der Moral, den Förderer der Menschenrechte, den beredten Vorläufer dieser Revolution, die ihr beenden sollt für das Glück der Völker… [6]

Am 9., 10. und 11.Oktober 1794 fand dann in einer aufwändigen und minutiös geplanten Zeremonie die Überführung der sterblichen Überreste von Ermenonville nach Paris und ihre Aufnahme  ins Pantheon statt.

Auch wenn das Grabmal auf der Pappelinsel von Ermenonville seitdem nur ein Cenotaph ist, diente die Insel als Vorbild für eine ganze Reihe von Rousseau-Inseln in anderen europäischen Landschaftsgärten: Vor allem für die Rousseau-Insel im Wörlitzer Park bei Dessau, dessen Fürstenpaar Rousseau verehrte und 1775 in Paris besucht hatte.[7]

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Rousseau- Insel im zugefrorenen See des Wörlitzer Parks.  Die Urne ist „dem Andenken J.J. Rousseaus“ gewidmet.

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Eine Rousseau- Insel mit Gedenksäule  gibt es auch im Berliner Tiergarten[8]

2. René de Girardin: Verehrer, Freund und Gastgeber Rousseaus

René de Girardin gehörte zu der Schicht liberaler Adliger, die dem Ancien Régime kritisch gegenüberstanden und, beeinflusst von den Ideen der Aufklärung,  von der Notwendigkeit grundlegender Änderungen überzeugt waren.[9]  Dazu trug wohl auch bei, dass seine Bauern und damit auch er selbst von den  Auswüchsen der absoluten Monarchie betroffen waren: Die Prinzen von Condé aus dem benachbarten Chantilly hatten nämlich das Jagdrecht in den Besitzungen des Marquis und machten davon offenbar ausgiebig Gebrauch, ohne Rücksicht auf die von den Bauern des Marquis bestellten Felder zu nehmen. Dazu kam, als Bestandteil  des Jagdrechts der princes du sang,  das Verbot für die Bauern des Marquis, ihre Ernten gegen das allzu reichliche und gefräßige Wild zu schützen.  (Der heutige Besitzer des zu einem Hotel umgewandelten Schlosses von Ermenonville wirbt noch in aller Unschuld damit, dass die Domäne  au cœur des forêts princières liege.) [10]) Girardin sah also voller Hoffnung der zu erwartenden Revolution entgegen. In deren ersten Jahren engagierte er  sich als Kommandant der Nationalgarde von Ermenonville und –wenn er in Paris war- als Teilnehmer an den Sitzungen des Jacobiner-Clubs. 1791 hielt er dort zwei Reden, die anschließend gedruckt wurden: Die eine über „L’institution de la force publique“, in der er das stehende Heer des ancien régime verurteilte, die andere „Sur la nécessité de la ratification de la loi par la volonté générale“, in der er sich für die direkte Demokratie aussprach: Der Einfluss Rousseaus auf das politische Denken Girardins ist unverkennbar.

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Portrait von René-Louis de Girardin mit der Büste des von ihm verehrten  Jean-Jacques Rousseau.[11]

Rousseau beeinflusste Girardin aber nicht nur in seiner politischen Haltung, sondern auch im Bereich der Erziehung: Das von Rousseau im Émile  und schon vorher in der neuen Heloïse formulierte  Postulat, der Kindheit einen Eigenwert zuzuerkennen und  dem Kind in seiner Entwicklung einen eigenen Erfahrungsraum zu  gewähren, wird von Girardin beherzigt. Er ließ seinen Kindern jede Freiheit, mit den Kindern des Dorfes  zu spielen und mit ihnen die Felder und Wälder der Umgebung zu erkunden.  In ihrer frühen Jugend besuchten sie zusammen  mit den Bauernkindern die Dorfschule, wo sie vom Dorfpfarrer und dem Schulmeister unterrichtet wurden. Allerdings engagierte  Girardin dann zusätzlich vor allem deutsche Hauslehrer, die seine Kinder in den Naturwissenschaften und in Deutsch unterrichteten. Einer der Söhne Girardins, Stanislas, schreibt in seinen Memoiren, dass alle Bediensteten des Hauses deutsch sprachen und ihm selbst die Verwendung  jeder anderen Sprache verboten war, so dass er besser deutsch als französisch gesprochen habe. (Erklärungen für diese Vorliebe Girardins für die deutsche Sprache habe ich leider nicht gefunden).

3. Der Landschaftspark des Marquis de Girardin

Nicht zuletzt beeinflusste Rousseau den Herrn von Ermenonville bei der Gestaltung des Schlossparks. Als Girardin das Schloss erbte, war das Gelände des späteren Landschaftsparks versumpft und unwegsam. Aber es hatte auch seine Vorzüge: Durch das Flüsschen Launette war genug Wasser vorhanden, das die für einen Landschaftspark unverzichtbare Anlage von Teichen und Seen ermöglichte.

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Dazu gab es ein breites und leicht ansteigendes Tal unterschiedlicher Breite mit einem abwechslungsreichen, die Landschaft akzentuierenden und  rhythmisierenden Relief.

Girardin hatte sich  schon seit langem  damit beschäftigt, wie ein Park anzulegen sei. Auf einer Reise nach England hatte er die revolutionäre englische Gartenkunst kennen- und schätzen gelernt. Als Verehrer Rousseaus orientierte er sich außerdem am Ideal eines Gartens, das sich Rousseau  in seinem Roman La Nouvelle Héloïse (zuerst erschienen 1761)  erträumt und als jardin d’Élysée von Clarens beschrieben hatte: Ein mit einfachen Mitteln gestalteter Garten, in dem die Natur zu ihrem Recht kommt –anders als in den französischen Gärten des Absolutismus. In seinem Roman lässt Rousseau Monsieur de Wolmar, der Saint-Preux gerade seinen berühmten Garten in Clarens zeigt, sagen: „Sie sehen nichts Begradigtes, nichts Eingeebnetes; niemals kam eine Meßschnur an diesen Ort; die Natur pflanzt nichts nach der Schnur.“ [12]  Auf diesen Grundlagen aufbauend hatte Girardin  während der Arbeiten an seinem Anwesen in einem 1777 erschienenen und damals weit verbreiteten Essay seine Vorstellungen von einem „die Natur verschönernden“ Landschaftsgarten entwickelt – référence majeure de la période en matière de réflexion paysagère.[13]  Girardin  übt darin massive Kritik an der klassischen Form des französischen Gartens:  Der berühmte Le Nôtre habe die Natur massakriert und sie dem Lineal der kalten Symmetrie unterworfen. Die Bäume seien in jeder Hinsicht verstümmelt worden. So seien traurige Orte entstanden, die man am liebsten so schnell wie möglich wieder verlasse.[14]

Mit der Aufgabe, die  tyrannie de la symétrie  zu beenden und einen Garten der Freiheit zu schaffen,[15]  beauftragte  Girardin den Gartenarchitekten Jean-Marie Morel, der später unter anderem auch den Park von Malmaison gestaltete und schließlich als patriarche des jardins anglais galt. Für die Ausführung der Arbeiten engagierte er 200 englische Gartenarbeiter.[16]

In Ermenonville ist es anders. Auch wenn alles sorgfältig bedacht und angelegt ist: Die Bäume können in den von Menschen gesetzten Grenzen frei wachsen….

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…. das Wasser der Launette  natürlich fließen….

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… und die freie Natur setzt noch zusätzliche eigene Akzente.

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Der Besucher wird zu einer das Auge und die Sinne ansprechenden  Promenade durch den Park eingeladen, so wie es Girardin in seiner Abhandlung postuliert hatte:   Ce n’est donc ni en architecte, ni en jardinier, c’est en Poète et en Peintre qu’il faut composer les paysages, afin d’intéresser tout à la fois l’œil et l’esprit.

Eine Steintafel am früheren  Eingang  zum Park (borne Girardin, Plan Nummer 2)  verkündet das humanistische Anliegen:

Le jardin, le bon ton, l’usage

Peut être anglois, françois, chinois;

Mais les eaux, les prés & les bois,

La nature & le paysage

Sont de tout temps, de tout pays:

C’est pourquoi, dans ce lieu sauvage

Tous les hommes seront amis

Et tous les langages admis.

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Der Garten, der gute Ton, der Umgang

Können  englisch, französisch, chinesisch sein;

Aber das Wasser, die Wiesen und die Wälder,

Die Natur & die Landschaft

Sind aus jeder Zeit, aus jedem Land:

Deshalb werden an diesem wilden Ort

Alle Menschen Freunde sein

Und alle Sprachen zugelassen.[17]

Die am Ende dieses Gedichts proklamierte Offenheit war für Girardin ein wesentliches Element seiner Konzeption. Er ging sogar so weit, den Garten für alle Besucher zu öffnen und auf jede Grenzziehung durch Mauer oder Gräben zu verzichten. In seinem Traktat schreibt er über seine Besitzungen in Ermenonville:

Sie stehen den Menschen offen: Das Bild der Natur gehört allen und ich bin froh, dass jeder sich bei mir wie zu Hause fühlt.“[18]

Hier also war es, wo Rousseau die letzten Tage seines Lebens verbrachte. Eingeladen wurden er und seine Lebensgefährtin, Marie-Thérèse Le Vasseur, denen aus gesundheitlichen Gründen ein Aufenthalt auf dem Lande empfohlen worden waren,  von dem Marquis de Girardin, der Rousseau 1770 in Paris kennen gelernt hatte. Rousseau traf am 28. Mai 1779 in Ermenonville ein und war offensichtlich überwältigt von der ihn umgebenden Natur und den frischen Bäumen. Seit langer Zeit habe er nur mit Rauch und Staub bedeckte Bäume gesehen. Dann sei er, wie Girardin später berichtete, ihm um den Hals gefallen und habe ausgerufen:

Ah, Sir! Seit langem schon hat sich mein Herz danach gesehnt, hierher zu kommen, und meine Augen möchten, dass ich für immer hier bleibe.

Dann habe er sich an Girardins Frau gewandt:

Sie sehen meine Tränen, es  sind die einzigen der Freude, die ich seit langer Zeit vergossen habe, und ich fühle, dass sie mich wieder zum Leben erwecken.[19]

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Rousseau wohnte in einem eigenen, heute nicht mehr erhaltenen, Haus in der Nähe des Schlosses und verbrachte seine Tage weitgehend in der freien Natur und mit dem Sammeln von Pflanzen. So hat ihn George- Frédéric Meyer, der damals Hauslehrer bei Girardin war, dargestellt; eine Zeichnung die Vorbild wurde für viele ähnliche Darstellungen am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts. [20]

Gerne hielt sich Rousseau auch in der Gegend des Etang du Désert im nordwestlichen Teil des Anwesens von Girardin auf: Dort hatte er sogar eine kleine Hütte, in die er sich zurückziehen konnte.[21]

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Um seine Dankbarkeit für die Gastfreundschaft der  Girardins zu bezeugen, gab Rousseau den Kindern Unterricht in Gesang und Botanik.  Mit den Dorfbewohnern traf er sich gerne in der kleinen Kneipe des Orts, der Auberge du soleil d’or.[22]

Diese  Idylle währte allerdings nicht lange: Am 4. Juli des gleichen Jahres starb Rousseau und wurde inmitten der geliebten Natur auf der Pappelinsel bestattet: Sicherlich ein ihm angemessenerer Platz als das kalte, dunkle Gewölbe des Pantheons, dazu auch noch im Angesicht der Grabstätte des  ungeliebten Voltaire.

4. Ein kleiner Rundgang durch den Park

Für Girardin war es wichtig, dass der Park Auge und Geist anspricht und durch seine Gestaltung ganz bewusst anregt. Dazu dienten sogenannte fabriques, also Staffagebauten, die so platziert waren, dass durch sie tableaux entstehen, die den Blick des Wanderers auf sich ziehen und die Kontemplation befördern.  Rousseau und Morel standen solchen fabriques eher skeptisch gegenüber, aber da setzte sich der Hausherr und Finanzier Girardin durch, der hier frühen Theoretikern des englischen Landschaftsgartens folgte.  Und er gewann in dem bedeutenden Landschafts-  und Ruinenmaler Hubert Robert einen Fachmann, der ihm für größere Bauten Entwürfe lieferte. Nachfolgend werden anhand  eines  kleinen Rundgangs um den See einige der noch erhaltenen fabriques vorgestellt.

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Einen Führer durch den Park gibt es leider nicht, noch nicht einmal einen kleinen Flyer mit einem Plan und einigen  Erläuterungen. Die Dame im Tourismus-Büro schüttelt da bedauernd den Kopf.  Immerhin  hängt  am Eingang des Parks ein Plan aus. Den solle man fotografieren, wie der freundliche Parkwächter  empfiehlt…  Es gibt auch noch eine andere Version des inzwischen aus Finanzgründen aufgelösten Centre culturel de rencontre (CCR),  die als pdf-Datei bei http://parc-rousseau.fr/wp-content/uploads/plan_du_parc.pdf  heruntergeladen werden kann. Allerdings wird dort  ein anderer Rundweg vorgeschlagen und die Nummerierungen der fabriques sind dementsprechend völlig unterschiedlich.  Ich orientiere mich an dem vom CCR vorgeschlagenen Rundweg im Uhrzeigersinn und übernehme die entsprechenden Nummerierungen, gebe aber auch zusätzlich die Nummern des ausgehängten Plans (Parkplan) an. Auch im Park selbst gibt es leider keinerlei Orientierungshilfen. Wäre das nicht ein würdiges Objekt für Brüsseler Fördergelder?

La Borne Girardin (CCR-Plan 1 / Parkplan 2)

Auf diesem ersten „Meilenstein“ (borne milliaire) am ehemaligen Eingang zum Park hat Girardin das mit diesem Park verfolgte  und oben zitierte Programm festgehalten.

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Darunter wird der Besucher eingeladen, an jedem der im Park aufgestellten weiteren Meilensteinen au gré de son plaisir zu verweilen oder weiterzugehen.

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Die noch erhaltenen Meilensteine werden natürlich auch Anlaufpunkte dieses kleinen Rundgangs sein. 

Die Grotte der Najaden  (CCR- Plan 2 / Parkplan 3)

Die Najaden sind Nymphen in der griechischen Mythologie, die über Quellen, Bäche, Flüsse, Sümpfe, Teiche und Seen wachen.

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Typisch für die von den Ideen der Aufklärung inspirierten Landschaftsgärten sind Grotten, die symbolisch vom Dunkel ins Licht führen.

DSC08057 Parc Rousseau (36) La grotte de Naiades

Hier gibt es am Ausgang der Grotte einen kleinen Wasserfall, der aber – im Gegensatz zur zeitgenössischen Abbildung-  im trockenen Sommer 2020 eher ein etwas trauriges Rinnsal ist.[23]

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Die Bank der Königin (CCR-Plan 3/ Parkplan 19)

Als die Königin Marie-Antoinette  im Frühjahr 1780 Ermenonville besuchte, nahm sie auf dieser Bank Platz und empfing dort die Huldigungen der jungen Mädchen des Ortes.  Es handelt sich dabei um eine der von René de Girardin ursprünglich aufgestellten Bänke, die besonders schöne Perspektiven auf den Park eröffneten.  (24) 

Die Bootsanlegestelle (CCR-Plan 4 / Parkplan 18)

Die Insel wurde schon bald zu einem beliebten Ziel von Rousseau-Verehrern. Girardin ließ also  eine kleine Anlegestation (embarcadère) für die Boote bauen, mit denen man die Insel erreichen und Rousseau seine Referenz erweisen konnte.

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Der unbekannte Autor der „Promenades“ berichtet allerdings, dass es bald zu Akten des Vandalismus gekommen sei: Das Grab sei immer wieder beschmiert und sogar der Skulpturenschmuck beschädigt worden. Der Marquis de Girardin habe sich deshalb gezwungen gesehen, den bis dahin freien Zugang zur Pappelinsel zu beschränken.

Die Säule der Brauerei (CCR-Plan 23 / Parkplan 17)

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Neben der Anlegestelle befindet sich noch eine Säule, das letzte Überbleibsel einer auf dem Gelände des Parks gelegenen Brauerei.[25]

Im Gegensatz  zu den meisten auch in anderen Landschaftsgärten modischen Staffagebauten war dieses imposante  und offenbar sehr gut in die Landschaft integrierte Gebäude Bestandteil der  Produktion und Verwertung der landwirtschaftlichen Güter Girardins. Dass dieser die Brauerei direkt in den Schlosspark  platzierte, entspricht der von ihm entwickelten Programmatik. Ein ganzer Abschnitt seines Traktats über die composition des paysages beschäftigt sich mit den Mitteln, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.[26]  Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Trockenlegung des versumpften Tals der Launette und seine Umwandlung zu Weideland zu sehen:  So wurde das Land genutzt und leistete damit einen Beitrag zu dem, was Girardin in seinem Traktat als einen zentralen Gesichtspunkt bei der composition des paysages formuliert hatte: Dass nämlich alle Menschen auf der Welt auch ernährt  werden müssten. Das letzte Kapitel seines Traktats  ist mit großen Lettern überschrieben:  LA NÉCESSITÉ QUE TOUT CE QUI RESPIRE SOIT NOURRI.[27]

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Auch damit und mit der Verbindung des Angenehmen und des Nützlichen in der Konzeption seines Landschaftsgartens  grenzt sich Girardin radikal von dem französischen Garten des Absolutismus ab, wie er in Versailles bis zur Vollendung verwirklicht wurde: Da waren das Angenehme, nämlich der der Erbauung und der Repräsentation dienende Schlosspark Le Nôtres, und das Nützliche, also der Obst- und Gemüsegarten La Quintinies, streng voneinander getrennt.[28]  Im später von Marie-Antoinette angelegten Hameau/Weiler, einem idealisierten Dorf, ist das scheinbar anders: Aber da waren die angeblich dem Nutzen dienenden Bauten eher kostspielige Theaterkulisse….

Das Grab von Mayer (CCR-Plan 24 / Parkplan 15)

George-Frédéric Meyer/George Friederich Meier war zwei Jahre lang bis zu seinem Tod Hauslehrer bei Girardin in Ermenonville. Er lebte im Schloss der Girardins, wo er mit der Familie an allen gemeinsamen Mahlzeigen teilnahm.

Le tombeau du peintre Meyer ( cliché Tezenas)Als er starb, wurde ihm ein Grabmal mit dieser Inschrift errichtet:

Hier liegt George Friederich Meier aus Strasburg gebürtigEin redlicher Mann und ein geschickter Mahler

Auffällig ist hier die Verwendung der deutschen Sprache: Das beruhte sicherlich auf der Hochschätzung dieser Sprache durch Girardin, aber es entspricht auch der am Eingang des Parks den Besuchern auf den Weg gegebenen und im Park befolgten Devise, dass hier „alle Sprachen zugelassen“ seien.

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Meiers Grab liegt direkt gegenüber der Pappelinsel und dem Sarkophag Rousseaus, den auch Meier verehrte. Von ihm stammen auch die oben abgebildete Zeichnung des Pflanzen sammelnden Rousseau und weitere Bilder zum Aufenthalt Rousseaus in Ermenonville, die in der Rousseau-Sammlung des musée Jacquemard-André in Chaalis ausgestellt sind. Dazu mehr im nachfolgenden Bericht über diese Sammlung. 

Der arkadische Wiesengrund/La prairie Arcadienne (CCR- Plan 6)

Ganz im Süden des Parks liegt ein weiter Wiesengrund, dessen Name sich auf das Arkadien der griechischen Mythologie bezieht.[29] Da wurde Arkadien, ursprünglich eine Landschaft auf der griechischen   Halbinsel Peloponnes, verklärt zu einem Ort des Goldenen Zeitalters, wo die Menschen unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlichem Anpassungsdruck in einer idyllischen Natur als zufriedene und glückliche Hirten lebten.

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Der arkadische Wiesengrund war von Girardin in diesem Sinne nicht nur als Dekor gedacht, sondern es war Weideland für Schafe:  Teil des landwirtschaftlichen Reformprojekts, das Girardin, von Ideen der Physiokraten beeinflusst,  auf seinen Besitzungen verfolgte. So teilte er größere Höfe auf, um die Zahl der Tagelöhner zu  verringern und verteilte Ackerparzellen, die seine Bauern auf eigene Rechnung bewirtschaften konnten. Dass Girardin dem Weideland im Süden des Parks den Namen Arkadiens gab, lässt sich aber auch als Ausdruck des Wunsches verstehen, zumindest auf symbolischer Ebene seine Besitzungen den Eingriffen der königlichen Zentralmacht bzw. den Prinzen von Condé  aus Chantilly zu entziehen.

Die Bank der Mütter/Le Banc des mères de famille  (CCR-Plan 24 / Parkplan 14)

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Diese Station auf dem Weg um den See ist den Müttern und Rousseau gewidmet. Rousseau habe, wie es auf dem beigefügten Steinblock zu lesen ist, „die Zärtlichkeit der Mutter zum Kind“ wiedererweckt. In der Tat spielen die Mütter in Rousseaus Erziehungsideal, wie er es  in seinem großen Erziehungsroman Émile entfaltet hat, eine entscheidende Rolle:  Die erste Erziehung ist am wichtigsten, und diese erste Erziehung gebührt unstreitig den Frauen. Wenn der Schöpfer der Natur gewollt hätte, dass sie den Männern zukäme, würde er ihnen Milch zur Ernährung der Kinder gegeben haben. Für die Beziehung zwischen Mutter und Kind und das kindliche Glück, das Rousseau am Herzen liegt, ist das Stillen besonders wichtig: Die Mütter mögen geruhen, ihre Kinder selbst zu stillen, so werden die Sitten von selber sich bessern und die Regungen der Natur werden in aller Herzen wieder erwachen.  (30) War es bei Großbürgertum und dem Adel bis dahin üblich gewesen, das Stillen der Kinder Ammen zu überlassen, so wurde nun in aufgeklärten Milieus das Stillen obligatorisch. Und den Müttern gebührte  ein Ehrenplatz im Angesicht der Pappelinsel.

De la Mère à l’Enfant il rendit les tendresses

De l’Enfant à la Mère il rendit les caresses;

De l’homme, à sa naissance, il fut le bienfaiteur,

Et le rendit plus libre, afin qu’il fût meilleur.

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 Er weckte wieder die Zärtlichkeit  der Mutter zum Kind

Und er gab der Mutter die Liebkosungen des Kindes  zurück;

Er war der von dessen Geburt an,

Und machte ihn freier, damit er besser werde.[31]

Wenn hier Rousseau als Wohltäter des Menschen bezeichnet wird, galt das aber nicht für seine fünf eigenen Kinder, die er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse Le Vasseur hatte. Denen war er nämlich kein guter Vater und Thérèse durfte ihnen keine liebende Mutter sein: Kurz nach ihrer Geburt gab Rousseau seine Kinder jeweils ins Findelhaus, um sich ungestört seiner Arbeit widmen zu können. Die natürliche glückliche Kindheit, die Rousseau als Theoretiker propagierte, versagte er seinen eigenen Kindern. Was aus ihnen geworden ist, weiß man nicht.  „Vielleicht starben sie wie so viele schon in jüngstem Alter an der Vernachlässigung, die in den Bewahranstalten üblich war, vielleicht gingen sie in der Masse der Armut unter…“[32]

Der Tempel der modernen Philosophie/Le Temple de la Philosophie moderne  (CCR-Plan 13 / Parkplan 9)

DSC08057 Parc Rousseau (12) Le temple de la Philosophie moderne

Der Tempel der modernen Philosophie ist ohne Zweifel der bedeutendste Staffagebau des Parks: Ein auf einem Hügel gelegener Blickfang und eine Anregung zur Kontemplation. Es handelt sich um eine von Hubert Robert entworfene und dann auch als Vorlage für ein Gemälde genutzte Tempelruine nach dem Vorbild des Tempels der Sibylle in Tivoli.[33]

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Über dem Eingang zum Innenraum des Tempels sind die lateinischen Worte  Rerum cognoscere causas  eingraviert. Sie beziehen sich auf einen Vers Vergils: Felix qui potuit rerum cognoscere causas.  Während aber bei Vergil der als glücklich bezeichnet wird, der den Dingen auf den Grund gehen konnte, handelt es sich hier um eine Aufforderung. 

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Einige von denen, die nach Girardins Überzeugung Vorbilder bei der Umsetzung dieses Programms waren bzw. sind,  werden in dem Bauwerk besonders gewürdigt. Jede Säule des Tempels trägt nämlich  den Namen eines der großen Philosophen oder Wissenschaftler, die für Girardin gewissermaßen die Säulen aufklärerischen Denkens und Wissens sind: Rousseau natürlich, Descartes, Voltaire, Montesquieu, Penn und Newton: ein kleines persönliches Pantheon Girardins.

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Jedem dieser Namen ist ein lateinischer Ausdruck zugeordnet: Für Montesquieu iustitiam,  für Newton lucem … 

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… und für Rousseau, den Prediger eines „Evangeliums der Natur“ (34):   naturam

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Auffällig ist, dass ein der modernen Philosophie gewidmetes Gebäude eine Ruine zu sein scheint. Aber bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass es sich eher um ein unvollendetes Bauwerk handelt:

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Am Boden liegen nämlich Säulen, die noch nicht beschriftet sind: Sie warten gewissermaßen auf die kommenden „großen Männer“ des Geistes, um dann den Tempel der modernen Philosophie zu vervollständigen…

Der Altar der Träume/ L’autel de le rêverie ( CCR-Plan 14 / Parkplan 8)

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Als Rousseau diesen kleinen Altar sah, sagte er zu Girardin, er lade zum Träumen ein. Daraufhin  ließ Girardin die bis dahin eingravierten Worte Voltaires entfernen und durch  die Worte à la rêverie  ersetzen. Das war äußerst feinfühlig, denn das Verhältnis zwischen den beiden war äußerst angespannt: Voltaire hatte ja beispielsweise Rousseaus Aufruf „zurück zur Natur“ bewusst missverstanden und polemisch in einem Brief vom 30. August 1755 an Rousseaus  dessen Abhandlung über die Ungleichheit mit folgenden Worten kommentiert:

DSC08057 Parc Rousseau (11) l'autel de la rêverie

»Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen die menschliche Gattung erhalten […] Niemand hat es mit mehr Geist unternommen, uns zu Tieren zu machen, als Sie; das Lesen ihres Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen Vieren herumzulaufen. Da ich jedoch diese Beschäftigung vor einigen sechzig Jahren aufgegeben habe, fühle ich mich unglücklicherweise nicht in der Lage, sie wieder aufzunehmen“. (35)

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Girardin hat es Rousseau also erspart, am Ende seines Lebens bei seinen Spaziergängen durch den Park am Altar der Träume von Voltaire’schen Alpträumen heimgesucht zu werden…

Das Naturtheater/ Le théâtre de verdure (CCR-Plan 15/Parkplan 7)

DSC08571 Ermenonville August 2020 (88)

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Am Zugang zum Naturtheater hat Girardin auch der  älteren Wanderer gedacht, die,  vom Spaziergang um den See ermüdet, sich auf der Bank der Greise niederlassen können (36) 

1280px-Banc_des_Vieillards

Bogenschießen/ Le jeu d’arc  (CCR-Plan 16 / Parkplan 5)

Dies ist eine in den letzten Jahren restaurierte landestypische Anlage für das Bogenschießen (beursaut).  Zwei etwa 50 Meter von einander entfernte  Ziel-Pavillons (buttes) stehen sich gegenüber, die beiden Mauern in der Mitte (gardes) dienen dem Schutz der Teilnehmer. Die Anlage in Ermenonville wurde zur Zeit René de Girardins von den Dorfbewohnern genutzt. (37)

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Daneben stand eine große Eiche, unter der sonntags Musik gemacht und getanzt wurde.

Der Wasserturm/Le Château d’eau  (CCR-Plan 17/ Parkplan 6)

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Ein rein auf seine Funktion reduzierter Wasserturm hätte natürlich nicht in das Ensemble des Parks gepasst – trotz seiner etwas abseitigen Lage.  So ist er als mittelalterlicher Turm mit Zinnen und Wasserspeiern ein passender Teil der Staffagebauten.

Die Dolmen  (CCR- Plan 18 / Parkplan 4)

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Über eine gemauerte Brücke  führt der Weg zu den mächtigen Dolmen. Auch sie sind künstlich angelegt, wobei man aus der zeitgenössischen „promenade“, erfährt, wie es Girardin kostensparend gelungen sei, solche Steinbrocken zu bewegen: Er habe die an anderer Stelle gefundenen Blöcke zerlegen, an die gewünschte Stelle transportieren und dann wieder zusammenfügen lassen: Trotzdem ein erheblicher Aufwand, der aber seinen Sinn hat: Denn die Dolmen sind – wie der „mittelalterliche“Wasserturm- eindrucksvolle Belege für den Grundsatz Girardins, dass die Natur und die Landschaft des Parks „aus jeder Zeit“ sind, ja sogar, wie man hier sieht, aus vorgeschichtlichen Zeiten.

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Das Schloss  (CCR-Plan 22 / Parkplan 1)

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Das Schloss Girardins gibt es auch noch , allerdings ist es nicht für die Öffentlichkeit zugänglich: on ne visite pas…

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Das ist bedauerlich, denn es liegt malerisch inmitten der hier aufgestauten Launette,  und von der Terrasse aus hat man einen schönen Blick auf den nördlichen Teil des Parks.

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Das Schloss gehört inzwischen einem kanadisch- libanesischen  Geschäftsmann und dient als Hotel. Allerdings ist es möglich, gegen eine Eintrittsgebühr den nördlichen Teil des Parks zu betreten, der zu einem „fôret magique“ umgestaltet und  durch die Aufstellung von Saurier-Modellen an Attraktivität gewinnen soll. (38) Gewissermaßen  eine neue Form von Staffagebauten, die sich Girardin sicherlich nicht hätte (alp)-träumen lassen.  …

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Der eigentliche, vom Département de l’Oise verwaltete Parc Jean-Jacques Rousseau, auf den der Geschäftsmann auch sein Auge geworfen hat,  soll immerhin Saurier-frei bleiben…

Praktische Informationen:

Weg: Von der A1 (Paris/Lille) Abfahrt 8 (Senlis) ca 10 km auf der N 330 Richtung Meaux nach Ermenonville

Öffnungszeiten:   Vom 1.7.2020 bis 30.10.2020 von 11- 18 Uhr geöffnet. Eintritt frei. Siehe: http://www.ermenonville.fr/

Plan: Als pdf-Datei herunterzuladen bei: http://www.ccr-parc-rousseau.fr/pratique/

Größerer Übersichtsplan: https://www.gralon.net/evenements/60/programme-parc-jean-jacques-rousseau-17050.htm

Pour en savoir plus :

Website der Abbaye de Chaalis, darin ein besonderer Abschnitt über den espace Rousseau. https://www.domainedechaalis.fr/decouvrir/

Website des 2019 geschlossenen Centre culturel de rencontre Jean-Jacques Rousseau   http://www.ccr-parc-rousseau.fr/

Website: https://fr.wikipedia.org/wiki/Parc_Jean-Jacques-Rousseau

Blanchard, Gérard,  Ermenonville, les lieux du texte d’un jardin. In: Communicacion & Langages 50, 1981  S. 71-87 https://www.persee.fr/doc/colan_0336-1500_1981_num_50_1_3485

Boucault, Fabrice und Vasseur,  Jean-Marc, Le Parc Jean-Jacques Rousseau à Ermenonville. Paris, Editions du patrimoine, 2012, Collection Itinéraires

Crusius, Reinhard,  Europäische Park- und Gartenanlagen in politischer, sozialer, ästhetischer und poetischer Anschauung Eine Literatur- und Zitatensammlung von Arkadien über den Renaissance-, Barock- und Landschaftsgarten bis zum Volks- bzw. Stadtpark. Zusammengestellt für das Loki-Schmidt-Haus. Hamburg 2010   Zu Ermenonville S. 126f

https://www.jenischparkverein.de/files/jpv/pdf/Zitate_Parkgesch.pdf

Curtil, Jean-Claude, Les Jardins d’Ermenonville racontés par Réné Louis marquis de Girardin. Saint-Rémy-en-l’Eau, Éditions Monelle Hayot, 2003.

Farrugia, Guilhelm, La dernière retraite de Jean-Jacques. In: Dix-huitième siècle 48/2016, 1 S. 275-291  In: https://www.cairn.info/revue-dix-huitieme-siecle-2016-1-page-275.htm#

Lefay, Sophie,  Girardin et la politique du jardin pittoresque. Aus: Presses universitaires de Rennes, 2011, Seite 57-68   https://books.openedition.org/pur/40634?lang=de

Niedermeier, Michael und Seiler, Michael (Redaktion), Die Gärten von Ermenonville. Pückler-Gesellschaft, Berlin 2007 (Mitteilungen der Pückler-Gesellschaft, Neue Folge; 22

Promenade ou itinéraire des jardins d’Ermenonville.  Paris/Ermenonville 1788   https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v.image

Jean-Jacques Rousseau et les arts : Paris, Panthéon, 29 juin-30 septembre 2012. Ausstellungskatalog  Paris, Editions du patrimoine, 2012.

Anmerkungen:

[1] https://www.editions-monelle-hayot.com/livre/les-jardins-dermenonville-racontes-par-rene-louis-marquis-de-girardin-prosopopee/  und https://data.bnf.fr/fr/11905057/rene-louis_de_girardin/

[2] L’auberge du soleil d’or a occupé pendant une centaines d’années cette modeste maison bâtie au XVIIIe  siècle.

De 1765 a 1800 l’Aubergiste Antoine  Maurice y reçut d’innombrables personnalités

  • en 1777 Joseph II Empereur d’Autriche et frère de Marie Antoinette, reine de France
  • en 1778 Jean-Jacques Rousseau qui se plaisait à y rencontrer les Ermenonvillois
  • en 1783 le Roi de Suède Gustav III ainsi que de nombreux animateurs des jardins créés ici par le Marquis René de Girardin
  • avant et après 1789 la plupart des grands révolutionnaires s’y sont restaurés après s’être recueillis sur la tombe de Jean-Jacques Rousseau.

(3)  Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris während der Französischen Revolution gechrieben. Herausgegeben von Helmut König. Berlin: Rütten und Loening 1961, S. 34/35 und 247.  Der Brief mit dem Bericht über den Besuch in Ermenonville ist  allerdings nicht abgedruckt.

Die nachfolgend abgebildete, 1778 entstandene  Zeichnung des Grabs von Jean-Jacques Rousseau aus: https://www.reseau-canope.fr/musee/collections/fr/museum/mne/tombeau-de-jean-jacques-rousseau-vue-de-l-isle-des-peupliers-dite-l-elisee-partie-des-jardins-d-ermenonville-dans-laquelle-j-j-rousseau-mort-a-l-age-d/efd031b6-73d9-4afa-8887-b9f834555b8d

[4] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f35.image

[5]https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Hubert_Robert,_Le_parc_d%27Ermenonville, 1780.jpg

[6] Übersetzung W.J. Originaltext: « Hâtez-vous donc, citoyens, d’arracher ce grand homme à sa tombe solitaire, pour lui décerner les honneurs du Panthéon, et le couronner de l’immortalité. Honorez en lui le génie bienfaiteur de l’humanité ; honorez l’ami, le défenseur, l’apôtre de la liberté et des mœurs, le promoteur des droits de l’homme, l’éloquent précurseur de cette révolution que vous êtes appelés à terminer pour le bonheur des peuples (…) »    

Aus: J. Lakanal, Rapport sur J.-J. Rousseau, fait au nom du Comité d’instruction publique, … suivi des détails sur la translation des cendres de J.-J . Rousseau au Panthéon français, P., Imprimerie nationale, an III, p.9 zit. in: https://jjrousseau.net/les-evenements/le-pantheon-comment-deshonorer-rousseau/

[7] Bild aus: https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1202454

Zur Rezeption der Insel siehe: Sibylle Hoiman,  Rousseau recycled : zur Rezeption der Pappelinsel von Ermenonville. Topiaria helvetica : Jahrbuch 2006 https://docplayer.org/75467874-Rousseau-recycled-zur-rezeption-der-pappelinsel-von-ermenonville.html

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Rousseau-Insel_(Gro%C3%9Fer_Tiergarten)

[9] Der folgende Abschnitt stützt sich vor allem auf den sehr ausführlichen und gut dokumentierten Text aus Wikipedia: https://fr.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9-Louis_de_Girardin

[10] https://www.domainechateauermenonville.com/

[11] Zugeschrieben wird das Gemälde Jean-Baptiste Greuze, ausgestellt ist es in der abbaye de Chaalis.  Bild aus: https://data.bnf.fr/fr/11905057/rene-louis_de_girardin/

[12] Siehe: https://gallica.bnf.fr/essentiels/rousseau/nouvelle-heloise/elysee-jardin-clarens  Bemerkenswert ist, dass als Illustration zum Abdruck des Textes ein Bild von Rousseau in Ermenonville verwendet wird. Siehe auch: Gérard Blanchard, Ermenonville, les lieux du text d’un jardin. In: Communication & Langages 50, 1981  S. 71-87 https://www.persee.fr/doc/colan_0336-1500_1981_num_50_1_3485

[13] Sophie Lefay, Girardin et la politique du jardin pittoresque. Presses universitaires de Rennes.  https://books.openedition.org/pur/40634

[14] « Le fameux Le Nôtre, qui fleurissoit au dernier siècle, acheva de massacrer la Nature en asujettisant tout au compas de l’Architecte; il ne fallut pas d’autre esprit que celui de tirer des lignes, & d’étendre le long d’une règle, celle des croisées du bâtiment; aussitôt la plantation suivit le cordeau de la froide simétrie (…), les arbres furent mutilés de toute manière (…), la vue fut emprisonnée par de tristes massifs (…), aussitôt la porte la plus voisine pour sortir de ce triste lieu, fut-elle bientôt le chemin le plus fréquenté» (p. IX-XI). Zit. bei: https://fr.wikipedia.org/wiki/Parc_Jean-Jacques-Rousseau

[15] Siehe Adrian von Buttlar, Englische Gärten. In: H. Sarkowicz (Hg.), Die Geschichte der Gärten und Parks, Frankfurt 2001, S. 176f

[16] https://musees-nationaux-malmaison.fr/chateau-malmaison/domaine-collections/c-le-parc-de-malmaison  Morel beschäftigte sich auch theoretisch mit der Gartenkunst. 1776 veröffentlichte er  eine Théorie des jardins

[17] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f16.image  und  https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f19.image

[18] Ils sont ouverts aux hommes : le tableau de la nature appartient à tout le monde, et je suis bien aise que tout le monde se regarde chez moi comme s’il était chez lui»  zit. Lefay, 21, https://books.openedition.org/pur/40634 .  Dort auch mehr über die Beziehung des symbolischen Niederreißens der Mauern zu Rousseaus zweitem Diskurs  über die Ungleichheit, wo das Eigentum als die zentrale Ursache für Herrschaft, Ungleichheit, Unterdrückung und Kriege dargestellt wird:  „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ›Das ist mein‹ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: ›Hört nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde keinem“.  In der Praxis mag Girardin seine Rechte als Feudalherr zwar aufgeklärt-großzügig wahrgenommen haben, verzichtet hat er auf seine Eigentumsrechte allerdings nicht…

[19] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k503806k/f85.image  und https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k503806k/f86.image

[20] http://rousseaustudies.free.fr/articlealchimie.html

Die Zeichnung von George Friederich Meier/George-Frédéric Meyer stellt Rousseau mit Stock und Dreispitz vor seinem Haus beim Sammeln von Pflanzen dar. Siehe den Abschnitt zu Meiers Grab im Park von Ermenonville.

[21] http://classes.bnf.fr/essentiels/images

Bild auch bei  https://henryetraymond.wordpress.com/2016/08/31/jean-jacques-rousseau-a-ermenonville/ Dort auch der nachfolgende Text:

L’Etang du Désert à Ermenonville (détail). Dessin Constant Bourgeois, eau-forte par Guyot et Peydoux, 1808, in Description des nouveaux jardins de la France et de ses anciens châteaux, Alexandre de Laborde, 1808. Source : INHA. Rousseau est représenté avec son tricorne, en admiration devant les paysages lui rappelant ceux de La Nouvelle Héloïse.

[22] Siehe oben die Mitteilung auf der Erinnerungsplakette der Gaststätte/des heutigen Fremdenverkehrsamts

[23] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f17.image

(24)  Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Parc_Jean-Jacques-Rousseau  Par Parisette – travail personnel

[25] Zeitgenössische Abbildung aus:  https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f25.image

[26] Titel des Abschnitts:  Des moyens de réunir l’agréable à l’utile, relativement à l’arrangement général des campagnes. Schon im Untertiel seines Traktats ist diese Verbindung des Angenehmen und des Nützlichen als ein zentrales Element seines Konzepts bezeichnet: De la composition des paysages, ou des moyens d’embellir la nature autour des habitations, en joignant l’agréable à l’utile. https://jjrousseau.net/etudes/lutile-et-lagreable-dans-les-jardins-de-rousseau/

Die aufwändige, klassizistische Bauweise erinnert mich an die von Ledoux entworfene Saline mit ihren ähnlich noblen Produktionsstätten. Auch Ledoux ging es ja um eine Verbindung des Nützlichen und des „Angenehmen“, des Schönen, wobei bei der Saline von Arc-et-Senans natürlich die Nützlichkeit eindeutig im Vordergrund steht. Siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2019/07/14/die-grosse-saline-von-salins-les-bains-und-die-koenigliche-saline-von-arc-et-senans-unesco-weltkulturerbe-im-jura/

[27] zit. von Lafay, 29, https://books.openedition.org/pur/40634

[28] Zu den Gärten von Versailles siehe die Blog-Beiträge:  https://paris-blog.org/2017/09/01/die-fontaenen-von-versailles-1-die-feier-des-sonnenkoenigs/ und https://paris-blog.org/2016/04/12/le-potager-du-roi-in-versailles-der-obst-und-gemuesegarten-ludwigs-xiv/

[29] Bild aus: https://henryetraymond.wordpress.com/2016/08/31/jean-jacques-rousseau-a-ermenonville/#jp-carousel-1863  Zum Folgenden siehe: https://www.jenischparkverein.de/files/jpv/pdf/Zitate_Parkgesch.pdf  S. 127 und 128 und https://de.wikipedia.org/wiki/Arkadien

(30) Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung. Berlin 2015, S. 6 

[31] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f34.image

https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k103053v/f35.image

[32] Ulrike Prokop, Die Konstruktion der idealen Frau. Zu einigen Szenen aus den »Bekenntnissen« des Jean-Jacques Rousseau. In: Feministische Studien  1989, S. 92

[33] Ölgemälde aus dem Jahr 1800. Privatsammlung. Bild aus: https://henryetraymond.wordpress.com/2016/08/31/jean-jacques-rousseau-a-ermenonville/

Plan des Tempels bei: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10026005k.r=Ren%C3%A9%20de%20Girardin?rk=321890;0

(34)  Josef Rattner, Gerhard Danzer, Irmgard Fuchs,   Glanz und Größe der französischen Kultur im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 101

(35)  zit. bei Klaus Luttringer, Weit, weit…. Arkadien. Über die Sehnsucht nach dem anderen Leben. Würzburg 2000, S. 26

(36) Bild aus:   https://fr.wikipedia.org/wiki/Parc_Jean-Jacques-Rousseau  Par P.Poschadel — Travail personnel

(37) Siehe: https://fr.wikipedia.org/wiki/Parc_Jean-Jacques-Rousseau

(38)  Siehe: https://www.leparisien.fr/oise-60/a-ermenonville-reouverture-confidentielle-pour-le-parc-jean-jacques-rousseau-04-08-2019-8128572.php

Weitere geplante Beiträge:

Die Rousseau-Sammlung des Museums Jacquemard-André im ehemaligen königlichen Kloster Chaalis

Das Palais Royal (3): revolutionärer Freiraum und Sündenbabel in den „wilden Jahren“ zwischen 1780 und 1830

Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung

Der Garten der tropischen Landwirtschaft (jardin d’agronomie tropicale) im Bois de Vincennes: Ein „romantisches“ Überbleibsel der Kolonialausstellung von 1907

Der Canal Louis XIV und das Aquädukt von Maintenon (Die Fontänen von Versailles, Teil 3)

Zur Zeit des Sonnenkönigs sprudelten im Park von Versailles insgesamt etwa 1400 Fontänen!  Sie dienten dazu, durch ihre Menge und Größe und durch ihr bildhauerisches Programm die absolute Macht des Königs zu demonstrieren. Dies wurde im ersten Teil der kleinen Reihe über die Fontänen von Versailles erläutert:

https://paris-blog.org/2017/09/01/die-fontaenen-von-versailles-1-die-feier-des-sonnenkoenigs/

Allerdings waren die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Vorhabens immens,  denn die Lage des Schlosses und des Parks hätten kaum ungünstiger sein können. Das Gelände war sumpfig und  es gab (und gibt) in der Region keine natürlichen Wasserläufe, die man für die Versorgung mit Wasser hätte nutzen können. Die Seine lag mehrere Kilometer entfernt und dazu auch noch 142 tiefer als das Schloss.  Es gab in der Nähe lediglich einen kleinen Teich,  der von einigen Bächlein gespeist wurde. Aber der reichte natürlich nicht im Geringsten für die Bedürfnisse der vielen Fontänen, geschweige denn für die von Schloss und Stadt.

Allein für die Versorgung der Fontänen mussten also immer neue Wasserquellen erschlossen werden- war es doch der Wunsch des Sonnenkönigs, dass die Springbrunnen Tag und Nacht ununterbrochen sprudeln sollten.  Eine der ersten Maßnahmen war die Umleitung des Wassers der Bièvre, eines kleinen Nebenflüsschens der Seine. Aber auch das reichte nicht, den Wasserbedarf der vom Sonnenkönig  gewünschten immer zahlreicheren Fontänen zu befriedigen. Neue Wasserquellen waren also erforderlich.

Dazu gehörte vor allem die Erschließung der gut 10 Kilometer südöstlich von Versailles gelegenen  Hochebene von Saclay für die Alimentierung der Springbrunnen. Es wurde ein System von Teichen und kleinen Wasserläufen (rigoles)  geschaffen, mit deren Hilfe das Regenwasser gesammelt wurde. Über das große Aquädukt von Buc konnte dann dieses Wasser nach Versailles transportiert werden.

Im Einzelnen wird das im zweiten Teil der Reihe über die Fontänen von Versailles erläutert: https://paris-blog.org/2019/04/01/die-fontaenen-von-versailles-2-ausdruck-absolutistischen-groessenwahns/

Allerdings reichte auch diese Maßnahme nicht aus.  Zumal es inzwischen noch weiteren Wasserbedarf gab: Denn nach dem Ende des Holländischen Krieges ließ sich Ludwig XIV. in dem wenige Kilometer von Versailles entfernten Marly abseits des „überzeremoniellen Hofes“  ein weiteres Schloss von Mansart bauen, um „sich zu erholen und seine Zeit ganz häuslich zu verbringen.“ (1) Aber ohne Fontänen ging das natürlich nicht. Woher aber jetzt noch das Wasser für die immer unersättlicheren Fontänen  nehmen?  Die vorhandenen Lösungsvorschläge mussten nun, angesichts der topografischen Voraussetzungen,  immer kühner und schwieriger in ihrer Umsetzung sein.

Warum also nicht das Wasser der Seine nutzen? Die floss immerhin in nur etwa 10 Kilometer Entfernung an Versailles vorbei und Wasser war da –anders als bei den Reservoiren auf der Hochebene von Saclay- immer reichlich vorhanden. Das Problem allerdings: Der Wasserspiegel der Seine lag an der nächst gelegenen möglichen Wasserentnahmestelle 144 Meter unterhalb des Parks! Aber für den Sonnenkönig, der sich als absoluter Herrscher auch über die Natur verstand, konnte das kein unüberwindliches Hindernis sein, sondern eher eine Herausforderung, deren Bewältigung ein weiterer Beweis seiner Größe sein würde. Dies war die Geburtsstunde der machine de Marly, einer gewaltigen Pumpanlage, die das Wasser der Seine auf die erforderliche Höhe pumpen sollte und zum Teil ja auch pumpte, In einem folgenden vierten Teil wird auf dieses Projekt genauer eingegangen werden. Aber auch die machine de Marly reichte nicht aus, zumal sie aufgrund technischer Probleme die an sie gesetzten Erwartungen immer weniger erfüllen konnte.

So entstand die Idee, die gut 150 Kilometer entfernte Loire zu nutzen.  Es war kein Geringerer als Pierre-Paul Riquet, der Schöpfer des Canal du Midi  (damals canal royal de Languedoc), der Ludwig XIV. diesen Vorschlag unterbreitete. Und der  war von einem solchen megalomanischen Projekt natürlich  sehr angetan und auch gleich bereit, die dafür erforderliche immense Geldsumme zur Verfügung zu stellen. Ludwigs Finanzminister Colbert hatte allerdings Zweifel an der Machbarkeit (und Finanzierbarkeit)  und beauftragte  den Abbé Picard, Mitglied der Akademie des Sciences, mit einem Gutachten. Die Überprüfung ergab, dass die Loire an der geplanten Wasserentnahmestelle tiefer lag als das Schloss von Versailles…. Das Projekt wurde also aufgegeben, ebenso wie die Überlegung, die Essonne umzuleiten, einen Nebenfluss der Seine.

Aber dann gab es ja noch die Eure. Die Eure ist ebenfalls ein kleiner Nebenfluss der Seine. Sie hat zwar einen wesentlich geringeren Wasserdurchfluss als die Loire, aber dafür hat sie zwei entscheidende Standortvorteile:  Sie liegt deutlich näher an Versailles und sie liegt –jedenfalls in den flussaufwärts gelegenen Abschnitten- so hoch, dass sie für den gedachten Zweck geeignet ist. Ludwig XIV. beauftragte also  Louvois,  seinen Kriegs- und Bauminister, das Unternehmen zu prüfen und  einen entsprechenden Plan zu entwerfen.  Louvois beauftragte seinerseits den Astronomen und Mathematiker de La Hire, einen Schüler des Abbé Picard, die topografischen Voraussetzungen zu untersuchen. Das Ergebnis war das Projekt eines etwa 80  Kilometer langen Kanals von Pontguin an der Eure bis zu einem Teich in der Nähe von Rambouillet, der schon an das System der Wasserversorgung von Versailles angeschlossen war.[1a]

DSC03259 Maintenon april 2018 (48)

Hier handelt es sich um die zentrale Partie eines  Stichs aus dem Jahr 1689 mit dem Titel: Les Ouvrages magnifiques du roy Louis le Gran en temps de paix (Die großartigen Werke Ludwigs des Großen in Friedenszeiten), der im Schloss von Maintenon ausgestellt ist. (1b) Abgebildet ist die Begutachtung eines Plans, der den Verlauf des Eure-Kanals zeigt, durch  Ludwig XIV. Bei den beiden hohen Herren, die ihm den Plan unterbreiten, dürfte es sich um  Louvois und Vauban handeln. Louvois war damals nicht nur Kriegsminister, sondern seit dem Tod Colberts 1683 auch Minister für öffentliche Bauten. Und der Festungsbaumeister Vauban erhielt von Ludwig XIV. den Auftrag, die Arbeiten an dem Kanal zu organisieren. Es ist das einzige zivile Projekt Vaubans: ein Hinweis darauf, für wie bedeutsam Ludwig XIV. diesen Kanal hielt, der ein für allemal die Versorgung seiner Springbrunnen mit Wasser sicherstellen sollte.

Geplant war ein Kanal mit einem gleichmäßigen Gefälle von 14 bis 17 cm pro Kilometer, der verschiedenen Quellen zufolge die Springbrunnen von Versailles mit täglich 50 000 Kubikmetern Wasser versorgen sollte- vergleicht man das mit den maximal 2000-2500 Kubikmetern, die die Maschine von Marly unter optimalen Bedingungen täglich lieferte, dann wird die Bedeutung dieses Kanalprojekts nur allzu deutlich.[2]  Um eine solche Wassermenge zu transportieren, reichte  natürlich kein „einfaches“ Aquädukt  aus, wie man es von den Römern kannte, sondern es sollte  ein schiffbarer Kanal nach dem Vorbild des schon existierenden canal royal, des Canal du Midi,  sein.

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Aus der Vogelperspektive[3] lässt sich das an einem Teilstück des Kanals bei Théléville westlich von Maintenon noch recht gut erkennen. Dort ist ein Damm aufgeschüttet, heute Les Terrasses genannt, worauf auch noch der entsprechende Straßenname  (Rue des Terrasses) hinweist. Dieser Damm war auf seinem Scheitel 21 Meter breit. In der Mitte verlief der Kanal, 4,62 Meter breit und 1,95 Meter tief, der inzwischen zugewachsen ist,  rechts und links davon befanden sich noch deutlich zu erkennende  Wege. Einen solchen Kanal –aller topografischer Hindernisse zum Trotz- bauen zu wollen, war natürlich ein „pharaonisches“ Unterfangen oder wie es der Herzog von Saint – Simon in seinen Memoiren nannte: eine grausame Verrücktheit, eine „cruelle folie.“  Aber „die Natur zu tyrannisieren“ (Saint Simon), hier also „die Wasser der Eure gegen ihre eigentliche Bestimmung fließen zu lassen“, wie eine zeitgenössische Beobachterin schrieb, war für Ludwig XIV. doch nur eine weitere Möglichkeit, seine unumschränkte Macht zu demonstrieren. (3a)

Die unumschränkte Macht in Europa hatte Ludwig XIV. ja gerade errungen:  1678 war der „Holländische Krieg“ mit dem Frieden von Nijmwegen beendet worden, der Frankreich einen erheblichen Landzuwachs und die Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent  sicherte.[4]  1684 wurde der sogenannte „Regensburger Stillstand“ mit dem durch die Türkenkriege geschwächten Heiligen Römischen Reich geschlossen. Frankreich verleibte sich Luxemburg ein, und alle Territorien, die Ludwig XIV. im  Zuge der sogenannten Reunionspolitik  annektiert hatte, wurden  für 20 Jahre, faktisch damit allerdings dauerhaft, als französischer Besitz anerkannt.  So wurden Straßburg und das Elsass französisch….

Jetzt herrschte also –eher selten zu Zeiten des Sonnenkönigs-  Frieden und das stehende Heer Frankreichs war gewissermaßen arbeitslos. Was lag da näher, als Soldaten für den Bau des königlichen Kanals abzukommandieren? Insgesamt waren es 30 000 Soldaten, die für den Kanalbau eingesetzt wurden, die natürlich auch untergebracht und versorgt werden mussten.  Das war sicherlich nicht  einfach, zumal es in der Gegend nur ein paar kleine Dörfer gab und  die nächste Stadt, Chartres, zu weit entfernt war, um für den Kanalbau eine Rolle spielen zu können. Begonnen wurden die Arbeiten im westlichen Abschnitt des Projekts, also zwischen der Wasserentnahme an der Eure bei Pontguin und Maintenon.

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„Carte particulière du canal de la rivière d’Eure depuis Pontguin, jusques à Versailles“  von Hubert Jaillot[5] (westliches Teilstück des Kanals)

Pontguin, der Anfangspunkt des Aquädukts,  ist mit einem Punkt am mittleren linken Rand der Karte bezeichnet. Maintenon ist ebenfalls mit einem Punkt bezeichnet: Es befindet sich etwa auf gleicher Höhe wie Pontguin etwas rechts von der Mitte der Karte – bevor der geplante Kanal nach Südosten abknickt.

Die erste Baumaßnahme war die Errichtung eines Eure- Deichs bei Boizard, etwa 3 km westlich von Pontgouin (an der D 347.6 gelegen).  Seine Funktion war es, den Fluss so weit aufzustauen, dass eine kontinuierliche Wasserversorgung des Kanals gewährleistet war. Durchbrochen wurde der Deich von der sogenannten Schleuse von Boizard, mit deren Hilfe die Wasserzufuhr geregelt werden konnte.[6]

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Außerdem ermöglichte sie den Schiffsverkehr zwischen der Eure und dem Kanal. Die Schleusenkammern waren zwar nur 2 Meter breit, aber das reichte für die Schiffe, die Vauban höchstpersönlich für den Kanal entworfen hatte: Schmale, aber sehr tragfähige Boote, die für den Transport von Baumaterial  geeignet waren.[7]

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Die Bauarbeiten kamen offenbar gut voran. Es gab auch zunächst keine größeren Hindernisse und  der Verlauf des Kanals war  – anders als bei den römischen Aquädukten- den topografischen Gegebenheiten angepasst. So mussten nur das Kanalbett ausgehoben und die seitlichen Wege angelegt werden. Noch heute kann man entsprechende Reste sehen.

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Schon etwa ein Jahr  nach Beginn der Arbeiten war der Kanal bis Berchères fertig gestellt. Das heißt, etwa zwei Drittel der Strecke zwischen Pontguin und Maintenon waren schon gebaut, so dass eine Abordnung der Akademie des Scienes, zu der La Hire und der bedeutende Astronom Cassini gehörten, am 25. August 1685 beobachten konnte, wie das Wasser der Eure in den Kanal einströmte und  Berchères erreichte.

Danach wurden die Bauarbeiten  komplizierter, und es musste unter anderem der schon genannte Damm, Les Terrasses, aufgeschüttet werden. Ihn kann man noch deutlich erkennen  wenn man von Bouglainval auf der D 26.1 nach Maintenon fährt. Da sieht man auf der rechten Seite ganz deutlich den Kanal- Damm,  und es gibt an einigen Stellen auch die Möglichkeit, abzubiegen und durch einen der Tunnel zu fahren, die den Kanal unterquerten, um eine Verbindung zwischen den Ortschaften auf beiden Seiten des Kanals zu gewährleisten.

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Einer dieser Tunnel ist „das große Gewölbe“, „La Grande Voûte“, das früher die beiden Ortschaften  Boisricheux und Chartrainville (D 4)  verband. Geht man durch diesen Tunnel hindurch, wird eindrucksvoll erfahrbar, wie mächtig und breit dieser Kanal-Damm war; und aufgeschüttet ohne die modernen Hilfsmittel!   Die Straße ist inzwischen unterbrochen, so dass der aufgeschüttete Damm und das umgebende  Gelände der Natur überlassen sind. Das freute offensichtlich den prächtigen Fasan, der sich in keiner Weise von unserer Anwesenheit stören ließ.

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Anders aber die jungen Männer, die ihr Auto im Tunnel abgestellt hatten und die, als wir herankamen, uns sehr argwöhnisch beäugten und in hektische Betriebsamkeit verfielen. Offenbar hatten sie in dem Tunnel Schießübungen veranstaltet und versuchten, ihre Utensilien in den Kofferraum ihres Autos zu packen, bevor wir bei ihnen waren. Wir kamen dann aber ins Gespräch und sie beruhigten sich, als sie hörten, dass wir Ausländer sind und uns nicht für sie, sondern für den Kanal Ludwigs XIV. interessierten. Dass der einmal über ihren Köpfen  entlangführen sollte, war ihnen offenbar unbekannt, Auf jeden Fall waren sie – mit diesem Wissen bereichert-  sehr zufrieden, als wir wieder weiter fuhren, ohne sie behelligt zu haben.

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Die größte Herausforderung für das Projekt war Maintenon. Denn dort musste die Eure, deren Verlauf zwischen Maintenon und Pontgouin ein großes U nach Süden beschreibt, überbrückt werden.  Das Wasser konnte man in Maintenon  nicht entnehmen, weil die dortige Höhe über dem Meeresspiegel bei weitem nicht für die Versorgung der Springbrunnen von Versailles ausreichte.

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Zunächst war geplant, ab Berchères ein insgesamt 17 Kilometer langes Aquädukt aus Stein zu bauen, das bei Maintenon in drei Etagen und  in 73 Metern Höhe die Eure überqueren sollte. Das hätte noch deutlich den Pont du Gard mit seinen 49 Metern Höhe übertrumpft! Aber es hätte dann doch die staatlichen Finanzen überfordert, die durch die ständigen Kriege und die Repräsentations- und Verschwendungssucht des Hofes  arg klamm war. Also begnügte man sich mit einer deutlich bescheideneren Variante: Einem  Aquädukt von 955 Länge und einer Höhe von maximal 28,5 m Länge.

Von diesem Bauwerk sind noch eindrucksvolle Reste erhalten.

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Den besten Blick darauf hat man vom  Schloss von Maintenon aus.

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Das war auch bewusst so geplant.  Denn kurz vor Beginn des Kanalbaus (Oktober 1683 oder Januar 1684)  hatte Ludwig XIV. Françoise d’Aubigné, seit 1874 Schlossherrin von Maintenon und spätere Marquise de Maintenon, in einer geheim gehaltenen Zeremonie geheiratet.[8]

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Portrait von Madame de Maintenon  (1635-1719)

(Françoise d’Aubigné, future Marquise de Maintenon. École française, XVIIe siècle)

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Zwar nicht Versailles, aber…   Le château de Maintenon / © Rémi Belot pour Enlarge your Paris

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Ihr Schlafzimmer

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… und die schöne Tapete

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Der von dem Gartenarchitekten des Versailler Parks, Le Nôtre, gestaltete Park des Schlosses von Maintenon war  so angelegt, dass er in seiner zentralen Perspektive einen unverstellten Blick auf den zentralen Abschnitt des Aquädukts bot. Und durch das Aquädukt war die Verbindung zwischen dem Schloss des Sonnenkönigs und dem Schloss seiner heimlichen Ehefrau gewissermaßen in Stein gemeißelt.

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Wenn man die als Grand Canal fungierende Eure entlang durch die Bögen des Aquädukts hindurchging, hatte man eine ebenso reizvolle Aussicht auf das Schloss – heute ist das etwas schwieriger, weil dort jetzt ein Golfplatz eingerichtet ist… Betreten natürlich offiziell verboten!

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Als dieses im Schloss ausgestellte Gemälde entstand, gab es den Golfplatz noch nicht. (F.R. Ricois, 1795-1881, Le château de Maintenon, Vue à travers l’aquéduc. Ausschnitt)

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Die deutliche Verkleinerung des Aquädukts gegenüber der ursprünglichen Planung bedeutete allerdings, dass damit eine durchgängige Schiffbarkeit des Kanals ausgeschlossen war. Die Absenkung des Aquädukts bei Maintenon war ja nur möglich, weil hier das Prinzip der kommunizierenden Röhren angewandt wurde: Vor und nach dem Aquädukt waren also Siphons erforderlich und das entsprechende Teilstück des Kanals musste als geschlossenes System gebaut werden, auch ein sehr aufwändiges Verfahren.

So weit kam es aber nicht. Denn 1688  zettelte Ludwig XIV. „unter dem wachsenden Einfluss seines ehrgeizigen und skrupellosen“ Kriegsministers Louvois schon wieder seinen nächsten Krieg an: Den Pfälzischen Erbfolgekrieg, in dem die französischen Truppen  nicht nur das Heidelberger Schloss in eine Ruine verwandelten, sondern in der Pfalz systematisch eine Strategie der verbrannten Erde verfolgten und selbst vor der Plünderung der Kaisergräber im Speyerer Dom nicht zurückschreckten. Nach der „unter Berufung auf fiktive oder an den Haaren herbeigezogene Rechtstitel“  erfolgten Annexion von -unter anderem-  Metz, Breisach, Besançon und Straßburg  rief das erneut im deutschen Reich „eine Welle patriotischer Entrüstung“  hervor (9): gewissermaßen die Geburtsstunde der sogenannten deutsch-französischen „Erbfeindschaft“. Was dieser Krieg für Frankreich bedeutete, schildert sehr eindrucksvoll der bis dahin von Ludwig XIV. mit Gnadenerweisen überhäufte Abbé de Fénelon in einem wahrscheinlich aus dem Jahr 1694 stammenden mutigen Brief an seinen an Lobreden gewohnten Monarchen.  Darin schreibt er:

„Man hat Ihre Einkünfte und Ihre Ausgaben bis ins Unendliche gesteigert. Man hat Sie bis in den Himmel gehoben, weil Sie, wie man sagte, die Größe aller Ihrer Vorgänger in den Schatten gestellt haben, das heißt, dass Sie ganz Frankreich ausgesogen haben, um am Hofe einen ungeheuerlichen und unheilvollen Luxus einzuführen. Ihre Minister haben Sie groß machen wollen auf den Ruinen aller Stände Ihres Reiches, als ob Sie groß sein könnten, wenn Sie alle Ihre Untertanen, auf denen Ihre Größe gegründet ist, zugrunde richten. 

Ihre Untertanen, die Sie lieben sollten wie Ihre Kinder, die bis jetzt so für Sie begeistert waren, sterben vor Hunger. Die Bebauung des Bodens ist fast aufgegeben worden, alle Industrien siechen dahin und ernähren ihre Arbeiter nicht mehr, jeglicher Handel ist lahmgelegt. Also haben Sie die Hälfte der wirklichen Kräfte im Innern Ihres Staates zerstört, um draußen eitle Eroberungen zu machen und aufrechtzuerhalten. Anstatt Geld aus diesem armen Volke zu ziehen, sollten Sie ihm Almosen geben und es ernähren. Ganz Frankreich ist nur mehr ein großes, trostloses Armenhaus ohne Vorräte.  (…)

Das ist nun dieses große und blühende Königreich unter einem König, den man uns täglich als das Entzücken seines Volkes schildert und der es in Wahrheit wäre, wenn die Ratschläge der Schmeichler ihn nicht vergiftet hätten. Das Volk selbst -man muss alles sagen- das Sie so geliebt hat, das soviel Vertrauen in Sie gehabt hat, beginnt die Liebe , das Vertrauen und sogar die Achtung zu verlieren. Ihre Siege und Ihre Eroberungen erfreuen es nicht mehr. Es ist voller Verbitterung und Verzweiflung.“ (10)

Unter diesen Umständen war nach dem Ende des neun Jahre andauernden Krieges  an einen Weiterbau des Eure-Kanals nicht mehr zu denken. Er blieb also unvollendet, diente danach als Steinbruch und ist heute, benannt nach seinem Initiator Ludwig XIV., ein teilweise pittoreskes, aber makabres Monument eines macht- und ruhmversessenen Monarchen, der schließlich an seiner Hybris scheiterte. (11)

Vorschlag für eine Wanderung entlang des Kanals:  16,5 Kilometer vom Bahnhof von Maintenon aus.  Nähere Informationen:  visorando.com.   Der Bahnhof von Maintenon liegt auf der Strecke des TER Paris – Chartres oder der Bahnstrecke  Paris – Le Mans. Abfahrt vom Bahnhof  Montparnasse.

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Bild: https://www.enlargeyourparis.fr/balades/voyage-en-14-etapes-le-long-du-ter-paris-chartres?utm_source=Enlarge+your+Paris&utm_campaign=023612fc63-_weenbanlieue_99__COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_981d21007d-023612fc63-451391046

Anmerkungen:

(1) Jacques Revel, Der Hof. In: Pierre Nora (Hrsg), Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck 2005, S. 335

[1a] Die einzelnen Etappen der Wasserversorgung sind anschaulich präsentiert bei:  L’acheminement des eaux à Versailles   https://www.youtube.com/watch?v=u0VYY2iK3Lo

Siehe auch:  Association pour l’Etude et la Sauvegarde des Vestiges du Canal de Louis XIV et de ses Environs:  Histoire du Canal de l’Eure. Aqueduc royal de Pontguin à Versailles. Dort gibt es auch  eine genaue Beschreibung der vorhandenen Reste des Kanals. http://claude.millereux.free.fr/Canal/asso_canal.htm

(1b) Vollständig ist der Stich abgebildet bei: Jacques Revel, Der Hof. In: Pierre Nora (Hrsg), Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck 2005, S. 349

[2] Hier und im Weiteren beziehe ich mich auf die detaillierte Darstellung der Association pour l’Etude et la Sauvegarde des Vestiges du Canal de Louis XIV et de ses Environs: http://claude.millereux.free.fr/Canal/asso_canal.htm

[3] earthview-de.com/maps

(3a) s. Jacque Revel, Der Hof. a.a.O., S. 623

[4] Siehe dazu den Blog-Beitrag über die place des Victoires in Paris, der aus Anlass des Friedens von Nimwegen errichtet wurde und die Siege Ludwigs XIV. feiert: https://paris-blog.org/2020/03/12/la-place-des-victoires-der-platz-der-siege-ludwigs-xiv-in-paris-das-modell-eines-koeniglichen-platzes/

[5] https://gallica.bnf.fr/

Zur Geschichte des Kanals siehe: Gabriel Despots/Jacques Galland, Histoire du canal Louis XIV de Pontguin à Maintenon. CAEL 2006

[6] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/

[7] Bild aus: http://projetbabel.org/fluvial/

[8] Zu Madame de Maintenon siehe auch den Blog-Beitrag:  https://paris-blog.org/2020/05/10/grosse-maenner-und-frauen-des-marais-eine-ortsbesichtigung-anhand-der-portraits-des-street-art-kuenstlers-c-215-teil-2-grosse-frauen/

(9) Aus dem Vorwort von Gilbert Ziebura zu:  Gilette Ziegler, Der Hof  Ludwigs XIV. in Augenzeugenberichten.  München: dtv 1981

(10) zitiert von Gilette Ziegler, Der Hof  Ludwigs XIV. in Augenzeugenberichten. Mit einer Einleitung von Gilbert Ziebura.  München: dtv 1981, S. 288/289 s.a. S. 287

(11) siehe Jacques Revel, Der Hof. a.a.O., S. 351 und Anmerkung 84, S. 623

Eingestellt am 19.5.2020 am und zum Geburtstag meines Schwagers Dr. H. D. 

Weitere Blog-Beiträge zu Ludwig XIV.:

  • Große Männer und Frauen des Marais: Eine Ortsbesichtigung anhand der Portraits des Street-Art-Künstlers C215 (Teil 1: Große Männer)

Camille Claudel: Orte der Erinnerung an eine große Bildhauerin

Im Oktober 2018, zum 75. Jahrestag des Todes von Camille Claudel in einem Asyl für psychisch Kranke,  fand im Oktober 2018 eine von  Nachkommen ihres Bruders Paul Claudel organisierte Messe zu ihrem Gedenken statt.  Lacryma Voce, mein Pariser Chor, steuerte dazu den musikalischen Part bei.[1]

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Totenmesse für Camille Claudel in der Kirche Saint Roch in Paris

Neben dem Altar stand eine Staffelei mit dem Portrait Camilles. Reine-Marie Paris, Enkelin Paul Claudels, die aus Krankheitsgründen nicht an der Messe teilnehmen konnte, schreibt in ihrem wunderbaren Buch über Camille Claudel zu diesem Bild:

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 „1884 fixierte der Fotograph César mit einem meisterlichen Schnappschuss die gebieterische Camille Claudel im Alter von zwanzig Jahren, zu einem Zeitpunkt also, da ihre künstlerische Berufung bereits feststand. Sie war als junges Mädchen von verheißungsvoller Schönheit, doch keiner neutralen oder aufreizenden Schönheit. Wir haben das Portrait einer Siegesgewissheit vor uns, mit dem äußerst gespannten Blick voller Lebensgier und Schaffensdrang.“

Der Bruder Paul wird später vom „triumphalen Glanz der Schönheit und des Genies“ sprechen.“[2]

Diese junge Frau wurde eine begnadete Bildhauerin, Mitarbeiterin und Geliebte Auguste Rodins,  einem breiteren Publikum vor allem bekannt geworden durch den Camille Claudel-Film (1988) mit Isabelle Adjani (Camille Claudel) und Gérard Depardieu (Auguste Rodin).[3]

Aber die letzten Jahre ihres Lebens waren ein grausames Dahinvegetieren in einer psychiatrischen Anstalt bei Avignon, wo sie 1943 als ein Opfer der vom Pétin-Regime praktizierten extermination douce verstarb.

Angeregt von der Messe haben wir in den letzten Monaten einige Erinnerungsorte Camille Claudels besucht, vor allem das neue Camille Claudel-Museum in Nogent-sur-Seine und das neu eröffnete Claudel-Haus in Villeneuve, dessen Besuch uns François Claudel, der Enkel Paul Claudels, bei dem Empfang im Anschluss an die Totenmesse empfohlen hatte.

In dem nachfolgenden Beitrag sollen nun fünf Erinnerungsorte vorgestellt werden, die wichtige Stationen des Lebens von Camille Claudel markieren:

  • Villeneuve-sur-Fère in der Champagne, wo sie –vor allem zusammen mit ihrem Bruder Paul- eine schwierige, aber auch glückliche Jugendzeit verbrachte und wo seit 2018  im ehemaligen Wohnhaus der Familie ein kleines Claudel-Museum eingerichtet ist.
  • Nogent- sur- Seine, wo der Bildhauer Alfred Boucher ihr erster Lehrmeister wurde und wo es seit 2017 ein bedeutendes Camille-Claudel- Museum gibt.
  • Paris, wo Camille Schülerin, Mitarbeiterin und Geliebte Auguste Rodins wurde, wichtige Werke schuf und schließlich nach der Trennung von Rodin ein eigenes Atelier auf der Île Saint – Louis bezog.
  • Dazwischen das Schloss Islette in derTouraine, ein Traumort für die kleinen Fluchten des Liebespaares.
  • Und zum Schluss der Friedhof von Montfavet  bei Avignon, wo Camille Claudel nach 30-jähriger Internierung in einem Massengrab verscharrt wurde und wo heute eine Stele an sie erinnert.

1. Villeneuve-sur-Fère: Camille und ihr Bruder Paul

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Von einer „glücklichen Jugend“ kann man bei Camille Claudel nur bedingt sprechen. Im elterlichen Haus gab es ständig Streit. „Bei Tisch wüten die Claudels. Ihr Gezänk, das schon am frühen Morgen beginnt und erst abends endet, erreicht am Esstisch seinen Höhepunkt. Eine abscheuliche Atmosphäre“. Es geht, wie Paul später sagte, zu „wie in einem Gemeinderat“. Und Camille trifft es besonders hart: Sie wird von ihrer Mutter von Geburt an abgelehnt. Es gibt „einen erbarmungslosen Mangel an Zärtlichkeit“. Noch einmal Paul: „Sie umarmte uns nie“.  Und die Mutter hatte auch keinerlei Verständnis für die künstlerischen Neigungen und Ambitionen ihrer Tochter. [4]

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Rückwärtige Ansicht des Hauses, des ehemaligen Presbyteriums der Kirche

Am Haus der Claudels ist eine Tafel angebracht, auf der verzeichnet ist, dass hier Paul Claudel geboren wurde und dass Villeneuve für ihn und seine Schwestern Camille und Louise immer „der bevorzugte Ort ihrer Kindheit“ bleiben wird.

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Darunter ein Zitat von Camille: „Dieses hübsche Villeneuve, das auf der Welt nicht seinesgleichen hat.“  Das ist ein Satz aus einem Brief, den sie am 3. März 1927  ihrem Bruder aus dem Asyl von Montdevergues geschrieben hat:

„Mein Traum wäre, sofort nach Villeneuve zurückzukehren und mich nicht mehr wegzurühren, eine Scheune in Villeneuve wäre mir lieber als ein Platz Patientin Erster Klasse hier. … Wenn ich doch plötzlich wieder in Villeneuve sein könnte, was für ein Glück!“ [5]

Die sehnsüchtigen Erinnerungen an Villeneuve sind sicherlich nicht nur Ausdruck einer ihrer Internierung geschuldeten Verklärung. Es gibt dort den wärmenden Kamin, von dem sie in Montdevergues träumt, und es gibt den Vater. Der hätte sich zwar –Provinz- Beamter des Katasterwesens- sicherlich solidere Beschäftigungen für seine Kinder gewünscht, aber er unterstützte rückhaltlos die künstlerische Berufung  Camilles und Pauls. Er akzeptierte es, „dass seine älteste Tochter ihre geballte Energie nicht der Kochkunst, sondern der bildenden Kunst widmete. Zu den ersten Werken seines Sohnes äußerte er sich in Briefen erstaunlich scharfsinnig.“  Paul emanzipierte sich schnell und schlug dann ja auch eine Prestige-trächtige Karriere im diplomatischen Dienst ein, aber Camille nahm unbegrenzt die väterliche Großzügigkeit in Anspruch. „Louis-Prosper Claudel kommt ihr zu Hilfe, so gut er kann, in allen Phasen ihres Lebens, sogar in ihrem Scheitern und ihrem schlimmsten Elend. Finanziell, aber auch emotional lässt er sie nie im Stich, denn er ist sich der Zerbrechlichkeit seiner ältesten Tochter und der äußersten Schwierigkeiten der Karriere, die sie gewählt hat, nur allzu bewusst. …. Er kommt für das Lebensnotwendige auf, ohne jeden Kommentar. Und erst sein Tod wird Camille in die Hölle schicken.“ Camille nannte ihren Vater „Die Eiche von Villeneuve“. Ohne ihn wäre, wie Dominique Bona schreibt, nichts möglich gewesen.[6]

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Und es gibt ihren Bruder Paul, zu dem sie ungeachtet des Altersunterschieds sehr schnell besondere Bande knüpft.[7]  Wie eng die Beziehung zu ihrem Bruder Paul war, zeigt sich auch daran, dass Camille ihren Bruder immer wieder zeichnerisch oder bildhauerisch portraitiert hat. Der detaillierte Werkkatalog von Reine-Marie Paris weist sechs  Zeichnungen und Büsten ihres Bruders zwischen seinem 13. und 42. Lebensjahr auf. Kein anderer Gegenstand hat sie so sehr beschäftigt- selbst nicht Rodin…[8]

Camille Claudel, Mon frère ou jeune Romain (um 1884)  Musée Camille Claudel

Wie intensiv die Beziehung auch dann noch war, als Paul durch seine Tätigkeit im diplomatischen Dienst oft im Ausland war, zeigen die Briefe Camilles an ihren Bruder, in denen sie von ihren künstlerischen Unternehmungen berichtet.

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Hier ein Auszug aus einem Brief vom Dezember 1893,  in dem sie das Projekt der vier Causeuses beschreibt, in dem Brief als „La Confidance“, die Vertraulichkeit, betitelt. (Reproduktion Maison Claudel). Mathias Morhardt, ein zeitgenössischer Bewunderer Camille Claudels, hat das kleine Werk  in einem Beitrag für die Zeitschrift Mercure deFrance  1898 ausführlich gewürdigt und als „prodigieux chef-d’œuvre“ bezeichnet.[9]

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Les Bavardes/Les Causeuses/La Confidence, Ausschnitt (1895) Musée Camille Claudel

Die  Hottée du Diable

La Hottée du Diable ist ein „Felsenmeer“ in der Nähe von Villeneuve und ein Lieblingsziel der beiden Kinder Camille und Paul: Ein die Phantasie anregendes „fabuleux chaos de monstres“, wo Camille die erstaunlichen Skulpturen einer schöpferischen Natur entdeckt.[10]

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Die Hottée du Diable ist in wenigen Autominiuten von Villeneuve aus zur erreichen. Sie liegt an der Straße nach Château – Thierry. Der Parkplatz ist deutlich ausgeschildert.

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2. Das Musée Camille Claudel in Nogent-sur-Seine

In Nogent-sur-Seine, wohin der Vater versetzt wurde,  wohnte die Familie nur drei Jahre, von 1876 – 1879.  Aber es waren doch entscheidende Jahre. Denn in Nogent  wohnte auch Alfred Boucher, ein Bildhauer, der in Künstlerkreisen bekannt war als Förderer junger Leute. „Zu Beginn des Jahrhunderts versammelte er in einem Pariser Gemeinschaftsatelier namens ‚Arche‘, mit freiem Mittagstisch, etliche von jenen, die später die Pariser Schule bilden sollten: Chagall, Soutine, Modigliani Zadkine und Lipchitz.“ Camilles Vater hatte sich an den prominenten Künstler gewandt, um ihn um eine Beurteilung der künstlerischen Ambitionen seiner Tochter zu bitten. Boucher erkannte ihre außergewöhnliche Begabung. Camille Claudel war  eine seiner ersten Entdeckungen und Boucher wurde Camilles erster Lehrmeister.[11]

Im Museum, dem früheren Wohnhaus der Familie Claudel,  das ursprünglich Alfred Boucher und einem weiteren lokalen Bildhauer gewidmet war,  sind zahlreiche seiner Werke  augestellt.

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Alfred Boucher,  La rêve

2017 wurde dann das neue Museum eingeweiht: Es besteht aus dem Wohnhaus der Familie und einem modernen Anbau, einer insgesamt sehr gelungenen und gerühmten Kombination von alt und neu, entworfen von dem Architekten Adelfo Scaranello.[12]

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Seitdem trägt das Museum den Namen Camille Claudels, und dies sicherlich mit Fug und Recht, weil dort die umfangreichste Sammlung ihrer Werke ausgestellt ist.

Höhepunkt des Museums sind die in einem wunderbaren Ambiente exponierten vier Exemplare der Skulptur La Valse/Der Walzer, dessen erste Fassung 1892, nach dem Bruch Camilles mit Rodin, entstand.

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Ein nacktes, engumschlungenes Paar dreht sich. Der Mann hält die Frau an sich gepresst, sie lehnt an seiner Schulter und überlässt sich ihm in einer so zärtlichen Haltung, das sie ihren ganzen Körper ins Wanken bringt; ohne den Arm des Mannes würde sie fallen. Vom Inspektor des Beaux-Arts aufgefordert, ihre Figuren zu bekleiden oder wenigstens ihre ‚realistischsten Details‘ zu verbergen, hat sich Camille, die von einem schönen Auftrag und damit von einem Stück Marmor für ihre Figuren träumt, Draperien ausgedacht, die ihre Tanzenden umhüllen, ohne sie ganz zu bekleiden. Den Mann lässt sie völlig nackt; die Hüften der bis zur Taille nackten Frau sind unter einer Flut von Stoffen verborgen, die wie Algen aussehen und sie einer Meeresgöttin ähneln lassen. Es ist eine erstaunliche Gruppe voller Bewegung und Sinnlichkeit.“[13]

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Der Musikschriftsteller Robert Godet, ein Freund von Claude Debussy, schrieb über La valse: „Diese Sehnsucht und dieser Schwung, in einem einzigen Rhythmus verschmolzen, der nur schwächer wird, um umso unermüdlicher dahin zu fliegen…“[14] 

Auf dem Klavier Claude Debussys, der mit Camille in dieser Zeit eine kurze Affaire hatte,  stand bis zu seinem Tod ein Bronzeguss von La Valse.

Die in dem Museum ausgestellten Werke gehörten  überwiegend zur Sammlung von Reine-Marie Paris. Sie hatte die Werke zu einer Zeit erworben, als Camille Claudel nicht mehr bzw. noch nicht wieder eine bekannte Bildhauerin war.

Ein später dazu erworbenes einzigartiges Exponat des Museums ist Camille Claudels Skulptur Perseus und Medusa.  Es ist das  letzte große Werk der Bildhauerin. Die ursprüngliche Fassung aus Ton zerstörte Camille Claudel, aber es gab immerhin eine Kopie aus Marmor, die nun im Museum von Nogent-sur-Seine zu sehen ist.  Hier ein Ausschnitt.

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Das Haupt der Medusa wird gerne als Selbstportrait gesehen:  „Camille Claudel hat mit dieser Skulptur ihr eigenes Schicksal dargestellt: Sie ist Medusa in Form eines Selbstportraits, ein mächtiges Ungeheuer, die durch den Bruch mit Rodin von ihm Geköpfte.  Er lebt weiter, während sie verendet am Boden liegt.“ (14a) Paul Claudel sah in den verzerrten Zügen der Medusa schon die sich ankündigende geistige Verwirrung seiner Schwester…

3. Paris: Camille als Mitarbeiterin und Geliebte Rodins 1883-1893: Das Musée Rodin

Rodin mietete sich 1908 in dem etwas heruntergekommenen Hôtel Biron ein, das bis 1904 Sitz eines katholischen Ordens war und danach – bis zu einer geplanten Nutzung durch den Staat-   zu einer Art Künstlerkolonie wurde. Henri Matisse, Jean Cocteau und die Tänzerin Isadora Duncan wohnten dort zeitweise, ebenso wie die Bildhauerin Clara Westhoff, die Frau Rainer Maria Rilkes. Durch ihn, seinen damaligen Privatsekretär, wurde Rodin auf das Anwesen aufmerksam, das seit 1919 Sitz des Musée Rodin ist.

Camille Claudel hat sicherlich nie das Hôtel Biron betreten: Als Rodin dort ein Atelier einrichtete, war die Beziehung zu Camille längst zerbrochen. Aber es gibt dort seit 1952 einen ihr gewidmeten Saal, in dem wesentliche Werke der Künstlerin versammelt sind. Die Idee, einen solchen Camille Claudel-Saal  einzurichten, wurde schon früh von Mathias Morhardt vorgeschlagen. Rodin war durchaus einverstanden, nicht aber die Familie Claudel. 1952 vermachte dann aber Paul Claudel dem Museum wichtige Werke seiner Schwester, die die Grundlage der Camille-Claudel-Sammlung bilden.

Die erste Begegnung zwischen Camille und Rodin wird gemeinhin auf das Jahr 1883 datiert. Rodin benötigte damals aufgrund seiner zahlreichen Aufträge Gehilfen und Schüler.  Nicht weniger als zwölf Skulpturen Rodins gibt es, für die das Gesicht Camilles als Modell diente, unter anderem die beiden nachfolgend abgebildeten Portraits aus dem Musée Rodin. [15]

      Camille Claudel mit kurzen Haaren (1883/4)  Camille Claudel mit Mütze (ca 1885)

Die beiden wohl berühmtesten Skulpturen Rodins, für die Camille Claudel das Modell war, sind „Der Gedanke“ und „Morgenröte„.

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La Pensée  („Der Gedanke“) von 1886  (seit 1986 im musée d’Orsay,  davor im musée Rodin)  ist eine der Figuren des Höllentors. Die Marmorversion wurde  von einem Mitarbeiter Rodins  aus einem unbehauenen Marmorblock herausgearbeitet- der Meister selbst schuf -anders als Camille Claudel- nur Tonmodelle, die dann in Bronze gegossen oder von Gehilfen in Marmor kopiert wurden.

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Auch in der Skulptur Morgenröte (L’Aurore, um 1885) ist das Gesicht Camilles aus dem Marmorblock modelliert und in ihn integriert. Die Skulptur hat Rainer Maria Rilke und Antoine Bourdelle, damals noch einer der Mitarbeiter Rodins, später selbst ein bedeutender Bildhauer,  tief beeindruckt.  „Vom Modell ebenso besessen wie von der Skulptur selbst, vergleicht Bourdelle Camille mit einer Sphinx.“[16]

Wie eng gerade auch die künstlerische Beziehung zwischen Rodin und Camille Claudel in dieser Zeit war, zeigen zwei komplementäre Skulpturen der Beiden aus dieser Zeit, nämlich Sakuntala oder Die Hingabe von Camille Claudel (zuerst 1895) und Rodins „Das ewige Idol“ von 1889.

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Rodin, Das ewige Idol 1889 (Musée Rodin)

In einem Liebesbrief, wahrscheinlich aus dem Jahr 1886, fasst Rodin die gegenseitige Hingabe in Worte. Sein Leben, so schreibt er seiner Geliebten, habe  mit ihr eine ganz neue Wendung erhalten:

„Ich küsse dir die Hände, meine Freundin, die du mir einen so erlesenen, feurigen Genuss bereitest;  wenn ich bei dir bin, existiert meine Seele mit aller Kraft, und trotz der heftigen Liebe hat der Respekt vor dir immer Vorrang. Der Respekt, den ich für dich und deinen Charakter habe, meine Camille, Drohe mir nicht und komm zu mir, damit deine so sanfte Hand deine Güte für mich zeigt und überlasse sie mir einige Male, dass ich sie in meiner Erregung küsse. (…) Ich musste dich kennenlernen, und ein ganz unbekanntes Leben begann, meine trübe Existenz loderte in einem Freudenfeuer auf. Danke, denn dir allein verdanke ich den himmlischen Teil, den ich vom Leben erhalten habe.  Lass deine lieben Hände auf meinem Gesicht verweilen, damit mein Fleisch glücklich ist und mein Herz wieder fühlt, wie sich deine göttliche Liebe erneut ausbreitet. (…) Ach! Göttliche Schönheit, Blume, die spricht und liebt, kluge Blume, mein Liebling. Meine Geliebte, ich knie vor dir und umklammere deinen schönen Körper.“ [18]

Und Camille Claudel?  Als Gehilfin Rodins  arbeitete sie mit an dem gewaltigen Höllentor (im Park des Rodin-Museums),  wobei ihr Rodin besonders die Ausführung von Händen übertrug. Da Hände für Rodin ja eine ganz besondere Bedeutung hatten, ist dies als Ausdruck besonderer Wertschätzung zu sehen.

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Auch beim Ausmodellieren von Händen und Füßen der „Bürger von Calais“ wirkte Camille Claudel wesentlich mit. (16a)

Aber Camille konnte neben den Arbeiten für Rodin auch an eigenen Werken arbeiten: So  fertigte  sie von ihrem Meister und Geliebten eine Büste an:

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Camille Claudel, Büste von Rodin (1888) Musée Rodin und Musée du Petit Palais Paris

Diese Büste stellt Rodin unverschönt dar: Mit einem Vollbart, der den unteren Teil des Gesichts überwuchert, eine ungeschlachte, wilde, Energie und Autorität ausstrahlende Erscheinung. Rodin mochte seine Büste; ein monumentales Werk, das alle anderen in dieser Zeit geschaffenen Büsten Camilles überrage, schrieb Bruder Paul. Hier drücke sich eine leidenschaftliche Seele aus, und abgebildet sei „ l’animal humain“.[17]

Sakuntara ist die erste große Skulptur Camille Claudel und gewissermaßen das frühere Gegenstück zu Rodins „Das ewige Idol“.  Die Figurengruppe und ihr Titel beziehen sich auf ein Werk der klassischen indischen Literatur: Ein König verliebt sich in Sakuntara, ein Mädchen aus einer Einsiedelei, und heiratet sie trotz dieser Hürde. Durch Schicksalsschläge werden sie voneinander getrennt, aber am Ende siegt dann doch die Liebe….

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Sakuntala, Die Hingabe. Musée Rodin (Marmorfassung aus dem Jahr 1905, Ausschnitt)   Es gibt Versionen in verschiedenen Materialien und Größen und mit verschiedenen Bezeichnungen. ( auch Vertumnus und Pomona und  L’Abandon) 

In der Beziehung zwischen Rodin und Camille Claudel allerdings siegte die Liebe nicht: Rodin sah sich außerstande, sein Heiratsversprechen einzuhalten- er konnte bzw. wollte sich dann doch nicht von seiner langjährigen Partnerin Rose Beuret trennen.

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Camille Claudel hat dieses Beziehungsdrama in ihrer Figurengruppe L’Âge mûr verarbeitet. Eine junge Frau versucht auf Knien, ihren vom Alter gezeichneten Geliebten zurückzuhalten. Die ausgestreckten Hände  der jungen Frau berühren nicht mehr den leicht nach hinten gerichteten linken Arm des Mannes, der in Begleitung einer alten Frau davon geht: Man kann in der jungen Frau Camille Claudel sehen, in dem älteren Mann Rodin und in der alten Frau an seiner Seite seine karikiert dargestellte Lebensgefährtin Rose Beuret. Der  Bruch der Liebes- und Arbeitsbeziehung zwischen Camille Claudel und Rodin ist vollzogen.

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August Rodin, L’Adieu  (Musée Rodin)

Es wäre falsch und einseitig, darin nur die Schuld Rodins zu sehen. Camille Claudel wollte eine eigenständige Künstlerin sein und nicht nur als Mitarbeiterin Rodins angesehen werden. Wie sehr auch Rodin unter der Trennung gelitten hat, wird aus der Collage deutlich, die er von dem Kopf der jungen Camille mit den kurzen Haaren und den beiden Händen herstellte- Hände, die vielleicht in glücklichen Tagen von Camille selbst modelliert worden waren…

4. Das Château de l‘Islette in der Touraine

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In Künstlerkreisen war die Beziehung zwischen Rodin und Camille Claudel, die vom Alter her gut auch seine Tochter hätte sein können, kein Geheimnis. Gegenüber seiner langjährigen Lebensgefährtin Rose Beuret hielt Rodin sie aber geheim, ebenso wie Camille Claudel gegenüber ihrer Familie.  Deshalb war es für die beiden ein großes Glück, dass es als Ort ihrer „kleinen Fluchten“ das Schloss Islette gab, das Rodin bei einer Reise zu den Schlössern der Loire entdeckt –und gezeichnet- hatte.

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Kopie einer Zeichnung Rodins aus dem Musée Rodin im Château de l‘Islette

Das Schloss liegt in einem großen Park an dem Flüsschen Indre in der Nähe von Azay-le-Rideau, gewissermaßen eine bescheidenere, intimere Version des dortigen Schlosses.

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Die ehemalige Mühle des Schlosses, heute ein sehr sympathisches Café

Hier brauchten Rodin und Camille Claudel wenigstens den Sommer über ihre Liebe nicht zu verbergen. 1889, 1890 und 1892 halten sie sich gemeinsam dort auf, 1894 ist Camille alleine dort – wahrscheinlich um sich dort von den Folgen einer Abtreibung zu erholen.[19]

Das Schloss erinnert heute gerne an die Zeit, in der es Schauplatz der amours tumultueuses der  beiden großen Bildhauer Camille Claudel und Auguste Rodin war.

Salle des Gardes Parterre

Buffet aus dem Wachensaal (salle des gardes) im Erdgeschoss des Hotels.

Dieser Saal ist heute Camille Claudel und Rodin gewidmet. Gezeigt werden Fotos und vor allem Abdrucke von Briefen aus dem Musée Rodin, die einen Bezug zum Schloss und zur Liebesbeziehung der beiden Bildhauer haben.

Islette  bezeichnet sich als „Le château des amours de Camille Claudel et Rodin“  -gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal unter den vielen Schlössern der Loire. [20]

Zimmer Camilles im westlichen Turm heute Schlafzimmer der besitzer (8)

Ehemaliges Schlafzimmer Camille Claudels, heute Schlafzimmer der Besitzer des Hotels

Auf der homepage des Schlosses findet sich dieses Zitat aus dem  einzig erhaltenen Liebesbrief Camilles an Rodin, der auch zum Abschluss der Schlossführungen vorgelesen wird:

„Sie können sich nicht vorstellen, wie angenehm es ist in Islette. Heute habe ich im mittleren Saal gegessen (der als Treibhaus dient, und wo man auf beiden Seiten in den Garten sieht.) (…) Ich bin im Park spazieren gegangen, alles ist abgemäht, Heu, Weizen, Hafer, man kann ringsherum gehen, sehr reizvoll. Sollten Sie Ihr Versprechen wirklich wahrmachen- es wäre das Paradies. Einen Arbeitsraum dürften Sie sich bestimmt aussuchen. Ich bin sicher, die Alte wird Sie vergöttern. Sie schlug mir vor, doch auch im Fluss zu baden, wie ihre Tochter und das Kindermädchen; es soll völlig gefahrlos sein. Wenn Sie gestatten- ich werde es tun. (…) Ich schlafe splitternackt; dann träume ich, Sie seien hier; doch wenn ich aufwache, ist alles ganz anders. Betrügen Sie mich ja nicht mehr.“[21]

Signature_Camille_Claudel

Islette ist für Camille Claudel und Rodin nicht nur ein Ort  des Glücks, sondern auch schöpferischer Arbeit.

Rodin hatte 1891 den Auftrag für eine Balzac-Statue erhalten  und  reiste unter dem Vorwand dorthin, eine Balzac ähnliche Physiognomie suchen zu müssen. Die fand er in Gestalt eines Chauffeurs aus Azay-le-Rideau namens Estager, dessen Ähnlichkeit mit Balzac verblüffend gewesen sein soll.

modell für Balzac- Statue

Da Rodin mit nackten Modellen arbeitete –und auch die Balzac-Statue sollte ja den Romancier in seiner Nacktheit zeigen-  musste er  einen Louis d’or pro Sitzung bezahlen, um den biederen Fuhrmann dazu zu bewegen, sich zu entblößen –  immerhin war der Ausgleich für ihn ein kleines Vermögen.

Als Atelier Rodins und Camille Claudels diente der große Salon im ersten Stock des Schlosses.

Salon im 1. Stock diente Rodin als Atelier

Auf dem Tisch vor dem Kamin steht heute eine Bronze- Version der Petite Châtelaine, (Das kleine Schlossfräulein), ein entzückendes Werk Camille Claudels,  für das die Enkelin der damaligen Besitzerin, Madame Courcelles,  als Modell diente.

Petite Chatelaine

Eine der verschiedenen Fassungen befindet sich im Musée Rodin, zwei weitere im Musée Camille Claudel. Eine weitere lange verschollene Version wurde Anfang der 1980-er Jahre „von einem Kunstliebhaber bei einer Versteigerung zum Preis von 100 Francs erworben, da es aufgeführt war als eine belanglose Marmorplastik ‚eines gewissen Claudel.‘“[22]

Mathias Morhardt wusste es 1898 schon besser:

« Il y a … dans la disproportion même de cette tête déjà trop puissante, déjà trop vivante, déjà trop ouverte sur les mystères éternels et les épaules délicatement puériles qu’elle découvre, quelque chose d’indéfinissable qui communique une angoisse profonde … Le buste prouve …  que Mlle Camille Claudel est désormais un maître … » [23]

5. Paris: Das Atelier auf der Île Saint – Louis (1899-1913)

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Das Hôtel de Jassaud, 19 quai de Bourbon

In dem oben zitierten Brief Camilles ist von einem Versprechen Rodins die Rede: „Sollten Sie Ihr Versprechen wirklich wahrmachen- es wäre das Paradies“. Camille Claudel bezieht sich dabei auf das Heiratsversprechen, das Rodin ihr 1886 gegeben, aber dann nicht eingehalten hatte. Er konnte und wollte sich dann doch nicht von seiner langjährigen Lebensgefährtin Rose Beuret trennen, die er kurz vor seinem Tod noch heirate.[24] Allerdings ist es wohl zu einfach, in Rodin den allein Verantwortlichen für die Trennung und den Bruch zu sehen. Sicherlich war Rodin es gewohnt, bei seinen Modellen –so auch bei Camille- ein ius primae noctis in Anspruch zu nehmen, und sicherlich ließ er Gehilfen -wie damals durchaus üblich- für sich arbeiten. Aber dass die Beziehung zu Camille für ihn einen besonderen Rang hatte, ist wohl unbestreitbar und wird ja auch in dem berühmten Ausspruch deutlich, den Mathias Morhardt in seinem Aufsatz  von 1898 zitierte:

„Je lui ai montré où elle trouverait l’or; mais l’or quelle trouve est à elle“. (Ich habe ihr gezeigt, wo sie Gold finden kann. Aber das Gold, das sie findet, gehört ganz alleine ihr)

Für Camille Claudel hätte eine Ehe mit Rodin einen gesicherten gesellschaftlichen und ökonomischen Status bedeutet, andererseits aber wohl auch eine Einschränkung ihrer Selbstständigkeit. Sie empfand es als verletzend, immer nur als Schülerin Rodins angesehen zu werden, nicht aber als eigenständige Künstlerin.  Insofern bedeutete die Trennung von Rodin das Eingeständnis, dass mit ihm eine Beziehung „auf Augenhöhe“ nicht möglich war, es war ein potentieller Akt der Emanzipation, der allerdings in einer Sackgasse endete.  Und sicherlich lag hier ein auslösendes Moment für die Erkrankung Camille Claudels, ihre wahnhaften Ängste und für „die morbide Intensität“ ihres Hasses gegen Rodin.[25]

In dem eigenen Atelier, das sie 1899 auf der Île Saint-Louis bezog,  verbarrikadierte sie sich aus Angst vor Verfolgungen durch „Rodins Bande“,  Beziehungen zu Freunden brach sie ab. Seit 1905 zerstörte sie systematisch ihre Skulpturen. „Es ist nicht abwegig, daraus zu schließen, dass sie damit sich selbst vernichten und alles zerstören wollte, was Rodins Einfluss oder gar Gegenwart ahnen ließ, alles, was sie erinnern konnte an die Zeit gemeinsamen Arbeitens.“[26]

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Camille Claudel lebte und arbeitete im Erdgeschoss dieses Hauses von 1899 bis 1913. In diesem Jahr endete ihre kurze Laufbahn als Künstlerin und es begann die lange Nacht der Internierung.  „Es gibt immer etwas Fehlendes, was mich umtreibt“ (Brief an Rodin 1886)

Dies der Text der Erinnerungsplakette am Eingang des Hôtel de Jassaud am quai de Bourbon. Der Eingang zum Atelier war allerdings eher unscheinbar in der engen Seitenstraße. (26, rue Le Regrattier). Dass die Plakette am repräsentativen Haupteingang  befestigt ist, täuscht über die prekäre Lage Camille Claudels in dieser Zeit hinweg.

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Hier im Hof  befand sich das Atelier Camille Claudels

Sie hatte erhebliche finanzielle Sorgen, nur gemildert durch die (heimlichen) Zuwendungen ihres Vaters. Aus Angst vor den Leuten Rodins, die es angeblich auf sie und ihre Werke abgesehen hatte, verbarrikadierte sie sich in ihrem Atelier, hauste dort -angefeindet von ihren Nachbarn- inmitten von Gerümpel und Unrat, und als wäre das nicht genug, setzte dann auch noch die Jahrhundertflut von 1911 alles unter Wasser. Aber der Weg zurück zur Familie nach Villeneuve-sur-Fère war ihr verwehrt: Dort war sie, zurückgewiesen von Mutter und Schwester,  persona non grata. Und ihr Bruder Paul, der ihr vielleicht noch eine Stütze hätte sein können,  war meist als Diplomat auf fernen Missionen. Wie sehr er ihr fehlte, wird wohl auch daran deutlich, dass zu den wenigen Werken, die aus dieser Zeit erhalten sind, zwei Büsten Pauls im Alter von 37 und 42 Jahren gehören.

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Paul im Alter von 37 Jahren. Musée Camille Claudel Nogent

 

6. Das Asyl von Montdevergues und das Grab auf dem Friedhof von Montfavet

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Am 3. März 1913 stirbt Louis-Prosper Claudel, der Vater Camilles und ihr familiärer Rückhalt. Eine Woche später wird Camille gewaltsam aus ihrer Wohnung geholt und in einem Heim für psychisch-Kranke in Ville-Évrard bei Paris interniert. Deren Insassen werden nach Ausbruch des Krieges im September 1914 nach Montdevergues bei Avignon evakuiert, vermutlich um das Heim als Lazarett nutzen zu können.  „Merkwürdig ist, dass Camille, die aufgrund der deutschen Invasion nach Montdevergues verlegt worden war, nicht nach Ville-Evrard zurückgeholt wurde, was normal gewesen wäre. Alle aus denselben Gründen evakuierten Personen waren in ihre frühere Anstalt zurückgekehrt. Dafür gibt es nur eine Erklärung: die Gleichgültigkeit der Mutter, was das Schicksal der Tochter anbetraf, oder gar das Drängen der Mutter die Tochter von Paris fernzuhalten.“[27]

Wie die Zustände in dem Asyl von Montdeverges waren und wie sehr Camille Claudel darunter gelitten hat, wir aus ihren Briefen deutlich, zum Beispiel einem an ihren Bruder aus dem Jahr 1927:

Hier müssen … alle Arten von gräßlichen, gewalttätigen, kreischenden, drohenden Kreaturen in Schach gehalten werden. … All das schreit, singt, grölt von morgens bis abends und abends bis morgens. Es sind Kreaturen, die ihre Verwandten nicht mehr ertragen können, weil sie so widerwärtig sind. Doch wie kommt es, dass ich gezwungen bin, sie zu ertragen. Ganz zu schweigen von den Unannehmlichkeiten, die aus einer solchen Promiskuität entstehen. Das lacht, das wimmert, das plappert Geschichten von früh bis spät, mit Einzelheiten, die sich alle ineinander verheddern! Und da mitten drin zu sein, ist so peinvoll, Ihr musst mich rausholen aus diesem Milieu, denn heute sind es vierzehn Jahre, dass ich eingesperrt bin! Ich fordere lautstark die Freiheit!“[28]

Dazu kam im Winter die Kälte: In ihrem Zimmer sei es so kalt, dass sie den Stift nicht halten könne. Sie sei „bis auf die Knochen“ gefroren. Eine ihrer Freundinnen, eine ehemaligen Gymnasiallehrerin, die in dem Asyl gestrandet sei, habe man in ihrem Bett tot aufgefunden. Man könne sich keine Vorstellung machen von der Kälte von Montedvergues. Und die dauere sieben Monate.[29]

Während des Krieges verschlimmerte sich die Lage in dem Asyl noch ganz erheblich. Zwischen 1940 und 1943 wandte sich die Direktion des Hauses mehrfach an die zuständigen Instanzen, wies auf die schlimme Lage hin und bat um Verbesserungen. Die Antwort war eindeutig: Es gäbe interessantere Kranke als die des Asyls. Im August 1943 stellte der Direktor von Montdevergues resignierend fest, seine Patienten verhungerten buchstäblich.[30] Camille Claudel war damit eine von mehreren Zehntausenden psychisch Kranken, die aufgrund einer auch in Frankreich verbreiteten Eugenik der vom Pétin-Regime praktizierten „extermination douce“ zum Opfer fielen.[31]

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Bestattet wurde Camille auf dem Teil des Friedhofsgeländes von Montfavet, der für die Toten von Montdevergues reserviert war. Über dem Grab gab es ein Kreuz mit der Aufschrift  „1943 – n° 392“.  Wie die Anstaltsleitung dem Bruder lakonisch mitteilte, gab es zum Zeitpunkt ihres Todes keinerlei persönliche Gegenstände, „même à titre de souvenir.“  Und als die Familie schließlich auf die Idee kam, dass Camille ein Grab erhalten sollte, „plus digne de la grande artiste quelle était“, erhielt sie die Auskunft, das Grab existiere nicht mehr, weil das Terrain „pour les besoins de service“ benötigt worden sei. Da waren die sterblichen Überreste Camilles also längst in einem Massengrab verscharrt.[32]

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Inzwischen gibt es aber an dieser Stelle eine Stele, die an Camille Claudel und die 30 Jahre erinnert, die sie in Montdevergues „interniert“ war. Als wir im Sommer 2019 dort waren, fuhr ein älterer Herr mit dem Fahrrad  vorbei, der mehrmals, kaum uns zugewandt,  laut vor sich hinsagte: “30 ans d’internement! 30 ans d’internement!“ Das berührte ihn offenbar ganz persönlich.

Camille Claudel hat in den Jahren ihrer Internierung nichts mehr geschaffen. Aber sie denkt zurück an das Villeneuve ihrer Jugend, „das auf der Welt nicht seinesgleichen hat“ und sicherlich dabei auch an den wärmespendenden Kamin im Wohnzimmer des Hauses.  Eine ihrer letzten Skulpturen ist „Rêve au coin du feu“,  eine am Kamin sitzende Frau, die ins Feuer blickt.

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Traum am Kaminfeuer (1900/1902) Musée Camille Claudel

Paul Claudel schrieb dazu 1940: „Une femme assise et qui regarde le feu, c’est le sujet d’une des dernières sculptures de ma pauvre sœur, la conclusion de sa douloureuse existence. (…)  Une femme assise et étroitement enveloppée dans son châle, assise et qui regarde le feu. Elle est bienheureusement assise et toute seule, il n’y a personne, tout le monde est mort ou c’est la même chose. Il pleut violemment au dehors, une lamentation intarissable de toute la terre.“ [33]

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Vor dem Kamin in Villeneuve steht heute die Skulptur  „L’implorante“ (Die Flehende). Ursprünlich Teil von „L’Âge mûr“, wurde sie 1894 unter dem Titel „Le Dieu envolé“ (Der entflogene Gott) separat ausgestellt.   Paul Claudel beschrieb sein Entsetzen beim Anblick der Skulptur so:

Das nackte Mädchen ist meine Schwester! Meine Schwester Camille, flehend, gedemütigt und auf den Knien: diese wunderbare, stolze junge Frau stellt sich auf diese Weise dar.“[34]

 Und Reine Marie Paris, die Großnichte Camilles, schreibt dazu:

„Eine junge Frau sucht mit flehender Gebärde die fliehende Realität anzuhalten. Was wollen sie festhalten, diese übermäßig langen Arme? Nicht so sehr den Geliebten, der sich entfernt, sondern das eigene Leben, das sich entzieht“, die eigene Identität, „die ihr zu entgleiten drohte“ und die ihr schließlich ja auch entglitt…. [35]

Literatur:

Reine-Marie Paris/Philippe Crescent, Camille Claudel, Intégrale des œuvres/complete works. Paris: Ed. Economica 2014

Camille Claudel, Correspondance. Édition d’Anne Rivière et Bruno Gaudichon. Paris: Gallimard 2014

Über Camille Claudel in deutscher Sprache:

Dominique Bona, Camille und Paul Claudel. München:  Btb-Verlag 2010

Anne Delbée, Der Kuss. Kunst und Leben der Camille Claudel. Btb 20038 . (deutsche Ausgabe von: Anne Delbée, Une Femme. Paris: Fayard  1998 , Le Livre de Poche, 5959)

Reine-Marie Paris, Camille Claudel 1864 – 1943. Deutsch von Annette Lallemand. Frankfurt: S. Fischer 9. Auflage 2007

In französischer Sprache:

Hélène Pinet et Reine-Maris Paris, Camille Claudel. Le génie et comme un miroir. Paris: Gallimard 20

Michel Deveaux, Camille Claudel à Montdevergues. Histoire d’un internement. (7 septembre 1914 – 19 octobre 1943) Paris: L’Harmattan 2012

Antoinette Le Normand-Romain, Camille Claudel & Rodin. Herman Éditeurs/musée Rodin 2014

Véronique Mattiussi und Mireille Rosambert-Tissier, Camille Claudel, une femme insoumise. Idées reçues 2014

Reine-Marie Paris,  Chère Camille Claudel. Histoire d’une collection. Paris: Ed. Economica 2012

Anmerkungen:

[1]   Siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2019/09/06/10-jahre-singen-in-paris/

[2] Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 9 und Paul Claudel, Ma sœur Camille. Zit. von Dominique Bona, S. 44

[3] Mitarbeiterin des Drehbuchs war Reine-Marie Paris, die Großnichte Camille Claudels, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass das Werk Camille Claudels heute (wieder) bekannt und anerkannt ist.

Isabelle Adjani hat in einem Interview mit Le Monde (17. Dezember 2019, S. 26) übrigens darauf hingewiesen, dass Camille Claudel eine ganz wichtige Rolle für ihre eigene persönliche Entwicklung gespielt hat: „C’est son courage qui m’a donné du courage.“

[4] Bona, S. 20

[5] Cit. bei Reine-Marie Paris, S. 136f Original bei Delbée, S. 34:

„… mon rêve serait de regagner tout de suit Villeneuve et de ne plus bouger, j’aimerais mieux une grange à Villeneuve au’une place de première pensionnaire ici…  Quel bonheur si je pouvais me retrouver à Villeneuve. Ce joli Villeneuve qui n’a rien de pareil sur la terre! …“

[6] Reine-Marie Paris, S. 23 und Bona, S. 34/35

[7] Bona, S. 28

[8] Siehe auch: https://www.paul-claudel.net/oeuvre/sculpture

[9] Der Artikel ist in Auszügen abgedruckt bei Delbée, S. 473ff

[10] Flyer: Sur les pas de Camille et Paul Claudel.  La Hottée du Diable  ist wenige Autominuten von Villeneuve entfernt: Über die D 79 zur D 310 Richtung Château—Thierry.  Kurz nach der Einbiegung in die D 310  ist auf der rechten Seite der Parkplatz beschildert.

[11] Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 208

[12] http://www.pavillon-arsenal.com/fr/paris-dactualites/10895-musee-camille-claudel.html

[13] Bona, Camille und Paul Claudel, S. 174/175

[14] Zitiert in: https://de.wikipedia.org/wiki/La_Valse_(Claudel)

(14a) Heike Fischer-Heine, „Da ist immer etwas Abwesendes, das mich quält…“  Verfolgt vom Bösen- Kreativität und Wahnsinn der Bildhauerin Camille Claudel (1864-1943). In: Pit Wahl/Ulrike Lehmkuhl (Hrsg), Die Magie des Bösen. Göttingen 2012, S. 90

[15] Bona, Camille und Paul Claudel, S. 110f

[16] Bona, S. 111

(16a)  https://www.art-directory.de/malerei/camille-claudel-1864/

[17] Paul Claudel, Ma sœur Camille, 1951 und Bona, Camille und Paul Claudel, S. 116

[18] Übersetzung aus dem im Château de l’Islette ausliegenden Heft mit den dort ausgestellten Briefen Rodins und Camille Claudels. Original zugänglich bei: https://www.vanityfair.fr/culture/people/diaporama/les-plus-belles-lettres-damour-de-tous-les-temps/24960?page=2

[19] Siehe Bona, Camille und Paul Claudel, S. 167

[20] https://www.chateaudelislette.fr/

[21] Brief vom 25. Juni 1892, Archiv des Musée Rodin. Zitiert bei Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 39

Camille Claudel war damals allein in Islette, möglicherweise um sich von einer Fehlgeburt oder Abtreibung zu erholen.  Nach der Einschätzung von Reine-Marie Paris steckt der Brief allerdings voller Ambivalenzen- zum Beispiel, wenn  CC Rodin bittet, ihr für das Bad im Fluss ein Badekleid z.B. im Bon Marché in Paris zu besorgen: Einen schon älteren, wohlbeleibten Herren zu beauftragen, ein damals so intimes Kleidungsstück zu kaufen, sei schon eine Zumutung gewesen.

[22] Zit. aus Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 360

[23] Zit. auf der Homepage des Schlosses

https://www.chateaudelislette.fr/

[24] Brief Rodins an Camille Claudel vom 12. Oktober 1886, der den Charakter einer rechtlich bindenden Selbstverpflichtung hat. Darin heißt es unter anderem: „Nach der Ausstellung im >Monat Mai fahren wir nach Italien und bleiben dort mindestens sechs Monate, der Beginn einer unverbrüchlichen Verbindung, nach der Fräulein Camille meine Frau wird.“

Siehe dazu auch Bona, Camille und Paul Claudel, S. 163f

[25] Siehe Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 53  und S. 75

[26] François Lhermitte nd Jean-François Allilaire, Camille Claudels psychische Krankheit. In: Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 161

[27] Lhermitte/Alliaire, Camille Claudels psychische Krankheit. A.a.O., S. 169

[28] Brief an Paul Claudel vom 3. März 1927. Zitiert bei Reine-Marie Paris, Camille Claudel, S. 137

[29] Zit. Bei  Delbée, S. 323

[30] https://www.midilibre.fr/2013/03/13/vichy-est-responsable-de-la-mort-de-camille-claudel,659049.php

[31] Siehe:  Der Begriff der Extermination douce geht zurück auf ein Buch von Paul Lafont aus dem Jahr 1987. Siehe: Extermination douce.  La Cause des fous.  40000 malades mentaux morts de faim dans les hôpitaux sous Vichy. https://www.cairn.info/revue-vie-sociale-et-traitements-2001-1-page-45.htm#  Siehe auch: https://fr.wikipedia.org/wiki/Extermination_douce

[32] Zitat wiedergegeben bei Delbée, Une femme, S. 465/466

[33] Siehe dazu Paul Claudel, Assise et qui regarde le feu  (1940) Schautafel im Musée Camille Claudel

[34] Rachel Corbett, Rilke und Rodin. Die Geschichte einer Freundschaft. Berlin: Aufbau-Verlag 2017, S. 73

[35] Reine-Marie Paris, Camille Claudel, 324/325. Reine-Marie Paris weist darauf hin, dass diese Skulptur meist in die Gruppe „Das reife Alter“ eingefügt ist, dass diese „allzu augenfällige Allegorie“ allerdings dadurch an Ausdruckskraft verliere, nämlich die sich darin ausdrückende „panische Angst“ Camille Claudels vor allem, was sich entziehe, vor allem ihrer eigenen Identität, „die ihr zu entgleiten drohte“.

Von Montreuil nach Sansscouci: Die murs à pêches von Montreuil und die Lepère’schen Mauern im königlichen Weinberg von Sanssouci

Der nachfolgende Beitrag handelt vom Gartenbau, vor allem von der Kultur von Pfirsichen:  ein, wie es scheinen mag, etwas absonderliches Thema für einen Paris- und Frankreich-Blog. Aber der Schein trügt. Denn es geht hier um eine ganz wunderbare Geschichte, oder im Grunde sogar um drei Geschichten, und das auch noch mit einem deutsch-französischen Bezug:

  • Erstens ist es die Geschichte von Montreuil, einer Gemeinde im östlichen Umland von Paris, Endstation der Metro- Linie 9, seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Arbeiter- und Einwanderergemeinde, heute vor allem geprägt von Einwanderern aus dem Maghreb und Mali. Es ist Sitz der kommunistischen Gewerkschaft CGT und der Frankreich- und Europa-Zentrale von Attac  und eine der letzten Bastionen der Kommunistischen Partei.[1]  Dieser Ort war einmal Zentrum der französischen Pfirsichproduktion!  Allein  auf dem Stadtgebiet gab es 300 km Mauern, an denen Pfirsichbäume im  Spalier  gezogen wurden. Und mit den Pfirsichen von Montreuil wurden bis ins  19. Jahrhundert  nicht nur Paris und sein Umland beliefert, sondern auch  zahlungskräftige und adlige Feinschmecker in ganz Europa.
  • Zweitens ist es die Geschichte von Alexis Lepère, einem der Spezialisten des Pfirsichanbaus von Montreuil. Lepère war ein Meister seines Faches und sein Ruf verbreitete sich weit über Montreuil hinaus. In der Mitte des 19. Jahrhunderts engagierten ihn deutsche Großgrundbesitzer als Berater, und schließlich wurde er sogar  vom preußischen Königs- und späteren Kaiserpaar nach Potsdam eingeladen, um dort nach dem Montreuil‘schen Vorbild Pfirsichgärten anzulegen
  • Die dritte Geschichte ist die der Potsdamer Pfirsichspaliere, der sogenannten Lepère’schen Mauern, die es nämlich heute noch, bzw. richtiger: heute wieder gibt. Sie sind ein Teil des königlichen Weinbergs von Sanssouci und zeugen von den intensiven Beziehungen, die die preußischen Könige nicht nur zu Zeiten Friedrichs des Großen und Voltaires mit Frankreich unterhielten und die in Sanssouci bis heute anschaulich sind.[2]

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Pfirsiche von den Gärten in Montreuil (oben)  und von den Lepère’schen Mauern in Sanssouci  (unten) 

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Es geht also um eine schöne französisch-deutsche Geschichte:  Grund genug, ihr einen Beitrag auf diesem Blog zu widmen.

Die murs à pêches von Montreuil

Die Pfirsichmauern von Montreuil haben eine lange Tradition. Schon ab dem 16. Jahrhundert soll es sie gegeben haben. Ursprünglich, so der Abbé Jean-Roger Schabol in einem Artikel aus dem Jahr 1755,  seien die Mauern dazu da gewesen, nach einem Erbfall Gärten aufzuteilen und abzutrennen. Dann habe man aber bemerkt, dass die Pfirsiche in den abgegrenzten Parzellen besser gediehen, schneller reiften, mehr Farbe, Geschmack und Gewicht hätten als die anderen und dass die Bäume weniger unter Frost litten. So habe man allmählich die Mauern systematisch für den Anbau von Pfirsichen genutzt. Sie markierten also nicht mehr Grundstückgrenzen, sondern hatten allein eine gartenbautechnische Funktion. [3]

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Montreuil ist damit gewissermaßen das bürgerliche Gegenstück zu dem aristokratischen potager du roi, dem Obst- und Gemüsegarten Ludwigs XIV. in Versailles. Dessen Schöpfer, Jean de la Quintinie, hatte schon im 17. Jahrhundert die Bedeutung von Mauern für den Anbau von Obstgehölzen dargelegt und dem entsprechend auch die Anlage von Versailles entworfen.[4]

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Plan des Obst-und Gemüsegartens in Versailles. Um den zentralen rechteckigen Gemüsegarten mit dem Springbrunnen sind die ummauerten Obstgärten gruppiert.

Unter den Gärtnern von Montreuil beanspruchte  man allerdings das „Erstgeburtsrecht“ der Pfirsichmauern: Es habe La Quintinie keine Ruhe gelassen, dass  auf dem Markt in Paris schmackhaftere Pfirsiche angeboten würden als die aus seinem noblen potager du Roi. So habe er schließlich Nicolas Pépin,  einen jungen Gärtner von Montreuil für den königlichen Garten von Versailles rekrutiert, ihn aber, nachdem er von dessen savoir-faire  profitiert habe, wieder nach Hause geschickt, um nicht im Schatten eines unbekannten jungen Mannes aus dem Umland von Paris zu stehen.[5]

Wer auch immer den Nutzen der Pfirsichmauern entdeckt hat: Die von Montreuil waren  höchst erfolgreich. Dazu trugen mehrere Faktoren bei:

  • Zunächst das Material, aus dem die Mauern gebaut wurden.  Es war nämlich eine Mischung aus Tonerde, Silex und gebrannten und gemahlenem Gips (plâtre), der die Wärme hervorragend speicherte und abgab und sich außerdem gut zur Befestigung von Spalieren eignete.

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Unbehauene Silex-Steine einer Pfirsichmauer

Da es in geringer Tiefe unter den Gärten eine Schicht von Silex-Steinen gab, konnte man die ohne Probleme für den Bau der Mauern nutzen. Der Gips wurde sehr kostengünstig direkt in Montreuil im Tagebau  gewonnen– eine Erklärung dafür, dass gerade dort die Kultur der Pfirsichmauern florierte. [6]

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                                                 Historische Postkarte von Montreuil:                                                        Die Pfirsichgärten und im Hintergrund die Gips- Steinbrüche

Teilweise nutzten die  Pfirsichbauern von Montreuil auch den im Boden ihrer Gärten gelagerten Gips direkt, wie die nachfolgende Abbildung zeigt. Dafür mussten allerdings etwa 10 Meter tiefe Zugangsschächte gegraben werden, um die Gipssteinschicht zu erreichen (siehe Abbildung).  Die Gipssteine wurden gebrannt, dann zerstampft und mit Wasser zu einer leicht zu verarbeitenden Masse (plâtre) verarbeitet.   Damit wurden dann horizontale Zwischenschichten in die entstehenden Mauern eingezogen, um sie so zu stabilisieren. Und zum Schluss wurden die Wände verputzt und mit einem kleinen Dach  versehen, das nicht nur die Mauern vor eindringender Nässe schützte, sondern auch das daran angepflanzte Spalierobst vor Hagel – wenn erforderlich auch mit zusätzlich angebrachten Netzen.

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  • Wichtig war natürlich dann die Ausrichtung der Mauern. Sie waren im Wesentlichen in Nord-Südrichtung orientiert, um möglichst intensiv die Sonneneinstrahlung zu nutzen.

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Die nach Osten gerichteten Mauerseiten hießen Levants, weil sie am frühesten von der aufgehenden Sonne beschienen wurden; die nach Westen gerichteten Mauern waren die Couchants, weil sie am längsten von der untergehenden Sonne profitierten. Und die Pfirsichbauern von Montreuil wussten, welche Sorten oder welche anderen Obstbäume (wie Äpfel oder Birnen) sie am besten an welcher Stelle anpflanzten. Das gehörte zu dem über Generationen weitergegebenen und weiterentwickelten savoir faire, das der Abbé Schabol in seiner Schrift über den Pfirsichanbau in Montreuil rühmt. Dieses Wissen sei dort bis zur Perfektion entwickelt worden („la culture des arbres fruitiers est portée à la perfection“). Wenn die Pfirsichbäume in Montreuil besser gediehen als irgendwo sonst, beruhe das in erster Linie auf den hochentwickelten Anbautechniken der dortigen Gärtner: „Les terres les plus mauvaises cessent de l’être entre leurs mains“- wobei der begeisterte Abbé die Bedeutung des Bodens etwas unterschätzt hat: Bei der Anlage der Pfirsichgärten spielte die Qualität des Bodens durchaus eine wichtige Rolle.

  • Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Pfirsichbauern von Montreuil war natürlich auch der Standort: nämlich die Nähe zu Paris mit seinen großen Markthallen und der großen Zahl potentieller Kunden. So konnten die reifen Pfirsiche schnell und direkt nach Paris gebracht werden – manchmal allerdings sogar mit Bewachung, denn es handelte sich ja um ein durchaus kostbares Gut.

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  • Ganz entscheidend war natürlich das von Generation zu Generation weitergegebene fachliche Wissen der Pfirsichgärtner von Montreuil, das in einem deutschen Gartenbau- Lexikon sogar als „Hochschule für Pfirsichzucht“ bezeichnet wurde. 1861 rühmte der Vorsitzende des preußiuschen Gartenbauvereins, der Geheime Ober-Regierungsrat Kette, die Leistungen der Pfirsichgärtner von Montreuil: „Nirgends auf der ganzen Erde befindet sich wohl die Pfirsichzucht auf einer so hohen Stufe als in Montreuil bei Paris und sind allerdings die Mühen und die Intelligenz der dortigen Bewohner mit Erfolg gekrönt worden. … Nach Berichten von Augenzeugen … sei die Fülle von Früchten, womit alle Zweige dicht bedeckt seien, für jeden, der es nicht selbst gesehen, unglaubhaft.“ (zit. Schurig, S. 68).  Nicht nur wurden die Anbautechniken immer mehr optimiert, sondern es wurden  auch zahlreiche neue Pfirsichsorten mit unterschiedlichen Reifezeiten gezüchtet, so dass man das Obst über einen längeren Zeitraum hinweg vermarkten konnte. Seinen Höhepunkt erreichte der Pfirsichanbau Ende des 19. Jahrhunderts, sodass der Ort sogar „Montreuil aux Pêches“ genannt wurde.  Damals gab es auf dem Gebiet von Montreuil insgesamt 300 Kilometer Pfirsichmauern!

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Die Gärten (dunkelblau)  bedeckten  einen großen Teil des Stadtgebiets und der weit überwiegende Teil der Bevölkerung lebte vom Gartenbau, vor allem dem Anbau von Pfirsichen, von denen jährlich mehr als 17 Millionen geerntet wurden! [7]

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Mit den Pfirsichen aus den Gärten von Montreuil, die man hier in einer historischen Luftaufnahme sieht,  wurden schließlich  nicht nur Paris und andere französische Städte beliefert, sondern sie wurden auch  ins Ausland exportiert, wo man durch die Teilnahme an internationalen Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Dazu kam als Erfolgsrezept eine geniale Marketing-Idee, nämlich die „Tätowierung“ der Früchte: Sie wurden zunächst durch eine feine Stoffumhüllung vor der Sonneneinstrahlung geschützt. Hatten sie aber die gewünschte Größe erreicht, wurden sie mit kleinen Scherenschnitten der jeweiligen illustren Abnehmer beklebt, zum Beispiel dem russischen Zaren, dem englischen König oder sogar dem (ansonsten ungeliebten) deutschen Kaiser Wilhelm II.

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Dann tat die Sonne ihr Werk, der Scherenschnitt wurde abgenommen und auf dem Pfirsich befand sich nun das Konterfei des Kunden. Heute wird diese Technik von Straßenkünstlern verwendet und heißt „pochoir“ – und da dabei alles schnell gehen muss und die Sonne an den Mauern sowieso keine Wirkung hat, verwendet man heutzutage Farben. Damals hatte man Zeit und der Prozess verlief auf ganz natürliche Weise. Das gilt auch für den Leim, den man für das Aufkleben der Scherenschnitte verwendete: Das war nämlich der Schleim von Weinbergschnecken, die es dort auch reichlich gab… (4a)

Diese Tradition wird inzwischen in dem „jardin – école“ von Montreuil weitergeführt, einem von der Société régionale d’horticulture de Montreuil mit ihrem rührigen Generalsekretär Philippe Schuller betriebener Garten, der immerhin zu dem illustren Netz der Potagers de France gehört.[8]

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Die Scherenschnitte werden noch wie früher mit Hand angefertigt, als Kleber wird inzwischen allerdings Gelatine verwendet….

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Nach den  glanzvollen Zeiten des Montreuil’schen Pfirsichanbaus setzte um  die Jahrhundertwende der Niedergang ein: die Pfirsiche, für die man hohe Preise erzielt hatte, wurden nun günstiger mit der Eisenbahn aus der Provence importiert, so dass in den Gärten von Montreuil stattdessen weniger lukrative Äpfel und Birnen gezogen wurden. Dazu Gemüse und Blumen, für die die Mauern nicht unbedingt erforderlich waren. Und deren Unterhaltung wurde immer schwieriger und kostspieliger: Die Gipssteine kamen zunehmend nicht mehr aus dem eigenen Untergrund oder dem nahe gelegenen Tagebau, sondern aus Bergwerken, die Arbeitskräfte wurden durch die Nähe zu Paris immer teurer. Dafür wurde Montreuil aufgrund  der räumlichen Enge von Paris als kostengünstige Alternative als Bauland immer interessanter. So verfielen die Mauern allmählich,  viele ehemalige Gärten mussten billig hochgezogenen Wohnblocks weichen, andere wurden als wilde Müllkippen missbraucht. Heute ist nur noch ein kleiner Teil der Gärten mit noch etwa 10 Kilometer Mauern erhalten, und auch die sind bedroht.

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Seit 1994 gibt es aber einen rührigen Verein, die Association Murs à Pêches,  der versucht, wenigstens einen kleinen Teil der noch vorhandenen Gartenreste spekulativen Begehrlichkeiten zu entziehen. Von den 320 h Gartenfläche Ende des 19. Jahrhunderts g sind 8,5 h  seit 2003 geschützt.  Aber es gibt noch eine wesentlich größere Fläche ehemaliger Gärten, die bisher brach liegen und deren weitere Verwendung noch unklar ist.

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Das Terrain gehört der von einer offenbar wenig ökologisch interessierten Verwaltung regierten Gemeinde, die die Gärten nur jeweils für ein Jahr verpachtet. Da kann man nicht sicher sein, ob man auch im nächsten Jahr die Früchte seiner Arbeit ernten kann.

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Trotzdem oder gerade umso mehr:  Alte Mauern werden restauriert, neue Bäume gepflanzt, in den Gärten blüht und grünt es, in jedem Jahr wird ein großes „festival des Murs à Pêches“ veranstaltet: Da sollte doch die Gemeindeverwaltung die Zeichen der Zeit erkennen, damit nicht eine solche ökologische Oase, der letzte Rest einer glanzvollen Vergangenheit, auch noch zubetoniert wird…

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Pascal Mage, der Vorsitzender der Association,  mit dem Bild eines genau an dieser Stelle fotografierten Paares von Pfirsichgärtnern aus der Blütezeit der murs à pêches.

Wie wunderbar die  Wiederbelebung der Montreuiler Gartentradition gelingen kann, zeigt  der Garten von Patrick Fontaine. Als die Stadt dem Koch und Gartennovicen vor knapp 10 Jahren  einen der ehemaligen ummauerten Pfirsichgärten  verpachtete, sah der so aus. Die Mauer auf der gegenüberliegenden Längsseite war sogar teilweise eingestürzt.

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Inzwischen ist daraus ein schmucker Garten geworden.

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An den Mauern wächst vor allem Spalierobst, natürlich Pfirsiche, aber es gibt auch -Patrick Fontaine stammt aus der Normandie- zahlreiche Äpfelspaliere.  Aufgrund einer großen  Artenvielfalt erstreckt sich die  Ernte  über mehrere Wochen oder gar Monate hin.

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Das Foto dieser Weinbergpfirsiche ist zum Beispiel Mitte September entstanden, da waren die anderen Pfirsiche schon längst geerntet.  Patrick Fontaine verwendet Spalierformen, wie sie in Montreuil Tradition haben, und auch die alte besonders schonende Form der Befestigung der Zweige an den Mauern, nämlich mit Nägeln und Stofffetzen („le palissage à la loque„).

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Aber Fontaine erfindet auch neue Spalierformen, zum Beispiel aus Anlass der Olympischen Spiele 2024 in Paris eine Spalierform mit den olympischen Ringen, die bis zur Eröffnung der Spiele fertig sein soll: Eine echte Herausforderung.

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Zwischen den Mauern gibt es eine Reihe von Hochbeeten mit Gemüse und Blumen und am Ende auch einen kleinen Hühnerstall.  Kein Wunder, dass  Garten und Gärtner viel Anerkennung erhalten haben und Patrick Fontaine mit Recht stolz auf sein Werk sein kann.

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Entsprechend viele Besucher gibt es auch,  wobei Patrick Fontaine  besonders am Kontakt mit jungen Menschen aus Montreuil gelegen ist, die von Hause aus wenig Beziehung zur Natur haben.

Es gibt allerdings auch weniger willkommene Besucher, die inzwischen im Umland von Paris zur Plage geworden sind.

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Die interessieren sich nämlich nicht nur für die Kerne der Sonnenblumen, sondern hacken auch ungeniert in das Obst….

Praktische Informationen:

Jeden Sonntag  gibt es  zwischen  14h30 und 16h30  Gelegenheit zum Besuch der Gärten. Der Eingang ist über den impasse Gobétue zu erreichen. Von der Endstation der Métro 9 – Mairie de Montreuil- ist man zu Fuß in ca 15 Minuten dort.  Zu dem jardin-école gehört auch ein kleines sympathisches Museum über die Geschichte der Pfirsichmauern, aus dem auch einige der Abbildungen in diesem Text stammen. („Tatoos“, Herstellung von plâtre, palmette de Lepère, Plan eines Pfirsichgartens).

Association Murs à Pêches

E-mail : info@mursapeches.org

Web: www.mursapeches.org

Jardin-école

4 rue du Jardin-Ecole  93100 Montreuil

Tel. 0033 (0)1 70 94 61 30

Web: www.jardin-ecole.com/newsitejardin-ecole

Literatur:

Arlette Auduc et al, Montreuil, Patrimoine Horticole. Hrsg. vom Service patrimoines et Inventaire der Région Île-de-France. Paris 2016

Discours sur Montreuil. Histoire des murs à pêches. Roger Schabol und Louis Aubin. Hrsg der Société régionale d’horticulture de Montreuil-sous-bois. o.J. Einleitung von Erläuterungen von Philippe Schuller, dem Generalsekretär der Gesellschaft

Ivan Lafarge,  Les murs à palisser « à la Montreuil. In:  e-Phaïstos, I-1 | 2012, 79-87 https://journals.openedition.org/ephaistos/288

https://www.lemonde.fr/blog/correcteurs/2018/03/09/8-impasse-gobetue-a-montreuil-sous-bois/

https://passagedutemps.wordpress.com/2021/06/21/les-murs-a-peches-de-montreuil/

Siehe auch den schönen Blog-Beitrag von Sonia Branca-Rosoff: https://passagedutemps.wordpress.com/2021/06/21/les-murs-a-peches-de-montreuil/

 Alexis Lepère und die Pfirsichmauern in Sanssouci

Besondere Bedeutung und Prominenz erlangten die Montreuil’schen Gärtner und Obstbaumzüchter Lepère, die man geradezu als Dynastie bezeichnen kann. Der 1799 geborene Alexis Lepère der Ältere trug erheblich zur Verbesserung des Pfirsichanbaus bei. Unter anderem entwickelte er eine neue Spalierform, die dann auch nach ihm benannt wurde.

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Schnitttechnik „à la Montreuil“ oder „Palmette de Lepère“

Durch seine außerordentlichen Erfolge erlangte Lepère internationale Bekanntheit und wurde unter anderem als der Kaiser der Pfirsichzucht bezeichnet.

Die ausgefeilten Spalierformen waren übrigens sicherlich auch ein Ergebnis der Einführung der Gartenschere. Die wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von einem französischen Edelmann erfunden. Allerdings dauerte es noch fast 50 Jahre, bis sie sich im Obst- und Weinbau durchsetzte. Im Ausstellungsraum des Jardin-école und im Gartenhaus von Patrick Fontaine sind Beispiele alter Gartenscheren zu sehen.

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Alexis Lepère war stets darum bemüht, sein Wissen an andere Gärtner weiter zu geben. So veröffentlichte er ein Buch über die Kultur des Pfirsichs, das zum  Standardwerk wurde:  „Pratique raisonnée de la taille du pecher, principalement en escalier carré“ Es erschien  in insgesamt sieben Auflagen  und  wurde auch ins Deutsche übersetzt. [8]

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Der Sohn, Alexis Lepère der Jüngere, führte die familiäre Tradition glanzvoll fort. 1876 etwa züchtete er eine  neue Pfirsichsorte, die er auf den Namen seines Vaters „Alexis Lepère“ taufte.

Und auch er verstand etwas von Marketing:

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Den Eingang seines Gartens zierte ein ganz außerordentlich gezogener Pfirsichbaum zu Ehren von Napoleon III. Und einen entsprechenden Baum für dessen Gemahlin Eugenie gab es auch.

Und er war es dann auch, der vom preußischen  Königs- und späteren Kaiserpaar Wilhelm I. und Augusta,  1862 nach Potsdam eingeladen wurde, um dort eine Obstkultur anzulegen. Wie kam es zu dieser Einladung des Gärtners von Montreuil durch das königliche Paar?

Dass der Ruhm des Pfirsichanbaus von Montreuil bis nach Deutschland reichte, ist schon angedeutet worden und hatte dort Interesse geweckt. So bei Gustav Adolf Fintelmann, dem späteren Hofgärtner der Pfaueninsel in Berlin: Der reiste in den 1820-er Jahren nach Montreuil, um die Kultur der Pfirsiche kennenzulernen. Er ließ sich 1826 bei einem allseits empfohlenen Pfirsichgärtner als „zahlenden Hülfsarbeiter“ anstellen, arbeitete unter seiner Leitung in verschienen Gärten und studierte auf diese Weise intensiv die dort praktizierten Anbaumethoden. (siehe Schurig, S. 64)- also gewissermaßen ein klassischer Fall von „Industriespionage“….

Ausgangspunkt für die Einladung von Alexis Lepère nach Deutschland war dann ein Besuch der mecklenburgischen Großgrundbesitzer Albert von Schlippenbach und seiner Schwester, die Gräfin von Hahn, Paris im Jahr 1863. Die Qualität der in den Hallen angebotenen Früchte fanden sie derart erstaunlich, dass sie sich nähere Informationen über den französischen Obstanbau beschafften. Sie besuchten dabei auch die Obstanlagen von Alexis Lepère dem Älteren  und gingen freudig auf das Angebot des Sohnes ein, im folgenden Frühjahr nach Mecklenburg zu reisen und dort Tafelobstkulturen mit Mauern anzulegen.[9] Lepère reiste nun in den folgenden Jahren mehrfach nach Norddeutschland und errichtete auf den Gütern der Schlippenbachs und der Hahns seine Obstanlagen. Die stolzen Gutsherren präsentierten ihr Früchte dann mehrfach auf Ausstellungen. 1857 nahm Alexis Lepère zusammen mit Albert von Schlippenbach an einer Versammlung deutscher Obstzüchter in Gotha teil, wo er Vorträge hielt und seine Schnittechniken präsentierte. Schlippenbach fungierte dabei als Übersetzer.

Aber Lepère strebte noch nach Höherem: Um sich als Gärtner zu empfehlen, ließ er ab 1859 der preußischen Königin Augusta jährlich durch den Minister Moritz August von Bethmann-Hollweg Pfirsiche, Äpfel und Birnen vorlegen- verbunden mit der Bitte, „dergleichen Früchte auch in den Königlichen Gärten von Sanssouci ziehen zu dürfen.“ Im Sommer 1852 war es dann so weit, dass er von dem preußischen Königspaar beauftragt wurde, einen Obstgarten nach dem Vorbild von Montreuil anzulegen, und zwar -quel honneur!-   im königlichen Weinberg von Sanssouci .[10]

Dieser Weinberg am Südhang des Klausberges geht zurück auf den aus dem Rheinland stammenden Kammerhusar Werley,  also einen Soldaten der preußischen Garde, der vor genau 250 Jahren die Gunst Friedrichs II. erlangte, indem er ihm versprach, dort „einen vorzüglichen Wein in der Art seiner Heimat“ anzubauen. Also ließ der König 1769 das Gelände terrassieren, und es wurden Talutmauern errichtet, um dort neben Aprikosen und den am Hof geschätzten exotischen Früchten auch erlesene Tafeltrauben zu kultivieren.

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Hier ein Stück der rekonstruierten Talutmauern: Es sind Mauern mit einem Glasvorbau, der den Anbau besonders empfindlicher und wärmebedürftiger Pflanzen ermöglichte.

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Feigen an der Talutmauer des königlichen Weinbergs

Für den Winzer wurde auch gleich ein exquisites kleines Wohnhaus im Stil einer chinesischen Pagode errichtet, das Drachenhaus: So bedeutsam war das Projekt damals für den alten Fritz und so in Ehren stand der rheinische Husar und Winzer.  Heute beherbergt das Drachenhaus  ein nettes Café und Restaurant.

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Zwei Drachen vom Drachenhaus

Oberhalb des Weinbergs ließ sich Friedrich II. ein Belvedere im italienischen Stil errichten, von dem aus er sich schönste Aussichten über sein gärtnerisches Lebenswerk versprach.[6]

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Hier nun legte Alexis Lepère einen Pfirsichgarten nach dem Vorbild von Monteuil an.

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Plan der Lepère’schen Anlage am Klausberg

Die Mauern wurden aus Backsteinen errichtet, also –entsprechend den Mauern von Montreuil-  mit einem ortsüblichen und wärmespeichernden Material. Die Bäume bezog Lepère bereits in Spalierform vorgezogen aus Frankreich. Direkt an die Mauern pflanzte Lepère die wärmebedürftigeren Pfirsich-, Birnen- und Kirschbäume, während die zwischen den Mauern entstandenen Räume mit Apfel- und Birnenbäumen an freistehenden niedrigen  Spalieren bepflanzt wurden. 1863, als die Anlage am Klausberg bepflanzt wurde, erhielt Lepère sogar zuätzlich vom Königspaar den Auftrag, auch im Park von Schloss Babelsberg Obstkulturen an Mauern anzulegen.[11]

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Auf diesem historischen Luftbild sind auf der rechten Seite die drei Lepère’schen Kammern mit den querstehenden Mauern zu sehen, links davon die gläsernen beheizten Gewächshäuser und darüber, unterhalb des Belvedere, die verglasten Talutmauern: Der Klausberg wurde deshalb auch im Volksmund der „gläserne Berg von Potsdam“ genannt.

Allerdings ereilte diese Anlagen ein ähnliches Schicksal wie die von Montreuil. Um die Jahrhundertwende galten die Anlagen als veraltet und unmodern und wurden eher als historische Relikte angesehen. Durch mangelnde Pflege verfielen die Mauern zunehmend, die Bäume starben ab und die Flächen wurden überwuchert. Ab etwa 1960 wurde das Arreal zwischen den Lepère’schen Mauern am Klausberg an Kleingärtner verpachtet.[12]

Die „Wende“ brachte die Bundesgartenschau Potsdam von 2001, für die die drei Lepère’schen Kammern von Sanssouci wiederhergestellt und die Rekultivierung des königlichen Weinbergs begonnen wurde.

Seit 2006 kümmert sich „Mosaik“, ein Verein für Menschen mit Behinderung,  mit großem Engagement um die Erhaltung, Nutzung und –soweit die personellen und finanziellen Mittel es zulassen- auch um eine Rehabilitierung der Anlage.[13]

An den Lepère’schen Mauern werden so wie ursprünglich auf der westlichen Seite (murs couchants)  Pfirsiche gezogen, geschützt vor eisigen Winden aus dem Osten,

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Auf der östlichen Seite (murs levants) gedeihen die weniger empfindlichen Birnen.

Und so wie ursprünglich- und wie in Montreuil- besteht die Mauerkrone aus einem kleinen Dach, das dem Schutz der Mauern und des Spalierobstes dient. Dazu gibt es auch noch vorspringende Haken, über die Bretter gelegt werden können, die die Bäume vor Hagelschlag schützen, und an denen Netze befestigt werden können, um Schäden durch Insekten oder Vogelfraß zu verhindern.

Innerhalb der Kammern sind jetzt Obstbäume gepflanzt, und zwar durchweg Obstsorten, die es schon vor 250 Jahren dort gab. Insofern können diese wiederhergestellten Anlagen „einen Beitrag zum Sortenerhalt alter Obstsorten leisten.“[14]

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Der für die Projektsteuerung Königlicher Weinberg zuständige Mitarbeiter von Mosaik, Andreas Kramp bemüht sich nach Kräften, zusammen mit seinen Mosaik-Schützlingen der Anlage wieder neues Leben einzuhauchen:

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Andreas Kramp in den Lepère’schen Kammern. Im Hintergrund das Drachenhaus

Inzwischen sind 3000 Weinstöcke gepflanzt, es gibt im ehemaligen Heizhaus Weinverkostungen und am zweiten Juliwochenende jeden Jahres ein Weinfest. Und an jedem Dienstag und Donnerstag kann man zwischen Mai und September die Anlage an der Potsdamer Maulbeerallee von 9 – 13 Uhr besuchen.

Eigentlich sollten schon zum Jubiläum 2019 750 Meter der Talutmauern renoviert sein, aber das liegt noch ebenso in der Ferne wie die Anlage eines Weinlehrpfads, so wie es in Andreas Kramps Zukunftsvision des königlichen Weinberg vorgesehen ist.

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Aber die Lepèreschen Kammern zeigen sich und ihre Produkte schon jetzt in bester Verfassung und Wein vom königlichen Weinberg gibt es auch schon…

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Montreuil- Sanssouci: Ein französischer Beitrag 

Auf der Grundlage dieses Blog-Beitrags hat die Association Murs à Pêches in Montreuil  (MAP)  im Dezember 2022 einen Artikel in französischer Sprache über die Pfirsichmauern von Sanssouci publiziert:

https://mursapeches.blog/2022/12/02/un-jardinier-de-map-decouvre-des-murs-a-peches-en-allemagne/

Es würde mich sehr freuen, wenn die Verbindung zwischen Montreuil und Sanssouci weiter mit Leben erfüllt würde!

Anmerkungen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Montreuil_(Seine-Saint-Denis)

[2] Siehe dazu auch den Beitrag über Saint-Sulpice und die Arbeiten des Bildhauers Pigalle, von dem zwei Statuen das Parterre von Sanssouci zieren.

[3] https://mursapeches.blog/qui-sommes-nous/lhistoire-des-murs/  Und entsprechend auch Roger Schabol, Discours sur le village de Montreuil von 1771. A.a.O.

[4] Siehe dazu den Blog-Beitrag über den potager du roi in Versailles: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/413

[5] Hypolitte Langlois, Le Livre de Montreuil-aux-Pêches: théorie et pratique de la culture de ses arbres avec la collaboration des principaux arboriculteurs. Paris 1875. Zit bei Auduc et al, S. 4

[6] Louis Aubin a.a.O., S.64/65

Über den Abbau von Gips im Umland von Paris siehe den Blog-Beitrag: Die Bergwerke und Steinbrüche von Paris. https://wordpress.com/post/paris-blog.org/5497)

[7] Siehe die Informationstafel der Stadt Montreuil zu den Pfirsichmauern am Eingang zum Impasse Gobétue

[8] www.potagers-de-france.com

[9] Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf den ausgesprochen fundierten Text über Lepère in Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexis_Lep%C3%A8re_der_J%C3%BCngere

[10]   Schurig, S. 69. Siehe auch den hervorragenden Artikel von Wikipedia. Dieser Quelle ist auch der Lageplan entnommen.  Allerdings wird dort nicht ganz korrekt angegeben, Lepère habe den Auftrag von Kaiser Wilhelm I. erhalten. Das stimmt natürlich nicht, denn der preußische König wurde erst 1871 –in Versailles- zum Kaiser ausgerufen.

[11] Im Park von Schloss Babelsberg gab es sogar sechs Lepère’sche Kammern, die allerdings noch nicht wieder  so instand gesetzt sind wie die von Sanssouci. Zu den weiteren Anlagen Lepères siehe Schurig, S. 70ff

[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Alexis_Lep%C3%A8re_der_J%C3%BCngere

[13] S.  https://www.mosaik-berlin.de/

Siehe auch die Presse-Information 025-15 zur  Kooperationsvereinbarung der Stifung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) und Mosaik-Werkstätten für Behinderte vom 25.3.2015.

[14] Presseinformation 145-14 der Stiftung preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg mit dem Verein Förderer der königlichen Hofgärtnerei vom 17.9.2014

Literatur:

Arlette Auduc et al, Montreuil, Patrimoine Horticole. Hrsg. vom Service patrimoines et Inventaire der Région Île-de-France. Paris 2016

Discours sur Montreuil. Histoire des murs à pêches. Roger Schabol und Louis Aubin. Hrsg der Société régionale d’horticulture de Montreuil-sous-bois. o.J. Einleitung und Erläuterungen von Philippe Schuller, dem Generalsekretär der Gesellschaft

Gerd Schurig, Die Entwicklung der Nutzgärtnerei am Klausberg. Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg Band 6 2004  https://perspectivia.net/receive/ploneimport_mods_00010534 )

https://www.lemonde.fr/blog/correcteurs/2018/03/09/8-impasse-gobetue-a-montreuil-sous-bois/

Geplante Beiträge

  • Die Petite Ceinture, die ehemalige Ringbahn um Paris (1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen 
  • Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“ der ehemaligen Ringbahntrasse
  • Aux Belles Poules. Ein ehemaliges Bordell im Quartier Saint Denis
  • Erinnerungsorte von Camille Claudel: Villeneuve-sur-Fère, Nogent-sur-Seine,  Paris, Château de l’Islette, Montdevergues bei Avignon

Le chocolat Menier (1) Die Schokoladenfabrik in Noisiel an der Marne: repräsentative Fabrikarchitektur und patriarchalischer Kapitalismus im 19. Jahrhundert

Im Jahr 1825 verlegte Jean- Antoine Brutus Menier,  der Ahnherr der Menier-Dynastie, einen Teil seiner kleinen pharmazeutischen Fabrik aus dem Pariser Marais in die  Landgemeinde  Noisiel an der Marne.  Dort gab die es eine kleine Mühle, die dazu diente,   Arzeneien in Pulverform anbieten zu können. Auch Schokolade wurde dort produziert, die man für die Herstellung von Arzeneien verwendete: Das Fett des Kakaos für Zäpfchen, die Schokolade, um das Schlucken bitterer Pillen zu erleichtern.

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Bronzerelief vom Standbild des Émile-Justin Menier in Noisiel

Menier ersetzte damit den tierischen Antrieb seiner kleinen Mühle im Marais durch die Hydraulik, womit er seine Produktion erheblich ausweiten konnte.

Allmählich spezialisierten sich die Meniers ganz auf die Verarbeitung von Kakao und die Herstellung von Schokolade. Die war damals ein Luxusartikel: Sie wurde in Form von Broten produziert und dann in geriebener Form zur Herstellung von Trinkschokolade verwendet. 1836 erfanden die Meniers eine neue Form der Schokolade: die Tafel. Damit konnte die Schokolade auch direkt gegessen werden. Sie wurde nun in kleineren handlichen  Stücken,  in immer größeren Mengen und preisgünstiger hergestellt, so dass die Schokolade allmählich zu einem auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglichen Konsumartikel wurde. Die Chocolaterie von Noisiel hat zu diesem Demokratisierungsprozess der Schokolade wesentlich beigetragen: Was bisher für die „grand monde“ reserviert war, gelangte nun  „à la portée du plus grand nombre“.[1]  

1879 importierte die Firma alleine so viel Kakao wie ganz Großbritanien.[2] 1900 beherrschte sie 50% des gesamten Weltmarkts. Vor dem ersten Weltkrieg war Noisiel die größte Schokoladenfabrik der Welt mit eigenen Kakaoplantagen, die die Meniers  -auf den zunächst dort geplanten Kanalbau spekulierend- in Nicaragua anlegten, dem zwischen dem Nicaragua-See und dem Ozean gelegenen „Valle Menier“ [3]

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Zeitgenössisches Werbeplakat (ausgestellt in der Chocolaterie

„Die größte Fabrik der Welt  Produktion: 55.000 Kilo täglich“

Auf der Abbildung zu erkennen ist die Anordnung der Fabrikanlagen entlang der Marne: Von der Anlieferung der Rohstoffe bis zur Auslieferung der Fertigwaren war so der Produktionsprozess effizient organisiert.  Auffällig ist vor allem  die neue, die Marne überspannende große Mühle. Diese hydraulische Kakaomühle wurde 1872 von dem „Chefarchitekten“ der Meniers, Jules Saulnier, gebaut: Innen nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet und außen reich verziert, handelt es sich um  „un des monunments les plus célèbres du patrimoine industriel français, eines der berühmtesten Bauwerke der französischen Industriearchitektur.[4]

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Dies auch deshalb,  weil es das erste französische Bauwerk ist, dessen tragende Teile allein aus Metall bestehen. Dieses metallische „Fachwerk“ ist von außen sichtbar und wird als künstlerisches Element der Gestaltung genutzt. Besonders der Eingang zur Mühle war reich verziert mit verschiedenfarbigen Ziegelsteinen, aber auch mit Terrakotta-Tellern, auf denen unter anderem –wie an vielen anderen Stellen der Fabrik- Kakaobohnen und eine Kakao-Blüte abgebildet sind.

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Auf einer Terrakotta – Tafel sind die wesentlichen Etappen der Geschichte des Ortes verzeichnet: Die erste urkundliche Erwähnung der Mühle im Jahr 1157,  die Gründung der Fabrik im Jahr 1825, ihr Ausbau in den Jahren 1864 bis 1866 durch E.J. Menier und der Bau der neuen Mühle durch den Architekten Jules Saulnier.

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Über dem Eingang der Mühle befindet sich der reich verzierte  Uhr- und  Glockenturm – hier ist es nicht der Gottesdienst, sondern die Arbeit, die ruft. Und das obligatorische M darf natürlich auch nicht fehlen.

Im Zuge der ständigen Ausweitung der Produktion kamen dann noch andere außergewöhnliche Bauten hinzu: So eine im neogotischen Stil errichtete Kühlanlage, die auf Grund der hervorragenden Gestaltung der Eisenelemente Gustav Eiffel zugeschrieben wird- was allerdings nicht bewiesen ist. Jedenfalls wird sie „Halle Eiffel“ genannt und das verwundert auch nicht.

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Gebaut wurde sie zu Beginn der 1880-er Jahre von einem weiteren bedeutenden und für Menier arbeitenden Architekten, Jules Logre. In der Kühlanlage standen die Maschinen, die nach einem neuen Verfahren Kälte produzierten. Die wurde benötigt, um die Schokoladentafeln aus ihren Formen zu lösen, so dass sie dann in einem weiteren Arbeitsschritt eingepackt werden konnten.

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       Ein neogotisches Fenster der „Halle Eiffel“ – natürlich mit dem obligatorischen M        

Insgesamt hat die Architektur dieser Fabrik einen aristokratischen, ja geradezu sakralen Charakter, wie auch die nachfolgend abgebildete und  nicht zufällig „Kathedrale“ genannte Fabrikhalle – zeigt.

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Sie wurde 1906 von Stephen Sauvestre, einem Mitarbeiter Gustave Eiffels, errichtet. In dieser Halle wurden Kakao und Zucker gemischt, die mit der Eisenbahn angeliefert wurden – die Schienen der Wagons führten quer durch die Halle.

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Und sie ist nicht nur aus ästhetischen Gründen bedeutsam, handelt es sich doch um einen der ersten Bauten aus Stahlbeton in Frankreich.

In der Architektur der Fabrik spiegelt sich ihr rasanter Aufstieg von bescheidenen Anfängen bis zum Weltmarktführer – noch vor heute so bekannten Marken wie Lindt, Suchard oder van Houten. Für den Erfolg gab es viele Gründe: das frühzeitige Erkennen des Potentials, das die Schokolade als für breite Kreise erschwinglicher Konsumartikel hat, die Erfindung der Schokoladentafel und später der  kleinen dunklen  Schokoladenstücke[5], die man zwischen Brotscheiben legte – Ursprung  des in Frankreich so beliebten  „pain au chocolat“ ;  dazu  kamen die rationalisierte Produktion, die Sicherung einer eigenen Rohstoffbasis, die Bindung der Belegschaft an die Fabrik und die Eigentümerfamilie und –nicht zuletzt- ein systematisch betriebenes und damals revolutionäres Marketing  mit der Marke „Menier“.  Dabei ging es vor allem darum, die Marke bekannt zu machen und sie durch Qualitätsgarantieen von den Produkten anderer Produzenten abzugrenzen. Als Brutus Menier in Noisiel die Schokoladenproduktion aufbaute,  gab es nämlich noch keine verbindlichen Qualitätsstandards,  und es wurden oft dubiose Zutaten verwendet. Das war offenbar damals eher die Regel als  die Ausnahme. Als Ausweis der Qualität dienten die Medaillen, die bei wichtigen Ausstellungen verliehen wurden und von denen die Meniers zwischen 1832 und 1844 eine Vielzahl einsammelten. Die wurden dann auch entsprechend vermarktet.[6]

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Dazu kam, dass Menier einer der ersten war, der mit Hilfe von Zeitungsanzeigen  für seine Marke systematisch Werbung betrieb, was  eher außergewöhnlich war und  deshalb auch entsprechend Aufmerksamkeit erregte. Und die Farbe Gelb und das von Firmin Bouisset kreierte Mädchen mit den Zöpfen verliehen der Werbung  einen hohen Wiedererkennungswert.[7]

                          Poster von Firmin Bouisset aus dem Jahr 1893                    

Wie erfolgreich die Markenpflege der Meniers war, zeigt der berühmte Spruch „évitez les contrefaçons“,  eine Reaktion auf die zahlreichen Fälschungen der Marke, die es damals gab.[8]

Durch den ersten Weltkrieg und spätestens nach dem zweiten Weltkrieg ging es aber mit der Schokoladenproduktion ständig bergab. Während die Produktion in Frankreich besonders eingeschränkt war, nahm sie in der Schweiz und in den USA  erheblich zu. Menier verlor seine führende Weltmarktstellung, die Innovationsfähigkeit ließ nach und das patriarchalische Idealbild verblasste. Es bildeten sich Gewerkschaften, was den ältesten Sohn von Émile, Henri, derart erboste, dass er die Vergabe von werkseigenen Wohnungen an Gewerkschaftsmitglieder ausschloss.[9]

1959 verkaufte die  Familie Menier die Fabrik und gönnte sich mit dem Erlös das Schloss Chenonceaux – hinter Versailles das am meisten besuchte Schloss Frankreichs – und gewissermaßen das architektonische Vorbild für die Saulnier-Mühle in Noisiel.

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Nach mehreren Besitzerwechseln erwarb Nestlé das Fabrikgelände, in dem aber seit 1993 nichts mehr produziert wurde. Stattdessen eröffnete die Firma dort 1996 den Sitz seiner Frankreich-Niederlassung. In der „Kathedrale“ hat sich die Chefetage eingerichtet und da,  wo früher Kakaosäcke gestapelt wurden, sind jetzt Büros eingerichtet.[10]

Eine Produktionshalle…

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…. früher und heute…

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Die Umwandlung des Fabrikgeländes in einen Verwaltungssitz wurde äußerst behutsam vorgenommen. Alle Veränderungen haben die alte Bausubstanz nicht beeinträchtigt, sie könnten auch ohne Probleme wieder entfernt werden. Und Nestlé France schmückt sich so mit einem „site magique“ (Laborde), einem Juwel der Industrie-Architektur des 19. Jahrhunderts.[11]

Die Marke Menier ist damit aber nicht ganz verschwunden, denn sie ist in Frankreich immer noch populär. Das nutzt Nestle und verwendet weiter das Markenzeichen von Menier mit der  entsprechenden klassischen Werbung. Immerhin habe, so die Nestle-Werbung, die  1846 kreierte Marke Menier Generationen von Feinschmeckern verwöhnt. So könne man mit Schokolade von Menier auch heute noch einen Geschmack früherer Zeiten genießen.[12] 

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Die Arbeitersiedlung -cité ouvrière- der Firma Menier in Noisiel

Der Bindung von Arbeitskräften an die Firma diente die cité ouvrière oder Cité Menier, deren Besuch sich gut mit einer Besichtigung der Schokoladenfabrik kombinieren lässt. Die Siedlung  geht zurück auf Émile – Justin Menier, der 1853 die Firma von seinem Vater übernommen hatte. Damals arbeiteten in Noisiel 23 Arbeiter, 1867 waren es schon 325. In diesem Jahr gab Émile-Justin  die pharmazeutische Produktion auf und beschränkte sich allein auf die Produktion von Schokolade, die weiter ausgebaut wurde.  Damit wuchs der Bedarf an Arbeitskräften  erheblich an, die es zu gewinnen und an die Firma zu binden galt. Émile-Justin setzte dafür seine politische und wirtschaftliche Stellung systematisch ein: 1871 wurde er zum Bürgermeister von Noisiel gewählt und kaufte nach und nach das gesamte Terrain der Kommune auf. Seinen Sohn Gaston und seinen Ingenieur und Architekten Jules Logre schickte er nach England, um dortige Projekte von Arbeitersiedlungen zu studieren- unter anderem die Siedlung Saltaire des Textilfabrikanten Sir Titus Salt in der Nähe der mittelenglischen Stadt Bradford. Ziel war es, in Noisiel das französische Modell einer cité ouvrière zu errichten.[13] 1874 begannen die Arbeiten auf einem Gelände von 30 Hektar, abseits der bisherigen Siedlung Noisiel, die allmählich der immer mehr Platz beanspruchenden Fabrik zum Opfer fiel. Die neue Siedlung bestand – und besteht bis heue noch- aus drei  parallel verlaufenden  Straßen von 600 Metern Länge, die natürlich alle nach Mitgliedern der Menier-Familie benannt sind: Rue Henri Menier, Rue Claire Menier, Rue Albert Menier. Und es gibt  einen großen zentralen Platz, la place Emile Menier, um den sich die  öffentlichen Gebäude gruppierten.

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(Am Rand der Arbeitersiedlung gibt es noch einen Platz Gaston Menier, einen square Georges Menier und einen square Jacques Menier). Und überhaupt begegnete man dem Namen der Fabrikherren auf Schritt und Tritt.[14].

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Das erste in der cité ouvrière errichtete Gebäude war die Schule für Mädchen und Jungen ab 5 Jahren (heute das Rathaus).[15] 

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Damit wurde die Bedeutung der Bildung  betont – und dies noch fünf Jahre, bevor durch die lois Ferry (1881/82) die école primaire in Frankreich für alle Kinder verpflichtend eingeführt wurde. Und natürlich darf auch hier der deutliche Hinweis auf den wohltätigen Fabrikherrn nicht fehlen…. [16]

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass es in der cité ouvrière zwar auch eine -natürlich von Menier finanzierte- Kirche gab, die aber nicht am zentralen Platz, sondern am Rand der Arbeitersiedlung errichtet wurde. Die Schule sollte ganz im Sinne der republikanischen Ideologie der 3. Republik im Mittelpunkt stehen. Sie war auch bestens ausgestattet mit einer beheizten Pausenhalle, einem offenen Schulhof und ergonometrischen Stühlen. Der Schulbesuch war verpflichtend und kostenlos. Ebenso die Besuche in der Arztpraxis, die sich immer noch am gleichen Ort befindet.

Am gleichen Ort geblieben sind auch  die Post, die Bäckerei und der tabac- Laden.[17] Zu den öffentlichen Gebäuden gehörten auch eine Wäscherei, die Feuerwehr und ein in einem Park etwas am Rand der cité ouvrière gelegenes Altersheim (heute das Maison départementale des solidarités de Noisiel). Nicht nur für die Kleinen war also gesorgt, sondern auch für die Alten. Und für die alleinstehenden oder die in Nachbargemeinden wohnenden Arbeiter gab es ein Refektorium, also eine Kantine.  (18)

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Dass dieser den Speisesaal von Mönchen bezeichnende Begriff hier übernommen wurde, finde ich ausgesprochen passend. Denn so wie die Mönche ihr Leben in den Dienst Gottes stellten, so sollten auch die Arbeiter von Menier ihr Leben in den Dienst der Fabrik und ihrer Besitzer stellen.  Belohnt wurden sie dafür immerhin schon im Diesseits durch eine vergleichsweise gute Bezahlung und durch soziale Leistungen, wie sie es sonst noch nicht gab.

Das alte Rathaus befand sich nicht am erst später errichteten zentralen Platz, sondern in der Nähe der Schokoladenfabrik. Der Neubau von 1893 entsprach der zunehmenden Bedeutung der Stadt und dem Repräsentationsbedürfnis der Meniers, die von 1871 bis 1959 durchgängig den Bürgermeister stellten!

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Im Empfangssaal des alten Rathauses wird man von einer Büste des Fabrikherrn Émile Justin begrüßt. Es handelt sich um die Bronzekopie einer Marmorbüste, die das dankbare Personal der Schokoladenfabrik 1878 ihrem Chef überreichte, als dieser zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde.[19]

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Und auch wenn man nach oben an die Decke blickte, war klar, dass man sich im Reich der Meniers befand.[20]

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Detail der Deckenbemalung

Die Siedlungshäuser sind aus Backstein gebaut und bestanden aus zwei unabhängigen Wohnungen von 64 m² mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einer Küche. Die Toiletten waren in einem angebauten Schuppen untergebracht. Zu jedem Siedlungshaus gehörte ein kleiner Obst- und Gemüsegarten von 300 qm².

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Die Häuser waren entlang den Straßen versetzt angeordnet, um die Luftzirkulation zu verbessern. Fließendes Wasser gab es zwar nicht in den Häusern, aber alle 45 Meter war in den Straßen ein Brunnen installiert. Die Eckhäuser waren größer und besser ausgestattet – unter anderem mit einer Innentoilette- und für die leitenden Angestellten und Ingenieure bestimmt.

Alle Häuser wurden ausschließlich an Betriebsangehörige vermietet. Wer die Fabrik verließ, musste auch seine Wohnung räumen. Die Miete entsprach dem Verdienst von zwei bis sechs Arbeitstagen. Insgesamt wurden bis zum Ersten Weltkrieg 311 Wohnungen errichtet.[21]

Mittelpunkt des zentralen Platzes und damit Mittelpunkt der gesamten cité ouvrière ist das Denkmal für Émile Justin Menier. Seine  Büste aus Marmor (mit stolzer Herrscherpose) steht auf einem Piedestal –sicherlich nicht zufällig aus einem Stein der Vogesen gefertigt!-  und wird gestützt von den Allegorien der Industrie und der Wissenschaft.

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Am Fuß des Sockels sind vier Bronzereliefs angebracht, die die Entwicklung der Fabrik von kleinen Anfängen mit der (schon oben abgebildeten) alten Mühle von Noisiel  bis zur großartigen Gegenwart veranschaulichen.

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Eingeweiht wurde das Denkmal am 8. Oktober 1898, genau 20 Jahre nach der Ernennung des Émile Justin Menier zum Ritter der Ehrenlegion  mit einem gewaltigen Festakt. Eingeladen waren nicht weniger als 2300 Ehrengäste, für die ein großes Bankett und zum Abschluss ein Feuerwerk über der Marne veranstaltet wurden. Und während in Pariser Fabriken gestreikt und die Polizei mobilisiert wurde, durfte die Belegschaft der Chocolaterie den passenden Rahmen für den Festakt bilden und dem Fabrikherren ihre Huldigungen darbieten: „Nous travaillons pour vous, vous travaillez pour nous. Merci!“ (Aus der Zeitung le Gaulois vom 9.10.1898[22])

Über die Villen der Familie Menier im 8. Arrondissement von Paris,  das Grab des Émile Justin Menier  und die Grundlagen seines patriarchalisches Engagements wird es  im nachfolgenden zweiten Teil des Beitrags über die Chocolaterie Menier gehen:

https://paris-blog.org/2019/06/01/le-chocolat-menier-2-die-villen-der-familie-im-8-arrondissement-von-paris-und-das-grabmal-auf-dem-pere-lachaise/

Besichtigungen der Firma und der cité ouvrière werden von der Stadt Noisiel angeboten:

http://www.ville-noisiel.fr/Visites-de-Noisiel

Réservation / information  :
Service patrimoine et tourisme
23, rue Albert-Menier
Tél. 01 60 37 73 99
E-mail : patrimoine@mairie-noisiel.fr

Zu erreichen mit dem RER Station Noisiel, und von dort aus eine gute halbe Stunde zu Fuß

Oder noch besser mit dem Fahrrad auf dem Marne-Radweg.

Anmerkungen:

[1] Marrey, un capitalisme idéal, S. 24

[2] http://www.leparisien.fr/seine-et-marne-77/sur-les-pas-du-chocolatier-menier-a-noisiel-77-28-10-2016-6263475.php

[3]  https://exploreparis.com/fr/199-visite-de-l-ancienne-chocolaterie-menier.html  siehe auch: https://www.elnuevodiario.com.ni/economia/397804-cacao-valle-menier/   Übrigens ist inzwischen die Firma Ritter Sport in die Fußstapfen der Meniers getreten und hat eine eigene Kakaoplantage in Nicaragua eingerichtet. Wenn es also in einer Reportage darüber heißt, es handele sich um etwas, „was bisher kein anderer Schokoladenproduzent in vergleichbarer Größenordnung gewagt hat,“ so trifft das nicht zu. https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.plantage-in-nicaragua-wo-der-kakao-fuer-ritter-sport-herkommt.3ca0313f-2d4f-4adb-8f4f-5e804824dc96.html

[4] http://doczz.fr/doc/73207/6—formes

Umso merkwürdiger -und bedauerlicher- ist es, dass Jean- Paul Kauffmann in seinem schönen Buch „Remonter la Marne“ (Fayard 2013) die Schokoladenfabrik von Noisiel nicht berücksichtigt hat.

[5]https://en.wikipedia.org/wiki/Menier_Chocolate

[6] Marrey, un capitalisme idéal, S. 24/25

Bild aus: http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/contrefacon%20Menier.htm

[7] Bilder aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Menier_Chocolate  und https://www.pinterest.ca/pin/395402042268559892/

[8] http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/contrefacon%20Menier.htm

[9] http://www.leparisien.fr/seine-et-marne-77/sur-les-pas-du-chocolatier-menier-a-noisiel-77-28-10-2016-6263475.php

[10] Bild der früheren Produktionshalle aus der Fotoausstellung der Fabrik

[11] „un des fleurons de notre patrimoine industriel“ (Détours)

[12] https://www.cdiscount.com/au-quotidien/alimentaire/nestle-meunier-chocolat-patissier-200g/f-1270103-menier261435.html

[13] La cité ouvrière Menier. Un lieu, une histoire. (2018) http://www.agglo-pvm.fr/cite-ouvriere-menier/

[14] Bild aus: http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/cotation3.htm

[15] Bild aus: https://fr.m.wikipedia.org

[16] http://jacques.vouillot.free.fr/visite/mairie.htm

[17] http://www.leparisien.fr/seine-et-marne-77/sur-les-pas-du-chocolatier-menier-a-noisiel-77-28-10-2016-6263475.php

(18) Bild aus: https://monumentum.fr/anciens-refectoires-pa00087174.html

[19]  http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/cotation3.htm

[20] Bild aus: https://www.flickr.com/photos/51366740@N07/15000104038/

[21] http://www.agglo-pvm.fr/cite-ouvriere-menier/

[22]  „Wir arbeiten für Sie, Sie arbeiten für uns. Danke.“  Zit. in: http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/monument%20menier.htm

Zum Weiterlesen:

Usine Menier, l’empire du chocolat. Aus:   Détours en France,  40 lieux à visiter pour redécouvrir le patrimoine, 2012

https://www.detoursenfrance.fr/patrimoine/patrimoine-industriel/usine-menier-lempire-du-chocolat-3794  

Nicolas Delalande, Émile-Justin Menier, un chocolatier en République.  Les controverses sur la légitimité de la compétence politique d’un industriel dans la France des années 1870  In:  Politix 2008/4 (n° 84), Seiten  9 bis  33   https://www.cairn.info/revue-politix-2008-4-page-9.htm#

Saga Menier  http://www.prodimarques.com/sagas_marques/menier/menier.php

Bernard Marrey, Un capitalisme idéal. Paris 1984. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k33218888/f30.image.texteImage

Weitere geplante Beiträge:

  • Le chocolat Menier (2): Die Villen der Meniers in Paris und das Familiengrab auf dem Père Lachaise 
  • Die Petite Ceinture, die ehemalige Ringbahn um Paris (1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen 
  • Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“
  • „Les enfants de Paris“: Pariser Erinnerungstafeln/plaques commémoratives zur Zeit 1939-1945
  • La Butte aux Cailles, ein kleinstädtisches Idyll in Paris

Die Fontänen von Versailles (2): Ausdruck absolutistischen Größenwahns

Im ersten Teil des Beitrags über die Fontänen  und Brunnen des Parks von Versailles wurde ihre Funktion als Machtdemonstration und Instrument der Einschüchterung erläutert: Sie sollten durch ihre Menge und Größe und durch ihr bildhauerisches Programm die Macht des Sonnenkönigs veranschaulichen:

Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Vorhabens waren allerdings ganz erheblich, denn die Lage des Schlosses und des Parks hätten kaum ungünstiger sein können. Das Gelände war sumpfig und  es gab (und gibt) in der Region keine natürlichen Wasserläufe, die man für die Versorgung mit Wasser hätte nutzen können[1] . Die Seine lag mehrere Kilometer entfernt und dazu auch noch 142 tiefer als das Schloss.[2]  Es gab in der Nähe lediglich den kleinen étang de Clagny, der von einigen Bächlein gespeist wurde. Mit Wasser versorgt werden mussten aber  nicht nur die am Ende der Herrschaft Ludwigs XIV.  1400 Fontänen im Park, sondern auch das riesige Schloss mit seinem Hofstaat,  die weitläufigen Parkanlagen, die Stadt,  die Kasernen mit Soldaten und etwa 2000 Pferden und nicht zuletzt der  Obst- und Gemüsegarten Ludwigs XIV.[3] Allein bei dieser groben Übersicht kann man ahnen, wie  immens der  Bedarf an Wasser für Versailles war, spätestens  1682,  als der Hof offiziell dorthin verlegt wurde. Und es ging dabei ja nicht nur um die  Menge, sondern auch um die Qualität, die für den menschlichen und tierischen Gebrauch gesichert  sein musste, um Seuchen zu verhindern.

Warum also unter diesen völlig ungeeigneten Voraussetzungen gerade Versailles?  Eine Antwort darauf kann wohl die Entwicklung des Ortes geben: Das erste Schloss von Versailles wurde  vom Vater des Sonnenkönigs 1623 gebaut und 1631 erweitert. Der Sohn fand dann auch Gefallen daran, denn dort war er abseits von Paris, aber doch auch wieder nahe an der Hauptstadt, es gab in Versailles  ein ausgiebiges Jagdrevier und das Schloss bot eine Rückzugsmöglichkeit – zum Beispiel für seine Beziehung mit Mlle de Valière, für die er die Thetis-Grotte  bauen ließ. 1660 nahm dann der junge König selbst das Heft in die Hand und das hufeisenförmige Zentrum des neuen  Schlosses entstand, das bis heute den cour d’honneur umschließt.

Einen neuen, entscheidenden Impuls erhielt der Schlossbau von Versailles am 17. August 1661.  An diesem Tag war Ludwig XIV. in Vaux-le-Vicomte,  im Schloss seines Finanzministers Fouquet, zu Gast. Die Beziehung des jungen Königs zu Fouquet war damals angespannt, und da sollten der König und sein Hofstaat  ehrenvoll empfangen und ein barockes Fest mit allen Schikanen präsentiert werden. [4] Verantwortlich dafür waren der Haushofmeister François Vatel[5]  und der Maler Charles Le Brun.[6] Molière schrieb extra für dieses Fest ein Stück, das er mit seiner Truppe aufführte, es gab ein musikalisch umrahmtes Bankett,  ein grandioses Feuerwerk und natürlich auch eine Gartenbesichtigung für den als Gartenfreund bekannten König. Und immerhin hatte Le Nôtre hier seine erste im französischen Stil gehaltene Gartenanlage geplant, zu der auch grandiose Fontänen gehörten.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Ludwig XIV. erblasste  gewissermaßen vor Neid. Dass sein Minister es wagte, ihn und sein Versailles in den Schatten zu stellen, konnte er nicht dulden. Fouquet wurde entmachtet und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens als Gefangener, aber Ludwig übernahm dessen hochkarätiges Personal. Also auch Le Nôtre, der ihm jetzt einen Park mit Wasserspielen bauen sollte, wie es sie noch nie und nirgends gegeben hatte. Der 17. August ist damit nicht, wie man manchmal lesen kann, „der Beginn von Versailles“[7], aber eine entscheidende Wende.

Hätte es damals einen Rechnungshof, also eine strenge  Kontrolle der königlichen Finanzen gegeben, wäre vielleicht ein geeigneterer Ort für das königliche „Versailles“ gesucht und  gefunden worden.  Denn –und das war absehbar:  die Kosten für die hydraulischen Arbeiten waren astronomisch. Von den Gesamtkosten für den Schlossbau entfielen schätzungsweise 57%  allein auf die Wasserversorgung und –nicht zu vergessen: die Wasserentsorgung- die Kosten für die wunderbaren Brunnenanlagen sind darin gar nicht einbezogen. [8] Aber Ludwig XIV. wäre nicht der Sonnenkönig gewesen, wenn ihn das beeindruckt hätte- ganz im Gegenteil.  Denn sein größtes Vergnügen war es, wie Saint-Simon kritisch bemerkte, die Natur zu beherrschen. („de forcer la nature“). Und die Souveränität des Herrschers war nach damaliger Auffassung ebenso wenig teilbar „wie der Punkt in der Geometrie“ („La souveraineté n’est non plus divisible que le point en géométrie“, wie es Cardin Le Bret formulierte)- eine Auffassung, die ja auch heute noch – in Zeiten der Globalisierung und des Vereinten Europas-  in Frankreich (und anderswo) sehr verbreitet ist.

Dass die Versailler Wasserproblematik nicht nur viel Geld, sondern auch Menschenleben kostete, kümmerte Ludwig XIV. wenig, auch wenn ihm das nicht entgehen konnte.  Man erzählte, dass eines Tages eine Frau zu ihm gekommen sei, außer sich,  weil ihr Sohn tags zuvor beim Bau des Großen Kanals,  „ce canal putassier“,  ums Leben gekommen sei. Die Antwort des Sonnenkönigs: Er ließ die Frau mit Stockschlägen traktieren.  Und Opfer gab es viele.   Madame de Sévigné schrieb 1678 in einem Brief, die Sterblichkeit der Arbeiter beim Bau des Großen Kanals sei außerordentlich hoch. Jede Nacht würden Wagen voller Leichen beladen und weggefahren.  Geschätzt wird, dass etwa 10 000 Menschen allein bei den Bauten für die Alimentierung der Fontänen ums Leben gekommen sind.[9]

Aller finanziellen  und menschlichen  Opfer zum Trotz war und blieb die Wasserversorgung von  Versailles eine Herkules-Aufgabe und ein Dauerproblem, an dem der Herrschaftswille des absoluten Königs scheiterte.  Die Natur zeigte ihm hier seine Grenzen auf. Wenn der König  durch den Park spazierte und sich an den sprudelnden Brunnen und emporsteigenden Fontänen erfreuen wollte, wurde er von Brunnenmeistern begleitet, die die Anlagen vor ihm an- und hinter ihm wieder ausstellten. Zu mehr reichte das Wasser nicht.  Und dabei war doch der Anspruch gewesen, dass die Fontänen „ni jour ni nuit“ (weder Tag noch Nacht) schweigen  sollten.[10]  Wenn wir heute dank eines elektrisch betriebenen Pumpsystems  die Grands Eaux in Versailles bewundern:  Ludwig XIV. jedenfalls hat sie so nie erleben können….   Und die  Neptun-Fontaine, die größte im Schlosspark von Versailles, die zum krönenden Abschluss der Grands Eaux  in den Himmel steigt,  kann bei weitem nicht mithalten mit der in  Kassel, dem nordhessischen Versailles. Die war nämlich aufgrund der günstigen natürlichen Voraussetzungen fast doppelt so hoch, nämlich 52 Meter – während die höchste Fontäne im Reich des Sonnenkönigs  gar nicht in Versailles war, sondern in seinem Schloss in Marly, die aber auch „nur“ 40 Meter erreichte.  Eine Demütigung, die mitzuerleben Ludwig XIV. allerdings erspart blieb…

Trotz alledem:  Es ist faszinierend zu erfahren, welcher Erfindungsgeist, welche   Handwerkskunst und welche gewaltigen Anstrengungen damals am Werke waren, um Versailles und die Fontänen des Parks  mit Wasser zu versorgen.  Bezüge zu Herkules und den Pharaonen findet man in entsprechenden Publikationen immer wieder, und sie  sind  wohl auch kaum übertrieben.  Die Wasserversorgung von Versailles ist das größte Projekt, das im Frankreich des ancien régime je unternommen wurde. Insgesamt wurde ein etwa 200 Kilometer langes System von Gräben, unter- und oberirdischen Aquädukten, Dükern (Siphonen) und  Rohrleitungen aus Eisen und Blei  errichtet.

Wenn man heute die Grandes Eaux bewundert, sieht man davon nichts.- so wie man auch zu Zeiten Ludwigs XIV. nichts davon gesehen hat und auch nicht sehen sollte.  Aber natürlich gibt es genaue, beeindruckende  Pläne des Leitungssystems aus Eisen und Blei wie die von 1718, die 2017 auf einer Garten-Ausstellung im Grand Palais ausgestellt wurden.

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Hier das Leitungssystem unter dem Latone-Brunnen und dem entsprechenden Parterre. Es vermittelt den Eindruck eines höchst komplizierten, ausgeklügelten Systems – ganz im Gegensatz zu der spielerischen Leichtigkeit der Fontänen, die damit alimentiert werden.

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Der nachfolgende  Ausschnitt zeigt das  Leitungssystem, das das Parterre du Nord mit der Allée d’eau und den daneben gelegenen bosquets, das Bassin de Dragon  und den Neptun-Brunnen auf der Nordseite des Schlosses mit Wasser versorgte.

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Dieses Leitungssystem ist heute immer noch in Betrieb,  und die Brunnen werden wie zu Zeiten Ludwigs XIV. per Hand in Gang gesetzt.[11]

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Gespeist wurde es  aus den noch existierenden Reservoirs in der heutigen – und danach benannten- rue des reservoirs.

Hier ein Blick aus der Schlossoper von Versailles auf die beiden großen Reservoirs.

Sie hatten ein Fassungsvermögen von 5000 m³. Um wenigstens einigermaßen den großen Wasserbedarf für die unter Ludwig XIV. immer aufwändigeren Grandes Eaux sicherzustellen, benötigte man zahlreiche weitere Reservoirs. So wurden zum Beispiel 1671 unter dem heutigen Parterre d’eau, also der obersten Gartenterrasse (oberhalb des Latone-Brunnens) große Zisternen mit einem Fassungsvermögen von 3400m³ angelegt, von denen zwei noch heute in Betrieb sind, die aber leider nicht besichtigt werden können.[12]

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Wenn man aber bedenkt, dass allein für einen weniger als dreistündigen  Betrieb der Fontänen  9500 m³ Wasser benötigt wurden, kann man erahnen, wie  groß die hydraulischen Herausforderungen waren.  Und mit der Bereitstellung von genügend großen Reservoiren war es  nicht getan. Sie mussten ja auch gefüllt werden. Das unterhalb des Schlosses vorhandene Wasser, zum Beispiel aus dem nahe gelegenen étang de Clagny, musste also hochgepumpt werden- und das in einer Zeit, in der es noch keine Dampfmaschinen gab. Also bedurfte es eines Systems von Windmühlen und mit Pferdekraft angetriebenen Pumpen, die für die Nachfüllung der Reservoirs sorgten. Das benötigte natürlich viel Zeit und konterkarierte den Traum Ludwigs XIV., die Fontänen seines Parks dauerhaft ohne jede Unterbrechung betreiben zu können.

Die größte Herausforderung bestand allerdings darin, überhaupt genügend Wasser zur Verfügung zu haben. Der Teich von Clagny, das einzige natürliche Reservoir, war zu klein und hatte zu geringen natürlichen Zulauf, so dass er den an ihn gestellten Anforderungen bei weitem nicht gewachsen. Es musste also aus der Ferne Wasser herangeschafft werden- eine dauernde und im Verweis auf Herkules treffend bezeichnete Aufgabe. Eine der ersten Maßnahmen war die Umleitung des Wassers der Bièvre, eines kleinen Nebenflüsschens der Seine. Aber auch das reichte nicht, den Wasserbedarf der vom Sonnenkönig  gewünschten immer zahlreicheren Fontänen zu befriedigen. Warum also nicht gleich das Wasser der Loire nutzen?  Es war kein Geringerer als Pierre-Paul Riquet, der Schöpfer des Canal de Midi  (damals canal royal de Languedoc), der diesen Vorschlag Ludwig XIV. unterbreitete. Und der war davon sehr angetan und auch gleich bereit, die dafür erforderliche immense Geldsumme zur Verfügung zu stellen. Ludwigs Finanzminister Colbert hatte allerdings Zweifel an der Machbarkeit und beauftragte  den Abbé Picard, Mitglied der Akademie des Science, mit einem Gutachten. Die Überprüfung ergab, dass die Loire an der geplanten Wasserentnahmestelle tiefer lag als das Schloss von Versailles…. Das Projekt wurde also aufgegeben und andere traten an seine Stelle.

Drei  davon sollen auf diesem Blog  vorgestellt werden. Sie wurden nicht nur wegen ihrer Bedeutung ausgewählt, sondern auch, weil sie noch heute sichtbare Spuren hinterlassen haben: Die Drainagen und das Teichsystem  auf der Hochebene von Saclay/Palaiseau,  die Maschine von Marly und das Projekt der Umleitung des Flusses Eure.   Dem ersten Projekt verdankt man heute ein wertvolles Biotop, das zweite ist eine technische Meisterleistung, aber auch –wie vor allem die aufgegebene Umleitung der Eure,  Zeuge absolutistischen Größenwahns.  Die drei Projekte können/sollen zu Ausflügen in die Umgebung von Paris/Versailles anregen. Und sie können den bewundernden Blick auf die Fontänen im Schlosspark von Versailles sicherlich erweitern. In diesem Beitrag werden die Rigoles de Saclay und das Aquädukt von Buc vorgestellt, die beiden anderen Projekten werden in späteren Beiträgen folgen. 

1. Die Rigoles von Saclay und das Aquädukt von Buc (1680-1686)

Die Hochebene von Saclay liegt im Süden von Versailles/im Südwesten von Paris  zwischen den Flüsschen Bièvre und Yvette. Heute ist sie vor allem bekannt durch die dort schon angesiedelten und noch geplanten  Lehr- und Forschungseinrichtungen,  das „Silicon Valley à la française“.[13]  Zu Zeiten Ludwigs XIV. war die Hochebene von Saclay Ort eines kaum weniger anspruchsvollen Projekts:  Sie sollte nämlich dazu beitragen, den immer größer werdenden Wasserbedarf der Fontänen von Versailles zu decken.  Die Probleme, die sich dabei stellten, waren allerdings erheblich. Es gab auf dem Plateau zwar einen größeren Teich, den Étang Vieux de Saclay, der aber nur von Regenwasser gespeist wurde, also keine natürlichen Zuflüsse hatte. Außerdem lag, wie der wieder herangezogene Abbé Picard feststellte, sein Grund  nur 10 Fuß (3,25 Meter)  über dem unteren Teil des Schlossparks. Die Herausforderung bestand nun darin,  das nutzbare Wasseraufkommen auf dem Plateau zu steigern und es dann allein über das (geringe) natürliche Gefälle für die Alimentierung  wenigstens der – allerdings immer zahlreicheren- Brunnen und Fontänen in den unteren Partien des Schlossparks zu nutzen. (Deshalb auch die Bezeichnung lacs inférieures für die schon bestehenden und neu geschaffenen Teiche auf der Hochebene von Saclay).   Mit der Ausführung dieses Projekts wurde der Ingenieur Thomas Gobert beauftragt, der sich schon bei der Versorgung von Versailles mit Trinkwasser verdient gemacht hatte.  Er forderte 3000 Mann und 2000 Schubkarren an, die 6 Jahre lang damit beschäftigt waren, neue Teiche anzulegen und ein System von Drainagen (rigoles), d.h. kleinen Gräben, die alles anfallende Regenwasser in den Étang  Vieux de Saclay und den neu geschaffenen Étang Neuf de Saclay als zentraler Sammelstelle leiten sollten.

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Rigoles auf dem Plateau de Saclay

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Der alte Damm zwischen dem Étang Vieux  (heute ein Vogelschutzgebiet[14]) und dem Étang Neuf de Saclay (heute Wasserreservoir für eine Forschungseinrichtung für Antriebe)

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Ausschnitt aus einer Informationstafel am Pavillion du Roi auf dem Damm zwischen den beiden Teichen von Saclay

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Die alte Treppe des  „Pavillon du Roi“  auf dem Damm. In seinem Keller befand sich der Schieber zur Regulierung der  Wasserhöhe in beiden Teichen.

Die schwierigste und wichtigste Aufgabe stand allerdings noch bevor: Jetzt musste das in den Teichen von Saclay angesammelte Wasser ja noch in den Schlosspark von Versailles überführt werden. Dazu bedurfte es einer Leitung von 20 Kilometern mit gleichmäßiger sanfter Neigung, die wegen mehrerer dazwischen liegender Hügel zum Teil unterirdisch – bis zu 32 Meter unter dem Erdboden- verlaufen musste.  Und vor allem: Das breite Tal der Bièvre musste überwunden werden. Hier sah Gobert zunächst einen Düker vor, also eine unter dem Flüsschen verlaufende Druckleitung.  Allerdings war die ersten Versuche damit nicht ermutigend: Das Rohrsystem war dem erheblichen Wasserdruck nicht gewachsen, so dass man den Plan aufgeben musste: Die Alternative war ein Aquädukt, dass er in einem Memorandum vom 2. November 1682 dem Sonnenkönig schmackhaft machte:

On pourrait faire un acqueduc de massonnerie, que de seroit sujet à aucun entretien, sans besoin de fer, cuivre ny plomb, plus solide et à durer autant que le monde, dont la magnificence marqueroit à la postérité, autant qu’aucun autre esdifice la grandeur du Règne du Roi.“[15]

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Man könne, so schlug also Gobert vor, ein Aquädukt aus Stein bauen, wofür man kein Metall benötige. Dazu werde es bis ans Ende der Welt bestehen und wie kein anderes Bauwerk der Nachwelt die Größe des Königs vor Augen führen. Kein Wunder also, dass der König dem Plan zustimmte.  Sicherlich hat Gobert den Mund etwas zu voll genommen, aber eindrucksvoll ist das Bauwerk auf jeden Fall, und zwar von unten gesehen, wenn man auf einem Spaziergang entlang der Bièvre dort vorbeikommt, oder aus der Vogelperspektive.

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Hier ein Blick auf eine der 19 Arkaden. Sie bestehen vor allem aus Bruchsteinen (pierres meulières), die Kanten aus behauenen Kalksteinen[16]

Und jetzt aus der Vogelperspektive:

(Bild aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Aqu%C3%A4dukt_von_Buc)

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Die Bauarbeiter dieses Aquädukts waren übrigens Soldaten aus der Normandie, die dafür abgestellt wurden. Solche gigantischen Baumaßnehmen waren ja generell nur möglich, wenn Ludwig XIV- einmal nicht Krieg führte, wenn Soldaten (und Geld)  also nicht zum Erobern und Töten eingesetzt  wurden.

1686 wurde das gesamte Leitungssystem eingeweiht – „zur Zufriedenheit der Fontänen“, wie Ludwig XIV. huldvoll  festzustellen geruhte.  Und offenbar auch zur Zufriedenheit von Wanderern, die sich an diesem für die Ewigkeit geplanten Bauwerk aufwändig „verewigten“.

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Und immerhin:  Bis 1950 tat dieses Aquädukt seinen Dienst und danach wurde es unter Denkmalschutz gestellt- Es wird uns also wohl noch etwas erhalten bleiben.

Der Wasserbedarf der Fontänen im Park von Versailles war aber – und das war von vornherein absehbar- mit der Inbetriebnahme des Systems von Teichen und Rigoles auf dem Plateau de Saclay – und eines weiteren bis nach Rambouillet reichenden Wassergewinnungssystems (den lacs supérieurs) immer noch nicht gestillt. Die gesamte  maximale/optimale tägliche Kapazität  dieser Systeme waren12 000 m³. Das reichte aber bei weitem immer noch nicht aus, um die Wasserspiele des Sonnenkönigs wenigstens mehr als stundenweise zu betreiben.

Es mussten also weitere Wasserquellen erschlossen werden, was natürlich immer schwieriger wurde. Entweder es mussten technische Lösungen gefunden werden, die bisher nicht machbar erschienen, oder es  musste das Wasser aus  immer größeren Entfernungen herangeführt werden,  beziehungsweise – es geht ja um die Fontänen des Sonnenkönigs- beides:  Das eine ist das Heraufpumpen von Wasser aus der Seine durch die Maschine von Marly, ein parallel mit „Saclay“ betriebenes Projekt, das andere  die Umleitung des Flusses Eure über 80 Kilometer,  die zwar nie verwirklicht werden konnte, an die allerdings noch das grandiose Aquädukt von Maintenon erinnert. Darüber mehr in einem weiteren dritten Blog-Beitrag über die Fontänen von Versailles. Der Maschine von Marly wird dann der vierte Teil dieser kleinen Reihe gewidmet sein. (17)

Literatur/Benutzte Materialien

Association ADPP, À la Découverte du Plateau de Palaiseau. 2015

Alain Baraton, Le jardinier de Versailles. Paris: Grasset 2006

Eric Soullard, Les eaux de Versailles sous Louis XIV. In: Hypothèses 1998,1, S. 105-112 https://www.cairn.info/revue-hypotheses-1998-1-page-105.htm?contenu=resume

Serge Fiorese, Le système hydraulique du plateau de Saclay : un patrimoine unique à découvrir et mettre en valeurhttp://www.s-y-b.fr/index.php?option=com_content&view=article&id=29:le-systeme-hydraulique-du-plateau-de-saclay&catid=16

Léo Pajon, L’aménagement de l’eau à tout prix.  In: Versailles. Les grandes heures d’un château au cœur de l’histoire de France. GEOHISTOIRE 29, Oct/Nov 2016, S. 44f

Jean Siaud, Ils ont donné l’eau à Versailles.  Edition de l’onde 2012

Jean Siaud, Trois siècles dèau à Versailles pour le château et pour la ville. 1663-1964. Hrsg von der Société des amis de Versailles.

https://www.youtube.com/watch?v=u0VYY2iK3Lo (Video der Verwaltung der Schlösser von Versailles über die einzelnen Etappen der Konstruktionen zur –Wasserversorgung von Versailles. Anschaulich, aber ohne Ton.

https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserversorgung_des_Schlossparks_von_Versailles

Chronologie der hydraulischen Arbeiten: http://ressources.chateauversailles.fr/IMG/pdf/le_systeme_hydraulique_chronologie_des_travaux_d_adduction.pdf  (Aus der Website des Château de Versailles)

Anmerkungen:

[1] A la  découverte du Plateau de Palaiseau, S. 20

[2] Nach Soullard sind es sogar 160 Meter. Siehe: http://www.theses.fr/2011GRENH032

[3]Siehe den Blog-Beitrag: Der potager du roi, der Obst- und Gemüsegarten Ludwigs XIV. in Versailles. https://paris-blog.org/2016/04/12/le-potager-du-roi-in-versailles-der-obst-und-gemuesegarten-ludwigs-xiv/

[4] Dazu im Einzelnen: Die letzte Chance.  Das Fest vom 17. August 1661 https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783486719390/9783486719390.173/9783486719390.173.pdf

[5] Vatel stand danach in Diensten des „Großen Condé“ im Schloss Chantilly und gilt als Erfinder der crème Chantilly. Siehe dazu den Blog-Beitrag über Chantilly: https://paris-blog.org/2016/04/09/schloss-und-park-von-chantilly-eine-alternative-zu-versailles/

[6] Zu Charles Le Brun siehe den Blog-Beitrag über die Manufacture des Gobelins, deren Chef er war: https://paris-blog.org/2018/08/01/die-manufacture-des-gobelins-politik-und-kunst/

[7] http://kunstundkosmos.de/Regionen-Staedte-Architektur/Versailles-Garten.html

[8] siehe : A la découverte du Plateau de Palaiseau, S. 24

[9] Baraton, S. 89 und 92; die Zahl von 10 000 wird von Pajon, S. 44 genannt.

[10] S. M. de duc de Noailles, Histoire de Madame de Maintenan et des principaux événements  du règne de Louis XIV tome deuxième, Paris 1848, S. 58 https://books.google.de/books?id=sK1P5hdagUsC&printsec&pg=PA58#v=onepage&q&f=false

[11] Bild aus: http://www.versaillespourtous.fr/fr/popup_clelyre.html

[12] Bild aus: http://ressources.chateauversailles.fr/documents/2/animation_jardin/eau/reservoirst.html

[13] https://www.capital.fr/votre-carriere/paris-saclay-la-silicon-valley-a-la-francaise-1315895

[14] Über die étangs und rigoles heute und ihren ökologischen Wert: https://www.youtube.com/watch?v=OHzjiUfK1BM

[15] Zit. À la découverte du Plateau de Palaiseau, S. 23

[16] Zu Gewinnung der Steine in und um Paris im Allgemeinen und dabei auch zu den meulière-Steinen im Besonderen siehe den Blog-Beitrag über die Bergwerke und Steinbrüche von Paris: https://paris-blog.org/2017/04/20/die-bergwerke-und-steinbrueche-von-paris/

(17) Allerdings wird der wohl noch etwas auf sich warten lassen: Die zunächst für 2018 geplante, dann auf Frühjahr 2019 verschobene Wiedereröffnung des Museums von Marly, das ich in den 3. Beitrag einbeziehen möchte,  ist inzwischen für den Herbst 2019 avisiert, lässt allerdings immer noch auf sich warten. (Stand April 2020).

Beiträge zu Schloss und Park von Versailles und seiner Wasserversorgung:

Little India, das indische Viertel von Paris

In Paris gibt es mehrere Viertel, die sehr sichtbar von Menschen mit außereuropäischen Wurzeln geprägt sind: La Goutte  d’Or, das afrikanische Viertel im 18. Arrondissement (siehe Blog-Beitrag: La Goutte d’or oder Klein-Afrika in Paris),  das chinesische Viertel im 13. Arrondissement  (siehe Blog-Beitrag: Chinatown in Paris) oder das  multikulturelle Belleville im 20. Arrondissement (siehe Blog-Beitrag: Das multikulturelle, aufsässige und kreative Belleville). Gegenstand dieses Beitrags ist Little India, also das Viertel von Paris, das geprägt ist von der Einwanderung aus dem indischen Subkontinent,  „un des quartiers ethniques les plus visibles de Paris.“ (Jones)

Es gibt für dieses Viertel verschiedene Bezeichnungen, was zwei Gründe hat:

  • Seine genaue Lage, Ausdehnung und Grenzen sind nicht so (einigermaßen) klar umrissen wie bei dem afrikanischen oder dem chinesischen  Viertel. Es gibt das stark tamilisch geprägte Viertel rund um die Métro-Station  La Chapelle und rund um den nördlichen Teil der rue du Faubourg Saint-Denis zwischen dem gare de l’Est und gare  du Nord,  es gibt aber auch die etwas südlich gelegene und eher pakistanisch geprägte Passage Brady (10. Arrondissement) und –wenn auch extra muros- das indische Viertel von Courneuve in der nördlichen banlieue von Paris.
  • Die verschiedenen Bezeichnungen für das „quartier indien“ haben ihren Grund aber auch darin, dass es dabei um Menschen mit vielfältigen ethnischen, religiösen und geographischen Wurzeln geht: Um Menschen aus Indien, aus  Pakistan, aus Bangla-desh und vor allem aus Sri Lanka,  und da wiederum vor allem aus dem tamilischen Norden der Insel rund um die Stadt Jaffna.  Also findet man eher allgemeinere Bezeichnungen für das Viertel wie Little India oder La Petite Asie, aber auch konkretere wie Little Islamabad, Little Sri Lanka oder Little Jaffna. Ich verwende hier den Ausdruck Little India, womit der indische Subkontinent insgesamt angesprochen ist.[1]

Little India ist aufgrund seiner Vielfalt, Buntheit und Exotik unübersehbar. Aber auch darüber hinaus ist die Einwanderung aus dem indischen Subkontinent präsent: In vielen Supermärkten sitzen Frauen aus Sri Lanka an den Kassen, in den Gängen oder an den Eingängen großer Metro-Stationen verkaufen Männer aus Indien oder Pakistan Obst, Musikkassetten oder geröstete Maronen oder sie bieten abends im Quartier Latin oder anderen touristischen Vierteln in den Restaurants Rosen zum Verkauf an.

Am  buntesten und lautesten stellt sich Little India am alljährlich im September veranstalteten Ganesha-Fest dar, insofern gewissermaßen dem Pendant zu dem ebenso populären chinesischen Neujahrsfest.

Der Ganesha-Tempel in der rue Pajol und das  Ganesha- Fest

Das Ganesha-Fest wird an einem Sonntag im Spätsommer jeden Jahres (meist im September) zu Ehren des Gottes Ganesha gefeiert. Ganesha, der Gott mit dem Elefantenkopf, ist eine der beliebtesten Formen des Göttlichen im Hinduismus und von allen hinduistischen Göttern der mit der größten Präsenz und Popularität außerhalb Indiens. Immerhin schützt er alle  neuen Unternehmungen: Heiraten, Reisen oder Geschäfte. Jeder hinduistische Gottesdienst (Puja)  beginnt mit einem Gebet an Ganesha.  Im indischen Viertel von Paris, (rue Pajol, 18. Arrondissement, métro La  Chapelle) gibt es seit 1984 einen dem Ganesha geweihten Tempel, den ältesten Hindu-Tempel in Frankreich.

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Man ist dort, nachdem man seine Schuhe ausgezogen und abgestellt hat, jederzeit willkommen. Man darf sogar – wie i.a. überall in litte India- Fotos machen, auch wenn man das natürlich mit der gebotenen Zurückhaltung tun sollte.

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Selbstverständlich hat der Gott Ganesha einen Ehrenplatz in dem Tempel.

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Der Tempel ist ziemlich klein – beim Ganesha-Fest gibt es sogar lange Schlangen vor der Tür und innen viel Gedränge. Aber an einem „normalen“ Tag  kann man sich ganz in Ruhe auf den Boden setzen, den Raum und die Menschen darin beobachten  und, zum Beispiel  nach einem Besuch von „little India“,  zur Ruhe kommen.

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Der Tempel organisiert seit 1996 das Ganesha-Fest in Paris.  Es ist ein Volksfest, das Hindus aus Paris und der näheren und weiteren Umgebung anzieht.[2]

Als ich mit der Metro zum Ganesha- Fest 2017 fuhr, stand neben mir dichtgedrängt eine ganze Reihe von Menschen, die ganz offensichtlich ebenfalls dieses Ziel hatten. Es waren vor allem Familien mit festlich gekleideten Frauen und Mädchen. Mit einer Familie aus einem östlichen Vorort von Paris kam ich –soweit das unter diesen Umständen möglich war- ins Gespräch und das kleine Mädchen durfte ich, als wir in der Station La Chapelle ausgestiegen waren, mit Zustimmung der stolzen Eltern fotografieren.

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In der Nähe der Métro-Station La Chapelle, in der rue Pajol,  liegt der Ganesha Tempel  bzw.  le temple de Sri Manicka Vinayakar Alayam –so seine offizielle Bezeichnung. Dort beginnt  die große bunte Prozession mit zahlreichen Motivwagen und  vielen Teilnehmer/innen in traditionellen Gewändern, die sich nur schwer einen Weg durch die Masse der Besucher bahnen können.

Von einem Wagen herab werden große Mengen von Opfergaben verkauft, mit denen die Gläubigen  den Schutz Ganeshas  erbitten.

Eine besondere Rolle spielen offenbar auch die am Rand des Zuges gestapelten Kokosnüsse.  Man konnte beobachten, dass mit der gelben Farbe Mädchen ein Punkt zwischen die Augenbrauen getupft wurde.

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Es gibt nicht nur viel zu sehen, sondern auch zu hören: In dem Zug wird  kräftig Musik gemacht, vor allem mit Trommeln und dem traditionellen  Blasinstrument nagaswaram.[3]

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Und natürlich darf bei dem Umzug für den elefantenköpfigen Gott  ein bunt  geschmückter    lebensgroßer  Plastik- Elefant  nicht fehlen.

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Auch wenn man als  Beobachter, der mit den Ritualen und der Symbolik des Hinduismus nicht vertraut ist, Vieles nicht versteht:  Beeindruckend sind  die Buntheit und Vielfalt der Prozession. Und unübersehbar ist auch, welche außerordentliche Bedeutung sie für die vielen Teilnehmer und Besucher hat.  Es ist auch eine Demonstration der kulturellen Selbstbehauptung der  Hindus in  der neuen Heimat.

Zur  Geschichte der indischen Einwanderung

1674 gründete die Compagnie royale des Indes orientales einen Handelsstützpuunkt (comptoir) in Pondichéry (heute offiziell Puducherry).  Aus einem kleinen Fischerdorf wurde allmählich eine blühende Kolonie und der wichtigste französische Stützpunkt in Indien.

Die ersten Menschen aus dem indischen Subkontinent, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich niederließen, waren denn auch Händler und Verwaltungsbeamte aus Pondichéry. Allerdings fielen sie kaum auf  und integrierten sich –begünstigt durch ihre französischen Sprachkenntnisse- schnell in das neue Heimatland.

Weitere Zuwanderer aus Pondichéry waren Studenten, Kriegsfreiwillige, die dem Aufruf de Gaullles zum Widerstand gegen Nazideutschland folgten, und Auswanderer, die nach der sehr geräuschlosen und einvernehmlichen Übergabe der französischen Stützpunkte an Indien für eine Übersiedlung nach Frankreich optierten.  Die Übersiedlung verlief problemlos, weil die Einwohner von Pondichéry seit der Februarrevolution von 1848 die französische Staatsbürgerschaft besaßen. Es waren oft Verwaltungsbeamte oder Militärs, die ihre Karriere in Frankreich fortsetzten. Anderen Ankömmlingen aus Pondichéry erleichterte der französische Staat die Integration, indem er ihnen beispielsweise Posten als Aufsicht in staatlichen Museen oder Schlössern anbot. Es handelte sich hier um die erste bedeutende Präsenz von (südindischen) Tamilen[4], die allerdings in Paris wenig sichtbar waren. Sie wohnten eher extra muros und unterschieden sich ja auch weder durch Sprache noch durch Religion (die meisten waren Katholiken) von den eingesessenen Franzosen.

Zahlenmäßig bedeutender und deutlich sichtbarer wurde die Einwanderung aus dem indischen Subkontinent vor allem ab den 1970-er Jahren. Das waren zunächst Pakistaner,  junge wenig qualifizierte  Männer aus armen ländlichen Regionen, die im Ausland Geld verdienen wollten, um ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Viele von ihnen fanden Arbeit in den Konfektions-Betrieben des multikulturell geprägten „Sentier“-Viertels im 2. Arrondissement rund um  die Place du Caire, einem beliebten Treffpunkt der Pakistani.  Traditionelles Ziel dieser Menschen war ja eigentlich Großbritannien, aber die Verschärfung der britischen Einwanderungsgesetzgebung zwischen 1968 und 1971 machte Frankreich zu einer Alternative – vielleicht ja auch –wie in der Gegenwart bei den Flüchtlingen von Calais- in der Hoffnung, von dort aus doch noch einmal  zu ihrem eigentlichen Ziel zu gelangen. Die Einreise nach Frankreich war für Pakistani damals ohne Visum möglich, 1982 erhielten sie einen offiziellen Aufenthaltsstatus und konnten ihre Familien nachkommen lassen. Die fest installierten und arrivierten Pakistani findet man im südlichen Bereich des 10. Arrondissement rund um die rue du Faubourg St. Denis, besonders in der Passage Brady, deren Restaurants und Boutiquen überwiegend im Besitz  von Pakistani sind. Im Sentier-Viertel arbeiten auch viele Menschen indischer Abstammung aus Mauritius, die auch einen Teil der indischen Einwanderung in der Stadt ausmachen.

In den 1980-er Jahren wurde aber gleichzeitig die weitere Zuwanderung eingeschränkt. Deshalb versuchten  viele Pakistani, unter Berufung auf das in ihrem Heimatland herrschende Kriegsrecht, über das Asylrecht in Frankreich Fuß zu fassen. Da allerdings die meisten Asylanträge abgelehnt wurden, gibt es unter den in Frankreich lebenden Pakistani einen hohen Anteil an Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis und Arbeitsgenehmigung. Das sind die in Frankreich ganz unbefangen als „Illegale“, bezeichnete Menschen,  die sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen durchs Leben schlagen:  zum Beispiel als Kassetten-, Spielzeug-,  Maronen-  und  Obstverkäufer, die man auch als Tourist an und in Métro-Stationen sieht, oder es sind die Rosenverkäufer, die abends in den touristischen Restaurants ihre Kunden suchen. Aber es kann sich dabei auch um Inder handeln, die als  Touristen eingereist sind und sich dann meist illegal in Frankreich aufhalten. Ihre  Zahl wird von der indischen Botschaft in Paris auf etwa 100 000 geschätzt.[5] Offenbar geht die Polizei mit den illegalen fliegenden Händlern ziemlich nachsichtig um:  Oft sieht sie  einfach über sie  hinweg oder sie fordert sie nur dazu auf, die Sachen einzupacken. Selbst wenn sie einmal  von der Polizei aufgegriffen und festgenommen  werden, können aber die illegal in Frankreich lebenden Menschen aus dem indischen Subkontinent nur selten abgeschoben werden: Da sie meistens keine Papiere haben, ist schwer nachweisbar, aus welchem Land sie nun kommen: aus  Indien, Pakistan, Sri Lanka oder Bangla-Desh.

Den größten Anteil an der Einwanderung aus dem indischen Subkontinent haben aber Tamilen aus Sri Lanka, die seit den 1980-Jahren vor dem Bürgerkrieg zwischen Singalesen und Tamilen flohen.[6]   Dieser Bürgerkrieg wurde mit größter Brutalität geführt: von Seiten der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung (LTTE), den sogenannten „Tigern“, die auch mit terroristischen Mitteln die Unabhängigkeit des tamilischen Nordens von Sri Lanka erzwingen wollten.  Umgekehrt ging aber auch die singalesische Armee mit großer Brutalität nicht nur gegen die „Befreiungstiger“, sondern auch gegen die tamilische Bevölkerung im Norden vor. Außerdem kam  es in dem  mehrheitlich von Singalesen bewohnten Teil des Landes  zu anti-tamilischen Pogromen mit mehreren tausend Opfern.[7]

Es gibt Schätzungen, nach denen etwa 100 000 tamilische Flüchtlinge nach Frankreich gekommen sind und sich vor allem in Paris und den anliegenden Départements niedergelassen haben.[8] Deren Präsenz ist –nicht nur anlässlich des Ganesha-Festes- unübersehbar, weil das Viertel, das von den Tamilen bevorzugt bewohnt wird,  relativ klar umrissen  ist und weil dort selbst für einen  flüchtigen Passanten  ganz klar erkennbar ist, dass er sich hier in „Little India“ bzw. „Little Jaffna“ befindet.[9]

Wenn man allgemein von „Little India“ und damit von der Einwanderung aus dem  indischen Subkontinent spricht, so verbirgt sich dahinter eine große ethnische,  nationale und kulturelle Vielfalt: Eingeschlossen sind darin (muslimische) Einwanderer aus Pakistan, christliche Tamilen aus Pondichéry/Südindien, hinduistische Tamilen aus Sri Lanka, Einwanderer aus Bangla-Desh, aber auch indisch- stämmige Einwanderer aus Mauritius und Madagaskar. Übereinstimmend wird in der von mir konsultierten  Literatur festgestellt, dass die verschiedenen ethnischen  Gruppen relativ getrennt sind und es wenig Verbindungen zwischen ihnen gibt.

Gemeinsam scheint aber allen Gruppen der Wunsch zu sein, ihre kulturelle Identität in der neuen Heimat nicht ganz aufzugeben und selbst an  solchen Traditionen festzuhalten, die konträr sind zu den französisch-republikanischen Gepflogenheiten. Das betrifft zum Beispiel –so Thiney Duvoy-  die von Eltern arrangierten Heiraten innerhalb des eigenen sozialen Kontextes oder den Umgang mit Verstorbenen: Deren Asche werde von den Hindus üblicherweise nach Indien gebracht – und das gelte sogar auch für die christlichen Inder aus Pondichéry.[10]

Little Jaffna, das tamilische Viertel von La Chapelle

Die Konzentration der tamilischen Einwanderung auf das Gebiet von La Chapelle kommt nicht von ungefähr:  Als in den 1980-er Jahren die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sri Lanka in Paris ankamen, gab es dort –in der Nähe des Gare de l’Est und des gare du Nord-  billige Hotels, wo sie eine Weile unterkommen konnten.  Es gab auch billigen und freien Wohnraum in diesem früheren Arbeiterviertel aufgrund des fortschreitenden Verlusts  städtischer  Arbeitsplätze in Industrie und Handwerk. Außerdem grenzte das Gebiet an die  traditionellen Einwanderungsviertel Barbès und la Goutte d’Or, die so  gewissermaßen  nur nach Süden ausgeweitet wurden.

Und es hat außerdem selbst eine lange Tradition , was die Aufnahme von Einwanderern angeht: Im 19. Jahrhundert waren das vor allem Menschen aus dem armen Nordhessen (dem Gebiet um Kassel), die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Paris kamen und dort überwiegend als Straßenkehrer arbeiteten. Ihre Zahl wurde von einem zeitgenössischen Beobachter auf mindestens 3000 geschätzt. Sie lebten auf engstem Raum zusammengedrängt in sogenannten deutschen Höfen. (10a)

Die gibt es heute nicht mehr, dafür aber das tamilische Viertel der Stadt, auch little Jaffna genannt.  Da die Neuankömmlinge aus  Sri Lanka  – anders als die tamilischen Zuwanderer  aus Pondichéry- nicht  Französisch sprachen und sich in eine für sie völlig neue und  fremde Umgebung versetzt sahen, suchten  sie- wie 100 Jahre zuvor die Nordhessen-  die gegenseitige Nähe und Vertrautheit.  Little Jaffna ist  das Zentrum einer weitgespannten solidarischen Organisationsstruktur, es  hat wirtschaftliche, soziale und kulturelle Funktionen: Hier kann man  Arbeit und Unterkunft finden, sich informieren; es gibt Zeitungen in tamilischer Sprache, einschließlich lokaler Ausgaben mit nützlichen Anzeigen, und man findet hier Geschäfte mit den vertrauten Produkten, also einen sogenannten „commerce ethnique.“   Diese Geschäfte dienten also dazu, sich eine neue Lebensgrundlage zu schaffen und waren zuerst und vor allem für die eigenen Landsleute bestimmt.[11]

Das waren natürlich vor allem épiceries, also Lebensmittelgeschäfte, in denen sie die vertrauten Produkte kaufen konnten und dabei  auch solche, die sonst eher nicht zu finden waren.

Bemerkenswert sind bei manchen Beschilderungen  übrigens die sprachlichen Mixturen wie bei „Flower de Banana“. Und befremdend ist –jedenfalls für mich als Freund der Unterwasserwelt- dass manchmal   die Exotik doch etwas zu weit geht: Etwa wenn im Fischgeschäft nicht nur Krebse aus Sri Lanka angeboten werden, sondern dazu auch noch die farbenfrohen Papageien-Fische, deren Fang zur Verarmung der Riffe beiträgt.

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Aber der freundliche Fischhändler war ganz stolz, dass er Papageienfische (natürlich auch aus  Sri Lanka)  im Angebot hatte und ließ es sich nicht nehmen, sie für ein Foto auch noch wirkungsvoll in Szene zu setzen….

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Unbedingt erforderlich waren -und sind offenbar immer noch- Übersetzungsbüros.

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Und nicht fehlen dürfen natürlich – „La Chapelle ist auch das Paradies von Bollywood“[12] – entsprechende Videotheken und Kassettenläden, Handy- und Internet-Boutiquen und alles rund ums Geld.

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Und dann gibt es auch noch viele Geschäfte, in denen man Dinge kaufen kann, um sich und sein neues Zuhause heimatlich auszustatten;  etwas respektlos könnte man sagen:  mit  „Nippes“.  Dazu gehört natürlich der sympathische Gott Ganesha,  der hier ähnlich präsent ist wie in den entsprechenden Geschäften im chinesischen Viertel die Winkekatze.

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Für festliche Anlässe wie Heiraten ist selbstverständlich auch gesorgt:

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Und dazu gehört auch der glänzende Goldschmuck, der in großen Mengen und großer Vielfalt angeboten wird: Armreifen, Ohrringe und vor allem Colliers. Gold spielt ja  in der indischen Kultur eine ganz wichtige Rolle. „No gold, no wedding“  lautet ein  indisches Sprichwort.  Der hier angebotene goldene Schmuck soll übrigens aus Singapur stammen, wo es eine große indische Gemeinde und eine entsprechende Produktion von Schmuck gibt.[13]

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Der commerce ethnique  ist für die  Tamilen  ein Stück Heimat und für die alteingesessenen Pariser und  Touristen vermittelt er ein in dieser Form einzigartiges exotisches Flair inmitten der vertrauten Stadt.  „Little Jaffna“ schließt sich nicht ab gegenüber der Außenwelt und  diese zeigt sich auch ihrerseits offen. Diese Offenheit gegenüber alteingesessenen Einheimischen und Touristen, die nicht nur anlässlich des Ganesha- Fests überall  und immer in „little Jaffna“ erfahrbar ist, macht den Charme dieses Viertels aus: Es bewahrt sein  Eigenleben, aber es ist auch integriert in das Stadtgefüge und bereichert es.[14]

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Dringend gesucht wird eine Verkäuferin, die französisch und tamilisch spricht:                Zeichen für die Offenheit des Viertels nach außen

Eine Institution in Little Jaffna ist die épicerie VT Cash & Carry  in der rue du Faubourg St. Denis Nr. 157.  Der Laden ist sehr eng,  so vollgeräumt wie nur möglich, dazu offensichtlich ein bevorzugter Ort der Tamilen nicht nur  für ihre Einkäufe, sondern auch ein Treffpunkt. Auch als „Auswärtiger“ wird man freundlich behandelt und findet immer einen aufmerksamen Verkäufer, der einem mit einem scharfen kleinen Messer einige der leckeren kleinen asiatischen Bananen abschneidet oder einem weiterhilft, wenn man etwas Bestimmtes sucht.

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Ebenfalls eine Institution  ist die pakistanische „Konditorei“ Bhai-Bhai-Sweets in der  Rue des Deux Gares, einer wenig einladenden Seitenstraße der rue du Faubourg St.-Denis. Auch dieser Laden ist sehr klein, er wird nach meiner Erfahrung meist von Männern bevölkert, die dort teilweise große Mengen von Süßigkeiten einkaufen. An den Wänden gibt es auch einige  sehr rustikale Sitzmöglichkeiten, wo man direkt etwas probieren kann, zum Beispiel das typisch indische Dessert Rasmalai. Das Ambiente ist wenig einladend, aber man wird sehr freundlich aufgenommen und immerhin gilt der Laden als   „best asian sweet shop I ever seen in Paris“.[15]

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Es ist aber allein schon lohnend, durch „little Jaffna“ mit offenen Augen zu streifen. Und beispielsweise zu beobachten und zu bewundern, wie das indische Fladenbrot paratha hergestellt wird:

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Die Nachwehen des Bürgerkriegs

Als ich Ende des Jahres 2017 in Vorbereitung dieses Beitrags öfters durch das tamilische Viertel  von Paris gegangen bin, fielen mir die vielen an  Schaufenstern befestigten Plakate auf, mit denen zu einer „journée des héros“ , einem „Tag der Helden“ aufgerufen wurde.  Ähnliche Plakate hatte ich schon bei  Besuchen des Viertels  in früheren Jahren gesehen.

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Abgebildet ist Velipullai  Prabhakaran, der Führer der tamilischen Befreiungsbewegung LTTE  (Liberation Tigers of Tamil Eelam), der gerade eine Flamme entzündet.   Die LTTE versuchte in einem blutigen Bürgerkrieg, die Unabhängigkeit der von Tamilen bewohnten  Gebiete im Norden Sri Lankas zu erzwingen.  Die Umrisse des beanspruchten tamilischen Staates  sieht man auf dem Plakat über der Flamme. Über Prabhakaran weht die Fahne der LTTE, ein Tigerkopf mit gekreuzten Gewehren und umgeben von einem Kranz von 32  Patronen.[16]

Der Bürgerkrieg endete im Mai 2009 in einem Blutbad und mit der militärischen Niederlage der LTTE. Prabhakaran und seine Familie kamen im gleichen Monat ums Leben, möglicherweise durch Selbstmord, um nicht in die Hände der Regierungstruppen zu fallen. Die vielen Plakate, die zur Feier der „Helden“ aufrufen, bestätigen wohl die Einschätzung von Kennern der Lage, dass es zwar eine Waffenruhe, aber keinen Prozess der Versöhnung gibt. Und gerade in der Diaspora scheint der Traum von einem unabhängigen tamilischen Staat noch nicht ausgeträumt zu sein und wohl auch als  Bestandteil der Gruppenidentität zu fungieren.[17]

In einem kleinen Lebensmittelgeschäft in der rue du faubourg St. Denis war sogar nicht nur das aktuelle „Helden-Plakat“ befestigt, sondern  offenbar dauerhaft  auch noch ein Portrait des ehemaligen LTTE-Chefs.

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Ich versuchte, mit einem dort beschäftigten Tamilen ins Gespräch zu kommen, was aber an sprachlichen Problemen scheiterte: Der junge Mann sprach kaum Französisch und ebenso wenig Englisch. Offensichtlich war aber sein Stolz auf den lächelnden Helden- trotz allen Leids des Bürgerkriegs, für das auch er Verantwortung trägt:  eine selbst gegenüber der eigenen Bevölkerung rücksichtslose Kriegsführung, die Verwendung von Kindersoldaten und menschlichen Schutzschilden, dazu Terroranschläge gegen die singalesische Zivilbevölkerung….

In dem 2015 mit der goldenen Palme von Cannes ausgezeichneten Film Dheepan  (deutscher Titel: Dämonen und Wunder- Dheepan) wird gezeigt, wie die tamilischen Tiger auch noch viele Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Diaspora aktiv sind: Ein junger Mann, der in führender Position auf Seiten der Tiger im Bürgerkrieg gekämpft hat, jetzt aber in Paris ein neues Leben in Frieden anfangen will, wird massiv unter Druck gesetzt, den Kampf weiterzuführen, und als Feigling und Verräter beschimpft, weil er das ablehnt. (Dass der Krieg ihn dann doch einholt – im Banden- und Rauschgiftmilieu des banlieue, wo er als Hausmeister mit Frau und Kind in Frieden leben will, aber nicht kann, ist eine andere –französische- Geschichte).

Beim bunten und fröhlichen  Ganesha-Fest 2017 in Little Jaffna wurden neben vielen anderen aufgeblasenen luftigen Figuren auch Tiger und Panzer angeboten. Ein kleiner Junge begleitete mit einem solchen unmissverständlich beschrifteten Panzer (Tiger 01) den friedlichen Zug des Gottes Ganesha. Ich kann mir nicht vorstellen, dass zu den neuen Unternehmungen, die der Gott unter seine Fittiche nimmt, auch ein neuer Bürgerkrieg gehören könnte….

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Passage Brady, the little Islamabad

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Die Passage Brady zwischen dem boulevard de Strasbourg und der rue du Faubourg Saint Denis im 10. Arrondissement wird gerne „little Islamabad“ genannt. Die meisten Besitzer und Angestellte der dort ansässigen Restaurants und Geschäfte stammen nämlich aus Pakistan.  So auch Antoine Ponnoussamy, der 1972 ein Lebensmittelgeschäft mit exotischen Produkten in der Passage eröffnete und danach das erste indische Restaurant der Passage, womit er  deren allmähliche Transformation in ein weiteres indisches Viertel von Paris einleitete.

Das Restaurant heißt Passage de Pondichéry, womit die Beziehung zu dem alten französischen Handelsstützpunkt ausgedrückt wird. Es liegt in dem  überdachten Teil der Passage,  wo man meistens draußen sitzen kann –der andere, offene, ist ziemlich heruntergekommen. Sicherlich wird in der Passage  keine Spitzenküche angeboten, aber man ist mitten in „little India“ oder „little Islamabad“ und besonders mittags kann man dort sehr preiswert essen.

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Antoine Ponnoussamy, der Besitzer des Pondichéry, kam Ende der 1960-er Jahre  als Koch des französischen Botschafters nach Paris.  Er erzählt:

„In Pondichéry arbeitete ich als Koch bei französischen Familien. Ich war 17 Jahre alt, als eine dieser Familien mich nach Paris mitnehmen wollte. Mein Vater war aber dagegen, weil ich noch zu jung war. Danach arbeitete ich 10 Jahre lang in Bombay und heiratete. Danach ging ich nach Neu-Dehli, wo ich Koch der französischen Botschaft wurde. Eines Tages rief der Botschafter mich zu sich und kündigte mir an, dass ich nach Frankreich wechseln würde. Das war eine Chance für mich. Ich hatte kein Geld um eine solche Reise zu machen. Er bezahlte mir alles, sogar den Anzug. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich eines Tages einmal ein „patron“ werden würde. 1974 eröffnete ich das erste indische Restaurant, ‚Le Pondichéry‘. Ich bot Speisen aus Pondichéry an… Das lief sehr gut. Man sagt, man würde hier ein Stück Indien finden. In einer Zeitschrift war einmal zu lesen: ‚Mit einem Metro-Fahrschein kann man nach Indien fahren – in die Passage Brady‘“.[18]

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In der Tat: In der Passage Brady sind – wie sonst nirgendwo in Paris- alle Ingredienzien versammelt, die nach gängigem Verständnis ein  exotisch- indisches Ambiente ausmachen:  Bunte Auslagen mit exotischen Früchten und Blütenketten, die duftenden Speisen auf den draußen aufgestellten Tischen, die Gewürze, die Frisöre und Schönheitssalons, die Rufe der Kellner, die versuchen, Kunden anzulocken, die Musik, das Tohuwabohu…  Little Islamabad auf den 200 Metern der überdachten Passage.

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Ende Oktober 2017 ist Antoine Ponnoussamy gestorben. Die Todesanzeigen waren überall in der Passage Brady ausgehängt. Er war ganz offensichtlich „die Seele“ der Passage. Aber er hat 16 Enkelkinder hinterlassen, von denen einige sicherlich sein Erbe fortführen werden.

Praktische Information

Eingang in die Passage am besten  rue du Faubourg Saint-Denis. 75010 Paris  métro Château d’eau (Linie 4) oder Strasbourg-Saint Denis (Linien 4, 8 und 9)

Tamilen in der banlieue: Courneuve und sein Shiva-Tempel

Beim kurzen Abriss der Geschichte der indischen Einwanderung  wurde schon angesprochen, dass es jenseits von  „Little India“ auch eine deutliche indische Präsenz extra muros gibt, vor allem in den nord-östlichen  Vorstädten von Paris. Während das Gebiet von La Chapelle als erste Anlaufstation für Neuankömmlinge fungierte, war es weniger geeignet für die Aufnahme ganzer Familien, die sich allmählich auch im Zuge der Familienzusammenführung in Paris einfanden. Die Pariser nordöstlichen  Vorstädte boten sich da als Alternative an. Ein Beispiel dafür ist Courneuve, das mit der métro gut zu erreichen ist. Dort hat sich allmählich auch ein indisches Viertel herausgebildet. Es handelt sich um ein Viertel, in dem aus Sri Lanka stammende hinduistische Tamilen und aus Pakistan stammende Muslime offenbar friedlich nebeneinander leben. Es gibt hier viele Geschäfte für den alltäglichen Bedarf, auch einen großen  indischen Supermarkt, – aber  Paris bleibt  dann doch für alle der soziale Bezugspunkt, wo man die Wochenendeinkäufe erledigt und sich trifft; ähnlich wie La Goutte d’Or für die afrikanisch-stämmigen Menschen).  [19]

Immerhin  besitzt aber Courneuve einen der größten hinduistischen Tempel Frankreichs, der durchaus einen Besuch lohnt. Er ist Shiva geweiht, einer der drei großen Götter des Hinduismus.[20]  Die Umgebung ist ziemlich vorstädtisch-trist, woran auch die gemeinsamen  längst verblassten Bemühungen der Street-Artisten Nemo und Jerôme Mesnager nichts ändern konnten.

Umso auffälliger ist dann der bunte Eingang zum Tempel.

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Hier ist das Pantheon der hinduistischen Gottheiten farbenfroh abgebildet.

In der Mitte sieht man Shiva,  erkennbar an der Mondsichel, dem dritten Auge auf der Stirn, der Kobra, die sich um seinen Hals windet,  und den vier Armen. Neben Shiva sitzt seine göttliche Gemahlin Parvathi, die Mutter Ganeshas.

Hindu Tempel Courneuve IMG_5201 (1)

Bei der Figur des Ganesha kann man übrigens erkennen, dass einer seiner Stoßzähne abgebrochen ist. Das ist kein renovierungsbedürftiger Mangel, sondern Bestandteil der hinduistischen Mythologie: In einem wichtigen Moment seines Lebens benötigte er dringend ein Schreibgerät. Also brach er ein Stück eines Stoßzahns ab…

Hindu Tempel Courneuve IMG_5201 (2)

Im Innern des Tempels kann man –wie ja auch im Ganesha-Tempel in der rue Pajol- sich hinsetzen und in Ruhe das Geschehen beobachten.  Ein Erlebnis nicht nur für die Augen, sondern für alle Sinne.

Hindu Tempel Courneuve IMG_5201 (6)

In der Tat: Für die Reise nach Indien benötigt man nur ein métro-ticket!

Praktische Information:

Temple in der  Avenue Paul Vaillant Couturier Nummer 159 in  93120 La Courneuve

Métro- Linie 7  Station La Courneuve –  8  Mai 1945

Poojas:  10 Uhr, 12 Uhr  und 18,30 Uhr.

Spaziergänge durch little India von der passage Brady bis zum quartier de la Chapelle und durch  das indische Viertel von Courneuve (etwa einmal im Monat und in französischer Sprache) werden  angeboten von:

https://www.tourisme93.com/balade-indienne-a-paris-et-la-courneuve.html

 En savoir plus:

Graham Jones, Le trésor caché du Quartier indien: esquisse ethnographique d’une centralité minoritaire parisienne. In: Revue Européenne des migrations internationales. 19/2003, S. 233-243

http://remi.revues.org/3005?lang=en  

Raphaël lo Duca, mondes urbains indiens/la diaspora tamoule: de la migration internationale à l’ancrage commercial en île de France. (April 2015)  http://www.revue-urbanites.fr/chroniques-la-diaspora-tamoule-de-la-migration-internationale-a-lancrage-commercial-en-ile-de-france

Aude Mary, En territoire tamoul à Paris: un quartier ethnique au métro La Chapelle. Paris 2008

Christine Moliner,  Invisible et modèle ? Première approche de l’immigration sud-asiatique en France, 2009. Disponible sur le site du ministère de l’immigration. https://www.immigration.interieur.gouv.fr/content/

Sophie Royer, Les Indes à Paris: histoire, culture, arts, gastronomie, sorties

2002 Parigramme

Solange Thiney-Duvoy, L’inde en France. Paris 2007

Immigration clandestine : « des marrons chauds ? » Publié dans INDES magazine janvier-février 2015 https://actuinde.com/2015/02/05/immigration-clandestine-des-marrons-chauds/

Anthony Goreau-Ponceaud,  L’immigration sri lankaise en France. Trajectoires, contours et perspectives. In: hommes &migrations 2011, S. 26-39  https://hommesmigrations.revues.org/671?lang=en

Musée de l’histoire de l’immigration,  Le sous-continent indien et ses diasporas à Paris. (kommentierte Literaturliste der Médiathek Abdelmalek Sayad) Oktober 2014

Anmerkungen:

[1] So z.B. auch Thiney-Duvoy in „L’inde en France“

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ganesha  und   https://www.templeganesh.fr/fetegan.htm

[3] https://fr.wikipedia.org/wiki/Ganesh_Chaturthi

[4] Royer gibt ihre Zahl mit etwa 30 000 an. (S.26)

[5] https://actuinde.com/2015/02/05/immigration-clandestine-des-marrons-chauds/

[6] Thiney-Duvoy, S. 45,  46 und 50

[7] Als wir in den frühen 1980-er Jahren als Rucksacktouristen in Sri Lanka unterwegs waren und im Herrenhauseiner Teeplantage übernachteten, wurden wir Ohrenzeugen  eines solchen Pogroms: Heftige Schreie, Hilferufe- offensichtlich von tamilischen Familien, die, in eher Schweineställen ähnelnden Behausungen untergebracht, auf der Plantage arbeiteten. Unsere Interventionen und Nachfragen bei unseren singalesischen Ansprechpartnern in der Plantage stießen aber auf eine Mauer des Schweigens.

[8] https://www.tripsavvy.com/la-chapelle-little-sri-lanka-1618685 Royer spricht noch von 30-40000, aber das sind sicherlich längst überholte Zahlen aus dem Jahr 2002.

[9]  Von einer  „immigration invisible“ zu sprechen, wie Vassoodeven Vuddamalay  in einem 1989 veröffentlichten Aufsatz, ist heute also kaum mehr möglich.  (V.V., Pésence indienne en France. Les facettes multiformes d’une immigration invisible. In:  Revue européenne des migrations internationales. 5, 1998, No 3, S. 65-77

[10] Siehe zum Beispiel:  Thiney-Duvoy, S. 60 und Royer, S. 31

(10a) Ludwig Bamberger, Hessische Straßenkehrer (1867). Aus: Karsten Witte (Hrsg), Paris. Deutsche Republikaner reisen. insel taschenbuch 389, FFM 1980, S. 183-188

[11] Siehe dazu:  Graham Jones  http://remi.revues.org/3005?lang=en und http://www.revue-urbanites.fr/chroniques-la-diaspora-tamoule-de-la-migration-internationale-a-lancrage-commercial-en-ile-de-france

[12] https://www.azurever.com/paris/le-quartier-indien

[13]  http://remi.revues.org/3005?lang=en

[14] Bien qu’il apparaisse à première vue un espace d’exclusion, il s’agit plutôt d’un espace liminal où s’effectue une transition adaptatrice. Les immigrés peuvent y participer à la vie « profane » de la ville tout en exprimant le « sacré » de leur particularité culturelle. http://remi.revues.org/3005?lang=en

Siehe auch: http://www.revue-urbanites.fr/chroniques-la-diaspora-tamoule-de-la-migration-internationale-a-lancrage-commercial-en-ile-de-france

[15] https://www.facebook.com/Bhai-Bhai-Sweets-642016652604098/ 

[16] Bemerkenswert finde ich übrigens, dass im Vergleich zu ähnlichen früheren Plakaten zur „journée des héros“, die ich gesehen habe, diesmal die Tiger-Fahne der LTTE ganz offensiv präsentiert wird. Und während der Kampf um Unabhängigkeit auf dem  Plakat von 2015 –in französischer Sprache-  in die Tradition der Französischen Revolution eingeordnet wurde, bleibt man jetzt gewissermaßen unter sich: Hier also statt Öffnung eher ein nostalgischer Rückzug.

[17] In einem 2011 veröffentlichten Interview äußerte sich der damalige Botschafter Sri  Lankas in Paris zum Verhältnis der Pariser Tamilen zur LTTE:  „it seems to me that the politically active and preponderant element of the Tamil diaspora – the more mobilised and active element – seems comfortable demonstrating under the flag of the LTTE. But I am not sure if they represent the bulk of the Tamil community in Parir only an active minority. What’s missing is an opposition movement from within Paris’s Tamil community. “Something that says, ‘No we don’t feel comfortable with the flag of the LTTE with its 32 bullets and its crossed rifles’“.  Vielleicht könnte diese Einschätzung ja noch nicht ganz veraltet sein. http://en.rfi.fr/visiting-france/20110203-sdgvsdg  

[18] Zitiert bei Thiney-Duvoy, S. 63 und 65. Übersetzung von mir

[19] http://remi.revues.org/3005?lang=en

[20] http://www.leparisien.fr/espace-premium/seine-et-marne-77/un-temple-hindou-a-la-courneuve-20-07-2015-4956667.php

Weitere „verwandte“ Beiträge:

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  • La Goutte d’Or oder Klein-Afrika in Paris

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Geplante Beiträge:

  • Street-Art in Paris (2):  Mosko, Jef Aérosol und Jerôme Mesnager
  • Hector Guimard: Jugendstil in Paris/Art Nouveau à Paris
  • Street-Art in Paris (3):  Der Invader
  • Auf dem Weg nach Paris: Die Mühle von Valmy, ein Fanal der Französischen Revolution
  • Street-Art in Paris (4): M Chat, Miss Tic und Fred le Chevalier

Die Fontänen im Park von Versailles (1): Feier des Sonnenkönigs und Machtdemonstration

Die Fontänen im Park von Versailles sind ein unerschöpfliches Thema. Immerhin gab es zu Zeiten des Sonnenkönigs über 1200 davon. Auch wenn es heute nicht mehr so viele sind, werde ich  mich hier auf einige Aspekte beschränken (müssen). Im ersten Teil des nachfolgenden Textes möchte ich an einigen Beispielen zeigen, auf welche Weise  Fontänen  und Brunnen des Parks dazu dienten, den Ruhm des Sonnenkönigs zu mehren und eine Mahnung an seine Untertanen –vor allem natürlich an den am Hof von Versailles versammelten Adel – und die nach Versailles pilgernden  Repräsentanten fremder Mächte zu Wohlverhalten waren.  Dazu wird es einige konkrete Informationen über die heutigen regelmäßigen Wasserspiele (les grands eaux) geben,  bei denen man  die Brunnen und Fontänen im „Betrieb“ bewundern kann.

In drei späteren Teilen möchte ich zeigen, inwiefern die Fontänen von Versailles Ausdruck absolutistischen Größenwahns waren. Denn –anders als beispielsweise bei den spektakulären Wasserspielen von Kassel, dem „hessischen Versailles“[1]– waren in dem französischen Vorbild Versailles die topographischen Verhältnisse in keiner Weise für eine einigermaßen kontinuierliche Versorgung der Fontänen geeignet. Für den absolutistischen Herrscher,  der nicht nur seine Untertanen und Europa beherrschen  wollte, sondern auch die Natur, war das eine Herkules- Aufgabe, an der er aber trotz grandioser und geradezu pharaonischer Bemühungen ebenso grandios scheiterte.  Wenn Ludwig XIV. durch seinen geliebten Park wandelte und sich an den sprudelnden Brunnen und emporsteigenden Fontänen erfreuen wollte, wurde er von Brunnenmeistern begleitet, die die Anlagen vor ihm rechtzeitig in Betrieb nahmen und die Anlagen hinter ihm ausschalteten.  Darüber im zweiten und dritten Teil des Berichts mehr. 

Der zweite Teil ist im April 2019 in den Blog eingestellt worden: Die Fontänen von Versailles (2): Ausdruck absolutistischen Größenwahns

https://paris-blog.org/2019/04/01/die-fontaenen-von-versailles-2-ausdruck-absolutistischen-groessenwahns/ 

Im  dritten Teil wird es um die  gescheiterte Umleitung des Flusses Eure gehen, an die noch das grandiose Aquädukt von Maintenon erinnert. Den Abschluss wird dann die Maschine von Marly bilden, die grandiose Pumpstation an der Seine, die ebenfalls dazu dienen sollte, die Brunnen von Versailles mit Wasser zu versorgen. Dieser Teil  wird allerdings noch etwas auf sich warten lassen, weil ich darin auch das Museum von Marly einbeziehen möchte, das immer noch auf seine Neueröffnung wartet. (Stand April 2020; eigentlich war die Neueröffnung für Herbst 2019 angekündigt).  http://www.musee-promenade.fr/

Die Fontänen von Versailles: Verherrlichung des Sonnenkönigs und seiner Macht

„Das ganze riesige Gesamtkunstwerk von Versailles“ ist, wie Hans Sedlmayr erläutert hat, „einer einzigen übergreifenden Allegorie unterstellt. Versailles ist „der Ruheort der Sonne“, des Helios/Apollo, der hier  von seinen Taten ausruht. Und die Sonne ist nach der dem barocken Menschen durchaus geläufigen Devise ‚Quod sol in coelis id rex in terra‘  (Was die Sonne im Himmel ist, ist der König auf der Erde. W.J.) allegorisches Sinnbild des Königs, hier in Versailles ganz konkret  des „roi-soleil“ ,  des Sonnenkönigs.[2] Diese allegorische Verbindung von Sonne und König ist nicht erst in Versailles allgegenwärtig, sondern prägte von früh an das Leben des jungen Königs.

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Ein schönes Beispiel dafür ist das „Ballet de la  nuit“ von 1653, in dem der  Auftritt  des tanzbegeisterten jungen Louis von seinem Bruder so angekündigt wurde:

Le Soleil qui me suit c’est le jeune Louis.

La troupe des astres s’enfuit,

Dès que ce grand Roi s’avance. 

Und die Rolle, die der junge Ludwig XIV. hier spielte, war -wie hätte es auch anders sein können-  die des Sonnengottes Apoll.[3]

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Im Schloss von Versailles war denn auch der Salon des Apoll der eigentliche Thronsaal, dessen großartige Ausstattung die der anderen Salons noch übertraf. Kostbare Marmorstatuen und Gemälde von Rubens und van Dyck schmückten den Salon. Und auf einem silbernen Thron empfing Ludwig XIV. dort ausländische Botschafter oder nahm zu feierlichen Anlässen Platz. (3a)

Natürlich ist Apoll auch im Park des Schlosses allgegenwärtig. Eine Nachbildung des berühmten Apoll von Belvedere hat natürlich einen Ehrenplatz vor der dem Park zugewandten Seite des Schlosses unterhalb des Spiegelsaals. Die  „göttliche Schönheit“ dieses Apoll war für Winckelmann „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“.[6]Das war dem „Sonnenkönig“ angemessen.

Im Park beziehen sich zahlreiche Brunnen auf Apoll und dienen der Verherrlichung des Sonnengottes und damit auch des Sonnenkönigs. Es sind dies vor allem der zentrale Apollo-Brunnen und die aus der Thetis-Grotte hervorgegangenen Bäder des Apoll. In ihnen wird der seinen täglichen Lauf um die Erde beginnende und sich schließlich am Abend ausruhende Apoll thematisiert.

Hier ein Link zum offiziellen Plan des Parks:

http://www.chateauversailles.fr/sites/default/files/domaine_2011.pdf

Den Plan gibt es in aktueller Form auch kostenlos  im Tourismusbüro der Stadt Versailles. Es liegt auf der linken Seite der Avenue de Paris, die direkt auf das Schloss hinführt.

Die bei den nachfolgenden Darstellungen genannten Nummern beziehen sich auf diesen Plan.

a. Der Apollo-Brunnen

Es ist nur konsequent, dass sich im Zentrum der gesamten Parkanlage der Apollo-Brunnen befindet.  (Plan des Parks Nummer 9). Er liegt genau auf der durch die  „königliche Allee“ betonten  Achse zwischen dem Zentrum des Schlosses und dem  Großen Kanal (Grand Canal).  Zentrum des Schlosses ist auf der Gartenseite der  Spiegelsaal, aus dem heraus das nachfolgende Foto aufgenommen ist.[4]

Versailles Blick aus Spiegelsaal Febr. 10 (52)

Zur Zeit Ludwigs XIII. gab es hier schon ein Wasserbecken, das aber unter dem Sonnenkönig zu einer repräsentativen Anlage umgestaltet wurde: Geschmückt mit den vergoldeten Figuren des Apoll auf seinem Wagen.

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Die Verklärung  des Königs erreicht hier ihren Höhepunkt. Der Sonnengott Apoll  ist gerade dabei, sich dem Schloss von Westen  triumphal zu nähern und zu seiner täglichen Weltumrundung aus dem Wasser zu steigen, womit auch der Anspruch auf Weltherrschaft allegorisch ausgedrückt sein könnte.[5] Und natürlich wird das Ganze durch eine Fülle spektakulärer Fontänen effektvoll  in Szene gesetzt.

Apollo Versailles 3.6.12 Frauke 065

 b. Les Bains- d’Apollon

Kaum weniger spektakulär ist der bosquet des Bains-d’Apollon (Plan des Parks Nummer 21). Auch sein Zentrum ist Apollo.  Nach seinem Lauf um die Welt ruht der  Sonnengott in der Grotte der schönen Thetis und wird von  ihren fünf Nymphen verwöhnt.

Ursprünglich hatte die Figurengruppe ihren  Platz in der  auf der Nordseite  des Schlosses gelegenen Thetis-Grotte, während in den Seitenteilen Skulpturen der Sonnenpferde des Apoll platziert waren. (7)

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Das Äußere der Thetis-Grotte nahm –passend zu dem siegreichen Apoll und dem  siegreichen Sonnenkönig-  das Motiv der römischen Triumphbögen auf, gleichzeitig hatte das Bauwerk eine ganz praktische Funktion: Auf seinem Dach war nämlich ein Wasserreservoir für Schloss und Park installiert.  (Darüber im zweiten Teil dieses Beitrags mehr).  Die Thetis-Grotte musste allerdings der Erweiterung des Schlosses weichen, und 1781 erhielten Apoll und seine Sonnenpferde den heutigen Platz in dem von Hubert Robert gestalteten  Bosquet des Bains-d’Apollon.[8]

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                        Fotos: Wolf Jöckel, aufgenommen anlässlich der grands eaux musicales, während derer die bains d’Apollon zu besichtigen sind.

Robert, der eigentlich im „Hauptberuf“ Maler war, fertigte auch gleich ein Gemälde des von ihm entworfenen bosquets an, das heute im musée Carnavalet zu sehen ist.

hubert Bosquet Apollo

Die restaurierte Marmorplastik von Apoll und den Nymphen, die als Meisterwerk des Parks von Versailles gilt, war 2010 Höhepunkt einer Ausstellung im Schloss von Versailles, wird seitdem aber wieder in einem Depot gehütet.[9] Die Plastik im Park ist eine  Kopie.

Versailles L XIV Thetis Grotte

Charles Perrault, der Märchensammler und Inspirator des –nicht mehr existierenden- Labyrinths im Park von Versailles, schrieb zu dem von Ludwig XIV. selbst angeordneten Bau der Thetis-Grotte:

„Lorsque le roi eut ordonné qu’on battit la grotte de Versailles, je songeai que, Sa Majesté ayant pris le soleil pour sa  devise, (…) il seroit bon de mettre Apollon qui  va se coucher chez Thétis après avoir fait le tour de la terre, pour représenter que le Roi vient se reposer à Versailles après avoir travaillé à faire le bien du monde.“[10]

Auch diese Beschreibung ist natürlich Teil der Verklärung des Sonnenkönigs und ein ideologisches Produkt par excellence. Denn gerade aus deutscher Sicht wird man kaum zustimmen können, dass Ludwig XIV. für das  „Wohl der Welt“ gearbeitet habe. Seine Politik der verbrannten Erde in der Pfalz beispielsweise spricht da eine andere Sprache. Die Truppen des Sonnenkönigs hinterließen dort eine Spur der Verwüstung. Mainz, Mannheim, Worms, Speyer  und viele andere Städte wurden zerstört, das Schloss von Heidelberg, ein Juwel der Renaissance-Baukunst, gesprengt und  wie viele der linksrheinischen Burgen, die auch dieses Schicksal erlitten, zu einer –heute als romantisch verklärten-  Ruine gemacht.  Die Zerstörungswut  des Sonnenkönigs machte auch vor den Kaiserdomen nicht halt: Ihre  Kaisergräber wurden geschändet, der Dom von Speyer (mit glücklicherweise nur teilweisem „Erfolg“)  gesprengt, der Wormser Dom in Brand gesteckt und völlig verwüstet.  Der zeitgenössische Chronist Johann Friedrich Seidenbender verwünschte den Urheber dieses Unglücks, Ludwig XIV.,  als „den allerbarbarischsten Unmenschen, grausamsten Wüterich und Mordbrenner, der jemals gelebt haben mag oder noch ins Leben wird kommen können“.[11]

Aber eine düstere Kehrseite der glänzenden Medaille gibt es ja nicht nur beim Sonnenkönig, sondern auch bei seinem Sinnbild, dem Sonnengott Apoll, wie man aus der griechischen  Mythologie weiß: Dort wird nämlich berichtet, dass der Satyr Marsyas die Doppelflöte (Aulos) der Athena findet, die diese weggeworfen hatte, weil sie beim Spiel ihr schönes Gesicht entstellen würde. (Der griechische Bildhauer Phidias hat diese Szene in einer Plastik gestaltet, die nicht erhalten ist. Es gibt aber eine wunderschöne römische Kopie der Athena, die gerade  die Flöte weggeworfen hat,  in der Skulpturensammlung des Liebieg-Hauses in Frankfurt.)

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Marsyas bringt es zu einiger Meisterschaft im Flötenspiel und fordert im Übermut den die Laute (Kithara) spielenden Apoll  zu einem Wettkampf heraus.  Zunächst geht er daraus als Sieger hervor, aber dann gewinnt doch noch Apoll, als er zu seinem Spiel auch noch singt. Zur Strafe verfügt Apoll,  dass Marsyas bei lebendigem Leib gehäutet wird.

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Ovid beschreibt  in seinen Metarmorphoseni in aller Drastik, was dem Satyrn widerfahren ist, „der, auf tritonischem Rohr (also der Doppelflöte W.J.) dem Spross  der Latona (also Apoll) erlegen, Züchtigung litt.“[12]

„Warum entziehst du mich“, schrie er „mir selber?

Ach, mich gereut’s. Soviel ist ja nicht an der Flöte  gelegen.“

Während er schreit, ist die Haut ihm über die Glieder gezogen.

Wunden bedecken ihn ganz, und das Blut strömt über und über.

Offen und bloß sind die Nerven zu sehn; die zuckenden Adern

Schlagen, der Hülle beraubt, und die wallend bewegten Geweide

Konnte man  zählen genau und der Brust durchscheinende Fasern.

Tränen vergossen des Hains Gottheiten, die ländlichen Faune,

Satyrn, die Brüder, um ihn und der schon ruhmreiche Olympos

Samt dem Nymphengeschlecht, und wer nur dort im Gebirge

Weidete wolliges Vieh und hörnergewaffnete Rinder.

Aber die Reue des Marsyas, den Sonnengott herausgefordert zu haben, und auch die Tränen der Nymphen können Apoll nicht erweichen; ebenso wenig wie  die ja doch wohl etwas  unlauteren Umstände seines Siegs sein grausames Rachebedürfnis mildern können.  Das passt zwar wenig zu einem „Gott der sittlichen Reinheit und  Mäßigung“[13], aber auch das ist Apoll! Und auch insofern  passen  Ludwig XIV. und Apoll gut zusammen.

 

Brunnen als Machtdemonstration und als Warnung

Der in Versailles abgebildete Apoll ist natürlich der schöne Jüngling von Belvedere, der Gott des Lichts, der morgens  zum Lauf um die Welt  aufbricht und abends im Kreis ihn umsorgender Nymphen von dem Guten, das er –nach Perrault- der Welt getan, ausruht. Auch wenn es im Park keine  Statue des gehäuteten Marsyas gibt: Der Besucher sollte wissen, dass Apoll auch eine andere Seite hat. Und es gibt dementsprechend  Brunnen, die zeigen, was Widersachern des Apoll/des Sonnenkönigs  widerfährt, die also als Machtdemonstration und als Warnung dienen.

a. Der Brunnen der Latona

Das prominenteste Beispiel dafür ist  der  wunderbare  Brunnen der Latona, der auf der zentralen Achse zwischen Schloss und Grand Canal liegt (Plan Nummer 10).  Bezogen auf die  Konzeption des Parks ist er also das Pendant zum Apollo-Brunnen und kaum weniger spektakulär gestaltet.

Versailles Latone 086

Der Brunnen veranschaulicht die in den Metamorphosen des Ovid wiedergegebene Legende der Göttin Latona, die, wie wir schon in der Marsyas-Geschichte  erfahren haben, die Mutter des Apoll ist.[14]   Latona/Leto war eine Geliebte des Zeus, der mit ihr Zwillinge zeugte. Sie wurde deshalb von Hera,  der eifersüchtigen Gattin des Zeus/Jupiter, auf eine Insel verbannt, wo sie die Zwillinge gebären musste. Mit den Neugeborenen  flüchtet sie nach Lykien, wo sie  völlig erschöpft die fremde Umgebung erkundet. Dabei trifft sie an einem kleinen See auf Bauern, die Binsen und Schilf sammeln. Wegen der Sommerhitze dem Verdursten nahe, bittet Latona für sich und ihre Kinder höflich und mit vielen guten Gründen um Wasser. Doch nicht nur, dass die Bauern Latona verbieten zu trinken, sie wirbeln sogar den Schlamm vom Grunde des Sees auf, um das Wasser untrinkbar zu machen. Daraufhin bittet sie Jupiter, sie zu rächen, was denn auch geschieht: Er verwandelt die lykischen Bauern in Frösche und Eidechsen, und genau dieser Prozess der Verwandlung ist in der Brunnenanlage gestaltet.

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Einige der Figuren sind noch eher Menschen, andere schon eher Frösche.

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Die meisten Brunnenfiguren sind aber schon zu Amphibien verwandelt: in Frösche, Schildkröten und Alligatoren.

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Die unmenschlich handelnden Bauern müssen von nun an immer als Tiere im schlammigen Wasser leben (auf Schildern am Brunnenrand wird ausdrücklich davor vor der Wasserqualität gewarnt), während sich Latona mit ihren Zwillingen in der Fontäne an  reichlich  (frischem) Wasser erfreuen kann.[15]

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                                                                Fotos: Wolf Jöckel

b. Le Bassin du dragon/das Drachen-Bassin

In engem mythologischen Zusammenhang mit dem Latona-Brunnen steht  der Drachenbrunnen (Plan des Parks Nummer 26).  Der Brunnen zeigt die Schlange/den Drachen Python, die gerade von einem Pfeil des jungen Apoll  getroffen wurde.

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Python sollte im Auftrag der  Göttin Hera/Juno die Geburt der Zwillinge Apoll und Diana/Artemis verhindern. Weil sie gegenüber den zahlreichen Abenteuern ihres Mannes machtlos  war, wollte sie eben seine Geliebte treffen.  Apoll tötet aber den Drachen und damit die Mächte des Bösen.  Wie wichtig dem Sonnenkönig  dieser Brunnen war, zeigen  seine Lage am Ende der parallel zum Schloss verlaufenden Nord-Süd-Achse und die Höhe der Fontäne: Mit 27 Metern ist sie die höchste aller Fontainen im Park von Versailles. [16] Ludwig XIV. zeigt hier mit großer Drastik, was denen widerfährt, die ihm schaden wollten  oder wollen: Die Zeitgenossen verstanden das offenbar als deutlichen Hinweis auf den Sieg des jungen Königs über die gegen ihn rebellierende Fronde.[17]

 c. Le bosquet de l’encelade

Dieses Boskett (im Plan des Parks die Nummer 10) geht zurück auf einen Entwurf von Ludwig XIV. selbst, während die Ausführung  dem Gartenarchitekten Le Nôtre übertragen wurde. Dass der Sonnenkönig das Schicksal des Giganten  Enceladus zum Thema einer Brunnenanlage macht, ist natürlich eine sehr bewusste Entscheidung. Enceladus gehörte nämlich zu einer Gruppe von Giganten, die nach der Überlieferung der griechischen Mythologie versuchten, den Olymp zu stürmen und die Herrschaft der Götter zu beseitigen.

Dieses Unternehmen  scheitert allerdings, die Giganten werden getötet. Enceladus kann zwar entkommen, wird aber unter einem Steinehagel begraben, den die Göttin Athena auf ihn schleudert. Im Park von Versailles sieht man ihn schreiend vor Schmerzen, die eine Hand krampfhaft geöffnet, in der anderen hält er noch einen Stein, den er wohl mit letzter Kraft zurückwerfen möchte. Aber gegen die  Macht der Götter kann er nichts ausrichten und so ist er dem Untergang geweiht.

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Offenbar handelt es sich auch  hier  nach dem Willen des Sonnenkönigs um eine allegorische Darstellung, die auf seinen Sieg gegen die Fronde anspielt. Wie wichtig Ludwig XIV. auch  diese Brunnenanlage war, zeigt sich wieder an der Höhe  ihrer Fontäne:  Mit 78 Fuß/25,75 Metern ist sie nach der des Drachenbrunnens die zweithöchste des Parks von Versailles. Die beiden Fontänen sind also gewissermaßen zwei unübersehbare Ausrufungszeichen und Warnsignale: Ein Aufbegehren gegen göttliche Autorität und entsprechend auch gegen die des Sonnenkönigs wird mit aller Härte bestraft.[18]

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d. Bosquet de l’arc de triomphe oder Bosquet de la France Triomphante

Diese  Brunnenanlage hat zwar keinen Bezug zu Apoll und auch keinen anderen mythologischen Hintergrund, verherrlicht dafür aber ganz direkt den Sonnenkönig und seinen militärischen Ruhm. Der Name des Bosketts, im Plan des Parks die Nummer 30, bezieht sich auf einen Triumphbogen, den es hier zu Zeiten Ludwigs XIV. gab. Von der damaligen Anlage ist nur noch ein Brunnen  erhalten, dessen Mittel- und Höhepunkt die Personifizierung des über seine Feinde triumphierenden Frankreich bildet. Deshalb wird der Bosquet auch  Bosquet de la France Triomphante genannt. [19]

Download la France Triomphante

Gefeiert werden hier im Park noch einmal die Siege Ludwigs XIV. über Spanien und das Reich/Habsburg, die ja schon an der Grille d’honneur, rechts und linkes des Eingang in den Ehrenhof  des Schlosses, in Stein gemeißelt sind.[20]

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Die  Besiegten unterhalb des triumphierenden Frankreich  sind durch ihre Attribute, Löwe und Adler,  als Spanien und das Reich/Österreich bezeichnet.[21]

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Sie erinnern an die Gestalten der vier  besiegten  und gefangenen Feinde – Holland, Brandenburg, das Reich und Spanien- vom Fuß des Standbilds Ludwigs XIV. auf der Place des Victoires in Paris, die sich heute im Louvre befinden.[22]

Auf der untersten Stufe des Brunnens liegt  hinter einem Vorhang aus Wasser ein hingestrecktes, mehrköpfiges Ungeheuer, das gewissermaßen kurz davor ist, vom Wagen des triumphierenden Frankreich zermalmt zu werden. Es ereilt damit  –so die Botschaft der Anlage- das Schicksal aller Feinde des triumphierenden Sonnekönigs.

Weitere Fontänen in den Bosquets

Natürlich gibt es noch viele andere und ganz vielfältige Fontänen im Schlosspark  von Versailles. Es lohnt sich also, in Ruhe herumzugehen und das Gesamtkunstwerk dieses Parks zu betrachten und zu genießen.

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Versailles 010

Fotos: Wolf Jöckel

Dabei sollte man auch die Anlagen beachten, die neu gestaltet sind – der Park von Versailles soll sich ja –wenn auch sehr behutsam- der neuen Zeit öffnen.  Zwei schöne Beispiele für neu  gestaltete Brunnenanlagen sind das Bassin du Miroir (Plan Nummer 15)  mit seinen computergesteuerten Fontänen….

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… und le bosquet de théâtre d’eau, ein spektakuläres Wassertheater, das Ludwig XIV. besonders liebte, das aber solche hydraulischen Anforderungen stellte, dass es unter seinen Nachfolgern wesentlich zurückgestutzt  und als  eher unscheinbarer bosquet du Rond-Vert weiterbetrieben wurde.  2014 wurde er in neuer Form und mit dem alten  Namen wiedereröffnet. (Plan Nr. 42)

DSCN3079 Wassertheater

Le bosquet de théâtre d'eau IMG_5076

Grands Eaux musicales und Grands Eaux nocturnes

Bewundern kann man die Fontänen bei den Grands Eaux musicales. Hier der Ausschnitt eines Werbeplakats – natürlich mit einem Motiv des Apollo-Brunnens.

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An den entsprechenden Tagen sind  einige Stunden lang die Brunnen und Fontänen in Betrieb und einige der sonst geschlossenen Bosquets sind geöffnet. Dazu gibt es aus Lautsprechern  Musik „des plus grands compositeurs baroques, de Lully à Charpentier ou Rameau“, wie es passend zu Versailles auf der offiziellen Website heißt.

Den krönenden Abschluss der grands eaux bilden (allerdings nicht dienstags)  die Fontänen des Neptun-Brunnens. Sie werden um 17.20 Uhr 10 Minuten lang in Betrieb genommen.

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Die Besucher haben also, wenn die anderen Fontänen um 17 Uhr enden, genügend Zeit, zum Neptun-Brunnen zu gehen und  dort gewissermaßen wie in einem Amphitheater erwartungsvoll  auf das zehnminütige grandiose Schaupiel zu warten.

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Es lohnt sich ganz bestimmt!

An Samstag-Abenden im Sommer werden zusätzlich die grands eaux nocturnes veranstaltet.

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Versailles nocturne Juli 2010 017

Da sind die Fontänen oft farbig illuminiert und den Abschluss bildet ein Feuerwerk über dem Grand Canal hinter dem angestrahlten Apollo-Brunnen.[23]

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Wir haben das einmal miterlebt, aber das hat uns auch gereicht, während die grands eaux musicales immer wieder ein Erlebnis sind.

 

 Praktische Informationen:

Die grands eaux musicales  finden im Allgemeinen zwischen April und Oktober statt. Die genauen Daten (an Wochenenden und Feiertagen, z.T. auch dienstags),  Öffnungszeiten (i.A. 11-12 und 15.30 bis 17 Uhr)  und Eintrittspreise (2017: 9,50 Euro) findet man unter:

http://www.chateauversailles-spectacles.fr/les-grandes-eaux-musicales

Eine Vorbestellung von Eintrittskarten ist nicht unbedingt notwendig, weil  für die grands  eaux spezielle Kassen eingerichtet werden, so dass man sich nicht  in die Schlangen der Schlossbesucher einreihen muss.

Sehr empfehlenswert ist es allerdings, wenn man mit Metro/RER aus  Paris kommt (RER C Paris – Versailles Château  Rive Gauche), schon gleich zwei Tickets pro Person zu kaufen. So vermeidet man bei der Rückfahrt die oft langen Warteschlangen vor den Kassenautomaten bzw. Schaltern im Bahnhof von Versailles.

Wenn man übrigens zum Bassin de Miroir oder zum Bosquet du Théâtre d’Eau kommt, muss man nicht enttäuscht sein, wenn die Fontänen nicht in Betrieb sind: Sie werden während der Öffnungszeiten alle 10 bzw.  15 Minuten für kurze Zeit aktiviert.

Weitere Beiträge mit Bezug zu Ludwig XIV.:

Anmerkungen:

[1] http://www.n-tv.de/panorama/Kassel-will-Welterbe-sein-article596745.html

[2] Hans Sedlmayr: Allegorie und Architektur. In: Martin Warnke (Hrsg.): Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Repräsentation und Gemeinschaft. Köln: DuMont 1984. S. 157-174

Wiedergeben bei: http://www.thomasgransow.de/Paris/Versailles.htm

[3] Zitat und Bild aus: http://plume-dhistoire.fr/louis-xiv-et-la-danse-expression-du-regne/

(3a) Jacques Levron, La cour de Versailles aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris: Hachette 1999, S. 40

[4] Der Baulehre entsprechend müsste im Zentrum des Schlosses auf der stilleren Parkseite eigentlich das Schlafzimmer des Königs liegen. In Versailles befindet es sich aber zwar ebenfalls im Zentrum, aber auf der Hofseite. Es muss, wie Sedlmayr a.a.O. erläutert, wie die Apsis einer christlichen Kirche nach Osten ausgerichtet sein. „um die Beziehung zur aufgehenden Sonne architektonisch darzustellen.“

[5] Siehe: Uwe Schultz, Der Herrscher von Versailles: Ludwig XIV. und seine Zeit. München: C.H.Beck,  S. 197

[6] Siehe den Artikel über Winckelmann als Begründer der Klassischen Archeologie in Monumente 8/2017, S. 8ff. Am Rande sei außerdem vermerkt, dass es –man kann schon sagen: natürlich- auch mehrere Apollo-Statuen in Versailles gibt, darunter zwei Nachbildungen des Apoll von Belvedere. Siehe: https://andrelenotre.com/statues-dapollon-jardins-de-versailles/

[7] http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/les-chevaux-d-apollon-panses-par-les-tritons

[8] http://www.chateauversailles.fr/decouvrir/domaine/jardins/bosquets#bosquets-nord

Über Robert siehe: http://www.tagesspiegel.de/kultur/retrospektive-von-hubert-robert-im-louvre-sehen-und-traeumen/13566056.html

[9] Ein Video über die Restaurierung: https://www.youtube.com/watch?v=0sYBH3RZ0L8

[10] https://andrelenotre.com/10062-2/

[11] Zit in Jan von Flocken, Als Frankreichs Armeen Deutschland verwüsteten. Die Welt, 24.7.2015 https://www.welt.de/geschichte/article144374056/Als-Frankreichs-Armeen-Deutschland-verwuesteten.html

[12] Ovid, Metamorphosen, 382-400  http://www.gottwein.de/Lat/ov/met06de.php

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Apollon

[14] http://www.gottwein.de/Lat/ov/met06de.php

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Lykische_Bauern

http://www.chateauversailles.fr/decouvrir/domaine/jardins/bassins-fontaines#le-bassin-de-latone

[16] http://www.chateauversailles.fr/decouvrir/domaine/jardins/bassins-fontaines#le-bassin-du-dragon

http://www.lankaart.org/article-versailles-bassin-du-dragon-86685949.html

[17] http://720plan.ovh.net/~jardinsd/Statues/Dragon/Pages/Dragon-00.htm

[18] https://fr.wikipedia.org/wiki/Bosquet_de_l%27Encelade

https://andrelenotre.com/bosquet-de-lencelade-jardins-de-versailles/

[19] Bild aus: http://ghislaine-photos.com/blog/2014/09/10/2014-02-versailles

[20] http://www.sculpturesversailles.fr/html/5b/selection/page_notice-ok.php?Ident=E&myPos=1&idEns=1576

https://fr.wikipedia.org/wiki/Grille_d%27honneur_(Versailles)

[21] Bild aus: http://www.chateauversailles.fr/decouvrir/domaine/jardins/bosquets#bosquets-sud

[22] http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/quatre-captifs-dits-aussi-quatre-nations-vaincues-l-espagne-l-empire-le-brandebourg-e

[23] http://www.chateauversailles-spectacles.fr/les-grandes-eaux-nocturnes

Bei dem Bild handelt es sich um ein Werbeplakat für die Veranstaltung