Das Museum für Einwanderungsgeschichte in Paris: Die neue Dauerausstellung

Dieses Bild kennt wohl fast jeder, der in Frankreich zur Schule gegangen ist: Ludwig XIV. im Krönungsornat: Der Sonnenkönig, der Frankreich 52 Jahre, länger als jeder andere, regierte, in dessen Glanz sich die „Grande Nation“ bis heute noch gerne sonnt; mit Napoleon und de Gaulle der bekannteste Franzose. Franzose? Was denn sonst? Da kann es doch nicht den geringsten Zweifel geben. Oder vielleicht doch? „Verrückt, alle diese Ausländer, die die Geschichte Frankreichs gemacht haben.“ Ludwig XIV, ein Ausländer?! Das kann doch nicht wahr sein! Aber immerhin: „Mutter spanisch, Großmutter österreichisch“. Die Botschaft: Selbst der Sonnenkönig hatte einen Migrationshintergrund! [1]

Natürlich ist das eine Provokation und soll es auch sein.. Denn es handelt sich um das Werbeplakat für die neue Dauerausstellung des Musée national de l’histoire de l’immigration in Paris, die nach dreijähriger Unterbrechung im Juni 2023 eröffnet wurde. Es will ein spannendes modernes „musée pour tout le monde“ (Museum für alle) sein: Immerhin sei die Immigration integrativer Bestandteil der französischen Geschichte und immerhin sei, wie die Ausstellungsmacher betonen, jeder 3. Franzose Einwanderer oder Kind bzw. Enkelkind von Einwanderern.[1a] Besonders junge Menschen fühlen sich angezogen, die auf der Suche nach mehr Wissen über ihre Migrationsgeschichte sind. Und dies an einem Ort, der selbst schon Geschichte geschrieben hat, da das Gebäude zur Kolonialausstellung 1931 errichtet wurde.

Allerdings betritt der Besucher den monumentalen Art-déco-Bau nicht mehr über den großen von Löwen flankierten Eingang wie früher. Jetzt nähert man sich bescheiden von der Gartenseite auf einem kleinen Weg, vorbei an erläuternden Tafeln zur Geschichte des Palais de la Porte dorée und einem Schwimmer:

Er verweist auf die mörderische Fluchtroute über das Mittelmeer.

Angelangt an den Reliefs der Außenfassaden unter den Kolonaden, gibt es Erstaunliches zu sehen. Ganz ohne Scham werden die angeeigneten Rohstoffe aus den Kolonien präsentiert, die ausgebeuteten Menschen werden rassistisch oder idealisiert dargestellt, die indigenen Frauen barbusig, was uns heute unangenehm berührt.

Fast 100 Jahre liegen zwischen diesen herrschaftlichen Darstellungen einer Kolonialmacht und dem neuen innovativen Konzept der 2023 eröffneten Dauerausstellung. Sie macht mit motivierenden pädagogischen und didaktischen Mitteln das Leben und Leiden von Migranten erfahrbar, die oft aus diesen ehemaligen Kolonien Frankreichs kamen und kommen.

Portugiesische Einwanderer am gare d’Austerlitz 1956

Im Treppenaufgang wird der Besucher von assoziativ an der Wand aufgereihten dokumentarischen Bildern und Stichpunkten empfangen wie : papiers / famille / accueil / frontière /attente / séparation / asile / refuge / hospitalité / passage / langage / fuir / danger /partir / avenir / horizon, die alle einzeln zum Nachdenken anregen. Im Treppenabgang sind Sätze, aus verschiedenen kleinen Schuhen geformt, an die Wand geklebt. Einer heißt „où aller?

In der Ausstellung werden aber auch große Erfolge von Einwanderern (z.B. Fußballspieler Zidane) herausgestellt.

Denn zur Konzeption des Museums gehört es, die positiven Seiten der Migration zu betonen. Dies ist gerade in einer Zeit bedeutsam, in der im politischen Diskurs die Xenophobie Konjunktur hat und in der viele Einwanderer Diskriminierung erfahren. [1b] Bezeichnend dafür ist das im Dezember 2023 beschlossene neue Einwanderungsgesetz. Es sieht derart massive Einschränkungen der Migration vor, dass sogar der Rassemblement National Marine Le Pens darin seine Forderungen berücksichtigt sah und ihm zustimmte. [2]

Zu der -im demonstrativen Gegensatz zum politischen Umfeld- positiven Sicht auf die Migration in der neuen Dauerausstellung passt die Herausstellung der Einwanderung von Polen, die nach dem 1. WK in Folge des Männermangels sehr zahlreich nach Frankreich zogen, um in den Minen zu arbeiten, ebenso der Polinnen, die mit ihnen kamen und sich in Haushalten oder Fabriken verdingten. Auch die Migranten aus Italien, Portugal, Spanien, Osteuropa oder Armenien werden gewürdigt: Angesichts der bevorstehenden Pantheonisierung der Widerstandskämpfer Missak und Mélinée Manouchian (mehr dazu im nächsten Blog-Beitrag) sind die Flucht von Armeniern vor dem Völkermord und ihre Aufnahme in Frankreich derzeit ja besonders im Blickpunkt. Eine aktuelle Sonderausstellung gilt der asiatischen Zuwanderung. Dazu gehörten auch die vielen Chinesen, die im Ersten Weltkrieg nach Frankreich geholt wurden, um die Männer an der Front zu ersetzen.[3]

Historisch beginnt die Ausstellung mit dem Jahr 1685, das eine doppelte Bedeutung hat: Es ist das Jahr des Edikts von Fontainebleau Ludwigs XIV., in dem die von Heinrich IV. im Edikt von Nantes verfügte Religionsfreiheit in Frankreich zurückgenommen wurde. Damals waren es also Franzosen, die ihr Land verlasssen mussten, Migranten waren. Und 1885 ist das Jahr des Code noir, der gesetzlichen Grundlage für die Sklaverei in den französischen Besitzungen: Ein Hinweis auf die lange Geschichte von Diskriminierung. Und dies ist gerade ein Merkmal der neuen Dauerausstellung: Hatte sie bisher ihren Schwerpunkt auf die Geschichte der Einwanderung aus Europa seit dem 19. Jahrhundert gelegt, so bezieht sie jetzt die nach Überzeugung der Ausstellungsmacher fundamentale koloniale Dimension der Einwanderung nach Frankreich ein. [3a]

Die Sklaverei in den Kolonien unter dem Ancien régime wird unter anderem illustriert mit dem Portrait eines jungen Sklaven, das Hyacinthe Rigaud, bekannt vor allem durch das anfangs abgebildete Portrait Ludwigs XIV.,  um 1710/1720 malte.

Der aus Afrika verschleppte junge Mann könnte ein Prinz sein, trüge er nicht die eiserne Schelle um den Hals. [4] Es ist ein Domestik in einem vornehmen Pariser Haushalt, wo man gerne farbige junge Mädchen und Jungen hielt – mit einem Statut zwischen Objekt, Haustier (animal de compagnie) und lebendem Schmuckstück, wie es auf der beigefügten Informationstafel heißt.

Thematisiert wird auch die vorübergehende Abschaffung der Sklaverei im Geiste der Französischen Revolution, ihre Wiedereinführung unter Napoleon und schließlich ihre endgültige Beseitigung 1848.

Alphonse Garreau, Allegorie der Abschaffung der Sklaverei in der Kolonie La Réunion am 20. Dezember 1848  (um 1849)

Dann das Thema Glaubensflüchtlinge. Die Vertreibung der protestantischen Hugenotten aus dem katholischen Frankreich und ihre Neuansiedlung wird anhand einer Karte gezeigt und mit Dokumenten belegt. Die große Bedeutung der Hugenotten für Deutschland, insbesondere für Preußen, ist legendär. Ein Beispiel für gelungene Integration, die von den Ausstellern hervorgehoben wird. Leider keine Erwähnung findet die Vertreibung der Waldenser, einer kleineren Protestantengruppe aus dem Lubéron und Piemont, die sich z.B. im hessischen Raum ansiedelten. In dieser Zeit boten protestantische deutsche Fürsten den Verfolgten Zuflucht.[5]

Trugen die französischen Hugenotten erheblich zur wirtschaftlichen Dynamik in Deutschland bei, so gilt das umgekehrt auch für die deutschen Weinhändler, die Ende des 18. Jahrhunderts nach Frankreich kamen und vor allem das internationale Renommee des Champagners wesentlich beförderten. Zahlreiche bedeutende Champagner-Häuser tragen seitdem deutsche Namen, so das Haus Heidsieck, das 1785 von dem aus Westfalen stammenden Florenz-Ludwig/Florens-Louis Heidsieck gegründet wurde.[6] Die positive Rolle der Migration, Leitidee der neuen Dauerausstellung, wird so historisch untermauert.

Lié-Louis Périn-Salbreux, Portrait de Madame Walbaum-Heidsieck, 1817

Im 19. Jahrhundert suchten viele deutsche Intellektuelle in Paris ein neues Betätigungsfeld, da die Meinungsfreiheit in der Heimat eingeschränkt war. Hier sind Heinrich Heine und Ludwig Börne zu nennen. Leider bleibt diese Migration ebenso unerwähnt wie die der deutschen Dienstmädchen und hessischen Straßenkehrer in Paris, die allerdings wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten kamen. [7]

Für das Schicksal deutscher Exilanten, die vor dem Naziregime nach Frankreich flohen, steht die Schreibmaschine des Sozialdemokraten Heinrich Kraft.

Der floh unter dem Druck der Nazis 1933 zunächst in das Saargebiet, 1935 nach Frankreich. Nach dem Kriegsausbruch 1939 wurde er als „Angehöriger einer feindlichen Macht“ interniert. Da ging es ihm so wie auch den anderen Flüchtlingen aus Deutschland: „Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein- oder zumindest zukünftige Staatsbürger; aber bei Kriegsausbruch wurden wir trotzdem als ‚boches‘ interniert“, schrieb Hanna Arendt. [8]

Nach seiner Freilassung 1940 engagierte sich Heinrich Kraft mit seinen Kindern und seinem französischen Schwiegersohn in der Résistance. 1943 wurde er von der französischen Polizei verhaftet, an die Gestapo ausgeliefert, gefoltert und umgebracht.

Anderen gelang mit Hilfe des amerikanischen Generalkonsuls Varian Fry die Flucht über die Pyrenäen oder, wie Anna Seghers oder dem Maler Moîse Kisling, über den Hafen von Marseille.

Moîse Kisling, Der Hafen von Marseille, um 1940

Auf einer interaktiven Karte zu Herkunftsländern von Migranten werden Stephane Hessel als résistant und die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld mit Bildern und kurzen Biografien vorgestellt.

So viel zur deutsch-französischen Migration in dem Kontext der Ausstellung.

Wichtiges und bis heute belastendes Thema für Frankreich ist dann natürlich das ausführlich behandelte Algerien mit dem erbärmlichen Leben der algerischen Arbeiter und Familien der Nachkriegszeit in den “bidonvilles“ …

Bidonville von Nanterre. © Photographie Monique Hervo, Bibliothèque de documentation internationale contemporaine, MHC

… ihrer Unterdrückung im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung…

  Nach dem Massaker vom 17. auf den 18. Oktober 1961: Quai de Conti, 6. November 1961                     © Jean Texier / L’Humanité

…. bis hin zu ihrer Integration in die französische Arbeiterbewegung und die französische Gesellschaft.

Um die geht es auch bei den „sans-papiers“, deren Schicksale und Kampf um Gleichstellung dargestellt sind – ein gerade besonders aktuelles Thema angesichts der vielen illegalen Beschäftigten auf den Olympiabaustellen [9] und dem neuen restriktiven französischen Einwanderungsgesetz (loi d’immigration).

Das Thema Diskriminierung wird durch Umfragen und Statistiken anschaulich.

Hier gibt es zum Thema Vorurteile gegen Roms (Die Roms sind Diebe) einen zum Hören und zum Nachdenken anregenden Diskussionsbeitrag.

Am Ende der Ausstellung kommen in kurzen Video-Sequenzen jugendliche Migranten der 2. bzw. 3. Generation zu Wort und berichten aus ihren Alltagserfahrungen.

 Diese Zeugnisse, auch über Benachteiligung und Unrecht, sind sehr berührend.

Die Geschichte der Migration ist, das will diese Ausstellung deutlich machen, auch eine Geschichte der Diskriminierung. Und die schlug manchmal sogar in blanke Gewalt aus der Bevölkerung oder seitens des Staates um, wie das Massaker an italienischen Salinenarbeitern in Aigues-Mortes 1893 oder die Polizeigewalt gegen algerische Demonstranten 1961 zeigen.[10]

„Frankreich erscheint“, wie Claus Leggewie in seiner Ausstellungskritik schreibt, „hier in seiner ganzen Ambivalenz, als Hort des Universalismus wie als Treibhaus schlimmster Fremden- und Menschenfeindlichkeit. … ’Manque de bras!‘ (Unterbeschäftigung) lautete der Hilferuf seit den 1880er Jahren. Die französische Sonderstellung besteht darin, dass im Gesamtverlauf der Industrialisierung kontinuierliche Importe von Arbeitskraft willkommen waren, gegen die dann in Phasen der Rezession und vor der Reinheitsfantasie der „Français de souche“ regelmäßig Aversionen aufkamen. Die Stilisierung zum Ursprungsland der Menschenrechte, das großzügig Asyl und mit dem Jus soli allen auf französischem Boden Geborenen die Staatsangehörigkeit bietet, kontrastiert stets mit drastischen Praktiken der Ausbürgerung und Diskriminierung.“ [11]

Aber insgesamt wurden vor allem die Migrantenströme des 19. und 20. Jahrhunderts aus Europa gut aufgenommen und allmählich zu einem integralen und bereichernden Bestandteil der französischen Bevölkerung. Mit der massiven Migration der letzten Jahrzehnte vor allem aus den ehemaligen Kolonien ist das anders. Und da steht der Diskriminierung auf der einen Seite teilweise auf der anderen Seite eine Ablehnung von Integration und eine Herausbildung von Parallelgesellschaften entgegen. Das näher zu betrachten würde jedoch die positive Darstellungsintention der Ausstellung in Frage stellen, die sich als Gegengewicht zur gängigen Kritik an Migranten und Migration versteht. Dass entsprechende Reaktionen da nicht ausbleiben, liegt auf der Hand: Der „roman national“ werde durch ein „multikulturelles Märchen“ ersetzt. Die Ausstellung sei eine Provokation: einseitig, polemisch, wissenschaftlich unhaltbar – auch wenn der Vorsitzende des für die Ausstellung verantwortlichen wissenschaftlichen Beirats, Patrick Boucheron, Historiker am hochangesehenen Collège de France ist. [12]

Die Vision eines gelungenen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Kulturen veranschaulicht eine Installation des chinesischen Künstlers Chen Zen, die in einer aktuellen Sonderausstellung über Migrationserfahrungen von 10 chinesischen Künstlern präsentiert wird: [13] ein großer runder Tisch, um den herum ganz viele unterschiedliche Stühle gruppiert sind.

Die Installation kann auch als Antwort auf manche Kritiker der Ausstellung verstanden werden: Die Ahnen der Franzosen sind nicht nur, wie der frühere Präsident Sarkozy proklamierte, die Gallier. Und zu dem sogenannten „roman national“ Frankreichs haben viele Menschen aus anderen Ländern und Kulturen beigetragen und ihn so bereichert. Gut also, dass der Tisch in der Mitte erweitert wurde, um für alle Stühle Platz zu schaffen….

Das Museum bietet vielfältige interessante Zugangsmöglichkeiten, bessonders für junge Besucher.

Es gibt ein „studio de musique“ mit 6 playlists zum Anklicken und gemütlichen Sitzgelegenheiten zum Hören. Sitzen können sogar ganze Gruppen auch im „petit amphi“ und dort Filme sehen.

Dieser Raum ist nach Anmeldung auch reservierbar. Eine große Zahl an selbst aktivierbaren Bildschirmen erlaubt es, bestimme Themen zu vertiefen wie z.B. das „droit du sol“, das in Frankreich (wenn auch nach dem neuen Einwanderungsgesetz nur noch mit Einschränkungen) gilt im Gegensatz zum „droit du sang“ in Deutschland.

Wer will, kann sich im Vorfeld über die umfangreiche Ausstellung insgesamt informieren um einen Gesamteindruck zu gewinnen. Es bietet sich aber auch an, bestimmte Schwerpunkte herauszusuchen, um sie genauer zu betrachten.

Von der Ausstellung im ersten Stock lässt sich in die zentrale Halle in der Mitte des Gebäudes blicken. Dieses Forum wirkt mit seinen den französischen Kolonialismus verherrlichenden Fresken sehr exotisch und durch seine Größe wie ein Tempel. In der Außenhalle davor befindet sich ein kleines Café-Restaurant, das zur Pause einlädt – auch draußen unter der sonnigen Terrasse direkt neben der kolonialen Fassade, die auf dieser Seite eher Flora und Fauna zum Inhalt hat, wie zum Beispiel ein grimmiges Krokodil. Im Sommer sind auf der unteren großen Terrasse sogar Tische und Stühle aufgestellt und es findet dort die Bewirtung statt. Der Zugang dorthin sowie in das Gebäude ist frei und die Räume offen für alle unabhängig vom Ausstellungsbesuch.  Also jeder ist eingeladen zu kommen und sich ein Bild von der Pracht des Baus machen und von dem zentralen Forum und den beiden kolonialen Salons, die kostenlos zu sehen sind.

Neben einem Rundgang die Ausstellung oder unabhängig davon lohnt auch ein Besuch des Aquariums im Kellergeschoss – auch ein Relikt aus der Zeit der Kolonialausstellung und ein Muss für alle kids.

Besonders beliebt bei ihnen ist dort die Möglichkeit einer interaktiven virtuellen Begegnung mit Walen. (Une plongée interactive avec les baleines)

Aber auch der Lac Daumesnil im Bois de Vincennes direkt gegenüber ist eine Attraktion. Hier kann man spazieren gehen, ein Ruderboot mieten, auf der Insel den Aussichtstempel oder das Gartenrestaurant besuchen oder auch einfach nur Picknick am See machen.

Der Lac Domesnil mit dem Tempel. Im Hintergrund der Affenfelsen des Zoos.

Vielleicht hat man sogar Glück und die große Pagode am See, die auch noch aus der Zeit der Kolonialausstellung stammt, ist zugänglich.

Auf jeden Fall eine interessante und erholsame Tages-Alternative zum Eiffelturm-Tourismus- gerade auch für und mit Kindern und Jugendlichen.

Text und Bilder, soweit nicht anders angegeben, von Frauke und Wolf Jöckel (Dezember 2023)

Praktische Informationen

www.histoire-immigration.fr

Adresse : 293, Av. Daumesnil 75012 Paris

Anreise : Métro 8 bis Porte Dorée

Öffnungszeiten : Di-Fr 10-17.30h, Sa-So 10-19h, Mo geschlossen

Tel. 0033 (0) 153595860

Eintrittspreise : 10 € expo / 14€ expo + aquarium

Katalog :  „Une histoire de l’immigration en 100 objets“, éd. Martinière, 26 €

Kostenlos erhältlich sind auch verschiedene informative Broschüren:

  • Images des colonies au Palais de la Porte dorée
  • Traces de l’histoire coloniale dans le 12e arrondissement de Paris
  • Tour savoir sur l’histoire de l’immigration. livret enfant 8-12 ans
  • Bienvenue au musée. Livret de visite pour les personnes en apprentissage du français


Anmerkungen:

[1] https://www.histoire-immigration.fr/  

Zu dem Werbeplakat siehe: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/louis-xiv-etranger-l-etonnante-campagne-de-publicite-du-musee-de-l-histoire-de-l-immigration-20230614 und https://rmc.bfmtv.com/actualites/societe/louis-xiv-l-etranger-le-musee-de-l-histoire-de-l-immigration-et-fait-polemique_AV-202306160427.html

Zur neuen Dauerausstellung aus deutscher Sicht siehe: Claus Leggewie, Eingewanderte wie wir. Ein grunderneuertes Museum in Paris entprovinzialisiert die Geschichte von Flucht und Migrationsbewegung – und könnte auch der länglichen deutschen Debatte über ein solches Projekt Auftrieb geben. Frankfurter Rundschau 15.09.2023, Seite 24 und Jörg Häntzschel, Wie wird man Franzose? Im ehemaligen Pariser Kolonialmuseum setzt sich Frankreich in einer epochalen Ausstellung mit seiner Geschichte als Einwanderungsland auseinander.  Süddeutsche Zeitung 18.8.2023

[1a] Zitiert in: https://www.lepoint.fr/societe/le-musee-de-l-immigration-rouvre-pour-raconter-une-histoire-commune-11-06-2023-2523866_23.php

[1b] Zur Diskriminierung siehe die aktuelle Studie des INSEE: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793302?sommaire=6793391&q=discriminations

[2] Das Gesetz sah ursprünglich vor, „die Einwanderung zu begrenzen und die Integration zu verbessern“. (contrôler l’immigration, améliorer l’intégration). Für eine parlamentarische Mehrheit war aber die Zustimmung der konservativen Opposition (LR) erforderlich, die hier weitgehend Positionen des rechtsradikalen RN übernahm. Laut Leitartikel von Le Monde vom 20.12.2023 ein poltischer und moralischer Dammbruch und eine „ideologischer Sieg“ von Marine Le Pen- auch insofern als eine Abschottungs-Ideologie über wirtschaftliche Vernunft gesiegt hat. https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/12/20/loi-sur-l-immigration-une-rupture-politique-et-morale_6206843_3232.html und https://www.latribune.fr/economie/france/loi-immigration-de-nombreux-economistes-vent-debout-986412.html s.a. La Croix vom 20.12.2023: Loi immigration : une réforme inédite par son ampleur restrictive; Libération 19.12.2023: La trahison de Macron; Cécile Alduy, sémiologue : « Le discours de LR sur l’immigration est un copier-coller presque complet du RN » Le Monde 28. Mai 2023

[3] Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/08/01/chinatown-in-paris-3-13-und-20-arrondissement/

[3a] « Le parcours précédent, très marqué notamment par le travail de Gérard Noiriel, était centré sur l’histoire de l’immigration européenne, qu’il faisait démarrer au XIXe siècle, explique Camille Schmoll, géographe à l’EHESS et membre du comité scientifique. La dimension coloniale dans toute la question migratoire est pourtant fondamentale, même si on ne peut pas limiter l’histoire de l’immigration à celle-ci. .https://www.lequotidiendelart.com/articles/23989-le-mus%C3%A9e-national-de-l-histoire-de-l-immigration-tente-de-faire-sa-mue.html

[4] Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung a.a.O.

[5] Siehe dazu die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2018/12/02/von-lyon-nach-dornholzhausen-die-waldenser-eine-franzoesisch-italienisch-deutsche-fluechtlingsgeschichte-teil-1-lyon-luberon-piemont/ und https://paris-blog.org/2018/12/07/von-lyon-nach-dornholzhausen-die-waldenser-eine-franzoesisch-italienisch-deutsche-fluechtlingsgeschichte-teil-2-die-waldenser-in-hessen-homburg/

[6] Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2021/02/13/reims-der-champagner-und-die-deutschen-die-ungekronte-konigin-von-reims-ein-gastbeitrag-von-pierre-sommet/

[7] Zu diesem Thema wird demnächst ein Beitrag auf diesem Blog erscheinen

[8] Zitiert von Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung vom 19./20. August 2023

[9] siehe https://www.lemonde.fr/sport/article/2022/12/05/paris-2024-des-travailleurs-sans-papiers-sur-les-chantiers-olympiques_6153068_3242.html

[10] Zu dem Pogrom von Aiges Mortes siehe: https://www.histoire-immigration.fr/programmation/l-univercite/le-massacre-des-italiens-aigues-mortes-17-aout-1893  Zu der Niederschlagung der Algerier-Demonstration 1961 siehe: https://paris-blog.org/2022/03/02/nach-60-jahren-noch-immer-eine-offene-wunde-die-erinnerung-an-die-niederschlagung-der-demonstrationen-vom-17-oktober-1961-ici-on-noie-les-algeriens-und-vom-8-februar-1962-charonne/ und  https://www.histoire-immigration.fr/integration-et-xenophobie/le-17-octobre-1961-a-paris-une-demonstration-algerienne-un-massacre-colonial

[11] Claus Leggewie, Eingewanderte wie wir. Ein grunderneuertes Museum in Paris entprovinzialisiert die Geschichte von Flucht und Migrationsbewegung – und könnte auch der länglichen deutschen Debatte über ein solches Projekt Auftrieb geben. Frankfurter Rundschau 15.9.2023 https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/geschichte-der-immigration-eingewanderte-wie-wir-92520036.html

[12] Eugénie Bastié, Louis XIV ‚étranger‘: on a visité l’exposition polémique du Musée de l’histoire de l’immigration. Le Figaro vom 14.6.2023 und Luc-Antoine Lenoir, «Louis XIV étranger»: au musée national de l’histoire de l’Immigration, un parcours inexact et biaisé.  Le Figaro Histoire vom 12.8.2023 https://www.lefigaro.fr/histoire/louis-xiv-etranger-au-musee-national-de-l-histoire-de-l-immigration-un-parcours-inexact-et-biaise-20230813

[13] Schon Heinrich Heine hatte im 19. Jahrhundert -damals bezogen auf Franzosen und Deutsche- die Vision, dass es einmal möglich sein werde, „allgleich am selben Tisch“ zu sitzen. Siehe: https://paris-blog.org/2018/07/10/das-grabmal-ludwig-boernes-auf-dem-pere-lachaise-in-paris-eine-hommage-an-den-vorkaempfer-der-deutsch-franzoesischen-verstaendigung/

Weitere Beiträge zum Palais de la Porte Dorée und zum französischen Kolonialismus

Der Schatz von Notre-Dame de Paris

Die Vorbereitungen zur Wiedereröffnung von Notre-Dame am 8. Dezember 2024 laufen auf vollen Touren.  Notre-Dame soll dann in neuem Glanz erstrahlen. Dies gilt auch für den Schatz der Kirche. Der hat zwar -ebenso wenig wie die Sakristei, in der die meisten Stücke aufbewahrt waren- unter dem Brand gelitten, aber die Zeit der Rekonstruktion von Notre-Dame wurde und wird noch genutzt, um auch die Sakristei zu renovieren und die Neuaufstellung des Domschatzes vorzubereiten.

Alle Bilder dieses Beitrags, soweit nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel

Dies ist/war eine gute Gelegenheit, den Schatz von Notre-Dame 2024 in einer Ausstellung im Louvre (vom 18. Oktober 2023 bis zum 29. Januar) zu präsentieren.

Allerdings existiert das, was den Reichtum dieses Schatzes einmal ausmachte, was sich dank der Bedeutung der Kirche im Mittelalter und in der Neuzeit angesammelt hatte, heute nicht mehr. Manches fiel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Religionskriegen zum Opfer, im Siebenjährigen Krieg wurden kostbare Stücke eingeschmolzen: Kanonen statt Kreuze…  1792 machten die Revolutionäre Notre-Dame zu einem Tempel der Vernunft und plünderten den Schatz: Alle Reliquien und wertvollen Kunstschätze aus Edelmetall gingen verloren. Die Orgel überstand allerdings die revolutionären Wirren, weil der Organist geistesgegenwärtig die Marseillaise und andere Revolutionslieder anstimmte…

Danach wurde der Domschatz unter Napoleon und den nach 1815 wieder eingesetzten Bourbonen neu konstituiert, aber im Zuge der Julirevolution von 1830 erneut verwüstet und geplündert, und dies auch noch doppelt: zunächst im Juli 1830 und dann noch einmal im Februar 1831.  

Eine Zeichnung von Viollet-le-Duc von der Plünderung am 14. Februar 1831

Dann war es der Architekt Viollet-le-Duc, der mit der Rekonstruktion von Notre-Dame als Inbegriff einer gotischen Kirche auch den Domschatz im mittelalterlichen Geist wieder auferstehen ließ. Die durch Victor Hugos leidenschaftliches Plädoyer für die Gotik im Allgemeinen und Notre-Dame im Besonderen wesentlich beförderte Rekonstruktion der Kirche begann 1845 mit dem Bau einer für den Schatz bestimmten, von Viollet-le-Duc entworfenen großen neogotischen Sakristei.

Sie ersetzte die neoklassische Sakristei, die der königliche Architekt Jacques-Germain Soufflot, der Erbauer des Pantheons, errichtet hatte. Diesen doch sehr respektablen, dem  Zeitgeschmack des späten 18. Jahrhunderts entsprechenden Bau weniger als 100 Jahre später schon wieder abzureißen, zeigt die Entschlossenheit, an Notre-Dame das Exempel einer „reinen Gotik“ zu statuieren.

Die Sakristei Soufflots

Die Sakristei diente gewissermaßen als Lehr-und Meisterstück für die Bauleute, die danach an der Restaurierung der Kathedrale arbeiteten.[1] Und zu Viollet-le-Ducs Konzeption von Notre-Dame als eines idealtypischen gotischen Gesamtkunstwerks gehörte dann auch der Domschatz, der nach seinen an mittelalterlichen Vorbildern angelehnten Entwürfen wesentlich bereichert, ja geradezu neu konstituiert wurde. Diese neogotischen Arbeiten bilden denn auch den Schwerpunkt der Ausstellung

Wertvolle mittelalterliche Schätze wie etwa in Conques wird man also in der Ausstellung und auch später in der renovierten Sakristei nicht finden. Die Kuratoren haben aber versucht, den früheren -aber nicht mehr existierenden- Reichtum des Domschatzes etwas erfahrbar und anschaulich zu machen.

Hier zum Beispiel der Ausschnitt aus dem Testament von Ermintrudis, einer merovingischen Adligen, über eine Schenkung an die Vorgängerkirche von Notre-Dame. Es handelt sich um eine im 7. Jahrhundert angefertigte Kopie auf Papyrus der ursprünglichen Urkunde aus dem 6. Jahrhundert.

In dieser am 28. Juli 775 in Düren ausgefertigten Urkunde Karls des Großen wird zum ersten Mal überliefert, dass die Kirche unter anderem der Maria (Notre-Dame) geweiht ist.

Aus einem mittelalterlichen Gebetsbuch der Domherren von Notre-Dame

Der Reichtum eines mittelalterlichen Kirchenschatzes beruhte vor allem auf Reliquien. Und da befand sich Notre-Dame in heftiger Konkurrenz: vor allem mit der Sainte Chapelle und Saint Germain-des-Près. Ein bedeutender Prestigezuwachs gelang im 9. Jahrhundert. Damals wurden Reliquien des Heiligen Marcel, eines der ersten Bischöfe von Paris, in die Obhut von Notre-Dame gegeben, um sie vor den Einfällen der Normannen in Sicherheit zu bringen.

Da Marcel nicht den Märtyrertod erlitten hatte, bezog man sich bei seiner Heiligsprechung auf eine Legende, nach der er Paris vor einem gefräßigen Ungeheuer gerettet habe. Das ist denn auch auf dieser kleinen Statue am Fuß des Heiligen zu erkennen.[2] Von den Reliquien ist allerdings nichts erhalten.

Mittelalterliche Handschrift mit einer Seite über den Drachentöter Marcel[3]

Dieser Bischofsstab trägt den Beinamen Notre-Dame, weil er aus einem Bischofsgrab der Kathedrale stammen soll. Das ist aber nicht erwiesen. Ebenso unsicher ist, seit wann er zum Bestand der Kunstsammlung der Bibliothèque Nationale gehört. Seiner Schönheit tut das aber keinen Abbruch…

In der Zeit des Barock erhielt Notre-Dame einen neuen Altar und dem Zeitgeist entsprechende liturgische Geräte. Dazu gehörte auch eine monumentale Monstranz des Pariser Goldschmieds Claude Ballin. Die Monstranz war 1.62 Meter hoch und bestand aus 50 Kilogramm reinen Silbers.

Hier eine Abbildung aus einem Evangeliar der Kathedrale (Liber evangeliorum ad usum Ecclesiae metropolitanae Parisiensis).

Die Monstranz war so groß und schwer, dass sie für Prozessionen nicht verwendet werden konnte, vor allem, weil sie nicht durch das Hauptportal der Kathedrale passte. Der königliche Architekt Jacques-Germain Soufflot, der Erbauer des Pantheons, erhielt daher den Auftrag, die Kirche dem neuen Geschmack und den neuen Bedürfnissen anzupassen. Dazu gehörte neben dem Bau der neoklassischen Sakristei die Vergrößerung des mittleren Hauptportals, dem der Figurenschmuck des Tympanons zum Opfer fiel. Unterder Leitung von Viollet-le-Duc erhielt das Hauptportal dann wieder seine mittelalterliche Größe und eine der Gotik nachempfundene Ausgestaltung.

Nach den Verheerungen, die die Französische Revolution für den Domschatz mit sich brachte, kam es unter Kaiser Napoleon zu einem Neuanfang. Napoleon inszenierte 1804 seine Kaiserkrönung (sacre) und die seiner Frau gerade in Notre-Dame von Paris.  Und dafür benötigte er auch eine entsprechende Ausstattung:

So wurden ein Kreuz und Leuchter, etwa 100 Jahre alt, extra für diesen Anlass erworben. Und es wurde das erforderliche liturgische Gerät angeschafft, auch wenn die Kirche von Napoleon nur instrumentalisiert wurde: Er ist es ja, der Josephine die Krone aufsetzt, wie Jacques-Louis David das in seinem berühmten Krönungsbild festgehalten hat. Und er ist es auch, der sich dann selbst die Krone aufsetzt.

Nach der feierlichen Zeremonie erhält Notre-Dame napoleonische Devotionalien wie die Krone Josephines oder den kaiserlichen Mantel zur Aufbewahrung. Außerdem nach Karl dem Großen benannte Insignien: Krone und Hand der Gerechtigkeit.

Die Hand der Gerechtigkeit (main de justice) war die Nachbildung eines in der Basilika von Saint- Denis, der Grabkirche der Bourbonen, aufbewahrten Herrschaftszeichens, das dem revolutionären Wüten zum Opfer gefallen war. Der Hofgoldschmied Napoleons, Martin-Guillaume Biennais, fertigte davon eine Nachbildung, die er mit einem kostbaren Ring am Handgelenk versah: Darin verarbeitete er Edelsteine und Kameen aus einem Reliquiar, das 1401 der Abtei von Saint-Denis geschenkt worden war. Das diente dazu, Napoleons Herrschaft in einen historischen Kontext zu stellen und ihr eine überzeitliche Legitimation zu verleihen. Die für die Krönung Napoleons angefertigte Krone ist dagegen eine völlig Neuschöpfung Biennais‘, die aber auch dem gleichen Zweck diente: Dazu integrierte der Goldschmied vierzig Kameen aus antiker, byzantinischer und mittelalterlicher Zeit in die Krone. Und schließlich gab man diesen Herrschaftszeichen den Beinamen „honneurs de Charlemagne“- bezog sie also auf Karl den Großen, als dessen Nachfolger Napoleon sich ja sah. Nach der Krönung wurden auch Hand der Gerechtigkeit und Krone Teil des Schatzes von Notre- Dame, die damit gewissermaßen die Nachfolge der bourbonischen Grablege von Saint-Denis antrat. 

Das hinderte Napoleon aber nicht daran, auch die bourbonische Lilie als Herrschaftssymbol zu übernehmen: Dies wohl nicht nur aus Treue gegenüber dem zerstörten Vorbild, sondern wohl auch ein Beitrag zu der von Napoleon mit allen Mitteln angestrebten dynastischen Legitimation: Denn einerseits grenzte er sich zwar von dem verhassten vorrevolutionären System ab, stellte sich aber andererseits eben auch in die monarchische Tradition Frankreichs.

Unter den 1815 wieder eingesetzten Bourbonen wurde der Bestand des Domschatzes einerseits reduziert, anderseits auch erweitert. Reduziert insofern, als alle Objekte im Zusammenhang mit der Krönung Napoleons ausgelagert oder sogar vernichtet wurden. Anderseits gab es unter den Bourbonen auch Zuwachs für den Schatz von Notre-Dame.

  © Musée du Louvre, Guillaume Benoit_BD

Dazu gehörte eine monumentale Maria mit Kind aus getriebenem Gold. [4] Angefertigt wurde sie von dem Goldschmied Jean-Baptiste Odiot, einem erbitterten Rivalen des napoleonischen „Hofgoldschmieds“ Biennais, und seinem Sohn Jean-Nicolas.  Die Statue war bestimmt für die große jährliche Marienprozession vom 15. August, die Ludwig XVIII.  nach seiner Einsetzung als französischer König nach der Niederlage Napoleons eingeführt hatte. Dabei bezog er sich auf Ludwig XIII.,  der den Tag von Mariä Himmelfahrt zum Feiertag bestimmt hatte, nachdem ihm endlich der lang ersehnte Nachfolger geschenkt worden war. Von 1806 bis 1813 war der 15. August sogar Nationalfeiertag, allerdings nicht zu Ehren Marias, sondern als „Saint-Napoléon“ zu Ehren des französischen Kaisers, der an diesem Tag geboren wurde.  1831 warfen die Aufständischen die Statue  aus dem Fenster. Sie wurde beschädigt, danach aber restauriert. Heutzutage wird sie wieder bei der jährlichen Pariser Marienprozession vom 15. August mitgeführt.  

Es war dann vor allem Viollet-le-Duc, der den Schatz wesentlich erweiterte und in seinem Sinne prägte. Es war ihm wichtig, dass die neuen Stücke sich in sein Konzept eines gotischen Gesamtkunstwerks einfügten. Viollet-le-Duc ließ sich dabei von der gotischen Kunst des 12. und 13. Jahrhunderts inspirieren: Er fertigte sehr präzise Zeichnungen an, die vor allem von „seinen“ Goldschmieden Placide Poussielgue-Rusand  und Jean-Alexandre Chartier ausgeführt wurden.

Hier einige Beispiele:

Jean- Alexandre Chertier (nach Eugène Viollet-le-Duc), Friedenskuss. Um 1867

Entwurf von Viollet-le-Duc für einen Behälter für Heilige Öle[5]

Jean-Alexandre Chertier, Behälter für die Heiligen Öle in Form einer Taube

Placide Poussielgue-Rusand, Monstranz nach einem Entwurf von Eugène Viollet-le-Duc (1867) Ausschnitt

Viollet-Le-Duc, Entwurf eines Leuchters für die Osterkerze. Placide Poussielgue-Rusand fertigte nach diesem Entwurf 1869 einen Osterleuchter aus vergolddeter Bronze an. Er steht während der Louvre-Ausstellung an deren Eingang – und auch am Anfang dieses Beitrags.

Jean-Alexandre Chertier (nach Eugène Viollet-le-Duc), Büste des Saint Louis. Um 1857

Dass Viollet-le-Duc auch eine Büste Ludwigs IX., (Ludwig der Heilige 1214-1270), anfertigen ließ, hat seinen Grund darin, dass Ludwig die bedeutendste Reliquie von Notre-Dame erworben hatte, nämlich die Dornenkrone, die Christus am Tag seiner Kreuzigung getragen haben soll. Die Mutter des zum Christentum übergetretenen römischen Kaisers Konstantin soll sie im 4. Jahrhundert am Ort der Kreuzigung entdeckt haben.[6]  Bis ins 13. Jahrhundert wurde die Dornenkrone in Konstantinopel aufbewahrt.  Wegen Geldmangels suchten die byzantinischen Kaiser aber solvente Käufer. Zunächst war es das reiche Venedig, das den Zuschlag erhielt, wurde aber von dem französischen Königshaus überboten. Um die Venetianer auszustechen, bot Ludwig nicht weniger als die Hälfte des jährlichen Budgets des Königreichs auf,[7] womit er immerhin ganz erheblich das Prestige des französischen Königtums – und natürlich auch sein eigenes erhöhte: 27 Jahre nach seinem Tod wurde Ludwig heiliggesprochen.

Ob es sich tatsächlich um die Dornenkrone Christi handelt, ist übrigens eine Frage, die damals nicht gestellt wurde. Die Echtheit galt durch entsprechende Zertifikate als verbürgt und durch den horrenden Preis, der dafür verlangt und gezahlt wurde, bestätigt.

Aufbewahrungsort für die 1239 in einer feierlichen Prozession nach Paris gebrachten Dornenkrone und weitere von ihm erworbene Leidenswerkzeuge Christi ließ Ludwig die Sainte-Chapelle bauen. 1791, während der Französischen Revolution, ordnete Ludwig XVI. die Überführung der Passions-Reliquien in die Abtei von Saint-Denis an, weil er sie dort für sicherer aufgehoben hielt. Zwei Jahre später, rechtzeitig vor der Plünderung der Abtei,  wurden sie der Bibliothèque nationale übergeben und seit 1804 im Zeichen des drei Jahre vorher von Napoleon abgeschlossenen Konkordats mit dem Vatikan der Kathedrale von Notre-Dame. Seitdem sind sie der kostbarste Teil des Kirchenschatzes. [8]

Die Dornenkrone mit einer Umhüllung aus Kristallglas und Goldfäden (Ende 19. Jahrhundert)

Selbstverständlich entwarf Viollet-le-Duc auch und gerade für die Passions-Reliquien kostbare Reliquiare im neogotischen Stil.

Hier zwei Ausschnitte des Reliquiars für einen Nagel und ein Holzstück des Kreuzes Jesu. Nach einem Entwurf Viollet-le-Ducs angefertigt von Placide Poussielgue-Rusand. [9]

Für die Dornenkrone entwarf Eugène Viollet-le-Duc dieses Reliquiar: [10]

Viollet-Le-Duc Eugène-Emmanuel (1814-1879). Paris, musée d’Orsay. RF3992.

Reliquiar für die Dornenkrone von Placide Poussielgue-Rusand nach dem Entwurf von Eugène Viollet-le-Duc (1862)[11]

Ludwig der Heilige mit der Dornenkrone: Detail des Reliquiars

Auf Beschluss der für die Inneneinrichtung von Notre-Dame zuständigen Diöcese soll in der nach dem Brand restaurierten Kathedrale die Dornenkrone mit Nagel und Kreuzsplitter in einem neuen Reliquiar in der zentralen Kapelle des Chorumgangs aufbewahrt werden. [12]


Anmerkungen:

[1] Siehe: Le trésor de Notre-Dame de Paris. Des origines à Viollet-le-Duc. Connaissance des arts. Hors-série. Paris 2023, S. 47

[2] Bild aus:  http://des-pierres-et-des-papillons.over-blog.com/2023/12/le-tresor-de-notre-dame-au-louvre.html

[3] https://www.sortiraparis.com/de/was-in-paris-zu-besuchen/ausstellung-museum/articles/284317-der-schatz-von-notre-dame-de-paris-die-ausstellung-uber-die-kathedrale-im-louvre-museum-unsere-fotos

[4] Bild aus: https://www.france-catholique.fr/splendeur-de-notre-dame-au-louvre.html

[5] Bilder des Ölbehälters aus https://fr.wikipedia.org/wiki/Chr%C3%A9mier_en_forme_de_colombe

[6] Zur Geschichte der Dornenkrone siehe das Interview mit der Mittelalter-Spezialistin Valérie Toureille https://www.lepoint.fr/histoire/notre-dame-cash-pouvoir-et-foi-l-etonnante-histoire-de-la-couronne-du-christ-25-04-2019-2309529_1615.php#11  

[7] Renaud de Villelongue, Les reliques de la Passion et la chapelle du Saint-Sépulcre. In: Notre-Dame de Paris. Sous la direction du Cardinal André Vingt-Trois. Strasbourg 2012, S. 255-259

[8]Bild aus:  Le Soir 16.4.2019

[9] Oberes Bild: https://notre-dame-de-paris.culture.gouv.fr/fr/viollet-le-duc-et-les-chefs-doeuvre-dorfevrerie-du-tresor-de-notre-dam   Unteres Bild: Wolf Jöckel

[10]  https://presse.louvre.fr/le-tresor-de-notre-dame/  Siehe auch: https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/reliquaire-de-la-sainte-couronne-depines-58099

[11] https://www.louvre.fr/en-ce-moment/evenements-activites/le-reliquaire-de-la-sainte-couronne-d-epines-de-viollet-le-duc

[12] https://fr.aleteia.org/2023/06/23/notre-dame-de-paris-un-nouveau-reliquaire-pour-la-couronne-depines/

Weitere Beiträge zu Notre-Dame auf diesem Blog:

Gruß zum neuen Jahr

Weihnachtsgebäck von unseren Enkelinnen L. und A. mit Eiffelturm und Friedensengel

Dort ist Ende letzten Jahres der 200. Beitrag erschienen – über den Wiederaufbau von Notre-Dame: Ein beeindruckendes französisches „Wir schaffen das!“ und ein Symbol der Zuversicht.

  Und für das nächste Blog-Jahr gibt es Projekte und Pläne genug:

  • Der Schatz von Notre-Dame, von den Anfängen bis Viollet-le-Duc
  • Hittorff contra Haussmann: Die place de l’Étoile
  • Paris mit Enkeln: Der Louvre
  • Die Zisterzienser-Abtei von Pontigny, die internationalen Begegnungen (décades) und Heinrich Mann
  • Das Museum für Einwanderungsgeschichte in Paris im Palais de la Porte Dorée: Die neue Dauerausstellung
  • Der Pionier der Pariser Street-art: Gérard Zlotykamien
  • Heinrich Heine und Ludwig Börne, Handwerker, Hausmädchen und hessische Straßenkehrer: Paris als Zentrum deutscher Migration im 19. Jahrhundert
  • Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf
  • Die alte/neue Bibliothèque Nationale im Herzen von Paris
  • Gare du Nord: Hittorffs Triumphbau des Fortschritts
  • Auf den Spuren von Gustave Courbet in Ornans, wo er geboren und schließlich auch beerdigt wurde
  • Aufstieg und Fall des Nicolas Fouquet: Schloss und Park von Vaux-le-Vicomte
  • …..
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Ich hoffe, dass für alle etwas Interessantes dabei sein wird…