Pariser Erinnerungsorte an den Holocaust: Der Friedhof Père Lachaise

In der nordöstlichen Ecke des Friedhofs Père Lachaise, in der 76. und 97. Division, gibt es eine ganze Reihe von Denkmälern, die an nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager erinnern. Diese Denkmäler sind eindrucksvolle Erinnerungsorte, zumal sie auch mit hohem künstlerischen Anspruch gestaltet sind. ln ihrer Fülle und Vielfalt werden der Schrecken und das Leid ein wenig erfahrbar, an die hier erinnert wird. Und es sind gleichzeitig Orte, die zum Engagement für eine bessere Welt auffordern.

Die nachfolgenden Bilder sollen nur knapp erläutert werden – sie sprechen, so denke ich, für sich.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (1)

Die beiden benachbarten Denkmale sind den Opfern der Konzentrationslager Flossenbürg und Mauthausen gewidmet: Die dorthin Deportierten waren zur „Vernchtung durch Arbeit“ bestimmt- Arbeit in den Steinbrüchen. Die aus dem Fels gebrochenen Steine mussten über endlose Treppenstufen nach oben geschleppt werden.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (3)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (8)

Die 186 Stufen der Treppe des Steinbruchs waren der Leidensweg derer, die sie,  mit schweren Steinen beladen,  unter den Schlägen der SS  hochsteigen mussten.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (2)

Damit ihr Opfer dazu beiträgt, für immer den Weg in die Unterdrückung zu blockieren und der Menschheit den Weg in eine bessere Zukunft der Freundschaft und des Friedens                                                                 zwischen den Völkern zu öffnen.                                                   Erinnert Euch

DSC06893 Pere Lachaise Lager (12)

Unter diesem Stein ruht Asche von 7000 Franzosen, die von den Nazis im Konzentrationslager Neuengamme ermordet wurden. 

DSC06893 Pere Lachaise Lager (13)

Mit diesem Stein wird an eine der größten Schiffskatastrophen der Geschichte erinnert, bei der in den letzten Kriegstagen etwa 7000 KZ-Häftlinge vor allem aus dem KZ Neuengamme,  umkamen. Deshalb befindet sich der  Gedenkstein  am Fuß des Denkmals für die Opfer dieses Lagers. Die Nazis wollten Neuengamme vor den anrückenden Briten räumen und verfrachteten die Insassen  auf zwei manövrierunfähig in der Lübecker Bucht liegende Schiffe.  Die wurden damit gewissermaßen zu schwimmenden KZs und zu einem leichten Ziel der Royal Airforce.  Eines der Schiffe war die „Cap Arcona“,  eines der elegantesten Passagierschiffe der Vorkriegszeit. Die britischen Truppen waren zwar vom Schweizer Roten Kreuz informiert, aber diese Information gelangte nicht zu den Bomberpiloten. Die Schiffe mit den KZ-Häftlingen wurden also  für Truppentransporter gehalten und fünf Tage vor Kriegsende versenkt.   Nur wenige Schiffbrüchige, darunter der Komponist des Moorsoldaten-Liedes, Rudi Goguel,  überlebten. [1]

Auf der anderen Seite des Weges, in der 97. Division, befindet sich dieser Grabstein:

DSC06893 Pere Lachaise Lager (21)

Es ist ein Grabstein für zwei Überlebende und gleichzeitig ein Stein zur Erinnerung an Familienmitglieder, die in Auschwitz und Majdanek ermordet wurden und für die es nur „ein Grab in den Lüften“ gibt (Paul Celan, Todesfuge).

Im Hintergrund sieht man die Erinnerungstafel an die Opfer der Pariser Commune von 1871: Die letzten Kämpfer der Commune wurden an dieser Mauer erschossen.[2]

DSC06893 Pere Lachaise Lager (5)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (23)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (26)

1941 – 1945 Auschwitz-Birkenau    nationalsozialistisches Vernichtungslager

Als Opfer der antisemitischen Verfolgung der deutschen Besatzer und der Collaborations-Regierung von Vichy

wurden 76000 Juden, Männer, Frauen und Kinder, aus Frankreich nach Auschwitz deportiert, wo die meisten in Gaskammern umkamen.

Als Opfer der polizeilichen Repression erlitten 3000 Widerstandskämpfer und Patrioten in Auschwitz Qual und Tod

Etwas Erde und Asche von Auschwitz ruhen hier zur Erinnerung an ihr Opfer

DSC06893 Pere Lachaise Lager (32)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (33)

Von 1941 bis 1945 umfasste das Lager Auschwitz III 39 nationalsozialistische Lager, die alle von dem deutschen Chemie-Konzern IG-Farbenindustrie genutzt wurden. 30000 Deportierte, darunter 3500 in Frankreich verhaftete,  Juden vor allem, starben hier an Hunger, Kälte, Erschöpfung, unter Schlägen oder sie wurden von der SS selektiert. Sie wurden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau vernichtet. Vergessen wir niemals! 

DSC06893 Pere Lachaise Lager (35)

 1942 Zur Erinnerung an die jüdischen Kinder, die von den Nazis ermordet wurden 1945

Der du vorbeigehst: Deine Erinnerungs ist ihr einziges Grab

DSC06893 Pere Lachaise Lager (15)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (40)

Der Begriff „Nacht und Nebel/nuit et brouillard“ bezieht sich auf das Vorgehen der Nazis bei den Deportationen und auf den Film von Alain Resnais‘ (1955), den ersten Dokumentarfilm über das KZ-System.  In Auftrag gegeben wurde der Film von zwei Organisationen früherer französischer Widerstandskämpfer und Deportierter,  getextet von dem KZ-Überlebenden und Dichter Jean Cayrol. Die  Musik schrieb der während der Nazi-Zeit emigrierte Komponist Hanns Eisler. Es gibt auch ein wunderbares Lied von Jean Ferrat zu „Nuit et brouillard“ [3]

DSC06893 Pere Lachaise Lager (44)

Replik eines Grabmals aus dem Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass

DSC06893 Pere Lachaise Lager (46)

Dass bei den KZ-Denkmälern auf dem Père Lachaise immer wieder ein Dreieck erscheint, hat seinen Grund darin, dass die Kennzeichnung der Häftlinge mit Hilfe von farbigen Stoffdreiecken erfolgte, die auf die gestreifte Häftlingskleidung genäht waren.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (45)

Wir haben die Abgründe in uns und bei den anderen ergründet

Es muss ein außerordentlicher Mensch gewesen sein, der diesen provozierend-nachdenklichen Satz formulieren konnte:  Edmond Michelet war engagierter Christ und  französischer Widerstandskämpfer aus der Corrèze. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und nach Dachau deportiert, wo er 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurde. Nach dem Krieg war er Mitbegründer des Comité International de Dachau und er trat für die europäische Einigung und die deutsch-französische Aussöhnung ein.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (47)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (48)

DSC06893 Pere Lachaise Lager (16)

Père Lachaise Nov 10 011

DSC06893 Pere Lachaise Lager (55)

Mahnmal für die Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen – Oranienburg

DSC06893 Pere Lachaise Lager (51)

Wir sind 900 Franzosen

Inschrift eingraviert im Fort IX von Kaunas von Deportierten des Convois 73

Der nachfolgend abgebildete Gedenkstein -zwischen den Gedenksteinen für die Konzentrationslager in der 97. Division gelegen- scheint etwas aus dem Rahmen zu fallen. Denn er ist den Opfern des 8. Februar 1962 gewidmet.  An diesem Tag, in der Endphase der von de Gaulle eingeleiteten Verhandlungen über die Unabhängigkeit Algeriens, fand in Paris eine Großdemonstration statt, zu der linke Parteien und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Es war eine Reaktion auf die „schwarze Nacht“ vom  17. auf den 18. Oktober 1961, als die Polizei mit äußerster Härte eine Kundgebung von Algeriern für die Unabhängigkeit ihrer Heimat niedergeschlagen hatte. Zahlreiche Demonstranten wurden einfach in die Seine geworfen, um die offiziellen Opferzahlen niedrig zu halten. [4]

Ici on noie les Algeriens

Am 24. Oktober 1961 erschien in Le Monde ein Aufruf von Intellektuellen, u.a. Simone de Beauvoir, André Breton, Nathalie Sarraute und Aimé Césaire, in dem es heißt:

Mit bewundernswertem Mut und Würde haben algerische Arbeiter gegen die immer unerbittlichere Repression demonstriert, deren Opfer sie sind… Die Polizei reagierte auf die friedliche Demonstration mit ungezügelter Gewalt: Erneut wurden Algerier getötet, weil sie in Freiheit leben wollten. Die Franzosen  würden sich zu Komplizen rassistischer Gewalt machen, deren Schauplatz Paris ist, wenn sie dazu schwiegen…. Wir weigern uns, einen Unterschied zu machen zwischen den vor ihrer Ausweisung im Palais des Congress  eingepferchten Algeriern und den vor ihrer Deportation zusammengetriebenen Juden…“

DSC06893 Pere Lachaise Lager (19)

Auch am 8. Februar agierte die Polizei mit äußerster Härte: 9 Gewerkschafter kamen an der „Demo-Meile“ zwischen der Place de la République und der Place de la Nation gelegenen Metro-Station Charonne im 11. Arrondisement ums Leben. Verantwortlicher Polizeichef damals:  Maurice Papon.  Der war  im Zweiten Weltkrieg als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux verantwortlich für die Verhaftung von etwa 1600 Juden, die zwischen 1942 und 1944  zunächst nach Drancy und von dort weiter nach Auschwitz transportiert wurden. Er gehört aber –wie der oberste Polizeichef von Vichy- René Bousquet- zu den sogenannten „vichisto-résistants“ (Jean-Pierre Azema), die sich zunächst in den Dienst der sogenannten Révolution nationale Pétains stellten, dann aber auch Verbindungen zur  Résistance knüpften. So konnte Papon nach 1945 mit ausdrücklicher Billigung von de Gaulle weiter Karriere machen, u.a. als Polizeipräfekt in Algerien, wo er einschlägige Erfahrungen im Umgang mit der algerischen Widerstandsbewegung sammeln konnte, dann als Pariser Polizeichef und zwischen 1978 und 1981 sogar noch in zwei Regierungen als Minister.[5]

DSC06893 Pere Lachaise Lager (18)

Das erklärt, warum sich der Gedenkstein für die Opfer des 8. Februar 1962 an dieser Stelle befindet und warum es die „Vaillants et Vaillantes de Drancy“ sind, die hier einen Gedenkstein aufgestellt haben.

Wenn man mit offenen Augen über den Père Lachaise geht, findet man  auch noch weitere Grabsteine, die an Opfer der nationalsozialistischen Barbarei erinnern. So diesen in der 52. Division, der an den deutschen Antifaschisten Arthur Kühnreich erinnert. Er wurde 1942 in Auschwitz ermordet.

DSC04066 Pere Lachaise Nazi Opfer 52. Div.

DSC06893 Pere Lachaise Lager (4)

Eingestellt am 27.1. 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers  Auschwitz.  Fotos von Frauke Jöckel, aufgenommen auf dem Père Lachaise am 26. 1. 2020

Anmerkungen:

[1] Imke Andersen,  Britta Probol, Der Untergang der „Cap Arcona“ . Schleswig-Holstein Magazin, 04.05.2019 https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Tragoedie-am-Kriegsende-Der-Untergang-der-Cap-Arcona,caparcona100.html

Das Moorsoldatenlied wurde zum ersten Mal 1933 von Gefangenen das Lagers Börgermoor gesungen. Eine Version mit Hannes Wader: https://www.youtube.com/watch?v=wH9I2Lyf6dY

[2] Siehe dazu den Blog-Bericht: https://paris-blog.org/2016/08/13/der-buergerkrieg-in-frankreich-1871-ein-rundgang-auf-dem-friedhof-pere-lachaise-in-paris-auf-den-spuren-der-commune/

[3] https://www.youtube.com/watch?v=M19PP181rfc

.[4] Bild aus: Yves  Faucoup, 17 octobre 1961, le massacre ignoré.  https://blogs.mediapart.fr/yves-faucoup/blog/171015/17-octobre-1961-le-massacre-ignore

[5]  Papons Karriere endete am 6. Mai 1981, als die satirische Wochenzeitschrift Canard enchaîné seine Rolle bei der Deportation von Juden bekannt machte. 1983 wurde Anklage erhoben und nach dem längsten Prozess der französischen Justizgeschichte wurde Papon 1998 wegen seiner Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 10 Jahren Haft verurteilt- von denen er allerdings nur knapp 3 Jahre absitzen musste.

Weitere Blogbeiträge mit Bezug zum Père Lachaise:

Le chocolat Menier (2): Die Villen der Familie im 8. Arrondissement von Paris und das Grabmal auf dem Père Lachaise

Im ersten Teil des Beitrags über die Schokoladenfabrik Menier standen die außerordentlich formschöne, moderne und repräsentative Architektur der Fabrik und die Anlage der Arbeitersiedlung in Noisiel an der Marne im Mittelpunkt.

https://paris-blog.org/2019/05/23/le-chocolat-menier-1-die-schokoladenfabrik-in-noisiel-an-der-marne-repraesentative-fabrikarchitektur-und-patriarchalischer-kapitalismus-im-19-jahrhundert/

Im nachfolgenden Beitrag geht es um die Bauten der Familiendynastie in Paris:  Die Stadtvilla (hôtel particulier) des Émile Justin Menier und die seiner Söhne Henri und Gaston Menier im 8. Arrondissement von Paris sowie die Grabkapelle der Familie  auf dem Père Lachaise. Die Villen der Meniers befanden sich nicht zufällig alle im Umkreis des Park Monceau: Gerade zu der Zeit, als die Schokoladenfabrik von Noisiel ihre grandiose Expansion vollzog, erhielt der Park seine heutige Form und Noblesse. Als nämlich 1860 das alte Dorf Monceau nach Paris eingemeindet wurde, wurde der weitläufige, am Ende des 18. Jahrhunderts angelegte Park des Philippe Égalité, die folie des duc de Chartres, aufgeteilt: Einen Teil gestaltete der Gartenarchitekt Adolphe Alphand um, der im Zuge der Haussmannschen Stadterneuerung unter Napoleon III.  auch andere Parks in Paris neu anlegte.[1] Unter seiner Leitung entstand ein Park, der mit vielen alten und neuen Attraktionen versehen war wie die korinthische Säulenreihe aus einer Anfang des 18. Jahrhunderts zerstörten Kirche von St. Denis, die sogenannte Naumachie…

Frauke Etretat u.a 203

… oder die von Claude Nicolas Ledoux erbaute Rotonde am nördlichen Parkeingang, die sogenannte Barrière de Chartres, Teil der alten die Stadt umgebenden Zollmauer, der mur des Fermiers généraux.[2]

375px-Parc_Monceau_-_La_Rotonde_02-03-06

So entstand  « la promenade la plus luxueuse et en mêmetemps la plus élégante de Paris“ wie der Baron Haussmann in seinen Memoiren rühmte; [3]  eine promenade, die Claude Monet 1876 zu drei Bildern anregte…[4]

1200px-Parc_Monceau_Monet

… und eine Parkidylle, in der sich ein halbes Jahrhundert später Kurt Tucholsky von seinem krisengeschüttelten Vaterland ausruhte.[5]:

Kurt Tucholsky: Park Monceau

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.

Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen.
Ein Vogel zupft an einem hellen Blatt.
Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen
und freut sich, wenn er was gefunden hat.

Es prüfen vier Amerikanerinnen,
ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn.
Paris von außen und Paris von innen:
sie sehen nichts und müssen alles sehn.

Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.
Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.
Ich sitze still und lasse mich bescheinen
und ruh von meinem Vaterlande aus.

Die andere Hälfte des früheren Parks wurde an die Brüder Pereire verkauft, reiche Bankiers, die damit ein groß angelegtes, spekulatives Immobilienprojekt aufzogen: Nach Malern benannte Straßen wurden angelegt und  monumentale vergoldete Zugänge, die selbst einem Schloss des Sonnenkönigs Ehre machen würden.

DSC03591 Menier Palais parc Monceau (4)

Die großen  Baugrundstücke kaufte vor allem die jüdische  Großbourgeoisie des zweiten Kaiserreichs, um dort luxuriöse Stadtpalais zu errichten: Die Rothschilds, Cerrnuschis, Camondos, Ephrussis, aber auch die  Meniers.

Das Hôtel Menier

Hat man im Süden des Parks in der avenue Van-Dyck eines der goldenen Tore durchschritten, sieht man auf der linken Seite das hôtel particulier des  Émile Justin Menier. Es handelt sich, wie man lesen kann, „zweifellos“ um die außerordentlichste Villa des Parks, „véritable anthologie d’art décoratif“.[6]  Bemerkenswert ist zunächst der Zeitpunkt des Baus. Es sind nämlich erst die Jahre 1872 bis 1874, während die Umgestaltung des Parks und die Bebauung seiner Umgebung und vermutlich wohl auch der Kauf eines „Filetstücks“ durch die Meniers  schon auf die 1860-er Jahre zurückgeht. Inzwischen war Napoleon III. gestürzt und ins Exil „ab nach Kassel“ expediert worden; Frankreich war zur Republik geworden; die Erschießungskommandos der siegreichen Versailler waren wieder abgezogen, die in dem Park die massenhaften Todesurteile gegen die aufständischen Kommunarden exekutiert hatten; Frankreich war im Vertrag von Frankfurt zu hohen Kriegsentschädigungen verpflichtet worden, die gerne mit den Reparationen des Vertrags von Versailles verglichen werden…  Und in dieser Zeit der Umbrüche lassen die Meniers ihr grandioses Palais errichten: Architektur als politisches und ökonomisches Manifest: Auch unter der neuen Republik geht das Leben weiter und rollt auch –gewissermaßen- der Rubel, business as usual…

Bemerkenswert ist auch die Wahl des Architekten: Es ist Henri Parent, der Pariser Hausarchitekt der Meniers.  Parent hatte sich im zweiten Kaiserreich Napoleons III. einen Namen gemacht durch die Erneuerung von Adelspalästen der französischen Aristokratie. Er hatte zwar knapp den Wettbewerb um den Neubau der Pariser Oper –zugunsten seines Kollegen Garnier- verloren, dafür aber andere prestigeträchtige Aufträge erhalten wie den Bau eines Palais für die Kunstsammlung Jacquemart-André. Wie dort orientierte sich Parent auch beim hôtel Menier an traditionellen Vorbildern, vor allem dem flämischen Barock.[7]

DSC03591 Menier Palais parc Monceau (5)

DSC03591 Menier Palais parc Monceau (6)

Das Palais ist inzwischen in Eigentumswohnungen aufgeteilt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Von der Straße aus kann man immerhin einen Blick in einen Teil des Hofs und auf die dem Hof zugewandte Fassade mit der ausladenden Rotunde werfen. Die repräsentative Freitreppe allerdings kann man von außen nicht sehen.[8]

Auffällig ist schon hier der reiche Fassadenschmuck, den auch die dem Park zugewandte Schauseite aufweist.

K1.01.0401MENVan-Dyck(5av.)02

Denn anders als in vielen klassischen Pariser Stadtvillen, deren Reichtum sich erst erschließt, wenn man den an einer Straße gelegenen und im Allgemeinen verschlossenen  Eingang durchquert hat, ist die Schauseite hier vom Park aus und damit für die Besucher des Parks sichtbar. Der Reichtum der Besitzer wird nicht versteckt, sondern stolz präsentiert. Und der öffentliche Park verleiht dem privaten Besitz zusätzliche Weite und Großzügigkeit,  wie ja auch umgekehrt der Park und seine Besucher von der Noblesse der umgebenden Architektur profitieren.  Gehörte zu den klassischen hôtels particuliers der eigene, abgeschlossene Garten, so war hier gewissermaßen der öffentliche Park der Garten des hôtel Menier und der anderen an den Park grenzenden Villen.

Der reiche Fassadenschmuck mit mascarons, Tierköpfen und Vasen  ist das Werk des Bildhauers Jules Dalou. Dalou, ein Freund Rodins, war in den letzten Jahren des zweiten Kaiserreichs eJulin von der Aristokratie äußerst geschätzter Bildhauer. Unter anderem war er beteiligt an der Ausstattung des von dem schlesischen Kohlenbaron Guido Henckel von Donnersmarck für seine Geliebte und Frau, die Gräfin Païva,  auf den Champs-Elysées errichteten Märchenschlosses.[9] 1871 allerdings wurde er wegen „participation à l’insurrection“ zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Er war nämlich Kommandeur einer Einheit der Nationalgarde gewesen und dann, auf Bitten von Courbet, die Aufgabe übernommen, als stellvertretender Direktor des Louvre für die Sicherheit und Unversehrtheit der Bestände des Museums zu sorgen. Dalou konnte aber rechtzeitig nach England fliehen, wo er weiter als Bildhauer arbeiten konnte, bevor er 1879 mit der damals beschlossenen Amnestie für die verurteilten Kommunarden wieder nach Paris zurückkehrte und zum großen Bildhauer der Republik wurde.[10]

Dass der geächtete Dalou von Paris aus beauftragt wurde, den Fassadenschmuck zu entwerfen, ist kaum vorstellbar. Ich vermute also, dass seine Zeichnungen (wie der Entwurf des Baus insgesamt) schon vor der Zeitenwende von 1870/71 entstanden sind.  Es erscheint mir aber trotzdem bemerkenswert, dass ein repräsentatives Gebäude wie das der Meniers mit dem Fassadenschmuck eines Geächteten ausgestattet wurde. Ökonomische Gründe können dafür kaum eine Rolle gespielt haben. Ich denke, dass es sich eher um ein politisches Signal handelt: Dass die vom Bürgerkrieg geschlagenen Wunden geheilt werden sollen und die republikanische Familie wieder geeint werde. Aber später  mehr zum politischen Engagement des Émile Justin Menier.

Hôtel Henri Menier

Auch zwei der Söhne von Émile Justin Menier, Henri und Gaston, ließen sich repräsentative Stadtpalais in der Umgebung des Park Monceau bauen und engagierten dafür auch Henri Parent, den Architekten ihres Vaters. Für das 1880 errichtete  Hôtel Henri Menier orientiere er sich am Stil der französischen Renaissance.

Hotel Henri Menier Palais parc Monceau (7)

hotel-henri-menier1-h400-bb632

Das Gebäude ist um einen zentralen Hof gruppiert, dessen Fassaden zum Teil ebenfalls im Stil der Neo-Renaissance gestaltet sind, sich zum Teil aber auch an mittelalterlichen Vorbildern orientieren.

Innen gab es eine große repräsentative Treppe und einen Ballsaal mit 12 Metern Deckenhöhe. In einem Teil des Anwesens richtete Henri Menier ein Laboratorium für seine chemischen Versuche ein, was die Anwohner etwas beunruhigte.

Wie beim Hôtel particulier seines Vaters ist die rückwärtige, auch im Stil der Neo-Renaissance gehaltene Fassade des Baus dem Park Monceau zugewandt. Die oberste Etage ist eine spätere Zutat.

hotel-henri-menier-h500-e50db

Heute ist In dem Gebäude  das Conservatoire internationale de musique de Paris untergebracht.[11] 

Hôtel Henri Menier

8, rue Alfred de Vigny

75008 Paris

Hôtel Gaston Menier

1878 kaufte Gaston Menier das Stadtpalais des aus dem Elsass stammenden Textilindustriellen Georges Michel Koechlin. Es handelte sich um ein Gebäude mit Fassade aus Backsteinen und Kalksteinquadern, wie das für die französische Renaissance zur Zeit Heinrichs IV. üblich war (siehe die place des Vosges oder die Place Dauphine in Paris).

Hotel Gaston Menier DSC03591

Passend zum Gebäude der Fassadenschmuck mit dem durchlaufenden Fries….

Hotel Gaston MenierMenier (2)

… und den Greifen über dem Portal.

Hotel Gaston MenierMenier (1)

DSC_0031

Das Innere und die den Hof umgebenden Gebäude entsprachen allerdings nicht dem Geschmack und dem Repräsentationsbedürfnis des neuen Besitzers. Also ließt er von Henri Parent erhebliche Veränderungen vornehmen. So wurden die übernommenen Wirtschaftsgebäude abgerissen und durch Neubauten in einer normannisch-maurischen Stilmischung ersetzt.[12]

Dort war Platz für 5 Kutschen, 12 Pferde und darüber für einen  großen Theater- und Ballsaal, „le théâtre des folies Ruysdaël“, in dem Komödien und Operetten aufgeführt wurden.

Seit 1953 ist das Gebäude Sitz des „Ordre National des Pharmaciens“.

Hôtel Gaston Menier

4 avenue Ruysdaël

75008 Paris

Das Grab des Émile Justin Menier auf dem Père Lachaise

Das Repräsentationsbedürfnis der Meniers wird nicht nur in den Fabrikbauten von Noisiel und den Stadtpalais rund um den Parc Monceau deutlich, sondern auch auf dem Grab der Familie. Da gibt es zunächst ein bescheidenes, unauffälliges für den Gründer der Firma, Brutus Menier in der 36. Division. Als aber 1881 sein Sohn  Émile Justin Menier, starb, erschien der Familie dieses Grab nicht mehr der Bedeutung der Familie und ihres Unternehmens angemessen. Also wurde nach dem Tod Émile Justins ein großes, unübersehbares Mausoleum in der 67. Division des Friedhofs Père Lachaise errichtet- eines der repräsentativsten des Friedhofs.  Nach Fertigstellung des Mausoleums wurde 1887  der Leichnam  des Émile Justin aus dem Grabmal des Vaters  dorthin überführt.[13] 

DSC04055 Pere Lachaise Grabmal Menier (1)

Mit dem Bau des Mausoleums beauftragt wurde der Hausarchitekt der Meniers, Henri Parent, der sich -wie damals in Frankreich üblich- auch dort verewigen ließ.

DSC04055 Pere Lachaise Grabmal Menier (4)

IMG_8540

Über der mit Kakaoblüten verzierten Tür aus Bronze befindet sich eine Marmor-Büste des verstorbenen Fabrikherrn, daneben in von Putten gehaltenen bekränzten Wappenschilden die obligatorischen  Ms.

IMG_8537

Der Eingang wird eingerahmt von der Allegorie des Handels, die in der linken Hand ein Buch mit der Aufschrift „travail“ /Arbeit hält.

IMG_8542

Die Frauengestalt auf der rechten Seite des Eingangs verkörpert die Industrie. In der einen Hand trägt sie eine Palme und einen Efeukranz, in der anderen Hand eine Pergamentrolle mit der (verwitterten)  Aufschrift „bienfaisance, instruction“/Wohltätigkeit, Unterrichtung.  Damit war der Kern der paternalistischen Ideologie der Meniers auf den Punkt gebracht.

DSC04055 Pere Lachaise Grabmal Menier (3)

Das sozialreformerische Engagement Meniers

In de Nachrufen der  zeitgenössischen Presse waren alle Topoi dieses Paternalismus versammelt: Neben der leidgeprüften Familie betrauere in Noisiel auch noch eine andere große Familie den Verstorbenen. Der sei mitten aus seinem arbeitsreichen Leben und seinen grandiosen Schöpfungen gerissen worden,  ein genialer Erfinder, der den Namen Menier zu einem der berühmten Namen Frankreichs gemacht habe. Die Aufbarung des Leichnams in Nosiel sei ein tief beeindruckendes Schauspiel gewesen: Alle Arbeiter, denen er so viel Gutes getan habe, hätten den Sarg begleitet und nicht von ihm ablassen wollen. Die Frauen hätten viele Tränen vergossen. „Monsier Menier war ein wahrer Menschenfreund; er liebte es, auf alle nur mögliche Weise Gutes zu tun.“[14]

Dass  Émile Justin Menier hier  gerühmt wird – zumal aus Anlass seines Todes-  hat durchaus seine Berechtigung.  Man muss ja nicht, wie Bernard Marrey in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1984 von einem „idealen Kapitalismus“ sprechen, aber die Arbeiter, die bei den Meniers beschäftigt waren, hatten erhebliche Vergünstigungen: Die kostenlose Schulbildung für die Kinder –noch vor Einführung der Schulpflicht in Frankreich- , die günstigen Siedlungshäuser, die Kantinen für allein stehende Arbeiter,  die kostenlose medizinische  und  auch die materielle Versorgung in Krankheitsfällen sowie die Altersvorsorge in einer Zeit, in der es noch (lange) keine allgemeine Kranken- und  Rentenversicherung in Frankreich gab. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 wurde ausdrücklich die soziale Situation der Arbeiter von Noisiel begrüßt. Das soziale Engagement Meniers war beeinflusst von den Ideen des im Kaiserreich Napoleons III. einflussreichen Sozialreformers Le Play. Der propagierte in der von ihm gegründeten Société internationale des études pratiques d’économie sociale  eine „politique patronale“, deren Ziel die soziale Harmonie zwischen Unternehmer und Arbeitern war. Der Fabrikherr sollte wie ein Vater für seine Arbeiter sorgen, das Unternehmen eine große Familie sein. Émile Menier war Mitglied dieser Gesellschaft und man hat sein Wirken als „parfait exemple de l’économie sociale leplaysienne“ bezeichnet. [15]

dsc0863 Le Play

Standbild Le Plays im Jardin du Luxembourg in Paris

Menier hat sich als „patron philanthrope[16] ganz gezielt in Szene gesetzt. So wie er seine Produkte mit großer Systematik vermarktete, so auch sein Bild in der öffentlichen Wahrnehmung. In Noisiel wurden in den 1870- er Jahren zahlreiche Feste mit den Arbeitern, ihren Frauen und Kindern veranstaltet. Sie sollten ihnen die Gelegenheit geben, ihre Dankbarkeit für das soziale Wirken des Fabrikherrn öffentlich kund zu tun. 1876 fand ein großes Fest mit 650 Mitgliedern der „Menier-Familie“ statt. Dort trat ein 13-jähriges Mädchen auf, das mit lauter Stimm den Dank der Schüler/innen der von Menier gegründeten Schule vortrug:

« Madame et Monsieur Menier, chers bienfaiteurs, Laissez-nous vous remercier pour cette instruction que nous vous devrons et qui rendra plus faciles nos pas dans la vie. Pour les pauvres gens, l’instruction est difficile à acquérir parce qu’elle coûte cher. Eh bien vous avez pris soin de dispenser nos parents de toutes dépenses à ce sujet, vous nous avez tout donné jusqu’au papier, aux plumes, aux crayons. Aussi croyez à notre reconnaissance et soyez sûrs que chaque année nous nous efforcerons de nous rendre dignes de tous les sacrifices que, sans compter, vous avez voulu faire pour nous“[17]

Zu dem Fest von 1876 waren aber nicht nur die Betriebsangehörigen und ihre Familien eingeladen, sondern auch  Abgeordnete der Nationalversammlung, Senatoren, Gemeinderäte und Journalisten – einem davon verdankt man ja auch die Wiedergabe der gerade zitierten Dankesrede. Meniers Selbstinszenierung diente also, das wird daran deutlich, nicht nur  dazu, seine Arbeiter an die Firma und ihren Patron zu binden,  sondern dahinter stand auch ein politischer Zweck. Die „Opfer“, die  der als „Wohltäter“ gerühmte Menier nach den Worten der Schülerin, „ohne Berechnung“ für die Schüler/innen (und insgesamt für die Fabrikangehörigen) brachte, waren doch nicht ganz selbstlos.  Menier strebte  nämlich  in diesen Jahren gezielt eine politische Karriere an, wofür ihm Noisiel gewissermaßen als Basis und Aushängeschild diente. Tatsächlich wurde er auch bei den Wahlen vom 20. Februar 1876 zum Abgeordneten der Nationalversammlung für seinen Wahlkreis Seine-et-Marne gewählt.

Dass ein erfolgreicher Unternehmer sich  ganz direkt politisch engagierte, entsprach nicht der verbreiteten Erwartungshaltung, für die die Rolle als Hinterzimmer- oder Salon-Lobbyist angemessen gewesen wäre. Noch erstaunlicher war allerdings, dass sich Menier nicht, wie es von seinem Status und seinem Vermögen zu erwarten gewesen wäre, auf Seiten der politischen Rechten engagierte, sondern ganz im Gegenteil auf Seiten der  republikanischen Linken.

Ein besonderes  Anliegen war für ihn eine umfassende Reform des noch aus dem ersten Kaiserreich Napoleons stammenden Steuersystems, das er für ungerecht und wirtschaftlich verfehlt hielt. Die arbeitende Bevölkerung –und damit natürlich auch oder vor allem die Unternehmer- sollte  entlastet, dafür aber sollten der Kapitalbesitz und damit die  von den Romanen Balzacs so  bekannte  Spezies der Spekulanten und der von ihren Kapitalerträgen lebenden Rentiers  besteuert werden.  Als engagierter Republikaner vertrat Menier auch das Prinzip der Laizität, das ja, wie im ersten Teil des Beitrags gezeigt wurde, auch in der Konzeption der cité ouvrière von Noisiel deutlich wird, wo die Kirche nicht im Zentrum steht, sondern an den Rand der Siedlung  platziert war. Bemerkenswert ist auch seine pazifistische Devise: Si vis pacem, para pacem (18) – also die Umkehr der klassischen römischen Devise:  Si vis pacem, para bellum bzw.  des Si vis bellum, para bellum, also der insgeheimen Devise all derer, die die –wie anders als kriegerische?- Rückgewinnung des 1871 verlorenen Elsass-Lothringens erstrebten und ideologisch, politisch und materiell vorbereiteten. Und bemerkenswert ist auch das Engagement Meniers für eine Amnestie für die verurteilten und für die ins Ausland geflüchteten Mitglieder und Sympathisanten der Commune, womit er sich ja immerhin in bester Gesellschaft -beispielsweise der Victor Hugos- befand. Immerhin konnte er ein Jahr vor seinem Tod die nach mehreren vergeblichen Anläufen am  11. Juli 1880 von der Nationalversammlung verabschiedete Amnestie für die Kommunarden noch miterleben. Insofern seien ihm sein Denkmal auf dem zentralen Platz der Arbeitersiedlung von Noisiel und sein Mausoleum auf dem Père Lachaise gegönnt….

Anmerkungen

[1] So auch den Park Buttes-Chaumont.  Siehe dazu den Blogbeitrag über „Neues Leben auf alten Steinbrüchen“   https://paris-blog.org/2017/05/01/neues-leben-auf-alten-steinbruechen-der-park-buttes-chaumont-und-das-quartier-de-la-mouzaia/

[2] Zu dieser Zollmauer und dem Architekten Ledoux ist ein weiterer Blog-Beitrag geplant.

[3] https://www.napoleon.org/magazine/lieux/parc-monceau-paris/

[4] Bild aus: https://commons.wikimedia.org

[5] Unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der Weltbühne vom 15.5. 1924

[6] http://artetpatrimoinepharmaceutique.fr/Qui-sommes-nous/p69/La-Famille-Menier-au-Parc-Monceau

[7] Siehe: Guide du promeneur 8e arrondissement, Philippe Sorel, Parigramme, 1995.

[8] Rechtes Bild aus: http://www.paris-promeneurs.com/Patrimoine-ancien/L-hotel-Menier

[9]Siehe den Blog-Beitrag: Das Hôtel Païva, ein deutsch-französisches Märchenschloss auf den Champs-Elysées. https://paris-blog.org/2016/04/16/das-hotel-paiva-ein-deutsch-franzoesisches-maerchenschloss-auf-den-champs-elysees/

[10] Siehe den Blog-Beitrag: Bürgerkrieg in Frankreich. Ein Rundgang auf dem Friedhof Père Lachaise auf den Spuren der Commune. https://paris-blog.org/2016/08/13/der-buergerkrieg-in-frankreich-1871-ein-rundgang-auf-dem-friedhof-pere-lachaise-in-paris-auf-den-spuren-der-commune/

[11] http://www.paristoric.com/index.php/paris-d-hier/hotels-particuliers/hotels-particuliers-tous/2846-l-hotel-d-henri-menier

Bild aus: http://www.paris-promeneurs.com/Patrimoine-ancien/L-hotel-Henri-Menier-Conservatoire

[12] Bild aus:: http://paris-promeneurs.com/Patrimoine-ancien/L-hotel-Gaston-Menier-Ordre

[13] https://www.tombes-sepultures.com/crbst_1543.html

und entsprechend: http://pone.lateb.pagesperso-orange.fr/pere-lachaise.htm

[14]  Zitiert in:  https://www.cairn.info/revue-politix-2008-4-page-9.htm  (M. Menier fut un vrai philanthrope ; il aimait à faire le bien sous toutes ses formes)

[15] https://www.cairn.info/revue-politix-2008-4-page-9.htm

Das nachfolgende Bild aus:  https://travelswithmaryellen.wordpress.com/2014/10/08/paris-lovely-luxembourg-garden/statue-of-pierre-guillaume-frederic-le-play-in-jardin-du-luxembourg-in-paris-france/

[16] http://www.agglo-pvm.fr/cite-ouvriere-menier/

[17] Zitiert von Delalande, Émile-Justin Menier, un chocolatier en République. https://www.cairn.info/revue-politix-2008-4-page-9.htm#

(18) zitiert bei Marrey, S. 38

Zum Weiterlesen:

Usine Menier, l’empire du chocolat. Aus:   Détours en France,  40 lieux à visiter pour redécouvrir le patrimoine, 2012   https://www.detoursenfrance.fr/patrimoine/patrimoine-industriel/usine-menier-lempire-du-chocolat-3794

Nicolas Delalande, Émile-Justin Menier, un chocolatier en République.  Les controverses sur la légitimité de la compétence politique d’un industriel dans la France des années 1870  In:  Politix 2008/4 (n° 84), Seiten  9 bis  33   https://www.cairn.info/revue-politix-2008-4-page-9.htm#

Saga Menier  http://www.prodimarques.com/sagas_marques/menier/menier.php

Bernard Marrey, Un capitalisme idéal. Paris 1984. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k33218888/f30.image.texteImage

Weitere Blogbeiträge mit Bezug zum Père Lachaise:

Weitere geplante Beiträge:

  • Aux Belles Poules. Ein früheres Bordell im Quartier Saint Denis
  • Die Petite Ceinture, die ehemalige Ringbahn um Paris (1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen 
  • Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“ der ehemaligen Ringbahntrasse
  • „Les enfants de Paris“: Pariser Erinnerungstafeln/plaques commémoratives zur Zeit 1939-1945
  • La Butte aux Cailles, ein kleinstädtisches Idyll in Paris

Das Grabmal Ludwig Börnes auf dem Père Lachaise in Paris: Eine Hommage an den Vorkämpfer der deutsch-französischen Verständigung

Der nachfolgende Beitrag ist Ludwig Börne gewidmet, dem Zeitgenossen Heinrich Heines, mit dem er viel gemeinsam hat, von dem ihn aber auch Wichtiges trennt. Obwohl Börne zu seinen Lebzeiten „die zentrale Figur“  war und Heine „überstrahlte“, und obwohl er heutzutage vielfach gerühmt wird z.B. als eine der „hervorragenden Figuren der deutschen Literaturgeschichte“,  als „Schöpfer des deutschen Feuilletons“ oder als „Apostel der Freiheit“[1], ist er „kaum bekannt“, „leider ein vergessener Autor“.[2]

Mein Interesse an Ludwig Börne beruht unter anderem auf seiner deutsch-französischen Biographie: Börnes Leben verläuft nämlich zwischen zwei Polen: Dem heruntergekommenen, überfüllten jüdischen Ghetto in Frankfurt am Main, wo er 1786 geboren wurde, und Paris, der glänzenden „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), in der er 1837 starb und beerdigt wurde.

Damit gehört er zu einer Reihe von deutschsprachigen Autoren, für die und die für Paris bedeutsam waren.  Man denke nur an Heinrich Heine, über  den es schon einen Beitrag auf diesem Blog gibt, an Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig, Josef Roth….

Zur Konzeption dieses Blogs gehört, dass die Beiträge möglichst auf bestimmte  Orte bezogen sind, die  im Zentrum des jeweiligen Beitrags stehen oder für das jeweilige Thema interessant sind. Es gibt,  bezogen auf  deutschsprachige Autoren, zahlreiche solcher Orte in Paris : Für Heinrich Heine   –unter anderem- zwei Erinnerungstafeln an Häusern , die er bewohnte, sein Grab auf dem cimetière de Montmartre, dazu auch noch das deutsche Haus in der Cité Universitaire Internationale, das nach ihm benannt ist[3];  für Joseph Roth ein Portrait in dessen „Stammkneipe“, dem Café Tournon, für Stefan Zweig ein schönes Denkmal  im Jardin du Luxembourg, für Rainer Maria Rilke eine nach ihm benannte Bibliothek, für Heinrich Mann das Hotel Lutétia…

Und für Börne: Da gibt es lediglich ein wenig bekanntes, etwas abgelegenes  Grabmal mit bedrohlich wirkender Schlagseite auf dem Friedhof Père Lachaise, das allerdings aus künstlerischen und politischen Gründen besondere Aufmerksamkeit verdient – zumal es von einem der bedeutendsten französischen  Bildhauer des 19. Jahrhunderts  gestaltet wurde und weil es, worauf der Titel dieses Beitrags hinweist, nicht nur Ludwig Börne allein gewidmet ist, sondern der deutsch-französischen Verständigung insgesamt.

Im Anschluss an die Vorstellung dieses Grabmals  wird auf die Bedeutung von Paris im Leben und Wirken Börnes und auf seine auf dem Grabmal hervorgehobene Rolle als Vorkämpfer der deutsch-französischen Freundschaft eingegangen. Und es wird das ebenfalls auf dem Père Lachaise liegende Grab von Jeanette Wohl vorgestellt, der „Muse“ Börnes und Adressatin seiner Pariser Briefe.

Das Grabmal Börnes auf dem Père Lachaise

Das  Grabmal Ludwig Börnes auf dem Père Lachaise gehört nicht zu den „prominenten“ Gräbern des Friedhofs, die auf den Übersichtstafeln an den Eingängen verzeichnet sind. Es liegt ein wenig abseits in der 19. Abteilung, fällt –eher bescheiden in seinen Ausmaßen-  dem zufällig Vorbeigehenden nicht unmittelbar ins Auge, zumal die Grabstele, was Lage und Größe angeht,  nicht unübersehbar ist–anders als das am gleichen Friedhofsweg liegende Grabmal  von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, oder das monumentale Mausoleum der russischen Baronin Stroganoff.

DSC01016 Börne Grab (4)

Die Grabstele Börnes hat dagegen bescheidenere Ausmaße und liegt auch nicht direkt am Weg. Dazu erscheint der Erhaltungszustand etwas bedenklich:  „Der Grabstein neigt sich gefährlich zur Seite“, wie das Deutschlandradio  2012 berichtete. Die Schlagzeile damals:  „Das Grab des Schriftstellers Ludwig Börne verkommt“.[4]  Seitdem hat sich die deutsche Botschaft in Paris des Grabes angenommen und seine Restaurierung veranlasst. Allerdings konnte die Neigung des Grabmals dabei nicht beseitigt werden. Ihre Ursache liegt nämlich im „desolaten Zustand des Nachbargrabs … das nicht mitsaniert werden konnte“ – dazu hätte es nach französischem Recht der Zustimmung der Erben bedurft, die man aber offenbar nicht ermitteln konnte.[5]  Eine gefährlich anmutende Neigung hat  der Grabstein also trotz Restaurierung nach wie vor- und das ausgerechnet bei dem immer aufrechten Börne! Aber windschief sind viele Grabsteine auf dem Père Lachaise, auch das also wird  kaum die Aufmerksamkeit zufällig vorbeikommender Friedhofs-Flaneure erregen.

DSC01016 Börne Grab (5)

Es sind hier auch nicht –wie an anderen Gräbern des Friedhofs- Blumen deponiert, und man wird kaum Besucher treffen, die das Grab aufgesucht haben, um dem Verstorbenen ihre Reverenz zu erweisen.

Aber vielleicht wird man doch aufmerksam auf die in eine Nische der Grabstele eingefügte bronzene Büste des Verstorbenen: Ein Portrait mit schönen, scharf geschnittenen Gesichtszügen und klarem Blick – Tatkraft und Energie ausstrahlend.

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (8)

Durch die Grabinschrift erfährt man, dass hier Ludwig Börne begraben ist, der am 22. Mai 1786 in Frankfurt am Main  (hier: sur le Mein) geboren wurde und am 12. Februar 1837 in Paris starb.  Börne war also ein etwas älterer Zeitgenosse Heinrich Heines: wie er wurde er in Deutschland (als Juda Löb Baruch im jüdischen Ghetto Frankfurts) geboren, wie er konvertierte er zum Protestantismus. Und  wie auch Heine  verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens in Paris und starb dort- so wie er es sich schon in seiner Jugend erträumt hatte:

„Es ist nichts Angenehmeres auf der Welt, als in Paris zu sterben; denn kann man dort sterben, ohne auch dort gelebt zu haben?“[6]

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (9)

Unterhalb dieser Grabinschrift gibt es ein Bronzerelief von bescheidenem Ausmaß (40 mal 60 cm), das man, neugierig geworden, nun vielleicht doch etwas näher betrachtet.

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (5)

Abgebildet sind drei Frauen: In der Mitte eine Frau mit phrygischer Mütze, also ganz offensichtlich eine Allegorie der Freiheit. Ihr zur Seite zwei weitere Frauengestalten, die Frankreich und Deutschland verkörpern.

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (3)

Frankreich ist mit einem Lorbeerkranz dargestellt, das  schöne deutsche Fräulein (natürlich) mit einem Kranz aus Eichenlaub.

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (2)

Die beiden  Nationen reichen sich die Hände über dem Herzen der Freiheit, die ihrerseits die Hände Frankreichs und Deutschlands umschlingt. Rechts und links ist die Figurengruppe von Freiheitsbäumen flankiert.  Zu deren Füßen liegen Waffen und Trophäen, die auf eine kriegerische Vergangenheit zwischen beiden Nationen verweisen, jetzt aber, wo sie sich die Hände reichen, nicht mehr gebraucht werden. Auf den Sockeln liegen Stapel von Büchern und Schriften, deren Autoren  darunter eingraviert sind:

DSC01016 Börne Grab (8)

Auf der linken  Seite, neben  Marianne, sind es Voltaire, Rousseau, Lamennais und Béranger, auf der rechten, neben  Germania, Lessing, Herder, Schiller und Jean Paul.

DSC01016 Börne Grab (9)

Es sind also Schriftsteller, die –wie Börne-  zu einer Annäherung der beiden Kulturen beigetragen und/oder der Sache des Fortschritts gedient haben. Zu einigen dieser Autoren hatte Börne eine  besonders enge Beziehung: Zu Jean Paul, den er verehrte und auf den er 1825 in Frankfurt eine „Denkrede“ hielt:  „Er war der Dichter der Niedergeborenen, er war der Sänger der Armen, und wo Betrübte weinten, da vernahm man die süßen Töne seiner Harfe“[7] ; zu Lessing, mit dem er zu seinen Lebzeiten oft verglichen wurde[8]; zu Rousseau, dessen bronzene Büste über dem Arbeitspult in seiner Wohnung in der rue Laffitte Nr. 44 stand – deutlich zu erkennen auf Daniel Oppenheims weiter unten abgebildetem Börne-Portrait-[9], zu Voltaire, dessen Spuren in Fernay, Voltaires letztem Wohnort, Börne 1833 auf einer Reise in die Schweiz folgte[10]; zu Béranger, der um 1830 ein äußerst populärer sozialkritischer Lyriker war – er wurde damals auf eine Stufe mit Victor Hugo und Lamartine gestellt. Börne publizierte 1836 den in französischer Sprache verfassten Artikel Béranger et Uhland, ein konkretes Beispiel für sein Bemühen um deutsch-französischen Kulturaustausch. Friedrich Schiller darf unter diesen Autoren natürlich nicht fehlen. Immerhin wurden seine „Räuber“ während der Französischen Revolution in Paris mit großem Erfolg aufgeführt und 1792 wurde Schiller von der Nationalversammlung (mit der Unterschrift Dantons) zum „citoyen français“ ernannt. Auf diese Ehre wollte Schiller im Blick auf seine Nachkommen auch dann nicht verzichten, als er sich angesichts des jacobinischen Terrors  von der revolutionären Entwicklung in Frankreich distanzierte. Für Börne war Schiller der engagierte Schriftsteller, den er –ähnlich wie Jean Paul- gegen den von ihm als aristokratisch-abgehoben kritisierten Goethe auszuspielen versuchte.[11] Besonders wichtig war für Börne auch die Beziehung zu Lamennais,  von dem weiter unten noch die Rede sein wird.

« Bei dem Grabmal handelt es sich somit nicht nur um eine Ehrung Börnes, sondern um eine frühe Würdigung des deutsch-französischen Dialogs »[12]. Und dass auf dem Grabmal über der Verkörperung der Freiheit die Büste Börnes angebracht ist, darf als Hinweis darauf verstanden werden, dass Börne als deutscher Patriot und Wahlfranzose Zeit seines Lebens für die Vision gestritten hat, die David d’Angers auf dem Relief in Bronze gegossen hat.

Dass es nämlich der berühmte Pierre Jean David, genannt David d’Angers, war, der das Bronzerelief –und auch die Büste Börnes- geschaffen hat, ist der Signatur « J. David 1842 » zu entnehmen.

DSC02543 Ludwig Börne Pere Lachaise (4)

David d’Angers war einer der prominentesten französischen Bildhauer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf diesem Blog war schon von ihm die Rede als dem Schöpfer der Monumentalplastik im Giebelfeld des Pantheons (siehe: https://paris-blog.org/2018/04/01/das-pantheon-der-grossen-und-der-weniger-grossen-maenner-und-der-wenigen-grossen-frauen-1-das-pantheon-der-frauen/) und des Grabmals für den General Gobert auf dem Friedhof Père Lachaise (siehe: https://paris-blog.org/2017/11/01/der-schwierige-umgang-mit-einem-duesteren-kapitel-der-franzoesischen-vergangenheit-die-erinnerung-an-sklavenhandel-und-sklaverei/), auf dem auch David d’Angers selbst bestattet ist.  Uns Deutschen ist David d’Angers vielleicht auch bekannt als der Schöpfer der großen Goethe-Büste in der Anna-Amalia- Bibliothek von Weimar, die David d’Angers nach seinem ersten Deutschland-Besuch Goethe als Geschenk übersandt hatte. Ein zweites Exemplar ist im musée d’Orsay ausgestellt. Die Goethe-Büste war Teil der Bemühungen David d’Angers, die großen Geister und Künstler seiner Zeit zu verewigen, also gewissermaßen ein eigenes übernationales bildhauerisches Pantheon zu schaffen- entweder in Form großer Büsten oder wenigstens von Medaillons, deren vollständige Sammlung –insgesamt 550- sich im Louvre befindet.

Dass zu den « großen Männern »  David d’Angers auch Ludwig Börne gehörte, ist kein Zufall, hatten doch beide ganz ähnliche, kosmopolitische Ziele und traten im Sinne ihrer freiheitlichen Ideen für einen Austausch zwischen den Nationen Europas ein. Während Börne diesen Austausch über die journalistische Etablierung einer deutsch-französischen Öffentlichkeit vorantrieb, verfolgte David d’Angers mit seiner „Galerie des contemporains“ auf der künstlerischen Ebene das Ziel einer Vernetzung der großen Geister Europas über alle Nationalgrenzen hinweg.[13]

So schickte David d’Angers 1836 Ludwig Börne, dessen « Genie und noblen Charakter » er bewundere, ein bronzenes Medaillon mit den Worten :   „À l’homme dont j’admire le génie et le noble charactère, j’offre cette esquisse en bronze faite d’après son profil, en le priant de recevoir favorablement l’assurance de mon profond respect.“[14]

DSC00720 Börne Hist. museum FFM (32)

       Das Medaillon Börnes aus dem Historischen Museum Frankfurt[15]

So lag es nahe, dass David d’Angers nach Börnes Tod von einer dafür eigens gebildeten Kommission beauftragt wurde, das Grabmal für den Verstorbenen zu gestalten. Das erforderliche Geld dafür brachte das Ehepaar Jeanette Wohl/Salomon Strauss auf, bei dem Börne die letzten Jahres seines Lebens in Wohngemeinschaft verbrachte. 1842 wurde das Grabmal auf dem Friedhof enthüllt: Die Stele mit der Bronzebüste und der Bronzeplastik mit dem Titel „La France et l’Allemagne unies par la Liberté“.

David d’Angers hat also wesentlich dazu beigetragen, das Bild Ludwigs Börne der Nachwelt  zu übermitteln- neben dem Maler Moritz Daniel Oppenheim, der von Börne ein Gemälde und einen Kupferstich anfertigte- ausgestellt im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt bzw., was die Graphik angeht, u.a. im Jüdischen Museum von Berlin und  im Museum Schloss Philippsruhe in Hanau.[16]

Die Beerdigung Börnes war ein gesellschaftliches Ereignis: Ein beeindruckender Trauerzug von Schriftstellern, Kaufleuten, aber auch Arbeitern, geleitete  Börnes Leichnam von seiner Wohnung in der Rue Laffitte zum Père Lachaise. „Die nächsten Freunde trugen den Sarg bis zum Grab. Der politische Flüchtling Venedey und ein Frankfurter Kaufmann sprachen am Sarge.“ Die große Grabesrede hielt François-Vincent  Raspail, ein bedeutender Chemiker und  Armenarzt, gleichzeitig aber auch ein engagierter Mann der Opposition gegen die  Herrschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippes. Seine Zeitschrift  Réformateur, in der Börne „als französischer Schriftsteller geschrieben hatte, war ein Forum des Kampfs gegen die „Bankokratie“ und für die Sache  der Armen. Der Grabredner Raspail sah sich als Vertreter des republikanischen, freiheitlichen Frankreichs und rühmte Börne als den großen Mittler zwischen Deutschland und Frankreich.    

 „Il voyait le colosse du progrès enjamber les deux rives du fleuve qui coule entre la France et l’Allemagne, en leur tendant une main conciliatrice, qu’ils appartiennent à la même espèce et qu’ils sont soumis aux mêmes devoirs.“ [17]

Ist es bei David d’Angers die Verkörperung der Freiheit, die Deutschland und Frankreich zusammenführt, so ist es bei Raspail der „Koloss des Fortschritts“, der mit seinen beiden Beinen rechts und links des Rheins steht und den beiden Ländern die Hand zur Verständigung reicht.

Selbst Heinrich Heine, seit Anfang der 1830-er Jahre mit Börne in inniger Feindschaft verbunden, konnte sich den eindrucksvollen Bekundungen der Trauer über den Tod Börnes nicht entziehen, als er im ersten Entwurf seines bösartigen  Börne-Pamphlets schrieb :

 «Ludwig Börne hat glücklich vollendet, und die Freunde warens,  welche über seinem Sarge die männliche Thräne vergossen und das trauernde Wort gesprochen. Der Glückliche ! Er ruht auf dem  blühenden Gräberhügel, im Kreise seiner Liebesgenossen, auf dem Père-la-Chaise, und ihm zu Füßen liegt das Jerusalem seines Glaubens, das ewige Paris…  schöner kann man nicht sterben ! schöner nicht begraben seyn ! »[18]

Unmittelbar nach Börnes Tod setzte eine « Verehrungswelle » des Schriftstellers ein, wie sein Verleger Julius Campe dem –ebenfalls von ihm verlegten- Heinrich Heine schrieb :

« Börne ist zu guter Stunde gestorben. Alles achtet und ehrt ihn, sieht in ihm einen Apostel der Freiheit, der als Blutzeuge gestorben ist ; als Verbannter. »[19]

Dass der deutsche Patriot Ludwig Börne in « fremder Erde » bestattet wurde, war ein Thema zahlreicher Gedichte, die im reimfreudigen  deutschen Vormärz, der Zeit vor der Revolution von 1848, entstanden sind. (20)   Sie weisen auch auf die große Popularität hin, die Börne damals bei den liberalen Kräften in Deutschland hatte, die für « Einigkeit, Recht und Freiheit für das deutsche Valterland » stritten.

Ein für mich nahe liegendes Beispiel dafür ist Friedrich Stoltze, der Frankfurter Freiheitsfreund, satirische Zeitkritiker und Mundartdichter.  In dem Stoltze Museum in der neuen Frankfurter Altstadt (im Haus zum Weißen Bock und dem Haus zur Goldenen Waage)  ist ein Portrait Börnes zu sehen, ein Druck nach dem Ölgemälde Moritz Daniel Oppenheims, das aus dem Arbeitszimmer Friedrich Stoltzes stammt. Dazu folgende Erläuterung: „Die Begegnung mit dem  Frankfurter Freiheitsdichter und Feuilletonisten Ludwig Börne wirkte als Initialzündung für Friedrich Stoltzes eigenen Weg als zeitkritischer Schriftsteller.“  Und selbstverständlich hat Börne auch einen Ehrenplatz in der von Stoltze herausgegebenen Frankfurter Latern. Zum Beispiel mit einem Gedicht „An Börnes Grabe auf dem Père La Chaise in Paris“ von W. Nolte, der Börne auferstehen und -ganz im Sinne der Bronzetafel auf dem Grab-   sprechen lässt:

„Wenn der Deutsche sich vertiefte, herrscht im Reiche der Gedanken,             

 Dann durchbrach des Zwingherrn Schranken oft das kühne Volk der Franken, (…)           

Volk der Denker, Volk des Freistaats, lasst das Hadern, lasst das Grollen!           

Lasst die Wunden jetzt vernarben, uns einander Achtung zollen!                     

Reicht in Freundschaft Euch die Hände, schließt den schönsten Bund auf Erden!“ 

Und Stoltze selbst schrieb zum 100. Geburtstag Börnes am 6. Mai 1886 in der Frankfurter Lantern 18/1886 ein Gedicht, in dem er  zur Feier des „von Gott gesandten“  Börne die Errichtung eines Freiheitsbaums auf dem alten Börneplatz fordert, wenn – wie es ironisch am Ende heißt-  „die Polizei im freien Deutschland nichts dagegen hat. “  Und auch das Symbol des Freiheitsbaums spielt ja auf der Bronzetafel des David d’Angers auf der Grabstele Börnes eine wichtige Rolle.  (20a)

Frankfurt, das ihn hat geboren,  Vaterstadt, nun schmücke dich!

Lasse seinen Ruhm ertönen  Weit hinaus gen Nord und Süd;

Unter deinen großen Söhnen,  Wer war edler von Gemüth?

Auch ein ödes Plätzchen lasse  Schmücken, wie es sich gebührt,

In der eh’mals Judengasse,  Die nun seinen Namen führt.

Jenes Plätzchen, das getragen  Seines Vaterhauses Raum,

Darauf pflanz‘ und lasse ragen  Einen schönen Freiheitsbaum.

Denn geheiligt ist die Stelle,  Wo ein edler Geist entstand

Und betreten hat die Schwelle,  Denn er war von Gott gesandt.

Mit dem Freiheitsbaume weihen   Soll das Plätzchen uns’re Stadt,

Wenn die Polizei im freien   Deutschland nichts dagegen hat.

Ludwig Börne in und über Paris

Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Würdigung Ludwig Börnes. Die findet man zum Beispiel in der abschließend „zum Weiterlesen“ angegebenen Literatur- ebenso wie nähere Informationen und Interpretationen zum „deutschen Zerwürfnis“ zwischen Heine und Börne. Aber die Betrachtung des Grabdenkmals  regt doch dazu an, wenigstens auf zwei Aspekte seines Lebens und Denkens noch etwas einzugehen: Die Bedeutung, die Paris für Börne hatte – von Heine immerhin als dessen Jerusalem bezeichnet- und sein auf der Grabstele hervorgehobenes Engagement für den deutsch-französischen Kulturaustausch und die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland.

Börne hatte schon als junger Mann Paris besucht und war von der Stadt begeistert, obwohl Frankreich damals noch/wieder von den verhassten Bourbonen beherrscht wurde. Am 21. Oktober 1819,  während seines ersten Aufenthalts, schrieb er an Jeanette, seine Vertraute:

Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft.“[21]

1830 wurden dann in drei glorreichen Julitagen, den „trois glorieuses“, die Bourbonen gestürzt.  Der revolutionäre Enthusiasmus der Franzosen strahlte weit über die Grenzen hinaus nach Belgien, Italien, Polen und auch Deutschland. „Die französische Juli-Revolution wirkte in Europa“, so Ludwig Marcuse, „wie ein Fanal des Jüngsten Gerichts.“ [22]

Heinrich Heine feierte  damals die „heiligen Julitage von Paris mit diesen Worten, die  auch von Börne hätten sein können:

„Heilige Julitage von Paris! Ihr werdet ewig Zeugnis geben von dem Uradel der Menschen, der nie ganz zerstört werden kann. Wer euch erlebt hat, der jammert nicht mehr auf den  alten Gräbern, sondern freudig glaubt er jetzt an die Auferstehung der Völker. Heilige Julitage, wie schön war die Sonne, und wie groß war das Volk von Paris.“[23]

Börne erhielt die Nachricht vom Sturz Karls X., des verhassten Bourbonenkönigs, während eines Kuraufenthalts in Bad Soden. „Von einem Tag zum anderen sind seine Schmerzen, die körperliche Schwäche und Resignation überwunden. Nur wenige Wochen später ist er mit der Postkutsche unterwegs nach Paris“,[24] wo er mit kurzen  Unterbrechungen bis zu seinem Tode blieb.[25]

In seinen „Briefen aus Paris“, gerichtet an seine Freundin und Vertraute Jeanette Wohl in Frankfurt und auf deren Anregung hin mit großem Erfolg publiziert,  schrieb er über seine Ankunft in Paris:

„Das moralische Klima von Paris tat mir immer wohl, ich atme freier, und meine deutsche Engbrüstigkeit verließ mich schon in Bondy.[26] Rasch zog ich alle meine Bedenklichkeiten aus und stürzte mich jubelnd in das frische Wellengewühl. Ich möchte wissen, ob es andern Deutschen auch so begegnet wie mir, ob ihnen, wenn sie nach Paris kommen, wie Knaben zumute ist, wenn an schönen Sommerabenden die Schule geendigt und sie springen und spielen dürfen!“ (5. Brief)

Und über sein Lebensgefühl in Paris schrieb er:

 „Manchmal, wenn ich um Mitternacht noch auf der Straße bin, traue ich meinen Sinnen nicht, und ich frage mich, ob es ein Traum ist. Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch je eine solche Lebensart vertragen könnte. Aber nicht allein, daß mir das nichts schadet, ich fühle mich noch wohler dabei. Ich war seit Jahren nicht so heiter, so nervenfroh, als seit ich hier bin. Die Einsamkeit scheint nichts für mich zu taugen, Zerstreuung mir zuträglich zu sein …. hier erst bekam ich wieder Herz zu leben. Die geistige Atmosphäre, die freie Luft, in der man hier auch im Zimmer lebt, die Lebhaftigkeit der Unterhaltung und der ewig wechselnde Stoff wirken vorteilhaft auf mich. Ich esse zweimal soviel wie in Deutschland und kann es vertragen.“ (13. Brief)

In Paris wartete Börne voller Ungeduld auf die große Revolution. In seinen „Briefen aus Paris“ prophezeite er, „dass im Jahre 1831 ein Dutzend Eier teurer sein werden als ein Dutzend Fürsten„.

Börne hoffte,  dass der revolutionäre Funke auch nach Deutschland überspringen werde. Genährt wurde diese Hoffnung durch das  Hambacher Fest 1832, das  große Treffen der deutschen Liberalen auf dem Hambacher Schloss in der Pfalz, in der damals noch die staatsbürgerlichen Freiheiten aus der Napoleon-Ära fortbestanden. Das Fest, zu dem Börne als Ehrengast eingeladen war, wurde für ihn „ein rauschähnliches Erfolgserlebnis“.[27] Am  28. Mai schrieb er Jeanette Wohl:

„Auch wenn ich  Zeit hätte, könnte ich Ihnen nicht schildern, wie bedeutend das Fest war und in seinen Folgen werden wird. Ich habe mich nach meiner Art zurückgezogen und fast versteckt. Half aber alles nichts. Ich werde als ein Napoleon angesehen. Gestern abend brachten mir die Heidelberger Studenten unter Anführung des Herolds ein Vivat mit Fackelzug vor meine Wohnung. Schon früher zog mir auf den Straßen alles nach mit dem Geschrei: es lebe Börne, es lebe der deutsche Börne! Der Verfasser der Briefe aus Paris. (…)“[28]

Aber mit den sogenannten Juli-Ordonnanzen folgte die Repression in den Ländern des Deutschen Bundes auf dem Fuß. Der erhoffte „Mai der Völker“ blieb aus. Auch in Frankreich:  Börne musste erkennen, dass  in Paris nur ein Übel aufs andere gefolgt war: Der Bourbone Karl X. war zwar  gestürzt, aber unter dem „Bürgerkönig“ Louis Philippe hatte sich die „Geldaristokratie“ oder „Bankokratie“, wie Proudhon sie taufte, etabliert. [29]

Börne, der aufgrund dieser Erfahrungen vom Anhänger der konstitutionellen Monarchie zum Republikaner wurde, sah –besonders nach dem Aufstand der Weber von Lyon im November/Dezember 1831- einen Krieg der Armen gegen die Reichen voraus, und wendete sich in seinen journalistischen Arbeiten nun auch an die sehr umfangreiche „deutsche Kolonie“, damals die größte Gruppe von Ausländern in Paris: Als Börne 1830 in Paris eintraf, lebten dort etwa 7000 Deutsche, 1848 waren es  60000, die aus vielfältigen Gründen nach Paris gekommen waren.  Ein wichtiger Bestandteil waren die politischen Emigranten, die bei weitem größte Gruppe allerdings bildeten Arbeiter und  Handwerker, die zum Beispiel in den Werkstätten des Faubourg Saint-Antoine arbeiteten, oder Armutsflüchtlinge aus Nordhessen, die die Pariser Müllabfuhr betrieben.[30]   Einen großen Einfluss auf Börne hatte in dieser zeit der Priester Hugues Filicité Robert de Lamennais, dessen Name ja auch auf dem Grabmal Börnes eingraviert ist:  Lamennais war Vertreter eines christlichen, sozialrevolutionären Sozialismus. Obwohl der vom Vatikan 1832 in einer Enzyklika ausdrücklich verurteilt wurde, fanden  seine 1834 erschienenen  Paroles d’un croyant  (Worte des Glaubens) damals eine breite Leserschaft, zu der auch Börne gehörte.  Der war von der Schrift  tief beeindruckt,  bezeichnete sie sogar als „das dritte Testament“ und  übersetzte sie ins Deutsche.  Als Honorar für die schweizerische „Volksausgabe“  der deutschen Übersetzung erhielt er auf seinen Wunsch hin 500 Freiexemplare, die er  unter den deutschen Handwerkern und Arbeitern in Paris verteilen ließ.[31]

Für Börne war die religiöse Terminologie in dieser Zeit  ein Mittel, sich –nach dem Scheitern der direkten  politischen Agitation-  über den engen Kreis der Intellektuellen hinaus Gehör zu verschaffen. Der Gedanke an Georg Büchners Hessischen Landboten, der von dem Butzbacher Pfarrer Weidig entsprechend überarbeitet wurde, liegt dabei nahe. Börne sah im Bezug zum Christentum auch eine Chance, „vor allem bei den Unterschichten neues, auf ethisch gesichertem Boden stehendes politisches Bewusstsein“ heranzubilden[32], eine Antriebskraft für sozialen Fortschritt und einen gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen kulturellen Traditionen Deutschlands und Frankreichs. Heinrich Heine hat in seinem Börne-Pamphlet  Börne vorgeworfen, „er fraternisier(t)e mit dem Pfaffen Lamennais“, aber für Börne war der Kampf für die Freiheit nicht ein Kampf gegen die Kirche, sondern gegen die Bourgeoisie, und wenn  Vertreter eines engagierten Christentums auch an diesem Kampf teilnehmen wollten:  tant mieux…. [33]

Börne war in dieser Zeit in Kreisen der in Paris lebenden, politisch engagierten Deutschen eine zentrale Figur. In einem Spitzelbericht aus dem  Jahr 1836 liest sich das so:

 „Die Bemühung, zu Paris das revolutionäre Zentrum der deutschen Refugierten und sogenannten Patrioten zu gründen und die Leitung einem Komitee zu übertragen, ist seit vergangener Woche vollkommen ausgeführt. Börne als der reichste, älteste und berühmteste Schriftsteller ist jetzt die revolutionäre Autorität und bei ihm werden jetzt Zusammenkünfte gehalten. (…) Börne besitzt ungefähr 50.000 Reichstaler Privatvermögen, lebt sehr angenehm in Paris und verdient durch die stets wiederholten Auflagen seiner Werke bedeutend. Die deutschen Republikaner gehen seit Wochen zu Börne.“[34]

Allerdings haben die Spitzel hier Börnes Rolle sicherlich etwas übertrieben, übrigens auch was seine finanziellen Verhältnisse angeht. Börne hatte zwar nach dem Tod seines Vaters einen Erbteil erhalten und dazu eine regelmäßige Rente, wozu auch noch eine von ihm erstrittene Pension für seine Dienstzeit als Polizeiaktuar in Frankfurt kam, aber er war, „um seinen großbürgerlichen Lebensstandard  erhalten zu können, auf regelmäßige Autorenhonorare angewiesen“[35]. Angesichts der damals  in weiten Teilen  Deutschlands herrschenden Zensur war das  durchaus nicht garantiert.

Adressat von Börnes publizistischer Aktivität war neben den Deutschen in der Heimat und in Paris auch das französische Publikum: 1835 wurde er Mitarbeiter des  von Raspail herausgegebenen „Réformateur“, in der er auch Artikel in französischer Sprache veröffentlichte. 1835 musste die Zeitschrift eingestellt werden, so dass Börne nun keine Plattform  mehr hatte für seine Bemühungen um die deutsch-französische Kulturvermittlung. So griff er seinen alten Plan wieder auf, eine eigene deutsch-französische Zeitschrift herauszugeben mit dem schönen Titel  „Balance. Revue allemande et française“ – der Titel der Zeitschrift schlägt damit eine Brücke zur „Waage“, der „Zeitschrift für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst“, die der junge Börne herausgegeben hatte, bis sie 1821 nach ständiger Auseinandersetzung mit der Zensur von Metternich verboten wurde. In der Balance  erschien auch Börnes letzte große Arbeit über den „Franzosenhasser Wolfgang Menzel“: „Gallophobie de M. Menzel“. Die an die Zeitschrift geknüpften Hoffnungen erfüllen sich aber nicht: Die Auflage kam nie über 250 Exemplare hinaus und musste schon in ihrem Gründungsjahr 1836 auch wieder ihr Erscheinen einstellen.[36]

DSC00535 Balance Börne (1)

Der Tuberkulose – kranke Börne verbrachte seinen letzten Lebensabschnitt treu umsorgt im Haushalt des Ehepaares Jeanette Wohl und Salomon Strauss: Beide verehrten Börne, waren wegen ihm auch von Frankfurt nach Paris übergesiedelt und engagierten sich sehr  für die Publizierung von Börnes Arbeiten. Die Sommer verbrachten die drei  in Auteuil, die Winter in Paris in der rue Laffitte. Dort starb  er am 12. Februar 1837  und von dort aus wurde dann auch sein Leichnam zum Père Lachaise geleitet. Die Konzession des Grabes- „à perpétuité“, wie es damals üblich war- hatte Salomon Strauss erworben.[37]

Börnes Vision der deutsch-französischen Verständigung

Schon 1808 schrieb Börne in einer Abhandlung „Über die geometrische Gestalt des Staatsgebiets“, in Europa gäbe es einen Kern, „der nicht zerstückelt werden kann“, und der bestehe vor allem aus Deutschland und Frankreich: „die hängen so fest zusammen, dass sie sich schwerlich werden trennen können. Hier sieht man aber auch deutlich den Fingerzeig des Schicksals, das beide Länder nur einen Staat bilden sollen. Und welch ein glücklicher Staat müsste das nicht werden, wenn sich die deutsche Natur mit der französischen vermählte…“[38]

Im 6. Brief aus Paris aus dem Jahr 1830 scheibt Börne anlässlich einer Soiree im gleichen Sinne:  „Es war da ein Gemisch von Deutschen und Franzosen, wie es mir behagt. Da wird doch ein gehöriger Salat daraus. Die Franzosen allein sind Öl, die Deutschen allein Essig…“

Und dann nutzt er die Gelegenheit für einen großen historischen Rück-  und Ausblick:

„In wenigen Jahren wird es ein Jahrtausend, dass Frankreich und Deutschland, die früher nur ein Reich bildeten, getrennt wurden. Diese dumme Streich wurde, gleich allen dummen Streichen in der Politik, auf einem Kongresse beschlossen, zu Verdun im Jahre 843. (…) Ich hoffe, im Jahr 1843 endigt das tausendjährige Reich des Antichrists, nach dessen Vollendung die Herrschaft Gottes und der Vernunft wieder eintreten wird. Wir haben nämlich den Plan gemacht, Frankreich und Deutschland wieder zu einem großen fränkischen Reiche zu vereinigen. Zwar soll jedes Land seinen eigenen König behalten, aber beide Länder eine gemeinschaftliche Nationalversammlung haben. Der französische König soll wie früher in Paris thronen, der deutsche in unsrem Frankfurt und die Nationalversammlung jedes Jahr abwechselnd in Paris oder in Frankfurt gehalten werden.“ (6. Brief aus Paris)

Das „tausendjährige Reich des Antichrists“, von dem Börne hier spricht, war dann doch noch nicht 1843 zu Ende, wie er es erhofft hatte. Es mussten erst noch drei weitere Kriege und das „tausendjährige Reich“ der Nazis kommen, bis sich Franzosen und Deutsche auf den gemeinschaftlichen Gräbern umarmen konnten, so wie es Börne gewünscht hatte:

„Die altersreifen Männer beider Länder sollten sich bemühen, die junge Generation Frankreichs mit der jungen Generation Deutschlands durch eine wechselseitige Freundschaft und Achtung zu verbinden. Wie schön wird der Tag sein, wo die Franzosen und die Deutschen auf den Schlachtfeldern, wo einst ihre Väter sich untereinander gewürgt, vereinigt niederknien und, sich umarmend, auf den gemeinschaftlichen Gräbern ihre Gebete halten werden!“[39]

Hoffte Börne in der julirevolutionären Begeisterung von 1830, dass 1000 Jahre nach dem Teilungsvertrag von Verdun, also 1843, Deutschland und Frankreich endlich wieder vereint seien, so war er zwei Jahre später deutlich skeptischer:

Wir gewähren“, so schreibt er da, „noch ein Jahrhundert, bis die Völker Europens, bis besonders die Franzosen und Deutschen zur Einsicht gelangen, dass von ihrer Einigkeit ihr Glück und ihre Freiheit abhängen.“[40]  Sicher war er aber, dass Deutschlands und Frankreichs Schicksale nicht voneinander zu trennen seien. In seiner letzten Schrift, „Menzel, der Franzosenfresser“ von 1837, gewissermaßen seinem politischen Testament, schreibt er:

Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands ist seit Jahrhunderten nur ein beständiges Bemühen, sich zu nähern, sich zu begreifen, sich zu vereinigen, sich ineinanderzuschmelzen, die Gleichgültigkeit war ihnen immer unmöglich, sie müssen sich hassen oder lieben, sich verbrüdern oder sich bekriegen. Das Schicksal weder Frankreichs noch Deutschlands wird nie einzeln festgesetzt und gesichert werden können.“

Der Wunsch nach einer Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich ist ein Leitmotiv des Börneschen Denkens und Handelns. Und dabei war er sich einig mit seinem Antipoden Heinrich Heine. Malte sich aber Börne, wie es seinem politischen Denken entsprach, die Zukunft beider Länder schon ganz konkret  in seiner politischen Konstruktion aus, so bezog der Ästhet Heine auch die Dimension des Genusses ein:

 „Laßt uns die Franzosen preisen! sie sorgten für die zwey größten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, für gutes Essen und bürgerliche Gleichheit, in der Kochkunst und in der Freyheit haben sie die größten Fortschritte gemacht, und wenn wir einst alle, als gleiche Gäste, das große Versöhnungsmahl halten, und guter Dinge sind, […] dann wollen wir den Franzosen den ersten Toast darbringen. […] sie wird doch endlich kommen, diese Zeit, wir werden, versöhnt und allgleich, um denselben Tisch sitzen; wir sind dann vereinigt, und kämpfen vereinigt gegen andere Weltübel, vielleicht am Ende gar gegen den Tod“ (DHA VII, 70)

Damit ergänzen sich, wie ich meine, Börne und Heine auf  wunderbare und ganz aktuelle Weise: Die deutsch-französische Verständigung ist –wie die europäische Einheit insgesamt- nicht nur eine politische Notwendigkeit nach vielen Kriegen und Katastrophen, sondern sie ist auch etwas – bzw. sollte auch etwas sein, das die Völker mit Leib und Seele, mit Freude und Lust verbindet, und vor allem: mit der animierenden Perspektive eines gemeinsamen Kampfes für eine bessere Zukunft.

Das Grab von Jeanette Wohl auf dem Père Lachaise

Nach dem Besuch von Ludwig Börnes Grabmal lohnt es sich, noch ein paar Schritte weiter zu gehen zu dem ebenfalls von David d’Angers gestalteten Grabmal des Generals Gobert.[41] Und bevor man von dort aus wieder zum Ausgang zurückgeht –am besten über den malerischen chemin des chèvres, bietet es sich an, am Grab von Jeanette Wohl vorbeizugehen, das sich auch auf diesem Friedhof befindet, und zwar neben dem Gebäude der Friedhofsverwaltung (Conservation)  am Seiteneingang der Rue du Repos  in der 7. Division. Hier befinden  sich überwiegend jüdische Gräber, darunter auch das Grab des französischen Zweiges der Rothschild-Dynastie- übrigens auch eine Frankfurt und Paris verbindende Geschichte… [42]

DSC00591

Jeanette Wohl war für Börne  „Mutter, Schwester, Tochter, Freundin, Geliebte, Frau und Braut.“[43] In den 1820-er Jahren gab es bei Börne und Jeanette Wohl Heiratspläne, die aber scheiterten- unter anderem an der Konvertierung Börnes zum Protestantismus. Für das orthodox-jüdische Milieu, aus dem Jeanette Wohl stammte, war das kaum akzeptabel. Das Scheitern der Heiratspläne tat allerdings der Freundschaft zwischen den beiden keinen Abbruch. Der Schmerz, nicht mit Börne zusammenleben zu können, wurde nach den Worten Norbert Altenhofers „durch das Bewusstsein kompensiert, ihm als Briefpartnerin unersetzlich zu sein.“[44]  Das war sie in der Tat: 1932 lieferte Börne im Brief vom 6. November eine saloppe, „in ihrem  tiefen Wahrheitsgehalt aber nicht zu unterschätzende Begründung für das Scheitern der Heiratspläne: ‚Es fragte mich hier einer,  warum wir uns nicht verheiratet hätten.  Da erinnerte ich mich der Antwort, die einst auf die gleiche Frage ein Franzose gegeben: où passerois-je mes soirées?  und ich erwiderte: an  wen sollte ich dann Briefe schreiben?“ (zit. Walz, 72)

Und es war Jeanette Wohl Verdienst, dass auf der Grundlage von Börnes Korrespondenz mit ihr die „Pariser Briefe“ entstanden, Börnes bekannteste und bedeutendste Publikation.[45] In seiner Börne- Denkschrift schreibt Heine „an der einzigen Jeanette Wohl gewidmeten Stelle, die nicht denunziatorischen Charakter trägt:

‚Die Pariser Briefe waren nicht an eine erdichtete Luftgestalt, sondern an Madame Wohl gerichtet (..) Wenn sich in Briefen nicht bloß der Charakter des Schreibers,  sondern auch des Empfängers abspiegelt, so ist Madame Wohl eine höchst respektable Person, die für Freiheit und Menschenrechte glüht, ein Wesen voll Gemüt und Begeisterung…‘“[46]

DSC00596 Jeanette Wohl Père Lachaise (3)

1832 heiratete Jeanette Wohl den zwölf Jahre jüngeren Kaufmann Salomon Strauss, ebenfalls ein Frankfurter Verehrer Börnes und wie Jeanette Wohl engagiert in der Aufarbeitung und Verbreitung der Werke Börnes.  Bedingung für die Ehe mit Strauss war für Jeanette Wohl aber die Fortdauer der engen Beziehung zu Börne. In einem Brief machte sie dies ihrem künftigen  Ehemann klar:

 „Der Doktor hat niemanden auf der Welt als mich, ich bin ihm Freundin, Schwester, alles was  sich mit diesem Namen  Freundliches, Theilnehmendes, Wohlwollendes im Leben  geben, bezeichnen  lässt.  …. Der Doktor muss bei uns sein können, wann, wo und so oft und für immer, wenn er es will. (…)  Solange ich lebe, bis zum letzten Athemzuge werde ich für Börne die Treue, die Liebe und Anhänglichkeit einer Tochter zu ihrem  Vater, einer Schwester zu ihrem Bruder, einer Freundin zu ihrem Freunde haben.“[47]

In der zweiten Novemberhälfte siedelte das Ehepaar Wohl/Strauss nach Paris über, wo es bis zu Börnes Tod mit diesem in ungetrübter Harmonie zusammenlebte.“ Durch die Ehe mit Strauss und den Umzug nach Paris schafft sie Börne,  „dem Freund ihres Lebens einen neuen Freund, eine neue Heimat, ein letztes Asyl.“[48] In Frankfurt wäre „die merkwürdige Ehe zu dritt“ angesichts des konservativen Umfelds Jeanettes vermutlich kaum möglich gewesen. Dass  Jeanette sich auf eine solche –von Heinrich Heine geschmähte- Beziehungsform eingelassen hat, ist vielleicht auch damit zu erklären, dass ihr Vater, ein durch Finanzgeschäfte äußerst wohlhabend gewordener Frankfurter Wechselmakler und Schutzjude, als angeblich „gottloser Freigeist“ von dem jüdischen  Gemeindevorstand  verstoßen worden war und er „wie ein Vieh“ fern vom Grab seiner Vorfahren verscharrt wurde, bis die Mutter in einem langjährigen, letztlich von Kaier Franz II. entschiedenen Rechtsstreit, doch noch eine Umbettung und eine Bestattung in der Nähe seiner Vorfahren  erreichte.[49]

Nach Börnes Tod  wurde Jeanette  von Börne zur „Erbin seiner sämtlichen literarischen Eigentumsrechte“ eingesetzt. Mit Unterstützung von Strauss gab sie zwischen 1844 und 1850 bei einem Mannheimer Verlag sechs Bände mit nachgelassenen Schriften Börnes heraus.  Die erste große Gesamtausgabe von Börnes Schriften erschien aber erst 1862, ein Jahr nach Jeanettes Tod: Grund dafür waren  Kompetenzstreitigkeiten mit dem Verleger Campe, zu dem Jeanette das Vertrauen verloren hatte, nachdem er 1840 Heines Pamphlet gegen Börne verlegt hatte.

DSC00596 Jeanette Wohl Père Lachaise (5)

Das Grab von Jeanette Strauss-Wohl befindet sich leider in einem lamentablen Zustand. Immerhin hat jemand die den Grabstein überwuchernden und ihm schwer zusetzenden dicken Efeuranken teilweise entfernt, so dass wenigstens die Aufschrift (noch) lesbar ist.  Jeanette  Wohl hätte es angesichts ihrer Verdienste um das Werk  Börnes wohl verdient, dass ihr Grab nicht dem Verfall preisgegeben wird. Zuständig wären eigentlich Erben, falle es die noch gibt…  Oder vielleicht die Stadt Frankfurt? Aber das Kulturdezernat der Stadt, das ich in dieser Sache angeschrieben habe, hüllt sich in Schweigen.  Und die von mir ebenfalls kontaktierte prominente Frankfurter Börne-Stiftung, deren Aufgabe es ist, „an den großen Schriftsteller und Journalisten Ludwig Börne zu erinnern“, die den Prestige-trächtigen Börne-Preis vergibt und in der auch der Oberbürgermeister Frankfurts vertreten ist, hat dafür jedenfalls, wie sie mir mitteilte, „keine Mittel“… [50]

(Juli 2018)

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist 20221004_162837-1-verkl..jpg

Das Portrait von David d’Angers, aufgenommen von Wolf Jöckel am 4. Oktober 2022

Etwa zur gleichen Zeit wie das Relief David d’Angers‘ entstand in den 1840-er Jahren in Berlin ein ganz entzückendes Wunschbild deutsch-französischer Vereinigung. Es ist eine im romantisch-biedermeierlichem Arabesken-Zeichnung aus dem Kreis der Töchter Bettine von Arnims. Also ganz anders als das -Börne angemessene- politisch-programmatische Relief. Aber beide ergänzen sich und man darf sie als Vision der -leider erst nach drei verheerenden Kriegen- endlich Wirklichkeit gewordenen deutsch-französischen Verständigung ansehen.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist 81_arnim_iv-1960-13-014-003_aktuell_000-verkleinert.jpg

Mehr dazu im Blog-Beitrag:   https://paris-blog.org/2022/11/17/frankreich-und-deutschland-ein-romantisches-wunschbild-deutsch-franzosischer-vereinigung-aus-den-1840-er-jahren/

Benutzte Literatur/Zum Weiterlesen

Ludwig Börne,  Das große Lesebuch. Herausgegeben von Inge Rippmann, FFM 2012

Ludwig Börne, Briefe aus Paris: http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-aus-paris-1678/1

Ludwig Börne, Menzel der Franzosenfresser und andere Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hinderer. Sammlung insel 45 FFM 1969

Ludwig Börne und Heinrich Heine. Ein deutsches Zerwürfnis. Bearbeitet von Hans Magnus Enzensberger. FFM 1997, S.96

Über Ludwig Börne/Sekundärliteratur:

Rachid l’Aoufir, Ludwig Börne un parisien pas comme les autres. Paris: L’Harmattan  2004

Alfred Estermann (bearbeitet von), Ludwig Börne 1786-1837. Zum 200. Geburtstag des Frankfurter Schriftstellers. Freiheit, Recht und Menschenwürde. FFM: Buchhändler –Vereinigung 1986

Anne Hardy, Ein Frankfurter Publizist und seine Muse. Der Briefwechsel zwischen Ludwig Börne und Jeanette Wohl. In: Forschung Frankfurt 1/2008  http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050628/Frankfurter_Publizist.pdf

Heinrich Heine, Über Ludwig Börne   http://gutenberg.spiegel.de/buch/uber-ludwig-borne-373/1

Willi Jasper, Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie. Hamburg: Hoffmann und Campe 1989

Ludwig Marcuse, Ludwig Börne. Aus  der Frühzeit der deutschen Demokratie. Diogenes TB 21/VII 1977

Inge Rippmann, Jeanette Strauß-Wohl (1783-1861) »Die bekannte Freyheitsgöttinn“ Versuch eines Porträts der Freundin Ludwig Börnes. https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-476-02790-0_4

Schnapper-Arndt, G., „Wohl, Jeanette“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 43 (1898), S. 707-709  https://www.deutsche-biographie.de/sfz85997.html

Frank Stern/Maria Gierlinger (Hg), Ludwig Börne.  Deutscher, Jude, Demokrat. Berlin 2003

Christa Walz, Jeanette Wohl und Ludwig Börne: Dokumentation und Analyse des Briefwechsels. Frankfurt: Campus 2001  https://books.google.fr/books?id=qX-vAHx5_ZgC&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

Weitere Blogbeiträge mit Bezug zum Père Lachaise:

Weitere Blog-Beiträge mit Bezug zu deutschsprachigen Schriftstellern in Paris/im französischen Exil:

Anmerkungen:

[1]  Willi Jasper, S. 255, Marcel Reich-Ranicki In: Estermann, S, 169, Frank Stern , in: Stern /Gierlinger , S. 7 und entsprechend: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_B%C3%B6rne;  Walter Hinderer im Vorwort zu:  Börne, Menzel der Franzosenfresser,  S. 7

[2] Alfred Grossser in: Estermann, S. 157 und  Marcel Reich-Ranicke .a.a.O.

[3] La Maison Heinrich Heine, das deutsche Haus in der Cité Internationale    https://paris-blog.org/2017/11/01/la-maison-heinrich-heine-das-deutsche-haus-in-der-cite-internationale-universitaire-de-paris/

[4] http://www.deutschlandradio.de/das-grab-des-schriftstellers-ludwig-boerne-verkommt.331.de.html?dram:article_id=204997

[5] Auskunft der deutschen Botschaft vom 19.6.2018

[6] Gesammelte WerkeII, 88f. Zitiert in Stern/Gierlinger, S. 106

[7] Börne-  Lesebuch S. 115f; „Denkrede auf Jean Paul“: http://www.zeno.org/Literatur/M/B%C3%B6rne,+Ludwig/Schriften/Aufs%C3%A4tze+und+Erz%C3%A4hlungen/Denkrede+auf+Jean+Paul

[8] Siehe Heine: Soll ich in der Literatur einen verwandten Charakter aufsuchen, so böte sich zuerst Gotthold Ephraim Lessing, mit welchem Börne sehr oft verglichen worden. http://gutenberg.spiegel.de/buch/uber-ludwig-borne-373/4

[9] Michael Werner, Börne in Paris. In: Estermann, S. 262

[10] s. Jasper, S. 222

[11] Siehe Marcel Reich- Ranicki. In: Estermann, Ludwig  Börne, S. 171. S.a. Alfred Grosser a.a.O., S. 164

[12] marianne und germania 1789 – 1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten-  Eine Revue. Katalog der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin vom 15. September 19996-5. Januar 1997, S.324/325

[13] Philip Molderings, Ludwig Börne und der bildgewordene Freiheitskampf. Blog des Historischen Museums Frankfurt 2016 https://blog.historisches-museum-frankfurt.de/ludwig-boerne-und-der-bildgewordene-freiheitskampf/

[14] Brief vom 9. Juni 1836. Zitiert in: M. de Cormenin, Fragments politiques et littéraires par Ludwig Boerne. Paris 1842 https://books.google.de/books?id=NHY6AAAAcAAJ&pg=PR25&lpg=PR25&dq

[15] Nicht korrekt ist übrigens – jedenfalls in einem Punkt- die Erläuterung zu dem Medaillon in der Dauerausstellung „Frankfurt Einst?“ des neuen Historischen Museums. Dort heißt es: „Nach Börnes Tod fertigte der französische Künstler David d’Angers für seinen Freund und Gesinnungsgenossen dessen Grabmal auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise sowie das Bronzemedaillon an.“ Allerdings wurde das Bronzemedaillon ja schon 1836 angefertigt, als Börne noch lebte und diesem übersandt. (Siehe oben das entsprechende Begleitschreiben David d’Angers an Börne).  Börne starb am 12.2.1837. (Identisch auch in: Jan Gerchow/Nina Gorgus (Hrsg), 100 mal Frankfurt. Geschichten aus (mehr als) 1000 Jahren. FFM 2017, S. 150/151

Korrekt dafür: https://blog.historisches-museum-frankfurt.de/ludwig-boerne-und-der-bildgewordene-freiheitskampf/ 

Im oben angegebenen Informationstext heißt es übrigens weiter zu Börnes Medaillon: „Es kam erst Jahrzehnte später in die Münzsammlung der Stadtbibliothek Frankfurt. Vorher wäre ein Erinnerungsstück an den ‚Aufrührer‘ durch die vom Frankfurter Rat verwaltete Bibliothek undenkbar gewesen.“ (a.a.O., S. 152). Leider wird hier kein Datum angegeben. Aber Salomon Strauss, in dessen Besitz  vermutlich nach Börnes und Jeanette Wohls Tod das Medaillon war, starb 1866, also genau in dem Jahr, in dem Frankfurt seinen Status als Freie Reichsstadt verlor. Damit waren wichtige Voraussetzungen für eine Ausstellung des Medaillons in Bernes Heimatstadt erfüllt.

[16] http://objekte.jmberlin.de/object/jmb-obj-91417;jsessionid=2D1924CEF1D706B3870D449A2F43F995

s.a. http://frankfurter-personenlexikon.de/node/1823

David d’Angers fertigte auch eine Marmorbüste Börnes an, die im Treppenhaus der alten Frankfurter  Stadtbibliothek am Obermaintor ausgestellt war. Sie wurde der Stadt 1866 von Salomon Strauss geschenkt, dem Mann von Jeanette Wohl, mit denen Börne in Paris in einer ménage à trois zusammenlebte. Die Büste ging im Krieg verloren,  „wohl kriegszerstört 1944“. http://frankfurter-personenlexikon.de/node/1823

[17] Discours prononcé par M. Raspail, sur la tombe de Ludwig Bœrne le 15 février 1837  https://www.persee.fr/doc/r1848_1155-8806_1916_num_12_69_1577 S. 195

[18] Heinrich Heine, Erster Entwurf zu Ludwig Börne. Eine Denkschrift. (1837). In: Ludwig Börne und Heinrich Heine. Ein deutsches Zerwürfnis. Bearbeitet von Hans Magnus Enzensberger. FFM 1997, S.96

[19] siehe Jasper, 262/3

[20]

Als Beispiel wird hier ein 1844 veröffentlichtes Gedicht von Otto Lünig wiedergegeben:

Klagend greif ich in die Saiten,  Mitternächt’ge Schatten gleiten

Still im Mondlicht hin und her.

Heilig Grab, dich möcht ich schmücken,   Möcht an dich die Stirne drücken,

Ach das Herz ist mir so schwer.

Fern vom trauten Vaterlande  Siechte er auf fremder Erde,

Trauernd um sein Vaterland.

Der so  treu mit uns gelitten,  Der so kühn für uns gestritten

Deutsche haben ihn verbannt !

Frankreich reichte deinem Sohne,  Vaterland, die Lorbeerkrone,

Frankreich hat sein Grab geschützt !

Sahst du denn sein Herz nicht bluten,  Wenn des Edlen Zornes Gluten

Gegen dich so stolz geblitzt ?

Grollend greif ich in die Saiten,  Und die Schatten zürnend schreiten

Sie daher im Mondenlicht.

Ach, sein heilig Grab zu schmücken,  Ihm den Kranz auf’s Haupt zu drücken :-

Deutsche, ihr verdient es nicht.

Bleibe bei den Fremden liegen,  Bis der Freiheit Fahnen fliegen,

Bis zum Kampf die Freiheit ruft.

Wenn der Schlachtruf mächtig brauset,  Wenn das Schwert, die Lanze sauset,

Holen wir dich aus der Gruft.

Hörst Du’s in den Lüften  rauschen ?  Bald wirst du dein Grab vertauschen,

Ruhn im freien deutschen Land.

Wie so stolz die Augen glühen !  Sieh, an Deinem Grabe knien

Deutschland, Frankreich Hand in Hand.

Donnernd greif ich in die Saiten,  Und die Schatten lächelnd gleiten

Sie im Mondlicht hin und her.

Bald, ja bald wird es uns glücken,  Würdig ihm das Grab zu schmücken-

Herz, nun traure auch nicht mehr.         

Otto Lünig, Börne’s Grab. Veröffentlicht in: Der Sprecher. Wesel. Nr. 30/1844. Wiedergegeben in: Alfred Estermann: Die Eiche Börne… Gedichte der Zeitgenossen. . In: Estermann, S. 348

(20a) Die Kopien der beiden Gedichte aus der Frankfurter Latern habe ich von Frau Petra Breitkreuz, der Leiterin des Museums erhalten, wofür ich herzlich danke. Mit ihr kann man auch Führungen vereinbaren, zu denen der Zugang zu dem sonst nicht zugänglichen „Belvedersche“ des Hauses  gehört: petra.breitkreuz@frankfurter-sparkasse.de

[21]  II,16. Zitiert bei Stern/Gierlinger, S. 106

[22] Marcuse, S 175

[23] zit. Marcuse, S. 178

[24] Jasper, S. 145

[25] Zur Biographie Börnes siehe: http://www.zeno.org/Literatur/M/B%C3%B6rne,+Ludwig/Biographie

[26] Bondy ist eine Vorstadt im Norden von Paris – im heute verrufenen 93. Departement gelegen. Reisende aus Deutschland –wie danach auch Heine- kamen damals aus dem Norden in die Stadt.

[27] Jasper, S. 179

[28] Zit. bei Jasper 179/180

[29] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46169324.html und Marcuse, Ludwig Börne S. 181

[30] Siehe dazu: Jacques Grandjonc/Michael Werner, Deutsche Auswanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert (1815-1914). In:  Deutsche Emigranten in Frankreich. Französische Emigranten in Deutschland 1685-1945. Ausstellungskatalog. Paris 1983, S. 82ff. Siehe auch die Texte über den Faubourg Saint-Antoine auf diesem Blog: Der Faubourg Saint-Antoine (1): Das Viertel des Holzhandwerks: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/32 und Der Faubourg Saint-Antoine (2): Das Viertel der Revolutionäre: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/102

[31] L’Aoufir, S. 177,  s.a. S. 74;  Michael Werner, Börne in Paris. A.a.O., S. 265/266

[32] Michael Werner, Börne in Paris 265

[33]  Alfred Grosser, In. Estermann, Ludwig Börne, S. 163/165

[34] zit. Enzensberger, 83 und  https://d-nb.info/1017360421/34,  S. 46

[35] Jasper, S. 92

[36] Jasper, S. 183/184.  Bild aus: l’Aoufir, S. 164

[37] Ein entsprechendes Dokument konnte ich in der Friedhofsverwaltung des Père Lachaise einsehen.

[38] Zit. in: Ludwig Börne. Das große Lesebuch, S. 249/250

[39] Zitiert in Ludwig Börne, Das große Lesebuch, S. 251/252

[40] III,919. Zit. l’Aoufir, S. 168

[41] Siehe dazu: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/9077

[42] Die Friedhofsverwaltung war übrigens weder auf mündliche noch auf schriftliche Nachfrage  in der Lage, mir Informationen zu dem Grabmal zu geben. Da dafür allerdings vor allem die 7. Division infrage kam, haben wir auf eigene Faust gesucht und es schließlich auch gefunden: Vom Verwaltungszentrum des Friedhofs aus (Conservation) geht man die Avenue Rachel entlang bis fast zur Friedhofsmauer. Kurz davor befindet sich das Grab auf der rechten Seite in der zweiten Reihe.

Zu dem Rothschild-Grab: z.B.: http://francerevisited.com/2013/12/the-rothschilds-in-france-a-19th-century-riches-to-riches-story/

[43] https://www.zeit.de/1990/02/man-muss-auch-mut-zeigen–/seite-3

[44] Norbert Altenhofer, Henriette Herz und Louis Baruch- Jeanette Wohl und Ludwig Börne. In: Ludwig Börne zum 200. Geburtstag, S. 220

[45] Siehe G. Schnapper-Arndt 1898,  https://www.deutsche-biographie.de/sfz85997.html   „Besonderen Dank sind ihr die Litteratur- wie die Freiheitsfreunde dafür schuldig, daß sie zu den Pariser Briefen die Anregung gegeben hat. Erst auf ihr Drängen nämlich benutzte Börne jene durchaus nicht im Hinblick auf eine Veröffentlichung begonnene Correspondenz, um unter der Eingebung des Moments die Gedanken und Empfindungen in ihr niederzulegen, welche ihn in jener bedeutungsvollen Zeit bewegten.“

[46] Norbert Altenhofer a.a.O., S. 221

[47] Zit. Walz, S. 78

[48] Rippmann, zit. bei Walz, S. 85)

[49] Siehe Jasper, S. 87

[50] http://boerne-stiftung.de/  und Mail vom 23.6.2018

Hector Guimard in Paris (2):  Die  Synagoge in der rue Pavée (4. Arrondissement) und das Grabmal  auf dem Père Lachaise (20. Arrondissement)

Es gibt auf diesem Blog schon einen  Beitrag über die Bauten Hector Guimards im 16. Arrondissement von Paris (Hector Guimard: Jugendstil in Paris. Eingestellt Februar 2018).  In dem nachfolgenden Beitrag wird nun eine außergewöhnliche und einzigartige Arbeit des Architekten vorgestellt, die etwas aus dem Rahmen der sonstigen von ihm entworfenen Bauten fällt, nämlich die Synagoge in der rue Pavée im Marais, immerhin  die weltweit bekannteste Pariser Synagoge.[1] Dazu  wird ein Blick auf  ein von ihm entworfenes Grabmal auf dem Friedhof Père Lachaise geworfen, einen Höhepunkt des Art nouveau. Damit soll das Bild der Jugendstil-Arbeiten Guimards in Paris abgerundet werden.

Die Synagoge in der rue Pavée

Das Marais (3. und 4. Arrondissement)  gilt gemeinhin als DAS jüdische Viertel von Paris und die berühmte  Rue des Rosiers  in seiner Mitte steht –laut Wikipedia- „sinnbildlich für die jüdische Gemeinde von Paris“.[2] In der Tat gibt es dort auf engem Raum eine ganze Reihe jüdischer Geschäfte, Lebensmittelläden, Bäckereien, in denen man z.B. Mohnstriezel, Apfelstrudel oder Käsekuchen kaufen kann, Buchhandlungen, Restaurants, die lautstark ihre Falafel anpreisen, das wunderbare  Café des Psaumes und Vieles mehr, was die jüdische Präsenz sichtbar macht. Und  in der Nähe  befindet sich das jüdische Museum von Paris (musée d’art et d’histoire du Judaïsme), das Mémorial de la Shoah und –nicht zuletzt- die wunderbare Synagoge Hector Guimards.

Die verbreitete Vorstellung vom Marais als DEM jüdischen Viertel von Paris hat also seine guten Gründe, beruht aber auch auf einem Mythos, der sich allmählich entwickelt hat. Es gab im Marais zwar schon im Mittelalter eine Ansiedlung von Juden, die aber mit ihrer  Vertreibung aus Frankreich im Jahr 1394 gewaltsam beendet wurde. Im 18. Jahrhundert waren es dann vor allem Juden aus dem Elsass und aus Lothringen, die sich im Marais niederließen, das damals schon seine besten –aristokratischen- Zeiten hinter sich hatte und zu einem dicht bevölkerten, handwerklich geprägten Viertel geworden war. Nach einer zur Zeit Napoleons erstmals erstellten Statistik lebten 1808 immerhin 82% der Pariser Juden im Marais. Dabei handelte es sich nicht um ein Ghetto, sondern die Juden suchten aus verständlichen sozialen, religiösen und landsmannschaftlichen Gründen Nähe und Gemeinschaft- so wie ja auch viele andere Gruppen von Einwanderern nach ihnen. Ganz anders dann das Bild Mitte des 20. Jahrhunderts am Vorabend der Shoah. Ein von der association L’enfant et la Shoah (Yad Layeled France) erstelltes Schaubild zeigt, dass vor dem  Beginn der großes Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen der mit Abstand größte Anteil der in Paris lebenden Juden im 11. Arrondissement wohnte, während das Marais mit dem  3. und 4. Arrondissement in dieser Hinsicht eine eher bescheidene Rolle spielte.[3] Inzwischen hatten sich viele Juden auch in anderen Stadtvierteln niedergelassen, eine nicht unbeträchtliche Anzahl auch im noblen 16. Arrondissement- so wie es ja auch in Deutschland nach Aufhebung der Ghettos entsprechende Wanderungsbewegungen gab: In Frankfurt am Main zum Beispiel die Ansiedlung von Juden im noblen Westend, während im früheren Ghetto im Ostend eher arme und orthodoxe Juden verblieben.

DSC02356 Shoah jüd. Kinder 11. Arrondissement (13)

Auch im Marais waren es vor allem arme und orthodoxe Juden, die sich dort niederließen und seinen Ruf als jüdisches Viertel erneuerten und festigten: Um 1850 kamen polnische Juden, gefolgt von einer großen Einwanderungswelle um 1900:  Über 100 000 Juden aus Ost- und Mitteleuropa – Russen, Polen, Rumänen- flohen damals vor Pogromen, zum Beispiel dem Pogrom von Chisinau in Bessarabien im Jahr 1903. Viele fanden im  Marais Zuflucht, wo es schon eine jüdische Tradition gab. Außerdem war das Viertel damals ziemlich heruntergekommen,  die Mieten waren also  günstig und erschwinglich für die meist armen Zuwanderer. Dies war dann die Blütezeit des „Pletzl“, wie es auf yiddisch, der Sprache der zugewanderten Juden, hieß. [4]

Die Juden im Marais benötigten natürlich auch Räume für ihren Gottesdienst. Das  waren im 18. Jahrhundert  heimliche, von außen nicht erkennbare Gebetshäuser (oratoires). Eines davon, das nach der Überlieferung auf das Jahr 1780 zurückgehen soll, existiert noch in der rue des Rosiers Nummer 17. Von der Straße aus ist nicht erkennbar, dass es sich um ein Gebetshaus handelt. Durch das bei Wohnhäusern des Viertels übliche Portal und einen Hof gelangt man über eine alte, enge Treppe in den einfach ausgestatteten Gebetsraum, der heute von den Anhängern des Rabbi Loubavitch genutzt wird, die im jüdischen Viertel sehr präsent sind.[5]  Mit der 1791 in Frankreich erfolgten Judenemanzipation und der Anerkennung  der jüdischen Religion im Jahr 1808  wurde eine  erste staatlich anerkannte Vertretung des Judentums, das Consistoire de Paris, geschaffen. Jetzt war auch der Bau  von großen Synagogen möglich. Die erste entstand 1822 im Marais in der rue Notre-Dame- de-Nazareth, die zweite 1876  in der rue de Tournelles, in der Nähe der place des Vosges. Gleichzeitig war das Consistorium bestrebt, die kleinen, seiner Verwaltung und Kontrolle nicht unterworfenen Gebetshäuser zu schließen. Allerdings fühlten sich die orthodoxen Juden und die jüdischen Neuankömmlinge aus Mittel- und Osteuropa in den „Kathedralen“ des Consistoriums nicht aufgehoben und gründeten neue orthodoxe Gebetshäuser. Angesichts der Einwanderungswelle um 1900 forderten sie, dass ihr (orthodoxer) Rabbiner an die große Synagoge in der rue de Tournelles berufen würde. Das Consistorium lehnte das jedoch ab, „pour conserver la suprématie aux Français“, um also nicht die Vormachtstellung der alteingesessenen französischen Juden, vor allem aus dem Elsass und Lothringen, nicht zu gefährden.[6]

Dies ist der historische Hintergrund für die Entstehung der Synagoge in der rue Pavée. 1911 schlossen sich neun  Organisationen von Juden aus Russland, Polen und Rumänien, die bisher eigene Gebetsräume unterhalten hatten, in der Union Agoudath Hakehilot zusammen, um eine gemeinsame Synagoge zu bauen. Gekauft wurde zu diesem Zweck das Grundstück in der rue Pavée Nummer 10, das zwar sehr ungünstig geschnitten war, dafür aber den entscheidenden Vorteil hatte, mitten im jüdischen Viertel zu liegen. Es gibt mehrere Gründe, die die orthodoxen Juden des Pletzl bewogen haben mochten, die bisherigen kleinen Gebetsräume gegen eine große neue Synagoge zu tauschen. Einmal sollte es sicherlich Ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs sein, den manche Mitglieder der Vereinigung seit ihrer Installierung in Paris z.B. als Diamantenhändler zu verzeichnen hatten. Dieser Zweck wurde mit der Synagoge auch in hohem Maße erreicht. Jedenfalls schrieb 1915, kurz nach der Fertigstellung des Baus etwas spitz ein Kunstkritiker, die Juden im Marais  könnten doch nicht so arm sein, wie man es manchmal denke oder es den Anschein habe.  Immerhin hätten sie in der rue Pavée eine Synagoge gebaut, die für dieses talmudistische Dörfchen  (“petit village talmudiste“)  gewissermaßen wie Notre Dame oder Sacré Cœur sei.[7]

Die Synagoge in der rue Pavée war damit auch ein Ausdruck von Selbstbewusstsein. Immerhin war sie die erste überhaupt, die für Einwanderer aus Osteuropa gebaut wurde.  Ein weiteres Motiv wird aus der in französischer und hebräischer Sprache gehaltenen Einladung deutlich, die der Präsident von Agoudath Hakehilot, Joseph Landau,  zur Grundsteinlegung der Synagoge am 6. April 1913 verschickte:

„Wir werden es nicht mehr nötig haben, in privaten und provisorischen Räumlichkeiten unterzukommen, wohin uns unsere Kinder nicht begleiten wollen, was sie von unserer heiligen Religion entfremdet. Wir werden eine große Synagoge haben, die mit allem modernen Komfort ausgestattet ist.“[8]

Waren die oratoires eher Orte der Rückwärtsgewandtheit und der Abschottung, so sollte die neue Synagoge Ausdruck des Wunsches sein, sich gegenüber der Gegenwart zu öffnen und damit auch für die nachfolgende, stärker in die französische Gesellschaft integrierte Generation attraktiv zu sein.  Die Wahl von Hector Guimard als Architekt des Baus ist sicherlich in diesem Kontext zu sehen und zu verstehen. Bis dahin wurden Synagogen ja im romanisch-byzantinischen Stil gebaut. Die Eigenständigkeit von Agoudath Hakehilot und ihre Unabhängigkeit von dem architektonisch traditionellen Consistorium ermöglichten aber einen Bruch mit der bisherigen Bautradition.  So entbehrt es  nicht einer gewissen Delikatesse, dass die bis dahin einzige in Paris im „modernen  Stil“  errichtete Synagoge ausgerechnet von denen in Auftrag gegeben wurde, die als rückwärtsgewandt galten …  Insofern passt auf die Synagoge in der rue Pavée das, was der Rabbiner Jacob Kaplan etwa 50 Jahre später sagte, als er die zeitgemäß konzipierte Synagoge in der rue Roquette (11. Arrondissement) einweihte:

„Cette synagogue d’une conception architecturale des plus modernes est élevée par une Communauté profondément attachée à nos plus anciennes traditions religieuses.“[9]

Die Synagoge in der rue Pavée vereinigt und veranschaulicht damit gewissermaßen die beiden gegensätzlichen Elemente, die für die europäischen Juden im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren (Dan Diner): Nämlich einerseits -in vielen Bereichen-  „Pioniere der Modernisierung“  zu gewesen zu sein, andererseits aber auch „Residuen der Vormoderne.“ (9a)

In Darstellungen der Synagoge werden, wenn es um die Auftragsvergabe an Hector Guimard geht,  auch gerne die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Joseph Landau und Adeline Oppenheim angesprochen. Adeline war die Nichte Landaus und die Ehefrau Hector Guimards.  Allerdings: Adeline Oppenheim, in New York geboren und Malerin, war zwar Jüdin, stand allerdings den orthodoxen russisch-polnischen  Kreisen, die den Bau  der Synagoge betrieben, kaum nahe. Sonst hätte sie wohl nicht eine christliche Trauung mit Guimard in der Kirche Notre-Dame-d’Auteuil akzeptiert.[10] Eine Rolle spielte aber sicherlich ihr Vater, der von seinem Vermögen Geld zum Bau der Synagoge beisteuerte, ebenso wie Joseph Landau und auch  Hector Guimard selbst, womit ja wohl  die Bedeutung unterstrichen wird, die er diesem Auftrag beimaß. Jedenfalls konnten die „Archives israélites“ anlässlich der Eröffnung des Bauwerks vermelden, es habe die jüdische Bevölkerung von Paris keinen Sou gekostet.[11]

Der Bau der Synagoge war für Guimard eine große Herausforderung angesichts der Enge und Länge des Grundstücks: weniger als 12 Meter Breite und 30 Meter Tiefe. Schon ein Blick auf die Fassade zeigt aber, wie brillant er mit dieser Herausforderung umgegangen ist. Durch die Verbindung konvexer und konkaver Elemente erzeugt Guimard eine Wellenbewegung und Dynamik.  Zwischen zwei konvexen Wölbungen an den Rändern gibt es in der Mitte der Fassade eine breite und relativ ausgeprägte konkave Einbuchtung. Bei diesem rhythmischen  Spiel von konvexen und konkaven Formen auf engstem Raum drängt sich der Gedanke an den barocken Baumeister Borromini auf, der das in der Kirche San Carlo alle Quatro Fontane in Rom meisterlich inszeniert hat.[12] Dort allerdings ist der Mittelteil konvex, was sich aber angesichts der engen rue Pavée für Guimard nicht angeboten hat. Und weil die Synagoge –im Gegensatz zu Borrominis Bau- eingezwängt ist zwischen den Nachbargrundstücken, verbot sich für Guimard eine zusätzliche horizontale Strukturierung. Insofern ist die Fassade der Synagoge eher barock in ihrer Schwingung und, betont durch die durchgängigen Pilaster, gotisch in ihrer Vertikalität – und beides geht eine sehr harmonische Verbindung ein.[13]

DSC02378 Fassade rue Pavée

Bemerkenswert ist die Zurückhaltung,  mit der Guimard den religiösen Charakter des Gebäudes zum Ausdruck bringt. Die beiden Gesetzestafeln sind oben in die Fassade integriert, ihre Doppelstruktur bestimmt aber auch durchgängig die Gliederung der Fenster.

Bemerkenswert ist auch die ornamentale Zurückhaltung bei der Gestaltung der Fassade. Bei genauerem Hinsehen kann man allerdings durchaus „die Handschrift“ Guimards erkennen.

DSC02667 Marais Synagoge (1)

Was die Nutzung des Gebäudes im Innern angeht, ging es nicht nur darum, wie es bei den consistorialen Synagogen einen Gebetsraum zu schaffen, sondern auch  Räume für Unterricht und Verwaltung, wie es im orthodoxen Judentum üblich war. Guimard ordnete diese Räume der Straßenseite zu, so dass man durch sie hindurch bzw. an ihnen vorbei in den festlichen Gebetsraum der Synagoge gelangt.[14]

Marais etc Nov 10 056

Wie bei der Fassade ist auch hier die Vertikalität dominierend, zumal der Innenraum durch die kultbedingt erforderliche Einfügung von für die Frauen bestimmten Doppelemporen auf beiden Seiten noch zusätzlich  eingeengt wurde. (Wobei die Emporen auch gleichzeitig die Funktion haben, die deutlichen Verwerfungen des Grundrisses auszugleichen und dem Innenraum damit eine Ebenmäßigkeit zu verleihen, die das Guimard zur Verfügung stehende Grundstück eben nicht hatte.)

Marais etc Nov 10 058

Eine besondere Herausforderung für die Gestaltung des Innenraums war das Problem  der Beleuchtung. Auf den Seiten waren durch die anschließende Bebauung keine Fenster möglich.

Guimard löste das Problem durch den Einbau großer Glasflächen in die Decke und durch ein  großes Fenster in der den Raum abschließenden Wand über dem achtarmigen Leuchter.

Marais etc Nov 10 057

Der Menora- Leuchter ist übrigens das einzige Ausstattungsstück, das nicht von Guimard entworfen wurde. Die Lampen, die Stuckverzierungen, die Geländer der Emporen und das Mobiliar tragen mit ihren geschwungenen Linien und ihrer Pflanzenornamentik durchweg seine Handschrift.

Modern war übrigens auch die von Guimard verwendete Bautechnik. Das Gerüst, das den Baukörper trägt, ist nämlich aus Stahlbeton, einem damals ausgesprochen innovativem Material, das es Guimard ermöglichte, den Zwängen und Einschränkungen des ihm zur Verfügung stehenden Raumes zu trotzen. Und es ermöglichte – zusammen mit der für Guimard schon typischen Verwendung standardisierter Bauteile- eine ausgesprochen kurze Dauer der Bauzeit: Die Grundsteinlegung erfolgte am 6. April 1913, die offizielle Einweihung am 7. Juni 1914. An dieser feierlichen Einweihung, für die auch ein berühmter Kantor aus Warschau gewonnen wurde, nahm kein Repräsentant des französischen Judentums teil, das es vorzog, wie es in einer Darstellung heißt, eine Initiative von eingewanderten Juden zu ignorieren, die sie nicht hatten verhindern können.[15]

Der Anschlag von 1941 auf die Synagoge

In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1941, am Vorabend von Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, wurde ein Anschlag auf die Synagoge in der rue Pavée verübt. Bei meinen (allerdings nicht umfassenden) Recherchen dazu bin ich auf verschiedene Versionen der Darstellung dieses Ereignisses gestoßen. Zunächst  auf die Darstellung auf einer Internet-Seite über das Marais (parismarais.com), die sich ihrer über 16 Millionen Besucher rühmt.[16] Der dortige  Beitrag über das jüdische Viertel stammt aus der Feder von Tomi L. Kamins, die immerhin einen „complete jewish guide to France“ veröffentlicht hat.  In diesem Beitrag wird mitgeteilt, dass „die Deutschen“ die Synagoge in die Luft gesprengt hätten („les Allemands  firent exploser cette synagogue mais elle fut depuis restaurée“). Natürlich erscheint diese Darstellung durchaus plausibel, gerade da sie sich auf das jüdische Viertel im Marais bezieht, in dem viele plaques commemoratives an  Opfer des nationalsozialistischen Rassewahns erinnern. Dass bei dem Anschlag auf die Synagoge „die Deutschen“ die Akteure waren, entspricht allerdings nicht der historischen Wahrheit. Tatsächlich war es die französische faschistische und antisemitische Kollaborationsgruppierung MSR (Mouvement social révolutionaire) Eugène Deloncles, die –sicherlich mit wohlwollender Billigung und vielleicht auch logistischer Unterstützung der Besatzungsbehörden-  an diesem Tag gleichzeitig Anschläge auf sechs der damaligen sieben Pariser Synagogen  verübte, die damit also  gewissermaßen eine französische Version der „Reichskristallnacht“ inszenierte.[17] Ich weiß nicht, wann die fehlerhafte Version von parismarais verfasst bzw. ins Netz gestellt  wurde. Wohl kaum  in einer glücklicherweise lange zurückliegenden Zeit, in der es in Frankreich noch geboten war, über den französischen Anteil an der Judenvernichtung schamhaft hinwegzusehen und in der deshalb noch die cépis der französischen Gendarmen in Alain Resnais Film „Nacht und Nebel“ wegretuschiert werden mussten[18]; und wir sind auch nicht im Polen Kaczynskis, wo man mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, wenn man wahrheitsgemäß feststellt, dass es auch Polen gab, die die Nazi-Besatzung ausgenutzt haben, um Juden zu erpressen, zu berauben oder zu ermorden.[19]

Marais etc Nov 10 054

Jedenfalls wurde die Synagoge  1941 nicht völlig zerstört; beschädigt wurde aber der Eingangsbereich, der nach dem Krieg restauriert und mit dem großen Davidstern versehen wurde- vielleicht ein trotziger und demonstrativer Ausdruck jüdischer Selbstbehauptung nach dem  Holocaust.

Dass es übrigens auch im Frankreich der Nachkriegszeit einen militanten Antisemitismus gab und noch gibt, wird ganz in der Nähe der Synagoge an der Ecke der rue des Rosiers und der rue Ferdinand-Duval deutlich, wo sich  früher das Restaurant von Jo Goldenberg befand, auf das 1982 ein Anschlag verübt wurde.

006

Antisemitisches Attentat vom  9. August  1982  Durch eine Schießerei und die Explosion  einer Granate sind hier,im Restaurant Goldenberg,6 Menschen getötet und 22 verletzt  worden.

Zur Erinnerung anMohamed Benemmon,  André Hezkia Niego,  Grace Cuter, Anne van Zanien,  Denise Guerche Rossignol, Georges Demeter    Opfer des Terrorismus

DSC02667 Marais Goldenberg (1)Inzwischen gibt es das Restaurant, das einmal zu den Schmuckstücken und Anziehungspunkten des „Pletzl“ gehörte, nicht mehr. Nachdem zwischenzeitlich dort ein edles Modegeschäft eine Filiale eingerichtet hatte, sind die Räume derzeit (Februar 2018) wieder zur Vermietung ausgeschrieben… Ein trauriger Anblick.

Das Goldenberg- Attentat von 1982 [20] und der Überfall auf den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher vom Januar 2015 markieren Tiefpunkte eines inzwischen überwiegend islamistischen antisemitischen Terrorismus in Frankreich. Daneben gibt es aber auch eine erschreckende Vielzahl von antisemitischen Gewalttaten wie Anfang 2018 gegen ein 15 Jahre altes jüdisches Mädchen und einen 8 Jahre alten Jungen in Sarcelles bei Paris, dem sogenannten „Klein-Jerusalem“, das sich traditionell eher durch ein friedliches Nebeneinander von Juden, Christen und Muslimen auszeichnete. [21]

Wenn man, am besten im Rahmen eines Spaziergangs durch das alte „Pletzl“,  die Synagoge in der rue Pavée besucht und bewundert, wird man von diesem historischen und aktuellen Hintergrund nicht absehen können. Ihn aber genauer zu beleuchten, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Vielleicht ein anderes Mal mehr dazu….

  

Praktische Informationen zur Synagoge in der rue Pavée:

Métro Linie 1, Station Saint Paul

Eine Besichtigung ist nur bei besonderen Gelegenheiten wie den Tagen des offenen Denkmals (jourées du patrimoine) möglich.  Man kann aber auch einmal  Glück haben und darf zum Beispiel anlässlich eines Gottesdienstes einen Blick in die Synagoge werfen.

 

Das Grabmal auf dem Père Lachaise

Guimard hat mehrere Grabmäler entworfen. Solche Entwürfe gehörten zu den üblichen Aufgaben, die den Schülern der École des Beaux-Arts, die der junge Guimard besuchte, gestellt wurden. Bei seinem Besuch in Belgien (1895) konnte er neben Victor Hortas hôtel Tassel, das ihn tief beeindruckte, auch einige von Horta entworfene Grabmäler kennenlernen. Unter den verschiedenen von Guimard entworfenen  Grabmälern ist das auf dem Père Lachaise sicherlich dasjenige,  das mit seinen geschwungenen Linien am eindrucksvollsten den Stil des Art Nouveau repräsentiert. „L’Art Nouveau trouve son accomplissement dans l’admirable tombe de la famille Ernest Caillat“, wie es in dem Katalog der Guimard-Ausstellung heißt.[22]

DSC02557 Guimard Pere Lachaise (5)

DSC02557 Guimard Pere Lachaise (2)

DSC02557 Guimard Pere Lachaise (1)

Das Grab wird  noch genutzt, es ist sehr gepflegt und –dem verwendeten Granit sei Dank- gut erhalten. Man findet es in der zweiten Division des Friedhofs, nicht weit vom Haupteingang  entfernt auf der rechten  Seite an der Friedhofsmauer.

DSC01758 Pere lachaise Guimard Dez 2017 (9)

Ist man eher auf der nord-östlichen Seite des Friedhofs unterwegs –z.B. bei einem Spaziergang auf den Spuren der Commune (siehe den Blog-Bericht über den „Bürgerkrieg in Frankreich“), dann kann man das Grab auf dem  Weg zum Ausgang kaum verfehlen.

 DSC01758 Pere lachaise Guimard Dez 2017 (1)

Literatur:

Philippe Thiébaut (Hrsg.): Guimard. (Ausstellungskatalog musée d’Orsay und musée des Arts décoratifs et des Tissus de Lyon)  Paris 1992. Darin Beitrag über die Synagoge in der rue Pavée S. 414 – 419

Dominique Jarrassé, Guide du Patrimoine Juif Parisien. Paris: Parigramme 2003, S, 121-126

Weitere Blog-Beiträge mit thematischem Bezug zum Père Lachaise:

Anmerkungen:

[1] Jarrassé, S. 121

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rue_des_Rosiers

[3] Das Schaubild war Teil einer Ausstellung über „Enfants juifs à Paris 1939-1945“, die Ende Januar 2018 in der mairie des 11. Arrondissements gezeigt wurde.

[4] Siehe dazu: Le Pletzl ou le quartier juif du Marais. In: Anna Radwan, Mémoire des Rues. Paris 4e Arrondissement 1900-1940. Paris 2004, S. 91ff Das Pletzl bezeichnete zunächst einen kleinen Platz in der rue des Hospitaliers-Saint-Gervais, dann bezog er sich allmählich auf das ganze Viertel, „une enclave orientale“. (S.91)

[5] Jarrassé, S. 112/113

[6] Jarrassé, S. 44

(7) zit. von Isabelle Backouche, Rénover un quartier  parisien sous Vichy. In: Genèse 2008 4 (78)

https://www.cairn.info/revue-geneses-2008-4-page-115.htm

[8] Zit. von Jarrassé S. 121. Übersetzung aus dem Französischen von mir.

[9] Zit. von Jarrassé, S. 138

(9a) Ich beziehe mich hier auf einen Vortrag von Dan Diner in der Maison Heinrich Heine in Paris vom 15.3.2018 bei der Vorstellung der von ihm herausgegebenen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

[10] Jarrassé 122 und Thiébaut, S. 416

[11] https://fr.wikipedia.org/wiki/Joseph_Landau unter Bezugnahme auf: Nancy L Green,.The Pletzl  of Paris. Jewish Immigrant Workers in the Belle Epoque. Holmes & Meier: New York & London, 1986

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/San_Carlo_alle_Quattro_Fontane

Den Hinweis auf Borromini gibt es auch in der kurzen Beschreibung der Synagoge in: Nicolas Jacquet, Le Marais, secret et insolite. Paris: Parigramme 2012, S. 152; siehe auch Thiebaut, der die aus einer englischen Darstellung die Charakterisierung „borrominiesque“ zitiert. (S. 427)

[13]  Bild aus: Thiébaut, S. 414

[14] https://fr.wikipedia.org/wiki/Synagogue_de_la_rue_Pav%C3%A9e  unter Verweis auf:

Magalie Flores-Lonjou et Francis Messner, Les lieux de culte en France et en Europe : Statuts, pratiques, fonctions.  Louvain & Paris & Dudley 2007, S. 237.

[15] http://www.le-top-des-meilleurs.fr/histoire-juive-du-marais/

[16] http://www.parismarais.com/fr/decouvrez-le-marais/histoire-du-marais/le-quartier-juif-du-marais.html Unzutreffend ist übrigens auch die Feststellung in diesem Text, die Frau von Guimard habe Frankreich verlassen und in die USA flüchten müssen wegen des Nationalsozialismus. Die Guimards siedelten aber schon 1938 in die USA über, also vor Krieg und occupation.

[17] Zu den Anschlägen siehe:  Cécile Desprairies. Paris dans la Collaboration. Préface de Serge Klarsfeld. Éditions du Seuil: Paris, 2009

https://fr.wikipedia.org/wiki/Synagogue_de_la_rue_Pav%C3%A9e

https://fr.wikipedia.org/wiki/Grande_synagogue_de_Paris                                                                     siehe auch: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1004121

[18]  siehe Henry Rousso, Le syndrome de Vichy. Paris:  Edition du Seuil 1987, S.244/245.  Trotzdem wurde der Film aber 1956 nicht in das offizielle Programm der Filmfestspiele von Cannes aufgenommen. Die Originalversion des Films konnte erst in den  1990-er Jahren  gezeigt werden.

[19] http://www.sueddeutsche.de/politik/ns-zeit-polens-regierung-will-eine-heldenhafte-opfernation-darstellen-1.3849672

siehe auch: Serge Klarsfeld, Les Polonais doivent trouver un terrain d’entente et réviser la loi. Und: Anna Zielinska, En Pologne, plusieurs démons du passé se sont réveillés. Beide Beiträge in: Le Monde,21.2.2018, S. 23

[20] https://fr.wikipedia.org/wiki/Attentat_de_la_rue_des_Rosiers

[21] Siehe http://www.actuj.com/2018-02/france-politique/6348-juifs-de-sarcelles-entre-attachement-et-inquietude#

[22] Thiébaut, S. 270. Dort weiter: „La synthèse entre les éléments verticaux et horizontaux est ici réalisée dans une ondulation continue de lignes courbes, d’une abstraction presque totale, où la petite croix de fonte semble faire corps avec la mouvante masse de granit de la stèle.“

Geplante Beiträge:

  • Das Pantheon der großen (und weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen (1): Die Frauen des Pantheons
  • Street-Art in Paris (2):  Mosko, Jef Aérosol und Jerôme Mesnager
  • 50 Jahre Mai 1968: Plakate der Revolte. Eine Ausstellung in der École  des Beaux- Arts in Paris
  • Die Seineufer in Paris: Der schwere Abschied vom (Alp-)traum einer autogerechten Stadt
  • Auf dem Weg nach Paris: Die Mühle von Valmy, ein Fanal der Französischen Revolution
  • Street-Art in Paris (3):  Der Invader
  • Street-Art in Paris (4): M Chat, Miss Tic und Fred le Chevalier

Der Bürgerkrieg in Frankreich 1871: Ein Rundgang auf dem Friedhof Père-Lachaise in Paris auf den Spuren der Commune

Der Friedhof Père-Lachaise  ist auf dreifache Weise ein ganz besonderer Erinnerungsort an den „Bürgerkrieg in Frankreich“, die  Pariser Commune von 1871[1]:

  • Hier fanden am Ende der semaine sanglante die letzten Gefechte statt zwischen den fédérés, also den Kämpfern der Commune,  und den Regierungstruppen, den Versaillais.
  • An der mur des fédérés wurden die letzten überlebenden Kämpfer der Commune erschossen und weitere Aufständische verscharrt
  • Und schließlich gibt es auf dem Père -Lachaise zahlreiche Gräber von Kommunarden oder von Personen, deren Leben und Werk bedeutsam für die Commune waren.

In dem nachfolgenden Text sollen einige dieser Erinnerungsorte vorgestellt und Anregungen zu einem historisch orientierten Spaziergang über den Friedhof  gegeben werden. Nirgendwo sonst  ist in dieser Dichte und Intensität ein wichtiges Kapitel der – nicht nur- französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts erfahrbar. Der Spaziergang weicht etwas von der Route ab, die von der Mairie de Paris vorgeschlagen  wird. Er ist deutlich konzentrierter- er umfasst 11 „Stationen“ innerhalb des Friedhofs statt 35, aber zu diesen 11 Stationen gehören auch zwei, die auf der Commune-Karte der Mairie nicht berücksichtigt sind: Dies sind eindrucksvolle Zeugen des Triumphs der Gegenrevolution, die meines Erachtens unbedingt auch zu einem Commune-Rundgang gehören: Die Commune ist bis heute eine eher unbekannte und umstrittene Phase der französischen Geschichte. Nicht zuletzt soll der Rundgang auch einen Eindruck von der Größe, Vielfalt und Schönheit des Père-Lachaise vermitteln. Empfehlenswert ist es, sich den von der Mairie de Paris herausgegebenen Plan des Père-Lachaise als „haut lieu de la Commune de Paris“ auszudrucken: Er ist eine gute Grundlage für die Orientierung.

https://api-site.paris.fr/images/103968.pdf

 

Prolog:  Der Rückzug der Kommunarden zum Père -Lachaise

Übersicht des Spaziergangs:

  1. Jules Vallès, der Autor des Insurgé
  2. Charles Delescluze und der Ort der letzten Kämpfe der Commune
  3. Das Grab von Victor Noir: vom politischen zum erotischen Wallfahrtsort
  4. Auguste Blanqui (mit einem Exkurs über Jules Dalou, den Schöpfer der Grabmäler von Noir und Blanqui)
  5. Eugène Pottier, der Autor der „Internationale“
  6. Die Mauer der erschossenen Communarden (le mur des fédérées) und die Gräber von
  • Jean-Baptiste Clément, Autor der Commune-Hymne „Le Temps des Cérises“
  • Valéry Wrobleswsky, Verteidiger der Buttes aux Cailles
  • Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx und Autor von „Das Recht auf Faulheit“
  1. Das Mausoleum von Adolphe Thiers, monumentaler Ausdruck des Triumphs der Gegenrevolution
  2. Das Grabmal der Generäle Lecomte und Clément-Thomas mit der zertretenen Schlange der Commune

Epilog: Das Commune-Denkmal an der äußeren westlichen Friedhofsmauer und das Gemälde „Une rue à Paris en mai 1871 ou La Commune“ de Maximilien Luce im Musée d’Orsay

 

 

Prolog: Der Rückzug der Kommunarden zum Père -Lachaise

Wie kam es dazu, dass gerade auf dem Père Lachaise die letzten Kämpfe  in der semaine sanglante stattfanden? Der Pariser Osten war eine Hochburg der Commune – wie auch schon aller anderen vorausgegangenen Revolutionen. Und das 11. Arrondissement, an das der Père-Lachaise angrenzt, tat sich auch in der Commune besonders hervor: Am 6. April 1871 beispielsweise verbrannten Nationalgardisten an der Place Voltaire in einem demonstrativen Akt vor einer Büste Voltaires zwei  Guillotinen aus dem nahe gelegenen Gefängnis de la Roquette, um damit gegen die Todesstrafe zu demonstrieren.[2] Und nachdem die Communarden das Hôtel de Ville im Zentrum von Paris aufgegeben und in Brand gesteckt hatten, richteten sie  am 24. Mai  in der Mairie des 11. Arrondissements an der Place Voltaire ihr letztes Hauptquartier ein, „ultime cellule de la Commune agonissante.“ (Bourgin).

011

Genau 140 Jahre später fand hier – in der Eingangshalle des Rathauses-  eine Feierstunde statt, in der eine Gedenktafel enthüllt wurde: „Nachdem die Commune de Paris das Hôtel de Ville verlassen hatte, tagte sie vom 24. bis zum 26. in diesem Rathaus, von wo aus sie den Widerstand gegen die Versailler Truppen während der letzten Kämpfe der ‚blutigen Woche‘ organisierte“.

Im 11. Arrondissement gab es auch eine der letzten Barrikaden der Commune – es war auch die letzte   der vielen Barrikaden, die im Laufe der vier französischen Revolutionen des „langen 19. Jahrhunderts“ auf dem Faubourg-St-Antoine errichtet wurden. Sie stand an der Einmündung der Rue de Charonne und sollte im Mai 1871  den Vormarsch der Versailler Regierungstruppen in die Rückzugsgebiete der Commune in den östlichen Arbeiter- und Handwerkervierteln verhindern.

Download Barricade Rue de Charonne

Bei der Verteidigung dieser  Barrikade wurde am 25. Mai der aus Ungarn stammende Leo Fränkel, der –u.a. Vertreter der deutschen Sektion der Internationale in Paris und ein führender Vertreter der Commune war, verletzt. Als „Arbeitsminister“ der Commune  hatte Fränkel unter anderem das Nachtarbeitsverbot erlassen. Gerettet wurde er von Elisabeth Dmitrieff, einer russischen Sozialistin und Feministin, die von Karl Marx nach Paris entsandt worden war und dort während der Commune die „Union des Femmes pour la défense de Paris et les soins aux blessés“ gründete. Fränkel und Dmitrieff: Zwei grandiose Gestalten der internationalen Arbeiterbewegung mit abenteuerlichen Lebenswegen, wie sie ein Romanschriftsteller nicht besser hätte erfinden können. An  diese Barrikade an dem Faubourg-St-Antoine erinnert aber immer noch keine Gedenktafel.

Ganz versteckt ist auch ein faszinierendes Relikt der Commune, das Kommunarden bei ihren Rückzugsgefechten auf dem Weg in den Faubourg-St-Antoine und zum Père-Lachaise hinterlassen haben: Es befindet sich in der Jesuitenkirche St. Paul in der Rue St. Antoine (Métro St. Paul). Dort hatten sich offenbar einige Kommunarden in der semaine sanglante verschanzt und in hoffnungsloser Situation in einen Pfleiler der Kirche (1. Pfeiler vom Eingang aus rechts) die Parole „République Française ou la Mort“ geritzt. (Obwohl der Klerus später versucht hat, diese Spur der verteufelten Commune zu beseitigen, ist ihm das –wie man sieht- glücklicherweise nicht ganz gelungen).

Marais 9.6.12 018

Das Graffiti zeugt von der äußersten Entschlossenheit der Communarden und lässt etwas von der extremen, ja verzweifelten Situation ahnen, in denen sie sich angesichts der Übermacht der anrückenden Versailler Truppen befanden. Für mich ist dies einer der intensivsten Erinnerungsorte der Pariser Commune außerhalb des Père-Lachaise, dem wir uns nun zuwenden.

Der Rundgang:

Der vorgeschlagene Rundgang beginnt an der Porte des Amandiers an der südwestlichen Ecke des Friedhofs, direkt an der Métro-Station Père-Lachaise (Linie 2)

  1. Das Grab von Jules Vallès

Zunächst geht es zum Grab von Jules Vallès. Er war ein führendes Mitglied der Commune, Journalist und Schriftsteller, engagierte sich besonders für eine Erziehungsreform, war Herausgeber der Zeitschrift „Le Cri du peuple“, entschiedener Vertreter der Pressefreiheit,  und er hat in dem autobiographisch gefärbten Roman „L’insurgé“ der Commune ein literarisches Denkmal gesetzt.

img_2514

 1885 starb er, nach langem Exil,  in Paris und wurde, von tausenden Menschen begleitet,  auf den Père- Lachaise gebracht und dort bestattet. Als am Grab deutsche Sozialisten einen Kranz niederlegten, kam es zu vereinzelten deutschfeindlichen Reaktionen, die aber schnell mit Sprechchören zur internationalen Solidarität beendet wurden.

Verehrer hat Vallès jedenfalls noch bis heute….

img_2513

2016 startete die Mairie  des 11. Arrondissements eine Aktion, den Menschen/Männern, nach denen Straßen  des Arrondissements  benannt sind, ein  Gesicht zu geben. So auch Jules Vallès, dessen  Protrait am Square R. Nordling -vor der Kirche Ste Marguerite – in der Nähe „seiner“ Straße- ausgestellt wurde. Schade allerdings, dass  nicht über ihn mitgeteilt wurde: So hat er für die  Menschen  den Viertels zwar ein Gesicht erhalten, aber leider bleibt er damit wohl für die meisten ein  Unbekannter….

img_7490-valles-verkl-kopie

(66. Division an der Avenue des Peupliers. Nummer 2 auf dem Commune-Plan der Mairie de Paris).

  1. Das Grab von Charles Delescluze und die letzten Kämpfe der Commune (49. Division)

Delescluze war Journalist und sozialistischer Aktivist, der schon in den Revolutionen von 1830 und 1848 eine wichtige Rolle spielte. Vielfach verhaftet und zu Geld- und Haftstrafen (u.a. in Cayenne) verurteilt, engagierte er sich auch wieder in der Commune, deren „Kriegsminister“ er in den letzten  Maiwochen  war. Als solcher beantragte er,  alle in der Hand der Commune befindlichen Geiseln zu erschießen und vor dem Rückzug die öffentlichen Gebäude (Tuilerien-Schloss, Rathaus von Paris, Gebäude des Rechnungshofs, der Légion d’honneur im Hôtel de Salm[3] u.a. ) in Brand zu setzen. Am 25. Mai suchte er den Tod auf einer Barrikade an der place Château d’Eau, weil er, wie er in einem letzten Brief an seine  Schwester schrieb,  unter keinen Umständen „der siegreichen Reaktion als Opfer oder Spielzeug dienen“ wollte:     « Ma bonne sœur. Je ne puis ni ne veux servir de victime et de jouet à la réaction victorieuse… Mais je ne me sens pas le courage de subir une nouvelle défaite après tant d’autres. »  [4] 

Sein Leichnam wurde einen Tag später von den siegreichen Versaillais gefunden und in Montmartre in einem Massengrab verscharrt. Es sollte verhindert werden, dass das Grab von Delescluze zu einer Gedenkstätte oder gar einem Wallfahrtsort werden könnte. 1883 wurde sein Leichnam dann in dem Massengrab identifiziert und  in den Père Lachaise überführt.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist dsc01282pere-lachaise-sept-2021-1.jpg.

An der Spitze der Grabstele befinden sich -kaum noch identifizierbar- Auszüge aus dem schon zitierten Brief an seine -hier ebenfalls bestattete Schwester Azema, den Delescluze am Vorabend seines selbstgewählten Todes schrieb.

Die Inschrift auf der Grabstelle ist kaum noch entzifferbar, was das offizielle Bulletin municipal der Stadt Paris schon 1913 bemerkte. Sie lautet:

A la mémoire de Charles Delescluze, Commissaire général de la République, 1848 ; Rédacteur en chef du Réveil en 1868 ; Député de Paris à l’Assemblée nationale, 8 février 1871 et de sa sœur Azéma, décédée le 31 oct. 1876, leurs amis.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist dsc01282pere-lachaise-sept-2021-2.jpg.

Bemerkenswert ist hier, dass die Rolle Delescluzes während der Cummune nicht berücksichtigt ist:  Das ist auch kaum anders zu erwarten, denn als das Grabmal errichtet wurde, war die Commune immer noch geächtet.  Heute gehört sie zwar zum weithin anerkannten historischen Erbe und sie wurde ja auch anlässlich ihres 150. Jahrestags entsprechend gefeiert (siehe den Blogbeitrag zur Commune-Ausstellung „Nous la Commune“ 2021), aber auch dort hat man sich schwer getan, die problematischen Seiten der Commune offen zu thematisieren.

Bezeichnend ist ja auch, dass die Rolle Delescluzes bei der in der Commune umstrittenen  Geiselerschießung und der ebenfalls umstrittenen –zumal militärisch sinnlosen- Inbrandsetzung öffentlicher Gebäude zwar in der deutschen und englischen, nicht aber in der französischen Version des Delescluze-Artikels von Wikipedia erwähnt ist. Ein zusätzlicher Hinweis  darauf, wie delikat auch heute noch der Umgang mit der Commune in Frankreich ist.

(49. Division,  Nr. 6 auf dem Commune- Plan der Mairie  de Paris)

In diesem Bereich des Père Lachaise fanden am 28. Mai 1871 die letzten Kämpfe der semaine sanglante statt. Einschüsse von Kugeln sind noch auf dem Sockel des  Grabes von Charles Nodier zu sehen, das etwas oberhalb und gegenüber dem Grab  von Honoré de Balzac liegt.

img_8019

img_8546-nodier-pere-lachaise

Der Zeitzeuge Prosper Lissagaray schreibt zu den lezten Kämpfen:

„Seit 4 Uhr Nachmittags belagern  die Versailler den Père la Chaise.  Derselbe enthält nur zweihundert Föderierte, entsclossene Leute, aber ohne Disciplin, ohne Umsicht; die Officiere hatten sie nicht dazu bringen können, Schießscharten in die Mauer zu machen. Fünftausend Versailler greifen die Enceinte zugleich von allen Seiten an, während die Artillerie  von der Bastion das Innere durchwühlt. Die Geschütze der Commune haben seit Nachmittg beinah keine Munition mehr. (…) Jetzt beginnt ein verzweifelter Kampf. Hinter den Gräbern  gedeckt, vertheidigen  die Föderierten Schritt für Schritt ihren Zufluchtsort. Man  kämpft grauenvoll Mann an Mann. In den Grüften finden  Gefechte mit blanken Waffen statt. Freund und Feind rollt sterbend in dieselben Gräber. Die früh einbrechende Dunkelheit macht dem Verzweiflungskampf ein Ende.“[5]

Mit dieser letzten Schlacht „des Volks von Paris“ gegen  die von Thiers kommandierten Versailler Truppen wird der Père-Lachaise, wie es auf dem Commune-Plan der Mairie de Paris heißt, „ein Symbol des Kampfs und des Opfers der Kommunarden.“

Commune Ausstellung 036

Kampf der Fédérés  und der Versaillais auf dem Pére-Lachaise. Gravur von Amédée Daudenarde.      Veröffentlicht in „Le Monde illustré“ vom 24. Juni 1871

 Ein eindrucksvolles Panorama dieser Kämpfe von Henri Félix Emmanuel Philippoteaux ist  im Musée d’art et d’histoire de Saint-Denis zu sehen.

Philippoteaux_-_Massacre_cimetiere_lachaise

 Gemalt ist es aus der Perspektive der Föderierten, die trotz ihrer verzweifelten Lage noch die rote Fahne hochhalten. Geschwenkt wird die Fahne übrigens von einer Frau. Eine weitere Frau im Vordergrund versorgt einen Verletzten: Hinweise auf die wichtige Rolle der Frauen in der Commune.  Im Hintergrund sieht man die Stadt Paris mit der Kuppel des Pantheons und den Türmen von Notre Dame. Die Rauchsäulen markieren wohl die Gebäude, die von den Kommunarden auf ihrem Rückzug in Brand gesteckt wurden. Allerdings ist damit nicht- wie bei vielen anderen Darstellungen der 1870-er Jahre- eine Anklage der Commune verbunden, sondern es wird dadurch –wie durch die Rauchwolken der einschlagenden Granaten- die  Heftigkeit der Kämpfe illustriert.  Bei diesem Bild handelt es sich gewissermaßen um eine Antwort auf den Schriftsteller Alphonse  Daudet. Der hatte 1871 eine Geschichte mit dem Titel „La bataille du Père-Lachaise“ veröffentlicht. Auf der ausgezeichneten und höchst empfehlenswerten Internet-Seite „L’histoire par l’image“ findet sich dazu folgende Erläuterung:

Par le truchement du gardien du cimetière, l’écrivain présente son récit comme une démythification : « ― Une bataille ici ? Mais il n’y a jamais eu de bataille. C’est une invention des journaux. » En niant la bataille, le témoin-narrateur nie l’existence de combattants : face aux troupes régulières de Versailles, il n’y aurait eu dans le cimetière qu’un « ramassis » sacrilège d’ivrognes et de femmes de mauvaise vie faisant bombance au milieu des tombes. Avec cette œuvre, Philippoteaux semble contredire les allégations de l’écrivain anticommunard.“[6]

 

  1. Grab von Louis-Auguste Blanqui

Blanqui war ein Theoretiker der sozialistischen Revolution und ein praktischer Revolutionär. Seit der Revolution von 1830 war er eine Leitfigur der sozialistischen Bewegung.  Fast die Hälfte seines Lebens, insgesamt 37 Jahre!- verbrachte er wegen „revolutionärer Umtriebe“ in Gefängnissen. Am spektakulärsten war seine Haft in den „cachots noirs“ auf dem Mont –Saint- Michel, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Hochsicherheitstrakt für politische Gefangene diente. Verantwortlich dafür war übrigens Adolphe Thiers, von dem später noch die Rede sein  wird. Er hatte, als Staatssekretär während der Herrschaft des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe eine neue Form der Strafe eingeführt, nämlich die Festungshaft. Und eine dieser Festungen war der Mont-Saint-Michel.

Die Haftbedingungen dort –Dunkel- und Einzelhaft, Nahrungsentzug- waren derart katastrophal, dass sich sogar eine Kommission der Nationalversammlung damit beschäftigte. Berichterstatter war übrigens Alexis de Tocqueville. Blanqui unternahm mit seinem Mitgefangenen Armand Barbès einen Fluchtversuch, der aber scheiterte.[7]

Ein  erneuter Aufstandsversuch am 31. Oktober 1870, bei dem kurzzeitig das Hôtel de Ville von Paris besetzt wird  –Vorbote der Commune- scheitert. Blanqui kann untertauchen und wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Am 17. März 1871 wird er auf Betreiben von Adolphe Thiers verhaftet, der damit die Commune einer charismatischen Führungsfigur beraubte. Thiers war sich (darin übrigens in voller Übereinstimmung mit Karl Marx) der Bedeutung Blanquis für die sozialen Bewegungen in Frankreich und für den Widerstand der Commune bewusst. Deshalb weigerte er sich, auf das Angebot der Commune einzugehen, die von ihr festgehaltenen Geiseln, darunter den Erzbischof von Paris, freizulassen, wenn im Gegenzug Blanqui freigelassen werde.  Thiers‘ Sekretär kommentierte das zynisch: „Die Geiseln! Pech für sie! Les otages ! Les otages, tant pis pour eux !».   So werden am 24. Mai in dem Gefängnis La Grande Roquette 6 Geiseln der Commune, darunter Erzbischof Darboy, erschossen.[8]

1879 fällt Blanqui unter die Generalamnestie und kehrt nach Paris zurück. Dort gibt er seine Zeitschrift „Ni Dieu ni maître“ heraus. 1881 stirbt er und wird auf dem Père-Lachaise beigesetzt. 100 000 Menschen sollen an seiner Beerdigung teilgenommen haben.

Blanqui IMG_3053

(91. Division, Nr. 14 auf dem Commune Plan der Mairie de Paris)

Jules Dalou, der große republikanische Bildhauer, erhält nach einer öffentlichen Subskription den Auftrag für die Gestaltung des Grabmals. Er stellte Blanqui auf dem  Totenbett liegend dar, sein Kopf ist nach der  Totenmaske modelliert. „Tout comme pour le gisant de Victor Noir, Dalou a doté Blanqui d’une virilité „généreuse et polie“, source de commentaires infinie.“[9] Zu einem Wallfahrtsort –entsprechend dem Grab von Victor Noir- ist die Grabstätte von Blanqui allerdings nicht geworden. Vielleicht liegt es an dem weniger zugänglichen Platz in einem Seitenweg des Friedhof und an dem Podest, auf dem Blanqui aufgebahrt ist, so dass die entsprechenden anatomischen Besonderheiten weniger ins Auge fallen. Umso deutlicher dafür allerdings die Hand Blanquis- vielleicht ein Hinweis auf die vielen Schriften des Revolutionärs und Theoretikers.

IMG_3055

Exkurs: Dalou, der große republikanische Bildhauer und Schöpfer der Grabmäler von Victor Noir und Blanqui

Bevor es weiter geht zum Grab von Louis-Auguste Blanqui ein paar Worte zu Jules Dalou, dem Schöpfer der beiden Grabmäler von Victor Noir und Blanqui. Dies erscheint auch deshalb angebracht, weil es sich um zwei der bedeutendsten Kunstwerke auf dem Père-Lachaise handelt und weil der Name Dalou untrennbar verbunden ist mit der Pariser Commune und dem Stadtbild von Paris – immerhin hat Dalou u.a. auch die repräsentative Figurengruppe – Der Triumph der Republik– auf der Place de la Nation geschaffen.

Rodin Dalou La Piscine Roubaix IMG_1950

Auguste Rodin : Büste von Jules Dalou (im Musée Rodin in Paris und im Musée de la  piscine in Roubaix)

Dalou war am Vorabend des deutsch-französischen Krieges ein junger, aufstrebender Bildhauer. Von ihm war schon einmal auf diesem Blog die Rede, und zwar in dem Beitrag über das Hôtel Païva, das deutsch-französische Märchenschloss auf den Champs-Élysées, zu dessen Skulpturenschmuck auch Dalou beitrug (Rubrik Stadtviertel Paris, 8. Arrondissement). 1871 wurde Dalou vom « Kultusminister » der Commune, Gustave Courbet, beauftragt, als « administrateur provisoire adjoint » das Louvre vor einem eventuellen Vandalismus zu schützen. Obwohl es sich dabei um eine noble Aufgabe im Sinne des Gemeinwohls handelte, wird Dalou nach der Niederschlagung der Commune bedroht und ins Exil gezwungen. 1874 verurteilt ihn ein Kriegsgericht in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit. Erst 1879 – im Zuge einer allgemeinen Amnestie-  kann Dalou aus Großbritannien, das ihm Asyl gewährt hatte, nach Frankreich zurückkehren. Sein Wettbewerbsbeitrag für eine monumentale Statue auf der Place de la République wird zwar zurückgewiesen, aber von der Stadtverwaltung für die Place de la Nation ausgewählt, wo sie heute steht. Dalou erhält nun weitere bedeutsame Aufträge, unter anderem für die beiden « politischen Grabmäler »  von Victor Noir und Blanqui auf dem Père-Lachaise. 1902 stirbt Dalou, er ist auf dem  Friedhof Montparnasse begraben.

  1. Das Grab von Victor Noir: vom politischen zum erotischen Wallfahrtsort

Victor Noir war kein Communarde, konnte es auch nicht sein, denn er wurde schon vorher, am 11. Januar 1870, ermordet. Trotzdem gehört sein Gab (Commune- Plan der Mairie de Paris Nummer 17) zu den unverzichtbaren Stationen eines Commune-Rundgangs auf dem Père-Lachaise, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst vor allem wegen der Umstände seines Todes und der darauf folgenden politischen Konsequenzen (9a):

Noir war Journalist und hatte den Auftrag, als Sekundant eines Zeitungsverlegers die Modalitäten von dessen geplantem Duell mit Prinz Pierre Napoleon Bonaparte, einem Verwandten Napoleons und des damaligen Kaisers Napoleon III. auszuhandeln. Dabei kam es zum Streit und Victor Noir wurde von Pierre Napoleon erschossen. An dem Begräbnis nahmen über 100 000 Menschen teil.  Auf dem Commune-Plan der Mairie ist (wohl etwas übertrieben) von 200 000 zum Aufruhr entschlossenen Parisern die Rede: Ein Vorbote der Commune.[10] Die revolutionäre Stimmung wurde noch dadurch verstärkt, dass Pierre Napoleon freigesprochen wurde, was einen Sturm öffentlicher Entrüstung gegen die ungeliebte Monarchie auslöste.

1891 wurde der zum republikanischen Symbol gewordene Leichnam Victor Noirs von Neuilly-sur-Seine, wo er zunächst begraben war, auf den  Père Lachaise umgebettet.  Der Bildhauer Jules Dalou erhielt den Aufrag, eine Grabplastik zu gestalten, die mit den  Mitteln einer öffentlichen Subskription finanziert wurde- ein Gegenmodell zur Finanzierung des Denkmals für die Generäle Lecomte und Clément-Thomas aus öffentlichen Mitteln.

Dalou stellte Victor Noir in der Situation dar, als er –gerade erschossen- rücklings auf dem Boden lag: mit leicht geöffnetem Mund, im Ausgehanzug mit sichtbarem Einschussloch und auf die Seite gerolltem Zylinder.

Victor Noir IMG_3064

Auffällig sind an dem Grabmal die durch vielfache  Berührungen von der Patina ausgenommenen glänzenden Stellen der Bronze-Plastik am Gesicht, an den Füßen und vor allem an der unter der Hose deutlich zu erkennenden Schwellung des Geschlechtsorgans. „Nur der große Zeh des heiligen Petrus im Petersdom glänzt genauso schön durch all die Küsse und all das Gestreichel“, wie Cees Nooteboom schreibt, für den das Grab des Victor Noir das schönste auf dem Père Lachaise ist. (10a)  Der Grund für die glänzenden Stellen:  „La légende veut qu’en frottant le gisant, surtout à l’endroit de son sexe, on retrouve la fécondité ou la virilité.[11]„Tausende von Mädchenhänden und Frauenmündern müssen“ -so noch einmal Nooteboom- hier am Werk gewesen sein, bei dieser letzten Fruchtbarkeitsfigur der westlichen Welt.“

Victor Noir IMG_3065

So wurde seit Ende der 1960-er Jahre das Grabmal von einem politischen Manifest zu einem Symbol der Fruchtbarkeit und zu einem Wallfahrtsort für „sexual worship“, wie es Emelyanova-Griva formuliert. Auch Deutsche haben dazu in gewisser Weise einen  Beitrag geleistet: War das Grab zunächst von einer bronzenen Kette umgeben, wurde diese während der occupation an die Deutschen ausgeliefert: Kanonen statt Kunst.[12] Damit war der Weg frei…  Inzwischen gehört das Grabmal zu den  Kultstätten des Père-Lachaise wie die Gräber von Héloïse und Abelard, Jim Morrison, Oskar Wilde oder wie das immer blumengeschmückte Grab von Allan Kardec, dem französischen Spiritisten, dessen Büste zu berühren angeblich Wünsche wahrwerden lässt….

(92. Division, Nr. 17 auf dem Commune-Plan der Mairie)

 

  1. Grabmal von Eugène Pottier, dem Autor der „Internationale“

(96. Division, Nr. 20 auf dem Commune-Plan der Mairie de Paris)

Das Grabmal Eugène Pottiers ist ein aufgeschlagenes Buch.

IMG_6125

Die Aufschrift auf der linken Buchseite (vom Betrachter aus gesehen):
Au Chansonnier
EUGÈNE POTTIER
MEMBRE DE LA COMMUNE
DE PARIS
1816 – 1871 – 1887
SES AMIS & ADMIRATEURS
– 1905 –

Pottier, der schon an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte, engagierte sich 1871 in der Commune und nahm an den Kämpfen der Semaine sanglante teil. Nach der Niederschlagung der Commune konnte er nach Großbritannien fliehen, dann in die USA. 1873 wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt und konnte –wie viele andere Kommunarden- infolge der Amnestie von 1879 nach Paris zurückkehren, wo er 1887 starb.

Die Aufschrift auf der rechten Buchseite:

L’Insurgé.
Jean Misère.
La Toile d’Araignée.
Ce que dit le Pain.
La mort d’un Globe.
L’internationale.

Den Text des ersten auf der rechten Buchseite aufgeführten Liedes hat Pottier zu Beginn der 1880-er Jahre zu Ehren Blanquis und der Kommunarden geschrieben- der Titel ist von dem autobiographischen Roman von Jules Vallès übernommen.

Der Text der „Internationale“ stammt aus den Tagen unmittelbar nach der gewaltsamen Niederschlagung der Pariser Commune. Er bezog sich auf die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), den ersten übernationalen Zusammenschluss von verschiedenen, politisch divergierenden Gruppen der Arbeiterbewegung, der 1864 von Karl Marx  initiiert worden war.

Der ursprüngliche französische Text hat sechs Strophen. Die bekannteste und bis heute verbreitete deutschsprachige Nachdichtung schuf Emil Luckard  1910. Seine Version ist an den französischen Originaltext lediglich angelehnt und beschränkt sich auf die sinngemäße, dabei in der Radikalität etwas abgeschwächte und romantisierte Übersetzung der ersten drei Strophen des französischen Liedes.[13]

Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt!

Das Recht wie Glut im Kraterherde

nun mit Macht zum Durchbruch dringt.

Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!

Heer der Sklaven, wache auf!

Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger

Alles zu werden, strömt zuhauf!

|: Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

erkämpft das Menschenrecht. 😐

Es rettet uns kein höh’res Wesen,

kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

Uns aus dem Elend zu erlösen

können wir nur selber tun!

Leeres Wort: des Armen Rechte,

Leeres Wort: des Reichen Pflicht!

Unmündig nennt man uns und Knechte,

duldet die Schmach nun länger nicht!

|: Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

erkämpft das Menschenrecht.

  1. Le mur des fédérés – die Mauer der erschossenen Kommunarden

Höhepunkt (auch im topographischen Sinn des Wortes)  eines Rundgangs über den Père-Lachaise auf den  Spuren der Commune ist natürlich le Mur des fédérés in der nord-östlichen Ecke des Friedhofs. Am 28. Mai 1871 wurden an dieser Stelle 147 Kommunarden erschossen, die in die Hände der Versaillais gefallen waren. Sie wurden in einem Massengrab verscharrt ebemso wie weitere Kämpfer der Commune, die auf dem Père Lachaise oder schon vorher im Laufe der semaine sanglante getötet worden waren.[14]

1004919-300x207  mur des fédérés

Zeichnung von Alfred Darjou (1832-1874) im Musée Carnavalet in Paris

Wie sehr das brutale Vorgehen der Versaillais in der semaine sanglante viele Zeitgenossen aufwühlte und empörte, wird auch am Beispiel des Malers Edouard Manet deutlich. Edouard Manet hat zwei Lithographien zum Thema Commune angefertigt. Die Lithographie, „Guerre civile“, zeigt einen toten Nationalgardisten bzw. Kommunarden. Der Bezug zu Manets berühmtem Bild des toten Torreros von 1864/65 ist offenkundig. Während aber der im Stierkampf getötete Torero ein rotes Tuch in der Hand hat, ist es bei dem getöteten Kommunarden  ein weißes Tuch: Manet will hier wohl das brutale, rücksichtslose Vorgehen der Versailler Truppen veranschaulichen.

003

Eine zweite Lithographie zeigt die Erschießung von Kommunarden, wie sie am Ende der semaine sanglante auf dem  Père-Lachaise stattgefunden hat.  Dabei stand eines der berühmtesten Bilder Manets Pate, nämlich die Erschießung des mexikanischen Kaisers Maximilian.  Manet hat also zwei seiner erfolgreichsten Bilder zum Ausgangspunkt genommen, den Toten der Commune ein Denkmal zu setzen.

Der Platz an der Friedhofsmauer entwickelte sich, trotz aller Verbote, zu einem Wallfahrtsort von Sozialisten aus aller Welt. 1908 wurde für die getöteten Fédérés eine große Erinnerungstafel an die Opfer der „Semaine sanglante“ angebracht. Das Original befindet sich übrigens in den Räumen der Amis de la Commune auf der Butte aux Cailles.

Père Lachaise Nov 10 018

Jedes Jahr findet seit 1880 am letzten Maiwochenende ein großer Demonstrationszug statt- die sogenannte Montée au Mur des Fédérés, gewissermaßem  eine „pèlerinage laïque“. An ihr nehmen Menschen und Gruppen teil, die sich mit der Commune und ihrem Erbe verbunden fühlen und die darauf hoffen, dass das, was die Kommunarden vom März 1891 vergeblich anstrebten, noch erreicht werden kann: Mitglieder und Anhänger linker Parteien, Gewerkschaftler, Freimaurer.[15]

mur2010b

Am 24. Mail 1936, wenige Wochen nach dem Sieg des Front Populaire, waren es 600 000 Menschen, an der Spitze die Führer der Sozialisten und Kommunisten, Léon Blum und Maurice Thorez, die an der monté au mur teilnahmen. So viele sind es heute nicht mehr und das Durchschnittsalter der Teilnehmer ist heute wohl auch deutlich höher als damals: Eine eindrucksvolle Demonstration der linken Bewegungen ist die monté au mur aber nach wie vor.

montee des murs des fédérés 2011

montee des murs des fédérés 032

Gegenüber der Mauer der Föderierten sind mehrere Kommunarden oder für die Commune wichtige Persönlichkeiten bestattet. Auf drei dieser Gräber möchte ich besonders hinweisen:

Das Grabmal von Clément, dem Autor von „Le Temps des Cerises“

Clément war während der Commune Bürgermeister des Montmartre-Arrondissements, aber vor allem  ist er  Autor des Liedes „Le Temps des Cerises“. Es ist ein Liebeslied, schon 1866, zur Zeit Napoleons III. geschrieben und von Anfang an populär. In diesem Lied wird die Liebe in der Zeit der Kirschen besungen:

Quand nous chanterons le temps des cerises

                   Et gai rossignol, et merle moqueur

                   Seront tous en fête.

                   Les belles auront la folie en tête

                   Et les amoureux du soleil au coeur

                   Quand nous chanterons le temps de cerises

                   Sifflera bien mieux le merle moqueur.

Das Lied endet traurig: Die Zeit der Kirschen, der Liebe und Träume,  ist kurz, danach kommen Schmerz und Trauer. Aber trotzdem:

                   J’aimerai toujours le temps des cerises

                   Et le souvenir que je garde au coeur.

Das Lied erhält in der semaine sanglante  auf tragische Weise neue Aktualität. Dem besungenen Liebeslied wird eine politische Dimension verliehen. Es wird zur Hymne der Commune und ihrer Anhänger, während der Blütezeit der Commune,  „au temps des cerises“, aber auch danach, als die Erinnerung an die Commune  -außer sie  war hasserfüllt und abschreckend-  tabuiert war. Clément unterstützte ausdrücklich die poltitische Botschaft des Liedes, indem er es  1885 «à la vaillante citoyenne Louise» widmete, der wachsamen Bürgerin Louise Michel, einer Ikone der Commune.

Commune Spaziergang EDF 024

Von Wolf Biermann gibt es übrigens eine schöne deutsch-französische Version des Liedes, gesungen nach der Wende vor einem jungen Leipziger Publikum. Mit einer einleitenden Erläuterung, in der er eine Verbindung zwischen dem Paris von 1871 und dem Leipzig von 1989 herstellt.  Auf youtube zu sehen und zu hören! Am besten gleich anklicken! Dauert 6 Minuten:

http://www.youtube.com/watch?v=Rv420VhwUWc

Das Grabmal von Wroblewski, dem Verteidiger der Butte –aux- Cailles

Walery Antoni Wróblewski gehörte zu den Anführern des polnischen Aufstandes gegen das zaristische Russland 1863/64. Nach dessen Niederschlagung emigrierte er nach Frankreich. Während der Commune war er ein Kommandeur der Föderierten und verantwortlich für die Verteidigung des strategisch wichtigen Butte aux Cailles gegen den Vormarsch der Versaillais. Dabei zeichnete er sich besonders aus.[16]

Commune Spaziergang EDF 031

Nach der Niederschlagung der Commune emigrierte er nach England, wo er sich weiter für die internationale Arbeiterbewegung engagierte. Auch er konnte 1880 nach der allgemeinen Amnestie nach Paris zurückkehren, wo er 1908 starb. Wróblewski gehört zu den vielen internationalen Aktivisten, die sich in der Pariser Commune engagierten und damit die internationale Solidarität der Arbeiter vorlebten.

Das Grab von Wróblewski ist –wie auch das von Chopin auf dem Père-Lachaise- oft mit roten und weißen Blumen geschmückt. Sie verweisen auf die polnische Herkunft von Wróblewski und sind wohl auch ein Zeichen polnisch-französischer Verbundenheit.

.Commune Spaziergang EDF 030

 

Das Grab von Paul Lafargue, dem  Schwiegersohn von Karl Marx und dem Autor von „Das Recht auf Faulheit“

Der Sozialist Paul Lafargue war der Schwiegersohn von Karl Marx und Autor der 1880 erstmals erschienenen Schrift „Das Recht auf Faulheit“. Darin kritisiert er die „seltsame Arbeitssucht“ seiner Zeitgenossen. Lafargue plädiert stattdessen für eine radikale Reduktion der Lohnarbeit und damit für mehr Muße und Zeit für selbstbestimmte Tätigkeit. Damit knüpft er an den frühen Marx an, der eine Gesellschaft entwarf, die es dem Individuum ermöglichen sollte, „heute dies, morgen jenes zu tun, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe – ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Solche Ideen wurden später –auch von Sozialisten- als romantischer Utopismus diffamiert und dagegen das Recht auf Arbeit oder gar ein puritanischer Laborismus proklamiert. Lafargues marxistische Apologie des Nichtstuns ist aber immer noch aktuell, stellt er doch die einfache Frage, warum Menschen immer mehr arbeiten sollen, auch wenn ihre Arbeitsleistung durch den ständigen Produktivitätsfortschritt immer größer werde.[17]

In Bordeaux, wo Lafargue 1870 mit seiner Frau lebte, verbreitete er die Ideen der Commune. Nach einem kurzen Besuch in Paris im April 1871 schrieb er begeistert an Karl Marx: „Paris devient invincible“. 1911, im Alter von 69 Jahren, wählte Paul Lafargue zusammen mit seiner Frau den Freitod: Jetzt sei er noch gesund an Geist und Körper, und er wolle nicht erleben, dass das Alter seine geistigen und intellektuellen Fähigkeiten und seinen Willen zerstöre. Fast 20 000 Menschen sind bei der Bestattung auf dem Père – Lachaise zugegen. Die Rede auf den Verstorbenen hält Jean Jaurès.[18]

—————————————————————-

Für den Weg zurück bietet sich der Chemin des Chèvres (zwischen der 19. und der 30.und 18. Division und den Chemin Talma (zwischen der 11. und 12. Division)  an. Dieser Weg ist malerisch eingebettet in den Hügel, der zum neueren (rechtwinklig angelegten) Teil des Père-Lachaise hinauf führt. Eine ganze Reihe schöner Art-Déco-Gräber gibt es hier, ebenso wie das spektakuläre Grabmal der russischen  Aristokratin Elisabeth Demidoff.

  1. Das Mausoleum von Thiers (rechts neben der Friedhofskapelle, 55. Division)

Das Mausoleum des 1877 verstorbenen Adolphe Thiers ist leider nicht im Commune-Rundgang der Marie de Paris enthalten. Ich finde das äußerst bedauerlich, weil es, ebenso wie das anschließend betrachtete Grabmal der Generäle Lecomte und Clément-Thomas in sehr eindrucksvoller Weise den Triumph über die verhasste Commune zum Ausdruck bringen. Damit gehören sie meines Erachtens unbedingt zu einem entsprechend thematisch orientierten Rundgang über den Père-Lachaise. Zu übersehen ist das Mausoleum von Thiers ja kaum – es ist „une colossale chapelle“ direkt neben der zentralen Friedhofskapelle.[19] Thiers ist hier mit seiner Frau, Élise Dosne, und seinen beiden Geliebten, der Mutter und der Schwester von Élise [20], bestattet.

Thiers IMG_6036

Wie beim Monument für die beiden Generäle Lecomte und Clément-Thomas, das wir uns anschließend ansehen,  ist die christliche Symbolik sehr deutlich: das doppelte verschränkte D steht für Deo Domino, den Dank an Gott, den Herrn- das T natürlich für Thiers.   Thiers war ein entschiedener Freund der katholischen Kirche und ihres Einflusses auf das Bildungswesen. Paul Lafargue, dessen Grab auf dem Père-Lachaise schon besucht wurde, zitiert in seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“ eine Erklärung von Thiers vor einem Parlamentsausschuss aus dem Jahr 1849. Darin spricht sich Thiers dafür aus, dass die gesamte Erziehung im Grundschulbereich von der katholischen Kirche übernommen werden solle. Er, Thiers rechne darauf, dass der Klerus „die gute Philosophie“ propagiere, nach der der Mensch zum Leiden geboren sei.[21]  Auch insofern war Thiers  also ein entschiedener Gegner der laizistischen Commune. Vor allem aber war er der Hauptverantwortliche für  das Gemetzel der Versailler Truppen in der semaine sanglante. Thiers gab den Befehl, den Aufstand der Commune mit größter Entschiedenheit und Rücksichtslosigkeit niederzuschlagen.

Auf seinem Grabmal allerdings wird er als Staatsmann gepriesen, der das Vaterland liebte und die Wahrheit verehrte …

AThiers Er liebte das Vaterland und verehrte die Wahrheit IMG_5141

Wie verhasst Thiers bei den Communarden und ihren Anhängern war,  wird auch daran deutlich, dass das noble Hôtel Dosne-Thiers an der Place St Georges, das die reiche Élise in die Ehe einbrachte, eines der symbolträchtigen Gebäude war, das die Commune auf ihrem Rückzug in den Osten  von Paris in Brand setzte. Anlässlich des 100. Jahrestages der Commune 1971 wurde das Grabmal, Symbol des Sieges  der bourgeoisen Republik“ über die“soziale Republik“  stark beschädigt und es soll auch schon öfters mit „inscriptions vengeresses“ wie „Assassin du peuple“ versehen worden sein.[22]  Inzwischen erstrahlt es aber wieder im alten Glanz und man kann, wenn man es betrachtet, an den schönen Satz denken, den Victor Hugo ausgerufen haben soll, als er an dem Grabmal vorbeikam: „Un si grand monument pour un homme aussi petit!“ [23] – eine Anspielung sicherlich nicht nur auf die geringe körperliche Größe von Adolphe Thiers, den Marx als „Zwergmissgeburt“ verhöhnte.

(neben der Kapelle, 55. Division. Auf beiden Plänen der Mairie de Paris  nicht berücksichtigt)

  1. Grabmal für die Generäle Lecomte und Clément-Thomas

 001 (2)

An ebenso prominentem Ort wie das Mausoleum von Thiers und ebenso auffällig präsentiert sich  auf der Nordseite der zentralen Avenue Principale und  kurz vor dem Monument aux morts  ein merkwürdiges Grabmal: Im Zentrum steht eine mächtige Marianne. Trotz entblößter rechter Brust entspricht sie so ganz und gar nicht dem gewohnten Idealbild einer attraktiven Marianne, sondern erinnert eher an manche Darstellungen der wehrhaften Germania aus dem 19. Jahrhundert.

Der Lorbeerkranz in der Hand Mariannes steht für den Triumph der Republik über die verhasste Commune. Sie wird durch eine mehrköpfige Schlange symbolisiert, die von Marianne zertreten wird.

Thomas Clement IMG_2115

Oben ist das Grabmal mit einem großen Kreuz dekoriert, womit deutlich gemacht wird, dass die von der Commune verfügte Trennung von Kirche und Staat wieder aufgehoben ist- auch in diesem Punkt war die Commune übrigens ihrer Zeit voraus, denn die strikte Trennung von Kirche und Staat gehört ja seit 1905 zu den fundamentalen Prinzipien der französischen Republik.

Es handelt sich hier um das Grabmal der beiden  Generäle Lecomte und Clément-Thomas, deren Geschichte zu erzählen sich lohnt, denn ihr Tod markiert den Beginn der Commune, deren Entstehung untrennbar verbunden ist mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71[24]. Nach dem Sturz des schmählich in Sedan besiegten und kapitulierenden Napoleon III.  war die  im Februar 1871 gewählte und provisorisch in Bordeaux installierte Nationalversammlung bereit, sich den preußischen Friedensbedingungen zu unterwerfen und dem am 28. Februar 1871 zwischen der provisorischen Regierung der Republik unter Adolphe Thiers und dem Deutschen Reich abgeschlossenen Vorfrieden von Versailles zuzustimmen.  Die mehrheitlich republikanische bzw. sozialistische Bevölkerung von Paris war nicht bereit, diese Schmach hinzunehmen, zumal angesichts der preußischen Provokation einer Militärparade auf den Champs-Elysées und rund um den Arc de Triomphe. Immerhin standen in Paris fast 180 000 Nationalgardisten unter Waffen, Freiwilligenverbände, die vorwiegend aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft stammten.[25] Und in Belleville und Montmartre standen 227 Kanonen, die durch eine Subskription der Bevölkerung finanziert und vor den preußischen Truppen in Sicherheit gebracht worden waren. Der Konflikt zwischen Paris und der Nationalversammlung eskalierte, als am 10. März 1871 die Nationalversammlung  einem möglichen „Druck der Straße“  vorbeugen wollte und ihren Umzug nach Versailles beschloss. Dazu beschloss die Nationalversammlung eine Reihe diskriminierender Maßnahmen gegen die Nationalgarde, deren Bataillione sich zu den „fédérés“ zusammenschlossen. Zum Eklat kam es, als Adolphe Thiers, der „chef du pouvoir exécutif de la République française“, am 18. März den General Lecomte beauftragte, sich der Kanonen von Montmartre zu bemächtigen. Das Vorhaben scheiterte aber völlig. Gerade noch rechtzeitig schlägt Louise Michel, die „louve rouge“ der Commune, Alarm.  Die Nationalgardisten und die Bevölkerung von Montmartre  verteidigen „ihre“ Kanonen. Ein Teil der Versailler Truppen verweigert den Befehl, auf die eigenen Landsleute zu schießen und fraternisiert mit den Verteidigern. General Lecomte wird von den Aufständischen gefangen genommen. Am gleichen Tag wird auch der General Clément-Thomas von aufständischen Parisern festgesetzt.  der bei der Niederschlagung der Revolution von 1848 „eine der niederträchtigsten Henkerrollen“ übernommen hatte, wie es Marx in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“ ausdrückte. Mit beiden Generälen wird kurzer Prozess gemacht und sie werden –unter dem Beifall einer „entfesselten Meute“ (Promenades, S. 132) von ihren eigenen Leuten erschossen, auch wenn der  Bürgermeister von Montmartre, der junge Clemenceau, vergeblich versucht das zu verhindern.  Die Gegenrevolution hat nun ihre Märtyrer und Adolphe Thiers seine Legitimation, das aufsässige Paris, die Commune also –mit freundlicher Unterstützung der preußischen Truppen- zu belagern  und dann zu erobern und blutige Rache zu nehmen.

Die Generäle Lecomte und Clément-Thomas erhalten auf dem Père-Lachaise eine kostenlose Grab-Konzession an einem zentralen Platz des Friedhofs und mit einer souscription nationale wird für sie das imposante und triumphale Grabmal errichtet.  Und in Montmartre, wo sie beiden Generäle erschossen wurden (in der heutigen Rue du Chevalier de la Barre) und wo die Kanonen der Nationalgarde stationiert waren, wird  als Zeichen der Sühne für die „horreurs de la Commune“ die Basilique Sacré- Coeur errichtet und der Bau wird auf Beschluss der Nationalversammlung mit staatlichen Mitteln gefördert.[26] Es ist -wie das Grabmal auf dem Père-Lachaise- ein ostentativer gegenrevolutionärer Akt.

Dazu passt die Darstellung der Commue als mehrköpfige Schlage: Für die Dritte Republik waren die Kommunarden ja nichts anderes als „criminels“,  „eine Handvoll von Fanatikern und Spitzbuben“, die Paris zum „Sammelpunkt der Perversitäten der ganzen Welt“ machten- so Jules Favre, der für die Versailler Regierung die Bedingungen des Friedens von Frankfurt mit Bismarck verhandelte.

(Avenue Latérale du Nord, 57. Division. Auf beiden Plänen der Mairie de Paris nicht berücksichtigt).

 

Epilog: Das Commune-Denkmal an der äußeren westlichen  Friedhofsmauer des Père- Lachaise und das Gemälde „Une rue à Paris en mai 1871 ou La Commune“ von  Maximilien Luce im Musée d’Orsay

Das letzte Wort soll aber nicht die triumphierende Gegenrevolution haben! Sondern das Gedenken an die vielfachen  Opfer der Commune. Für sie gibt es ein eindrucksvolles Denkmal auf der anderen Seite des Père- Lachaise, an der äußeren Friedhofsmauer am Square Samuel de Champlain, zwischen den Métro-Stationen Gambetta und Père- Lachaise.

PL19-250410-IC mur des fédérés

Georg Stefan Troller weist in „Paris geheim“, auf dieses Denkmal hin  – und das ist auch wirklich der angemessene Platz, denn in unseren anderen Reiseführern  ist dieses Denkmal nicht erwähnt. Schade, denn es handelt sich wirklich um „ein ergreifendes Denkmal“, aus dem Jahr 1909: „Aus der Mauer kaum hervortretend wie Gespenster: ein Arbeiter, ein Pfarrer, ein Soldat, eine Mutter mit Kind. Rundherum Einschüsse. Errichtet aus demselben Stein, gegen den die letzten Kommunarden 1871 … füsiliert wurden.“[27]

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist dsc01282-aussenmauerpere-lachaise-sept-2021-20-.jpg.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist dsc01282-aussenmauerpere-lachaise-sept-2021-19-.jpg.

„Das, was wir von der Zukunft fordern, und das, was wir von der Zukunft wollen, ist Gerechtigkeit, es ist nicht  Rache“. Victor Hugo

Maximilien Luce: Une rue à Paris en mai 1871 ou La Commune

Bei früheren Besuchen im Musée d’Orsay war mir dieses Biild noch nicht aufgefallen. Erst als ich mich etwas näher mit der Pariser Commune beschäftigte, entdeckte ich : „Une rue de Paris en mai 1871 ou La Commune“ von Maximilien Luce.[28]  Luce war zusammen mit Seurat und Signac „Gründer“ des Neo-Impressionismus. 1894 wurde er als „gefährlicher Anarchist“ verurteilt und ging nach Belgien ins Exil. Nach seiner Rückkehr war er Präsident der Gesellschaft unabhängiger Künstler, trat aber 1940 –ein Jahr vor seinem Tod- aus Protest gegen die Diskriminierung jüdischer Künstler durch die Vichy-Regierung zurück. Ein bewegtes Leben also und ein eindrucksvolles, zwischen 1903 und 1906 gemaltes Bild.

til1_luce_001f

Die Toten sind an den roten Hosen-Litzen als Nationalgardisten, also Communarden, zu identifizieren. Dass auch eine Frau dabei ist, weist auf den großen Anteil hin, den Frauen an der Verteidigung von Paris gegen die anrückenden Truppen hatten. Rechts unten sieht man noch einige Pflastersteine, die offenbar für den Bau einer Barrikade bestimmt waren. Die ist aber nicht gezeigt, der Kampf ist vorbei, man sieht nur die tote Stadt und  die Gefallenen- einige der über 20.000, die in der „Semaine sanglante“ dem Wüten der Versailler Truppen zum Opfer fielen. Am 29. Mai telegraphiert Ministerpräsident Thiers, der „Schlächter der Commune“, triumphierend an die Präfekten: „Der Boden ist bedeckt mit ihren Leichen. Dieses schreckliche Schauspiel wird eine Lehre sein“. Luce erinnert an dieses „spectacle affreux“, aber nicht im obszönen Gestus des Triumphators, sondern im Mitgefühl mit den Opfern und den Verlust veranschaulichend, den die Niederschlagung der Commune für die Stadt Paris bedeutete.

Praktische Informationen:

Einen kostenlosen Übersichtsplan mit dem Verzeichnis der am  meisten besuchten Gräber  gibt es kostenlos bei der Friedhofsverwaltung (vom Haupteingang –porte principale am Boulevard de  Ménilmontant-  leicht erreichbar über die Avenue Principale, dann rechts abbiegen in die Avenue du Puits. Es gibt den Plan auch im Internet unter:

https://api-site.paJuleis.fr/images/142836.pdf[29]

Im Allgemeinen nur im Internet gibt es auch einen speziellen Plan der Mairie  de Paris zum Père Lachaise als „haut lieu de la Commune“: https://api-site.paris.fr/images/103968.pdf

Öffnungszeiten:

Vom 6. November bis 15. März:

  • Mo bis Fr: 8 h bis 17.30 h
  • Sa: 8.30 bis 17.30h
  • Sonntags und an Feiertagen: 9h bis 18h

Vom 16. März bis 5. November:

  • Mo bis Fr: 8h bis 18h
  • Sa: 8.30h bis 18h
  • Sonntags und an Feiertagen: 9h bis 18h

Zum Weiterlesen:

Les Amis de la Commune de Paris 1871: Histoire de la Commune de Paris. 18 mars- 28 mai 1871 und weitere Broschüren über die Commune (Rolle der Frauen, der Ausländer, der Kunst, der Erziehung etc)

Braire,  Jean: Sur les traces des communards. Guide de la commune dans le Paris d’aujourd’hui

Courbet et la Commune. Katalog der Ausstellung im musée d’Orsay vom 13.3.-11.6.2000. Hrsg. von der Réunion des musées nationaux. Paris 2000

Lissagaray, Prosper: Geschichte der Commune von 1871. Unveränderter Nachdruck der deutschen Übersetzung von 1877. Edition suhrkamp 577. FFM 1971

Philip Nord: Les Impressionistes et la politique. 2009

La mairie du 11e; La Commune, à l’assaut du ciel. Histoire, lieux de mémoire et  figures de la Commune de Paris dans le 11e arrondissement. (Mai 2011)

Karl Marx (als Polemiker in Hochform): Bürgerkrieg in Frankreich: http://www.mlwerke.de/me/me17/me17_319.htm

Rebérioux, Madeleine,  Le Mur des Fédérés : Rouge, “sang craché” . In: Nora (Hrsg): , Les Lieux de mémoire, vol. 1 : La République, Paris, Gallimard

Thoraval, Anne: La Commune de Paris. In: Promenades sur les lieux de l’histoire. Paris 2004, S. 124-139

Troller, Georg Stefan: Paris geheim. Artemis und Winkler Sachbuch 2008

Jules Vallès:  L’insurgé (3. Band einer autobiographischen Roman-Trilogie) Taschenbuch folio classique

Watkins, Peter: La Commune (Paris 1871). (Schwarz-Weiß-Film,  franz/engl. DVD)

Das Pariser Stadtmuseum Carnavalet ist für die Commune weniger ergiebig. Umso mehr das musée d’art et histoire in Saint-Denis. www.musee-saint-denis.fr   Métro Linie 13 Richtung Saint-Denis-Université. Station Porte de Paris, Ausgang 4

Zum 150. Jahrestag der Commune 2021 gibt es natürlich zahlreiche Publikationen und Sendungen: 

Zum Beispiel eine vierteilige Reihe in France Culture:

https://www.franceculture.fr/emissions/le-cours-de-lhistoire/la-commune-150-ans-14-la-commune-un-chantier-transnational

 Anmerkungen

[1] Es war nicht nur Karl Marx, der den Begriff „Bürrgerkrieg“ für die Commune verwendete. Z.B. gibt es eine eindrucksvolle Lithographie von Edouard Manet zur Commune mit dem Titel „guerre civile“:  https://www.histoire-image.org/etudes/repression-commune

[2] Zu den Gefängnissen der Grande und der Petite Roquette und zur dort stationierten Guillotine siehe den Blog-Beitrag: Wohnen auf historischem Boden:  La Grande et la Petite Roquette in der Rubrik Geschichte oder Wir in Paris.

[3] Zum Hôtel de Salm siehe auch den Blog-Beitrag über den Cimetière de Picpus

[4] https://fr.wikipedia.org/wiki/Charles_Delescluze

Bei Lissagary liest sich das so: „Delescluze setzte allein seinen Weg fort. Hier das Schauspiel, wie wir es mit angesehen  haben; möge es der Erinnerung erhalten bleiben! Der alte Geächtete schritt, ohne sich umzusehen, ob ihm Jemand folge, gleichmäßig weiter. Er war das einzige leende Wesen auf der Chaussée. Als er an der Barrikade angekommen war, wendete er sich nach links und erstieg die Pflastersteine. Zum letztenmale  erblickten wir dieses ernste, vom weißen Barte umrahmte Gesicht, das  dem  Tode zugewandt war. Plötzlich verschwand Delescluze. Er war wie vom Blitzstrahl getroffen auf dem Platze von Château d’Eau gefalllen.“ Lissagaray, Geschichte der Commune von 1871, S.342

[5] Lissagaray, Geschichte der Commune von 1871, S. 356

[6] https://www.histoire-image.org/etudes/pere-lachaise-derniers-combats-commune  Hierbei handelt es sich übrigens um eine ganz hervorragende Fundgrube: Bildmaterial zur französischen Geschichte wird vorgestellt und interpretiert.

[7] https://www.histoire-image.org/etudes/armand-barbes-prisonnier-mont-saint-michel-1839-1843

https://de.wikipedia.org/wiki/Louis-Auguste_Blanqui . Hier findet sich übrigens die falsche Information, Blanqui sei  „nach der blutigen Niederschlagung der Kommune …. erneut ins Gefängnis“ gekommen. Dort befand er sich schon vorher.

https://fr.wikipedia.org/wiki/Auguste_Blanqui

zum Mont-Saint-Michel als Staatsgefängnis: http://images.google.de/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fwww.histoire-image.org%2Fsites%2Fdefault%2Ftil1_luce_001f.jpg&imgrefurl=https%3A%2F%2Fwww.histoire-image.org%2Fetudes%2Fecrasement-commune&h=931&w=1400&tbnid=GOTA9-INsTCKLM%3A&docid=lUfYslQKMJUoaM&ei=aA6nV9SzJ-yRgAavnLr4Dw&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=953&page=1&start=0&ndsp=15&ved=0ahUKEwjUh_Gcja_OAhXsCMAKHS-ODv8QMwgcKAAwAA&bih=623&biw=1366

[8] siehe dazu den Blog-Text: Wohnen auf historischem Boden: La Grande et la Petite Roquette. (Rubriken Geschichte und Wir in Paris

[9] http://www.appl-lachaise.net/appl/article.php3?id_article=231

(9a) Ausführlich zu zum Grabmal und seinen geschichtlichen Hintergründen: Michel Dansel, Les lieux de culte au cimetière de Père Lachaise. Paris 1999, S. 172-186

[10] „Le 10 janvier 1870, ses funéraillles réunirent deux cent mille Parisiens, décidés à l’emeute, signe avant-coureur de la Commune.“  https://api-site.paris.fr/images/103968.pdf   Allerdings stimmt das Datum nicht: Noir wurde ja am 11. Januar erschossen und die Beerdigung fand am 12. Januar statt.

(10a) Cees Nooteboom, Eine Totenglocke läutet. In: Susanne Gretter (Hrsg), Paris liegt an der Seine. Bilder einer Stadt. st 2994, FFM 1999, S. 97/98. Dort auch das nachfolgende Zitat von Nooteboom

[11] Sehr lesenswert:  Marina Emelyanova-Griva, La tombe de Victor Noir au cimetière de Père-Lachaise. In: Archives de sciences sociales des réligions, 149, 2010. https://assr.revues.org/21870?lang=en  Auf der Internetseite von „Herodot“ ist das etwas kryptisch formuliert: „On dit que des jeunes filles et des femmes en mal d’amour viennent sur la tombe de Victor Noir caresser certaine protubérance de son gisant dans l’espoir qu’elle leur portera chance.“ https://www.herodote.net/tombes6.php

[12] Ein ähnliches Schicksal erlitten in Paris auch zahlreiche andere Kunstwerke aus Bronze: so wurde ein Teil des  „Triomphe de la République“ von Dalou (s.u.) ausgeliefert, ebenso die Statue von Baudin im Faubourg Saint-Antoine (siehe Blog-Beitrag: Der Faubourg Saint-Antoine, Teil 2: Das Viertel  der Revolutionäre.  Rubrik Stadtviertel Paris, 11. Arrondissement)

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Internationale

[14] Ici, au pied du mur qui porte leur nom, furent inhumés les “fédérés” retranchn:és dans le cimetière le 27 mai 1871 et tués lors de cet ultime combat. Le 28 mai, au cours de la répression, 147 fédérés y sont exécutés et ensevelis à la hâte. Dans les jours suivants, de nombreux corps provenant des prisons parisiennes ou des dernières barricades sont également mis en terre en bordure de ce mur.“ (Aus dem Plan der Mairie de Paris)

[15] Franck Frégosi: La „montée“ au Mur des Fédérés  du Père-Lachaise. Pèlerinage laïque partisan. In:  Archives des sciences sociales des religions, No  155,  2011  https://assr.revues.org/23359

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Walery_Antoni_Wr%C3%B3blewski

https://fr.wikipedia.org/wiki/Bataille_de_la_Butte-aux-Cailles

[17] http://www.zeit.de/1967/03/lob-der-faulheit

http://www.laika-verlag.de/mbp/stephan-lessenich-zu-paul-lafargue-das-recht-auf-faulheit

[18] « Sain de corps et d’esprit, je me tue avant que l’impitoyable vieillesse (…) me dépouille de mes forces physiques et intellectuelles, ne paralyse mon énergie et ne brise ma volonté (…) »  Zitiert in: http://www.humanite.fr/tribunes/paul-lafargue-1842-1911-pas-de-dieu-mais-un-maitre%E2%80%A6-46-479033

[19]https://www.landrucimetieres.fr/spip/spip.php?article565

[20] http://www.lepoint.fr/societe/plus-fort-que-hollande-le-president-thiers-et-ses-trois-femmes-02-05-2015-1925729_23.php#xtor=RSS-221

[21] Text von Paul Lafargue: http://www.wildcat-www.de/material/m003lafa.htm

Originalversion der Stellungnahme von Thiers: https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Droit_%C3%A0_la_paresse : „ Je suis prêt à donner au clergé tout l’enseignement primaire. Je demande formellement autre chose que ces instituteurs laïques, dont un trop grand nombre sont détestables ; je veux des Frères, bien qu’autrefois j’aie pu être en défiance contre eux ; je veux rendre toute-puissante l’influence du clergé ; je demande que l’action du curé soit forte, beaucoup plus forte qu’elle ne l’est, parce que je compte beaucoup sur lui pour propager cette bonne philosophie qui apprend à l’homme qu’il est ici pour souffrir.“

[22] Michel Ragon, L’espace de la mort. Essai sur l’architecture, la décoration et l’urbanisme funéraires. Albin Michel 1981

https://books.google.de/books/about/L_Espace_de_la_mort.html?id=a9ZY3Kv0jtYC&redir_esc=y

[23] https://www.landrucimetieres.fr/spip/spip.php?article565

Zum „Sündenregister“  von Thiers gehört –aus deutscher Sicht- unbedingt seine treibende Rolle in der Rheinkrise von 1840, als die französische Regierung forderte, den  Rhein  (in seiner ganzen Länge) zur deutsch-französischen Grenze zu machen- ein wichtiger Beitrag zur Entstehung des deutschen Nationalismus und der sogenannten deutsch-französischen „Erbfeinschaft“.  Ich finde es übrigens bemerkenswert, dass in Frankreich sehr häufig und sicherlich ganz naiv von Deutschland als „outre Rhin“- also dem Land jenseits des Rheins gesprochen wird.

[24] „C’est le début de l’insurrection que l’on appellera la Commune“. http://www.appl-lachaise.net/appl/article.php3?id_article=373

[25] Eine Parallele zur Fortsetzung des Widerstands durch de Gaulle 1940 bietet sich da natürlich an, so z.B. in einer Rede vor der mur des fédérés aus dem Jahr 2007:

La Commune est donc un acte de résistance sociale et patriotique, (…) c’est le peuple en armes qui a mis en déroute les monarchies coalisées contre la révolution. C’est le peuple de Paris qui a voulu continuer le combat plutôt que de pactiser avec l’occupant, c’est le peuple de l’ombre qui a choisi la Résistance, et ce furent les anonymes, les sans-grades qui rejoignirent de Gaulle à Londres“. Zit von Frégosi:  https://assr.revues.org/23359

[26] http://www.paris-tourisme.com/monuments/sacrecoeur/index.html

[27] Troller, S. 295

[28] https://www.histoire-image.org/sites/default/til1_luce_001f.jpg

[29] Bilder und Infos zu  bedeutenden  Gräbern:  http://www.linternaute.com/sortir/monument/cimetiere-pere-lachaise/

Hinweis: 

Dieser Blog-Beitrag wurde von der Internet-Seite Europa verbinden  ( https://europaverbinden.de/)  übernommen und ins Internet eingestellt, was mich natürlich sehr freut.

https://europaverbinden.de/wp-content/uploads/W.J.-Brgerkrieg-in-Frankreich.-Der-P%C2%BFre-Lachaise-ein-Erinnerungsort-der-Commune.pdf

Weitere Blogbeiträge mit Bezug zum Père Lachaise und zur Commune:

Das multikulturelle, aufsässige und kreative Belleville: Modell oder Mythos?

Gegenstand dieses Beitrags ist das Stadtviertel Belleville im 20. Arrondissement von Paris. Belleville weist –ähnlich wie der Faubourg Saint Antoine- keine Sehenswürdigkeiten im traditionellen Sinne auf und wird deshalb von den üblichen Reiseführern eher nicht beachtet. Es ist aber ein außerordentlich lebendiges, facettenreiches Viertel, dessen Besuch unbedingt zu empfehlen ist. Es ist ein  Ort der Kunst, vor allem auch der Street-Art, ein  Ort politischen Engagements in Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt das multikulturelle Viertel von Paris. Hier wird Belleville oft Modellcharakter zugesprochen, der allerdings in letzter Zeit  immer mehr in Frage gestellt wird. Ist Belleville also auf dem Weg vom Modell zum Mythos? Ich kann die Frage stellen; ich kann auch erläutern, warum man sie sich stellen  kann oder vielleicht sogar muss, beantworten kann ich sie aber nicht.

Der Bericht enthält folgende Abschnitte:

  1. Das Belleville des Wassers und des Weins
  2. Das Belleville der Arbeiter und Handwerker
  3. Das Belleville der Commune
  4. Das –immer noch- linke Belleville
  5. Das Belleville der Guinguettes und der Ballsäle
  6. Das Belleville der Künstler und der Bobos
  7. Das Belleville der Street Art
  8. Das multikulturelle Belleville (Juden, Tunesier, Schwarzafrikaner, Chinesen)

Wenn von Belleville die  Rede ist, fehlt fast nie die Betonung des multikulturellen Charakters des Stadtviertels: Es ist ein „Babel“, ein „laboratoire de la diversité“, une „terre d’asile et d’accueil de populations aux provenances multiples“, geprägt vom „exotisme des communautés mélangées.  „C’est un lieu emblématique des quartiers pluriethniques à la française“, wie es in einer Präsentation des Viertels durch das Pariser Immigrationsmuseum heißt.[1] In der Tat leben dort auf engem Raum zusammen bzw. nebeneinander alteingesessene Franzosen[2], Nordafrikaner. Schwarzafrikaner und Chinesen- bzw. Menschen afrikanischer, asiatischer oder karibischer Herkunft; Chrsten, Juden,  Mohammedaner, Bouddhisten und sicherlich auch Atheisten.

Im Gegensatz zu Arrondissements, wo die Weißen weitgehend unter sich sind (wie im 16.), die Chinesen (wie  im „Chinatown“ des 13. Arrondissements) oder die Afrikaner -bzw. ihre jeweiligen Nachkömmlinge im Goutte d’Or (siehe den entsprechenden Blog-Beitrag vom Mai 2016) leben hier Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Ein quartier pluriethnique ist Belleville also ganz gewiss. Wenn allerdings mit dem Zusatz à la français das vielbeschworene „modèle français d’intégration“ gemeint ist, also eine die Unterschiede von Herkunft, Hautfarbe und sozialem Status überwindende Integration in das republikanische Frankreich mit seinen Werten und Idealen, dann ist nicht ganz sicher, inwieweit Belleville hier noch als Modell gelten kann, sondern eher ein Mythos ist. Dazu am Ende dieses Beitrags mehr.

Belleville ist auch darüber hinaus ein Stadtviertel ausgeprägter diversité: soziologisch, indem hier ganz verschiedene Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen zusammen leben:  Handwerker, Künstler, Händler, sehr viele Arme, aber auch sogenannte BoBos, also jüngere, gut verdienende Menschen, die oft im  Kreativbereich arbeiten.  Am Stadtbild lässt  sich die große Vielfalt des Viertels ablesen: Es gibt ein paar wenige Zeugen der mittelalterlichen Vergangenheit, stellenweise ist noch etwas von dem ehemaligen ländlichen und kleinbürgerlichen Charme zu spüren; es gibt sukzessive Fluchten von Hinterhöfen, die auf den ehemaligen Parzellen von Gemüsefeldern errichtet wurden, und es gibt die HLM-Kästen des sozialen Wohnungsbaus als Zeugen der teilweise brutalen Sanierungs-Bemühungen, denen Belleville seit dem 2. Weltkrieg ausgesetzt war und ist. Auch in dieser Hinsicht ist Belleville also ein patchwork-Viertel. Sein Reiz erschließt sich wohl nicht auf den ersten  Blick, aber es lohnt sich, durch das Viertel zu streifen und auf Entdeckungstour zu gehen. Vielleicht kann dieser Text  dazu anregen.

Ein idealer Ausgangspunkt für eine solche Entdeckungstour ist übrigens der Belvedère de Belleville an der Ecke zwischen der Rue Piat und der Rue des Envierges am nördlichen Rand des Parc de Belleville.

Von dort aus hat man  einen der besten Panorama-Blicke über Paris, es gibt ein schönes Café und in dem Amphitheater unter dem Belvedere, das  von dem Street-Art-Künstler Seth ausgemalt wurde,  gibt es im Sommer öfters Konzerte. Ein Ort „à  ne pas manquer!“, wie es in einschlägigen  Führern heißt. (2a)

Seth Belleville IMG_1996

1. Das Belleville des Wassers und des Weins

Im 18. Jahrhundert war Belleville ein –wie der Name schon sagt-  schöner und beschaulicher Ort außerhalb von Paris. Hier wurde Gemüsen und vor allem Wein angebaut. Die Quellen der Hügel versorgten schon seit dem Mittelalter Paris mit sauberem Wasser, wohlhabende Pariser errichteten Landhäuser im Grünen, sogenannte folies (vom französischen Wort feuilles, Blätter, abgeleitet) und genossen die frische Luft. Davon ist heute nicht mehr viel zu sehen. Immerhin gibt es aber noch einige sogenannte mittelalterliche Regards.Das Quellwasser aus den Hügeln von Belleville und Ménilmontant wurde in steinernen Kanälen zu diesen Regards geführt, dort gesammelt und auf seine Qualität geprüft – deshalb auch der Name „regard“- und dann zu den Verbrauchern weitergeleitet. Ein besonders schönes Exemplar ist der Regard St. Martin in der Rue des Cascades – einer von mehreren Straßennamen in Belleville, die an die Bedeutung des Wassers  für dieses Viertel erinnern.

019 IMG_4837

In der lateinischen Inschrift des Regard wird festgestellt, dass das hier gefasste Wasser für den gemeinsamen Gebrauch der Geistlichen von Saint-Martin de Cluny (oder Saint-Martin des Champs, dem heutigen Museum Arts et Métiers) und ihren Nachbarn, den Tempelherren, bestimmt war. Nach längerer Vernachlässigung der Anlage sei sie in den Jahren 1633 und 1722  von den Quellen an wiederhergestellt worden.[3]

Von den Weinstöcken und Gemüsefeldern ist heute nichts mehr zu sehen: Ihre Parzellen sind aber z.T. noch an der Topographie ablesbar: Da wo heute in der Rue de Bellville enge, langgestreckte Grundstücke mit mehrstöckigen Wohnblöcken und sukzessiven Hinterhöfen dicht bebaut sind, wurde im 19. Jahrhundert Gemüse  gepflanzt. Und im oberen Teil des Parc de Belleville gibt es noch –zur Erinnerung an die Weinbau-Tradition des Viertels- ein kleines Feld mit Weinstöcken…

2. Das Belleville der Arbeiter und Handwerker

Im Zeitalter der Industrialisierung siedelten sich in  Belleville zahlreiche Handwerks—und kleine Industriebetriebe an. Schwerpunkte waren die Textil-, Leder- und Metallverarbeitung. Dazu kamen die Steinbrüche, die im Norden des Viertels betrieben wurden, die carrières d’Amerique. Sie verdanken ihren Namen der Legende, der hier gebrochene Stein sei teilweise nach Amerika exportiert und zum Bau des Weißen Hauses verwendet worden. Die letzten Steinbrüche in Belleville wurden 1873 geschlossen. Da war Belleville schon das erste Arbeiterviertel von Paris geworden, das Einwanderern zunächst aus ärmeren Gegenden Frankreichs, vor allem der Auvergne, dann aber auch Flüchtlingen aus anderen Ländern die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben gab.[4] Dazu kamen dann noch die Beschäftigten vieler  kleiner Industrie- und Handwerksbetriebe, die von dem radikalen Stadtumbau des Barons Haussmann aus Paris vertrieben worden waren und sich das Leben in der zunehmend bourgoisen Stadt nicht mehr leisten konnten.

All das waren gute Voraussetzungen für ein reges politisches Leben. Belleviille hatte sich schon während der Französischen Revolution als politisch aktiver Ort hervorgetan: 1791 wurde in der rue de Belleville 130 ein Club des Amis de la Constitution gegründet, der sich ein Jahr später in Club des Amis de l’Égalité et de la  Liberté umbenannte.[5] Im Juli 1840 wurde von Anhängern des Frühkommunisten Babeuf in Belleville das sogenannte Banquet communiste de Belleville organsiert, das erste seiner Art mit ca 1000 Teilnehmern.[6] Dabei handelt(e) es sich um  ein typisch französisches Mittel zur Umgehung des Verbots politischer Veranstaltungen, das auch kürzlich wieder im benachbarten Ménilmontant genutzt wurde, um gegen den Ausnahmezustand zu protestieren.[7]  Mit der Industrialisierung entwickelte sich auch die Arbeiterbewegung in Belleville: Erste Arbeiterassoziationen  entstanden hier und 1877 die erste Pariser Cooperative. Das war in dem Maison du Peuple de la Bellevilloise. Während oben im ersten Stock der sozialistische Parteiführer Jean Jaurès Versammlungen abhielt, wurde im Erdgeschoss im Sinne des Proudhon’schen mutuellisme associatif ein genossenschaftlich organisierter fairer direkter Handel zwischen Herstellern und Produzenten eingerichtet. Vor dem ersten Weltkrieg hatte die Bellevilloise 9000 Mitgliedern  und war damit die größte Genossenschaft Frankreichs. Die Bellevilloise gibt es heute immer noch- und sie ist immer noch ein Ort mit großer politischer und kultureller Ausstrahlung, von dem noch weiter unten die Rede sein wird. [8]

 Von dem Belleville der kleinen Handwerker und Arbeiter ist heute allerdings nicht mehr viel zu sehen. Die klandestinen chinesischen Textilmanufakturen, die es in Hinterhöfen noch geben soll, wird man kaum finden. Auch nicht mehr die bis vor wenigen Jahren noch in Belleville ansässigen Schuhmacher, die maßgeschneiderte Schuhe zu durchaus konkurrenzfähigen Preisen herstellten, wie uns Freunde aus Belleville berichteten.

Aber es gibt noch die Metallwerkstatt in der Rue Ramponneau und den aktuellen Kampf um ihre Erhaltung.

48, rue Ramponeau IMG_5026

Diese Werkstadt liegt in einem malerischen Hof –zusammen mit den Ateliers verschiedener Künstler. Die Einrichtung erscheint zwar ziemlich museal, aber offenbar verfügt der Betrieb über ein besonderes und immer selteneres savoir-faire/know how, das mit dem von der Stadt Paris zunächst geplanten  Verkauf des ganzen Areals an einen privaten Investor und einer neuen Nutzung als Jugendherberge wohl verloren gegangen wäre.

48, rue Ramponeau Gresillon IMG_5029

Inzwischen hat die Stadt Paris nach energischen Protesten aus dem Viertel – mit mehreren Protestveranstaltungen in der Bellevilloise- wohl eingelenkt, so dass einer der letzten traditionellen Handwerksbetriebe von Belleville vielleicht doch erhalten bleibt und die  Ateliers der Künstler im Hof damit wohl auch.

Am Eingang zum Hof  gibt es  übrigens zwei Erinnerungstafeln für Widerstandskämpfer, die hier gewohnt haben – auch das gehört zu Belleville.

IMG_4758

Etwas weiter unten in der rue  Ramponneau gibt es übrigens eine ehemalige kleine metallverarbeitende Fabrik, in der inzwischen Ateliers untergebracht sind, die Künstlern jeweils für eine begrenzte Zeit zur Verfügung gestellt werden: Die Villa Belleville. Die Laufbänder der Dampfmaschine  in der ehemaligen  Fabrikhalle schaffen ein ganz besonderes Ambiente.

Villa Belleville Rue Ramponeau (1) - Kopie

3. Das Belleville der Commune

Im Zuge der 1860 durch den Baron Haussmann vorgenommenen Einteilung der Stadt in 20 Arrondissements wurde Belleville zerschnitten und auf die neuen Arrondissements 19 und 20 aufgeteilt: Ein Versuch, den notorisch aufsässigen Stadtteil nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ zu pazifizieren- so wie das Haussmann ja auch mit dem Faubourg Saint-Antoine gemacht hatte, der zwischen dem 11. und 12. Arrondissement aufgeteilt wurde. Und die neuen Rathäuser der betroffenen Arrondissements wurden extra weit entfernt voneinander errichtet, um auch insofern die Kommunikation und Koordination zu erschweren. Genutzt hat das allerdings wenig, wie die Commune de Paris von 1871 gezeigt hat. In Belleville wurde während der semaine sanglante an der letzten Barrikade noch verzweifelter Widerstand geleistet[9], bevor dann auf dem Père Lachaise die letzten Kämpfer der Commune erschossen wurden.

018

Graffiti an der Mauer gegenüber  dem Regard St Martin        
DSC01244 Belleville 1871 (1)       

und an der Rue Ramponeau

IMG_4761

            Erinnerungstafel an die letzte Barrikade der Commune am  Südeingang des Parc de Belleville.  Darüber der Ziergiebel  der  alten Kinderkrippe la Goutte de Lait

Zu Ehren der Communarden von Belleville ist übrigens geplant –und von dem Pariser Stadtparlament schon beantragt- die Métro-Station Belleville umzubenennen in Belleville-Commune de Paris 1871.[10]

 

4. Das –immer noch- linke Belleville

Bis auf den heutigen Tag ist der Nordosten und Osten von Paris überwiegend links –im Gegensatz zum eher konservativen/bourgeoisen Westen, wie sich zuletzt wieder eindrucksvoll bei den Kommunalwahlen gezeigt hat. Da entscheiden dann  zwei, drei Arrondissements in der Mitte, wer schließlich die Mehrheit im Conseil, also der Stadtverordnetenversammlung,  erhält und damit den/die Bürgermeister/in bestimmen kann: Bei der Wahl von 2014 waren das die Sozialisten und die mit ihnen verbündeten Grünen, so dass seitdem die Sozialistin Anne Hidalgo  Bürgermesterin (la maire) ist.

4388321_5_3cac_les-arrondissements-de-paris-au-soir-du-premier_6881259e1d42b3488f7156d926cee9b8

  (blau: Republikaner (vormals UMP); rot: die Linke (Sozialisten, Grüne)

Es ist insoferrn auch kein Zufall, dass die Organisatoren der Bewegung für eine primaire der Linken als Versammlungsort für ihre Auftaktveranstaltung Anfang Februar 2016 die Bellevilloise ausgewählt haben. Da waren  (fast) alle versammelt, die auf der Linken Rang und Namen haben: Vertreter des linken Flügels der Sozialistischen Partei (die sogenannten Frondeurs) und der PCF, prominente Wissenschaftler wie der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und Vertreter der Grünen wie die ehemalige Wohnungsbau-Ministerin Cécile Duflot und die –kurz danach- zur Ministerin aufgestiegene (und dann als Parteivorsitzende der Grünen zurückgetretene) Emmanuelle Cosse- und last but not least der gute alte Dany Cohn-Bendit.[11] Jedenfalls habe ich noch nie –und so hautnah- so viel linke Prominenz zusammen gesehen.

IMG_5830

Die Chancen, dass es 2017 einen von der gesamten Linken unterstützten gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten geben wird, sind allerdings äußerst gering. Hollande tut ja so ziemlich alles nur Erdenkliche, um die Linke zu spalten (sein letztendlich gescheitertes Vorhaben, die Aberkennung der französischen Staatsangeörigkeit gesetzlich zu verankern, oder die völlig unprofessionelle Einführung und provokante Durchsetzung der Arbeitsrechts-Reform). Außerdem hat der unsägliche Jean-Luc Mélenchon schon einseitig seine Kandidatur angekündigt. Angesichts der damit zu erwartenden Zersplitterung der linken Stimmen im ersten Wahlgang wird es wohl im entscheidenden zweiten Durchgang auf einen Zweikampf zwischen Marine Le Pen und dem Kandidaten der Republikaner hinauslaufen. Und da kann man nur hoffen, dass das nicht der –ebenfalls unsägliche-  Sarkozy sein wird, sondern wenigstens Alain Juppé….

 Dass wir uns in Belleville sozusagen auf linkem Terrain befinden, wird immer wieder deutlich, wenn man mit offenen Augen durch das Viertel geht: Beispielsweise wenn man an Hauswänden die eindrucksvollen Versuche sieht, die aktuelle Flüchtlingsproblematik –in französischer Perspektive i.a. sonst allein auf Calais reduziert- künstlerisch/plakativ zu bearbeiten.

Rue des Couronnes IMG_4774

 Rue des Couronnes IMG_4773 Hier wird –zunächst etwas überraschend- das Nomen und Adjektiv étranger als Verb verwendet und durchkonjugiert. Dazu gibt es unten auf dem Plakat folgende Fußnote: Le verbe étranger a existé. Il signifiait „chasser, éloigner, bannir“. La quatrième édition du Dictionnaire de l’Académie de 1762 donne comme exemples: „Les rats, les moineaux ont étrangé les pigeons du colombier“ et „Il a étrangé les importuns qui venoient chez lui.“

Die deutsche Übersetzung: Das Verb étranger hat es gegeben. Es bedeutete: verjagen, entfernen, verbannen. Die vierte Auflage des Wörterbuchs der Akademie von 1762 gibt diese Beispiele: Die Ratten, die Spatzen haben die Tauben aus ihrem Taubenhaus verjagt  und Er hat die unerwünschten/lästigen Personen verjagt, die zu ihm gekommen waren.

…. so wie –möchte/muss man wohl hinzufügen- ganz aktuell die étrangers im jungle von Calais….  Einen besseren Kommentar zu dem derzeit in Europa vorherrschenden Umgang mit Flüchtlingen kann ich mir jedenfalls kaum vorstellen. C’est Belleville!

Rue des Couronnes IMG_4775

 

5. Das Belleville der Guinguettes und der Ballsäle

Belleville war und ist aber nicht nur ein Ort politischen Engagements, sondern auch ein Ort des Vergnügens, des Feierns. Und dafür gab  es vor allem die Guinguettes, die im 19. Jahrhundert nicht nur weiter außerhalb von Paris –an Seine und Marne- sondern gerade auch in Belleville ihren Platz hatten. Für Wein- und Vergnügungslokale war Belleville ein idealer Standort: Wein –den leichten Weißwein Guiguet- gab es dort ja sozusagen sur place und vor allem: Belleville lag bis zur Eingemeindung 1860 außerhalb der Stadtgrenze von Paris und damit außerhalb der Zollgrenze und Zollmauer -der mur des fermiers généraux–  mit der Paris kurz vor der Französischen Revolution umgeben wurde. Nach Paris eingeführte  Waren, auch Grundnahrungsmittel wie Zucker, Salz, Mehl und Wein, wurden hier mit einem Zoll belegt, um die maroden Staatskassen aufzufüllen. Was lag da näher, als seinen Wein ein paar Schritte außerhalb der verhassten Zollmauer preisgünstig in geselliger, anregender Atmosphäre in Montmartre oder eben Belleville in einer guinguette zu trinken. Das galt besonders für das einfache Volk, während es die bürgerlichen Pariser eher am Wochenende in die etwas eleganteren Guinguettes an Seine und Marne zog, die dann auch den Impressionisten als Motive dienten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Belleville ein Ort, „wo  man sich amüsidert, wo man spazieren geht, wo die Verliebten sich treffen.“ (Gerard Jacquemet)  Und wo man in einer Guinguette seinen Schoppen trinken kann. Guinguettes gab es in ganz Belleville: Weiter oben  zum Beispiel gegenüber der Kirche St. Jean Baptiste die Ile d’amour, die sogar in einem Lied besungen wurde. Eigentlich verdankt sie ihren Namen schlicht ihrem Besitzer, einem Herrn Damour,  aber als Insel der Liebe  war die Guinguette natürlich viel anziehender.

L’ile d’amour

C’est un amour d’ile

L’ile d’amour

C’est un chouette séjour

Flaneurs du faubourg

Flaneurs de la ville

V’nez à l’ile d’amour[13]

Später wurde dann in dieserm Vergnügungslokal die Mairie von Belleville installiert, bis nach der Eingemeindung die neuen Rathäuser gebaut wurden. Auch eine schöne Belleville-Geschichte!

Weiter unten in der Nähe der Zollmauer (heute Boulevard de la Viillette/Boulevard de Belleville) gab es natürlich auch zahlreiche Guinguettes – die mit einem unterirdisch verlegten Seil gezogene Straßenbahn nach oben war noch nicht gebaut, die Métro  erst recht nicht; so konnte man sich am kurzen Feierabend den mühsamen Aufstieg sparen. Und direkt hinter der barrière de Belleville, einem Durchgang durch die Zollmauer an der heutigen Métro-Station Belleville, gab es auch große Ballsäle: So La Veilleuse –heute eine gewöhnliche Eckkneipe-, deren Spiegel 1918 durch ein Geschoss der Dichen Berta beschädigt worden war. Dort trafen sich am 13. Juli 1941 junge Kommunisten, sangen Freiheitslieder und feierten den 14. Juli.

Und gleich daneben lag der größte Ballsaal von Paris, der dem Weinhändler Denoyez gehörte. Auch dort gehörten Politik und Vergnügen in einer für Belleville charakteristischen Kombination zusammen: Da wurde getanzt, gefeiert und getrunken und Gambetta und Vallès hielten dort am Ende der Herrschaft Napoleons III. die meisten ihrer Reden.[14] Dieser Ballsaal wurde später  umbenannt in  Folies Belleville, die ihre große Zeit in der sogenannten „belle époque“ hatte.

folies_belleville_1880

Plakat von 1880

Heute ist das eine schlichte, aber  fast immer voll besetzte Bar zwischen der (ehemaligen) Graffiti-Straße rue Denoyez und der rue de Belleville , in der man gut einen Apéro oder einen Pfefferminztee trinken kann.  Es wird aber noch an die glorreiche Vergangenheit erinnert, als beispielsweise Maurice Chevalier und natürlich vor allem Edith Piaf hier auftraten.

IMG_6082  IMG_6081

Edith Piaf wurde ja immerhin –der Legende nach- ein paar hundert Meter weiter oben in der Rue de Belleville auf den Stufen der Nr. 72 geboren.

IMG_6100

Eiine Gedenktafel  über dem Eingang  erinnert daran.

IMG_6099

Das an der alten Zollmauer gelegene Amüsierviertel von Belleville wurde auch Courtille genannt. Besonders berühmt war es für seinen alljährlichen grotesken Aschermittwochs-Umzug von der barrière de Belleville, die auch barrière de la Courtille genannt wurde, bis zum Hôtel de Ville. Zu diesem Umzug trafen sich alle, die die Nacht davor in Belleville oder sonstwo in der Stadt oder ihrer Umgebung durchgefeiert hatten. Die Descente de la Courtille war so populär, dass sie vielfach in Bildern festgehalten wurde. Und kein Geringerer als Richard Wagner komponierte während seiner Pariser Jahre dazu ein kleines 1841 aufgeführtes Chorwerk: Descendons gaiement la courtille (WWV 65)[15], das allerdings leider nicht zu meinem Pariser Chorrepertoire gehört. Es sieht auch nicht so aus, als dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, zumal mein „Heimatchor“ sich gerade in lacrima voce umbenannt hat- dazu passt die Courtille ja nun wirklich nicht…

6. Das Belleville der Künstler und der Bobos

Dass Belleville ein bevorzugter Ort für Künstler ist, erkennt man sofort, wenn man durch die Straßen des Viertels schlendert. Überall gibt es kleine Galerien von Malern, Bildhauern, Graveuren, Kunsthandwerkern aller Art. In jedem Jahr veranstalten die Künstler von Belleville Tage der offenen Ateliers, an denen sie ihre Werke ausstellen, gerne erläutern und natürlich auch am liebsten verkaufen. 2016 waren über 250 Künstler beteiligt: Ein eindrucksvoller Beleg für das rege künstlerische Leben des Viertels.

images Artistes de Belleville

Mit den roten  Luftballons auf dem Plakat für die Tage der offenen Ateliers von 2015 hat es übrigens seine besondere Bewandtnis- doch dazu mehr im Abschnitt über die Street Art in Belleville. Der rote Ballon wurde übrigens auch  im Frühjahr 2016 von den  Künstlern von Belleville als Hintergrundsmotiv verwendet, um gegen die Vertreibung von Handwerkern und  von Künstlern aus dem Hof der Rue de Ramponeau zu protestieren (siehe Abschnitt 2) und die „mixité“ des Viertels zu erhalten.

IMG_6200

Plakat am Sitz der Artistes de Belleville in der Rue Francis Picabia Frühjahr 2016

Mit einem  Künstler aus Belleville, Carlos Lopez/Juan de Nubes, sind wir übrigens  befreundet.

013

Er ist Graveur und eines seiner neuesten Werke hängt bei uns in der Pariser Wohnung. Es  ist auch ausgerechnet das, mit dem er sich auf der Website der Künstlervereinigung von Belleville vorstellt,[17] – ein Wald im Norden von Berlin, wo Carlos auch arbeitet- und die Farbe der Gravur ist preußisch Blau – also gewissermaßen ein deutsch-französisches Produkt.

8002-detail-himmelpforter-tor-bdf-235x141

Carlos hat sein Atelier am südlichen  Ausgang des Parc de Belleville. Es ist klein, aber ein schöner ruhiger Ort zum Arbeiten und für kleine Ausstellungen. Aber Carlos hat auch Sorgen, ob er auf Dauer dort bleiben  kann oder ob nicht steigende Mieten ihn zum Ortswechsel zwingen werden – und mit diesen Sorgen steht er  nicht alleine da.

Damit ist der Prozess der Gentrifizierung oder Boboisation angesprochen, der in Belleville zu beobachten ist – womit es das Schicksal auch anderer Pariser Stadtviertel (z.B. des Faubourg Saint Antoine) teilt. Freunde haben uns zum Beispiel berichtet, wie sich in den letzten Jahren immer  mehr feine Boutiquen in der Rue de Belleville um die Métro -Station Jourdain- ausbreiten. Belleville wird (jedenfalls in Teilen) zu einem Viertel der BoBos, der Gruppe der bourgeoisen Bohémiens, die das neue Angebot der teuren Weine und exquisiten Käsesorten zu schätzen wissen und sich leisten können. Die Attraktion von Belleville für die Bobos hat schon Tradition: In der Villa Castel, einem „ensemble harmonieux et campagnard“ aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, [18] oberhalb des Parks von Belleville hat Truffaut 1961 einige Szenen seines Films „Jules et Jim“ gedreht: Mit dem Begriff „Villa“ ist hier -wie an vielen anderen Orten in Paris- ein abgeschlossener nobler Bezirk von Wohnungen und Häusern gemeint, zu dem man -wenn man denn den entsprechenden Code kennt- durch das schmiedeeiserne Eingangstor und einen langen begrünten Gang gelangt. An dessen Ende befindet sich ein „maison féérique“, in dem  die beiden Freunde Jules und Jim in einer Dreiecksbeziehung mit der von Jeanne Moreau wunderbar verkörperten Cathérine leben. Und hier singt Moreau auch das schöne Lied Le Tourbillon: „Elle avait des bagues à chaque doigt, des tas de bracelets… »

IMG_4846

Download Jules et Jim

Vorbild ist die leidenschaftliche deutsch-französische Beziehung von  Franz und Helen Hessel, den Eltern von Stéphane Hessel, und  Henri-Pierre Roché.   Diese Geschichte passt wunderbar zu dem Mythos von Belleville, wie er auch in einem Pochoir der Pariser Street-Art-Künstlerin Miss Tic zum Ausdruck gebracht wird.

1238776343Miss Tic Belleville

Glücklicherweise ist die Villa Castel den gewaltsamen Sanierungsmaßnahmen in Belleville entgangen und steht seit 1979 unter Denkmalschutz. Andere, ähnliche Ensembles in diesem Viertel hatten diese Chance nicht, wie der Guide Vert (S. 48) bitter anmerkt.

Zu hoffen ist, dass trotz der Sanierungsmaßnahmen des Viertels seine Boboisierung nicht noch begünstigt wird und die Wohnungspreise und Mieten so steigen, dass es für Künstler wie Carlos Lopez und viele andere nicht mehr tragbar ist. Bisher scheint aber die soziologische  Vielfalt des Viertels immer noch zu bestehen. Auch das Kleinbürgertum ist anscheinend in Belleville noch nicht untergegangen , worauf ein Blick in einen Vorgarten in der Rue des Couronnes hindeuten könnte.

IMG_4844

Wenn man aber einen Blick auf das ursprüngliche, authentische Belleville werfen will, sollte man sich den wunderbaren Bildband von Willy Ronis „Belleville Ménilmontant“ ansehen. (zuerst 1954, Neuauflagen 1989 und -mit Texten von Didier Daeninckx- 1999.

DSC01251 Ausstellung Willy Ronis August 2018 (7)

Über seine Beziehung zu Belleville sagte Ronis:

„J’ai vécu à Belleville des bonheurs personels et des bonheurs photographiques, pour moi cela ne fait qu’un, c’est le bonheur tout court.“ 

7. Das Belleville der Street art

Auf welchen Wegen auch immer man  durch Belleville streift: Street-art begegnet man auf Schritt und Tritt.Belleville hat dafür schon einen Ruf, und die rue Denoyez im unteren Belleville wird in manchen Führern sogar als sogenannter Geheimtipp gehandelt- eher stimmt aber,  dass es sich um die wohl berühmteste Straße des 20. Arrondissements handelt.[19]

036    040

Alle Wände der Häuser sind nämlich über und über mit Graffiti bedeckt, manchmal kann man auch Sprayer bei der Arbeit beobachten und bewundern. Allerdings ist die Straße inzwischen arg heruntergekommen, die meisten Boutiquen und Ateliers sind geschlossen. Kein Wunder, denn es handelt  sich um ein Sanierungsprojekt: Eine Kinderkrippe, Sozialwohnungen und Unterkünfte für alleinstehende Frauen sollen hier entstehen: Sicherlich sind das alles sehr zu begrüßende Vorhaben. Die Straße wird dann aber ihren Reiz verloren haben, wenn Künstler und Street-Artisten dort nicht mehr ihren Platz haben. (Nachtrag September 2018: Inzwischen stehen schon die Rohbauten der neuen Häuserzeile. Damit hat die Straße einiges von ihrem alten anarchischen Charme verloren.) Entdecken kann man immerhin noch einiges- zum Beispiel den schönen Dialog zur Rolle der Frau an zwei Häusern der Straße:

Das zweite Statement  befindet sich an dem sehr empfehlenswerten gemütlichen Lesecafé Le barbouquin in der rue Donoyez 1 an der Ecke zur rue Ramponeau.

DSC01422 Street art belleville barbouquin (6)

DSC01422 Street art belleville barbouquin (4)

Dort haben Kam und Laurene nicht nur außen den Fries mit ihren großäuigen Figuren gestaltet haben, sondern waren -neben anderen Street-Artisten-  auch innen aktiv. (19a)

Fries von Kam & Laurene in der rue Denoyez über dem Café Le barbouquin

DSC01422 Street art belleville barbouquin (3)

Es gibt ein Werk eines bekannten Street-Art-Künstler in Belleville, das wohl auf Dauer zu den touristischen Attraktionen des Viertels gehören wird: Das große Wandbild von Ben an der Place Fréhel, das bei den ab und zu angebotenen Street-art-Spaziergängen durch Belleville nicht fehlen darf.

029

Ben ist der wohl international prominenteste in Belleville vertretene Street Art-Künstler. Er war in den 1960-er Jahren Mitglied der Fluxus-Kunstrichtung, zu der auch u.a. Bazon Brock, John Cage, Yoko Ono und Joseph Beuys gehörten, auf der Dokumenta in Kassel war er auch schon vertreten.  Besondere Berühmtheit erlangte sein kleiner Plattenladen, den er von 1958 bis 1973 in Nizza betrieb. Seine Mutter hatte ihm dafür die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt, um ihm eine gesicherte Lebensgrundlage zu ermöglichen. Die Aufsehen-erregende Fassade des kleinen Lädchens war aus allen möglichen gebrauchten Gegenständen zusammengesetzt: Motto über der Eingangstür: Tout est art, tout est marchandise/ Alles ist Kunst, alles ist zu verkaufen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde vor einigen Jahren Bens Lädchen- auch „Bizard Bazar“ oder Loboratoire 32 genannt-  in der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt ausgestellt; die  letzte Version kaufte das Centre Pompidou auf, wo sie heute ausgestellt ist.

Ein fester Bestandteil der Street-art-Szene von Belleville sind auch die Wandbilder von Nemo, vor allem die Bemalung der Hauswand an der Ecke des Boulevard Belleville und der Rue de Ménilmontant. Ursprünglich sollen, so die „Legende“, die poetischen Wandmalereien Momos mit dem schwarzen Mann –oft mit Regenschirm-  mit fliegendem Drachen, Vögeln,  Katzen  und dem roten  Luftballon dem kleinen schulunwilligen Sohn Nemos den Weg zur Schule schmackhaft gemacht haben.

006 (2)

Der rote Luftballon bezieht sich auf den Kurzfilm „Le Ballon rouge“ von Albert Lamorisse aus dem Jahr 1956, der mit der Goldenen Palme von Cannes und sogar mit einem Oskar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet wurde: Er spielt im Ménilmontant der 50-er Jahre und es geht um einen magischen Ballon, der den kleinen Jungen Pascal auf Schritt und Tritt begleitet. Eine zauberhafte Geschichte, an deren Ende aber die Zerstörung des Luftballons durch eifersüchtige Altersgenossen –und damit das Ende der Kindheit- steht. Für viele französische Kinder der 50-er Jahre war der „rote Ballon“ geradezu ein Kultfilm, wie die hymnischen Kommentare zu dem Film zeigen, die man im Internet findet. („Ein wahres Wunder“; „meine Kindheit“; „unbestreitbar einer der besten Kurzfilme aller Zeiten“). Auch wenn Nemo den kleinen Pascal durch den bonhomme noir ersetzt hat, so knüpft er  mit seinen poetischen Bildern  an diesen Film –und seinen Erfolg- an.

Zu den inzwischen prominenten Straßenkünstlern von Belleville/Ménilmontant gehört auch Jerôme Mesnager, dessen „Markenzeichen“ die weißen Männer sind. Zum Ursprung der weißen Männer gibt es eine schöne Geschichte: Während seines Kunststudiums habe sich Mesnager in bester Laune mit seinen Kumpeln nackt ausgezogen, mit weißer Farbe bestrichen und an eine Wand gestellt. Wie auch immer: Inzwischen sind die weißen Männer aus dem Stadtbild –besonders im Pariser Osten, aus dem Mesnager stammt- nicht mehr wegzudenken.  

017  016

Schneiderei und Frisiersalon Rue de Jourdin

In der Rue de Jourdin hat auch Mosko mit seinen bunten Tieren die Grundschule verziert.

006 (3)

Seine Schmetterlinge umflatterten ja schon die beiden weißen Männer Mesnagers auf dem Fenster des Frisiersalons: Straßenkünstler arbeiten – das zeigt sich hier wie auch an anderen Stellen in Belleville- gerne zusammen.

Aber der für Mosko typische Tiger ist natürlich auch dabei.

003.JPG

Und selbstverständlich darf auch in Belleville der Invader nicht fehlen, der hier  -unter anderem- mit zwei recht originellen Beiträgen vertreten  ist

IMG_6093  IMG_6096

Der Invader an der Ecke der Rue Mélingue und der Rue de Belville befindet sich übrigens in prominenter Gesellschaft: Das Pariser Wappen unter dem Giebel stammt nämlich aus der Zeit, als hier das Depot der Drahtseilbahn war, die –nach dem Muster des cable-car von San Francisco konstruiert-  von  der  Place de la Republique über die rue de Paris/rue de Belleviille zur  Kirche St. Jean führte. 1924 wurde der Betrieb eingestellt und 1935 die Métro-Linie 11 eingeweiht, mit der der Hügel von Belleville ans Métro-Netz der Stadt Paris angeschlossen wurde.

Es lohnt sich also, durch Belleville zu streifen und die Augen offen zu halten: Da findet sich vieles Interessante, Überraschende und auch immer Neues wie die oben gezeigten Werke zur Flüchtlingsproblematik, denn –von den prominenten Künstlers abgesehen, deren Arbeiten man auch in Galerien sehen und für viel Geld erwerben kann – ist street art eine ephemere Kunst und einem ständigen Wandel unterworfen. Und da viele street-art-Künstler in Belleville und dem benachbarten  Ménilmontant zu Hause sind, ist Belleville geradezu ein Eldorado für Street-Art-Freunde.

IMG_4840

Das ist oft einfach nur phantasievoll und schön und eine Bereicherung des teilweise doch eher tristen Straßenbildes.

IMG_4839

Aber es gibt dabei auch immer wieder politische Botschaften, wie das in Belleville auch kaum anders sein kann. Das kann dann die Liberté von Delacroix sein, die das Schild von Pôle emploi, der französischen Arbeitsagentur in die Höhe hält- ein  Hinweis auf die hohe Arbeitslosigkeit; oder das alte Ehepaar in seinem aus Karton gefertigten Bett- ein Hinweis auf die vielen SDF in Paris, die Menschen ohne einen festen Wohnsitz, die ihre Nächte –selbst im Winter- im Freien  verbringen müssen.

035  IMG_1560

Dieses Problem wurde dann noch drastischer 2015 in einer Aktion am Fuß des Parks von Belleville aufgegriffen. Da wurde an die  auf der Straße gestorbenen Obdachlosen erinnert – es ist statistisch gesehen jeden Tag einer in Frankreich.

035 (2).JPG

Das 21. Arrondissement gibt es nicht: Die Obdachlosen haben eben kein zu Hause.Und manchmal kennt man nur den Vornamen.

037

Ein sehr eindrucksvoller Erfahrungsbericht über seine Zeit als  Obdachloser in Belleville ist übrigens 2018 erschienen: Christian Page (avec Eloi Audoin-Rouzeau), Belleville au coeur. Page war Sommelier in einem noblen Pariser Restaurant, verlor aber dann gleichzeitig Arbeit, Frau und Wohnung  („le triple sacrement de la paisse„, wie er es nennt.) So verbrachte er drei Jahre auf dem Platz Sainte-Marthe in Belleville (10. Arrondissement), worüber er sehr anschaulich, keinenfalls larmoyant, manchmal sogar humorvoll  berichtet: Eine weitere Seite des vielfältigen Belleville.

8. Das multikulturelle Belleville

Am Anfang dieses Beitrags wurde die große multikulturelle Vielfalt angesprochen, der Belleville einen großen Teil seiner Attraktion verdankt. Dieser Aspekt soll denn auch zum Schluss aufgegriffen und wenigstens skizziert werden.

  • Juden, 

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer ersten großen ausländischen Zuwanderungswelle: Es waren Griechen, Polen, Armenier und vor allem Juden aus Ostmitteleuropa, die nach Belleville kamen. In den 1930-er Jahren  suchten  viele Juden aus  Deutschland, die  vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, in Belleville Zuflucht. Das Viertel wurde so zu einem „quartier juif“ mit einem intensiven Gemeinschaftsleben, einer Dominanz des Jiddischen und einer eindeutig politisch linken Tendenz- während im jüdischen Marais rund um die rue des rosiers, dem  Pletzl,  das orthodoxe Judentum vorherrschte. Das Belleville der Zwischenkriegszeit war auch ein Stedtl mit jiddischen Filmen im Kino Bellevue, einer CGT-Gewerkschaft, die auf ihrer Fahne eine jiddische Aufschrift hatte, der Synagoge in der rue Julien-Lacroix, in der jiddisch gesprochen wurde, und Restaurants, in denen gifiltefish und pickelfleish angeboten wurde. Der erste jiddisch geschriebene Roman über Paris bezieht sich denn auch auf Belleville: „Yidn fun Belleville“ (Baruch Schlewin, 1948)[21]

Allerdings sind die jüdischen Einrichtungen –wie die Synagoge und die jüdische Schule- heute kaum noch zu erkennen- höchstens durch die Präsenz von schwerbewaffneter Polizei, die leider aufgrund der zahlreichen Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Frankreich notwendig ist.  Deutlich zu identifizieren ist immerhin die neue Synagoge am Boulevard de Belleville, an der Stelle des „Bellevue“- Kinos mit seiner jiddischen Tradition, das, bevor es in den 1980-er Jahren als letztes Kino des Viertels zumachte, schließlich zum Porno-Kino heruntergekommen war, wie uns Freunde aus Belleville erzählten.

IMG_6080

Dass Bellville immer noch bzw. wieder auch ein jüdisches Viertel ist, ist für einen Außenstehenden vor allem an den zahlreichen jüdischen Geschäften rund um den  Boulevard de  Belleville zu erkennen.

Die eingewanderten Juden waren es vor allem, die den großen „rafles“ von 1941 und 1942  zum Opfer fielen. Die Bewohner ganzer Straßenzüge von Belleville, insgesamt mehr als 4000, wurden damals ausgerechnet in der Bellevilloise zusammengetrieben und dann über Drancy  nach Auschwitz deportiert.  Einer von ihnen war Henri Krasucki, nach dem heute ein Platz in Belleville benannt ist.

IMG_8931

An dem in der Mitte des Platzes stehenden Baum hängen alte Lampenschirme: Wir sind mitten in Belleville

IMG_8935

Krasuckis Lebensweg ist außerordentlich und wirft ein Licht auf den wichtigen jüdischen Anteil der spezifischen diversité  von Belleville:

Seine politisch engagierten Eltern flohen in den 1920-er Jahren vor dem Antisemitismus und Antikommunismus im Polen des Marschalls Pilsudski und fanden in Belleville Zuflucht.  Dort  betrieben sie eine kleine Schneiderei, der kleine Henri engagierte sich schon früh bei den „roten Pionieren“. Die standen  unter der Obhut der Bellevilloise-Kooperative, von der ja schon die Rede war. Unter der occupation war Krasucki führendes Mitglied in der Widerstandsgruppe FTP-MOI. 1943 verhaftet, wurde er nach Auschwitz deportiert und von dort aus 1945 auf den sog. Todesmarsch nach Buchenwald geschickt, den er aber überlebte. Nach dem Krieg stieg er – der stalinistischen KP- Linie immer treu- in die Führungsriege der kommunistischen  Gewerkschaft CGT auf, deren  Vorsitz er 10 Jahre innehatte: Ein Lebensweg also, auf dem Belleville eine wichtige und prägende Station war.

  • Tunesier

Seit den 1950- er Jahren wurde Bellevlle  durch die tunesische Einwanderung wieder zum bedeutendsten, jetzt sefardisch geprägten,  jüdischen Viertel von Paris. Tunesier kamen nach der Unabhängigkeit des Landes in großer Zahl nach Frankreich und Paris – und dort natürlich vor allem nach Belleville, das deshalb auch gerne „La Goulette sur Seine“ genannt wird, benannt nach einer tunesischen Stadt, die einen Teil der Hafenanlagen von Tunis umfasst. Gerade im Süden von Belleville gibt es viele tunesische Restaurants und Cafés. Wenn man also einen echten  thé à la menthe trinken oder, zum Beispiel in dem kleinen Restaurant „aux bons amis“ in der Rue de l’Atlas,  einen couscous essen will, braucht man in der Tat nicht die Reise von 1500 Kilometer nach Tunis zu unternehmen: Es reicht ein Spaziergang nach/durch Belleville.

DSC03859 au b ons amis Belleville

Die Tunesier, die sich in Belleville niedergelassen  haben, waren Juden und Muslime. Bemerkenswert ist dabei, dass nach der Selbsteinschätzung von Betroffenen in Belleville jüdische und muslimische Franzosen „mit tunesischem Migrationshintergrund“ in gegenseitigem Respekt zusammenleben und sich ihrer gemeinsamen Traditionen  bewusst sind. Selbst in der Zeit des letzten  Gaza-Kriegs, in dessen Zusammenahng es in Paris zum Teil zu gewaltsam ausgetragenen jüdisch-muslimischen Auseinandersetzungen kam, sei es in Belleville ruhig und friedlich zugegangen. Dies gilt offenbar auch für die  Zeit der Anschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt. Ein Pariser Jude berichtet im Nouvel Obeservateur unter der Überschrift Belleville, oui, Barbès, non, er habe den Eindruck, dass die i.a. nordafrikanischen Händler auf dem Straßenmarkt von Belleville/Ménilmontant seit den Anschlägen ihm gegenüber noch freundlicher geworden seien. In das mehrheitlich afrikanische Barbès-Viertel gehe er seitdem aber nicht mehr.Das kosmopolitische Modell von Belleville ist also insoweit offenbar immer noch lebendig.[23] Als Zeichen dafür kann auch gesehen werden, dass auf dem Boulevard de Belleville jüdische und muslimische Geschäfte direkt benachbart sind.

IMG_6062

Das jüdische Restaurant wirbt für seine tunesischen Spezialitäten mit dem Siegel von Beth Din, also damit, dass seine Produkte vom Rabbinat kontrolliert und genehmigt sind. Gleich daneben versichert die muslimische Metzgerei unübersehbar, dass ihre Produkte das Gütesiegel der Organsiation AVS (À Votre Service) tragen und damit halal en toute confiance sind.

IMG_6085

Aber leidler gibt es auch  in Belleville  Tendenzen der Reislamisierung und Radikalisierung, die das typisch Belleville’schen Modell des „vivre ensemble“  in Frage stellen- dazu mehr am Schluss dieses Beitrags.

  • Schwarzafrikaner

In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem Einwanderer aus den Antillen und aus Schwarzafrika, die sich  im südlichen Belleville rund um die Place Alphonse Allais niedergelassen haben.(23a)

IMG_1575

Hier wird einmal im Jahr ein großes Stadtteilfest gefeiert- mit dem  selbstbewußten Titel: Belleville en vrai. Und selbstbewusst treten auch die jungen Mädchen auf, die sich zu ihrer Herkunft bekennen und damit bei Wahl zur Miss Belleville besonderen Beifall ernten. Stolz auf seine Herkunft war auch der junge Mann, mit dem ich ins Gespräch kam und der bereitwillig für ein Foto posierte – das zweite Attribut -reich- war allerdings, wie er einschränkend bemerkte, eher ironisch gemeint.

Kopie Malien aus Belleville (2) - Kopie

Wie schwierig aber das Leben selbst in dem multikulturellen Belleville für Einwanderer aus einer anderen Kultur  sein kann, zeigt eindrucksvoll das Lied  C’est déjà ça von Alain Souchon über einen Einwanderer aus dem Sudan. Er ist fern von seiner Heimat, alles ist ihm fremd in der Rue de Belleville. Aber immerhin lächeln die Passanten, wenn er in seiner Djellabah vorbeigeht und tanzt. Und er hofft und träumt, dass der Sudan sich erhebt und er wieder zurückkehren kann… [24]

Je sais bien que, rue d’Belleville,
Rien n’est fait pour moi,
Mais je suis dans une belle ville :
C’est déjà ça.
Si loin de mes antilopes,
Je marche tout bas.
Marcher dans une ville d’Europe,
C’est déjà ça.Oh, oh, oh, et je rêve
Que Soudan, mon pays, soudain, se soulève…
Oh, oh,
Rêver, c’est déjà ça, c’est déjà ça.
Y a un sac de plastique vert
Au bout de mon bras.
Dans mon sac vert, il y a de l’air :
C’est déjà ça.
Quand je danse en marchant
Dans ces djellabas,
Ça fait sourire les passants :
C’est déjà ça.

Oh, oh, oh, et je rêve
Que Soudan, mon pays, soudain, se soulève…
Oh, oh,
Rêver, c’est déjà ça, c’est déjà ça.

Dass es in Belleville noch eine andere gerne übersehene „dunkle“ Seite der Einwanderung von „Blacks“ gibt, beschreibt der Autor von „Jours tranquilles à Belleville“  Thierry Jonquet, der in Belleville lebt und seine Veränderungen miterlebt:

Da gibt es die halbwüchsigen afrikanischen Jungen und Kleinkriminiellen, die sich bis zum frühen Morgen auf den Straßen herumtreiben. Es gibt die Dealer, die ganz offen in der rue Ramponneau ihren Geschäften nachgehen. Und es gibt die Einwanderer aus Bamako und anderen Gegenden mit anderen Hygiene-Kulturen, die hemmungslos hinpinkeln, wo sie gerade ein entsprechendes Bedürfnis überkommt – zumal es die schönen alten offenen Urinoirs oder Vespasiennes, wie sie für Paris so typisch waren, ja leider nicht mehr gibt, sondern nur noch die „zeitgemäßen“, aber selteneren und vielleicht auch bei manchen Menschen Schwellenangst erzeugenden  Sanitärkabinen von Décaux.[25]

  • Chinesen

Und dann –last but not least- gibt es noch die Chinesen in Belleville. Das Viertel  wird manchmal sogar als das  Chinatown von Paris oder als „Chinatown-sur-Seine“- bezeichnet – neben dem chinesischen Viertel im 13. Arrondissement.[26]  Es gibt in Belleville jedenfalls eine deutlich sichtbare chinesische Präsenz, und das schon seit fast einem Jahrhundert. Denn während des Ersten Weltkriegs kamen etwa 140 000 Chinesen nach Frankreich: Sie waren angeworben worden, um den großen kriegsbedingten Arbeitskräftemangel zu lindern. Viele von ihnen, vor allem aus Wenzhou, blieben, einige  in Belleville, andere folgten.

Nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1949 wurde die Auswanderung von Chinesen offiziell untersagt. Erst Anfang der 1980-er Jahre wurden die Ausreisekontrollen lockerer und es waren nun wieder Chinesen aus Wenhzou, die  -teilweise illegal- nach Frankreich kamen und vor allem in kleinen Textilbetrieben arbeiteten.  So entstand die sogenannte „Chinatown“ von Belleville.[27] Und dann war es vor allem die Welle von Chinesen aus Vietnam und Kambodscha, die nach der kommunistischen Machtübernahme –z.T. als boat people- nach Frankreich kamen. Sie hatten oft französische Schulen besucht und verfügten auch teilweise über erhebliche finanzielle Mittel. Sie waren es, die zahlreiche Geschäfte am Beginn der rue de Belleville aufkauften, ebenso wie die alten Galéries Barbès an der Métro-Station Belleville, aus der das große, repräsentative Restaurant Président wurde.

Die starke und ausgreifende chinesische Präsenz in Belleville wird vielfach als Problem  wahrgenommen

  • weil die Chinesen  immer mehr traditionelle Geschäfte aufkaufen und verdrängen. L’arrivée massive d’une communauté asiatique“  ist aus Sicht der tunesichen Gemeinde ein täglich zu erlebendes dringendes Problem.[28]
  •  weil die Chinesen  über  spezifische Finanzierungsmöglichkeiten verfügen, mit denen sie einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen ethnischen Gruppierungen haben:  die sogenannte Tontine, eine Finanzierungsform, die auf persönlichen Beziehungen beruht. Sie eröffnet den Chinesen einen  Zugang zu Kapital, der sie  unabhängig macht vom Bankensystem und seinen Restriktionen. (dazu: http://terrain.revues.org/)
  • weil sie eine Tendenz haben, unter sich zu bleiben und teilweise wenig Anstrengungen zur Integration machen. In dieser Hinsicht lohnt sich ein Blick  auf den Stand mit den chinesischen Zeitungen (zusammen mit der Actualité juive) am Kiosque an der Métro Belleville…

jüd. und chin. Zeitungen 027

…. oder in die chinesische Buchhandlung in der rue de Tourtille, das Pendant zu den rein arabischen Buchhandlungen (mit offenbar meist islamischer Tendenz), in die ich mich als „Ungläubiger“ allerdings noch nicht hineingetraut habe. In der chinesischen Buchhandlung kann man sich allerdings ganz unproblematisch umsehen und auf diese Weise auch einen kleinen Eindruck von den Lebensgewohnheiten der Chinesen von Belleville erhalten.

rue de Tourtille chin. Buchhandlung 036au

  • und schließlich wird auch als Problem beschrieben, dass die Chinesen von Belleville gerne ihren Wohlstand offen zur Schau stellen. Bei einem meiner Rundgänge konnte ich einen jungen Chinesen beobachten, der seinen funkelnden Mercedes-Sportwagen an einer Straßenecke abstellte, ohne Rücksicht auf die dadurch massiv behinderten Fußgänger zu nehmen. Jonquet beschreibt, dass man an Wochenenden als Zaungast an grandiosen asiatischen Hochzeiten teilnehmen kann. Mit aufwändigst blumengeschmückten Luxuskarossen, Smoking, feinsten Brautkleidern, Fotografen…. Die Kinder (mit afrikanischem Migrationshintergrund) auf dem gegenüberliegenden Trottoir würden das als Provokation erleben.
  • Eine Konsequenz dieser eklatanten sozialen Gegensätze in dem Viertel sei der Diebstahl, der gerade die Chinesen treffe, zumal die oft auch erhebliches Bargeld bei sich trügen und -da sie teilweise ohne offiziellen Status in Frankreich lebten- bei einem Überfall eher nicht die Polizei einschalteten.  In der Tat fühlen sich Asiaten öfters von „schwarzen und arabischen Banden“ terrorisiert, die die Seitenstraßen der Rue de Belleville kontrollierten, wie der französische Chinaexperte Dr. Pierre Picquart auf der Website der Chinois de France feststellt. Aus diesem Grund fand im Juni 2010 eine Demonstration von etwa 10.000 „immigrés asiatiques“ in Belleville statt, die mit Parolen wie „Stop à la violence“,   sécurité pour tous und I love Belleville auf dieses Problem aufmerksam machten. [29]

53b864de-85e5-11df-be99-3040b653ef6a Belleville

Le Figaro, 2.7.2010: „La révolte des Chinois de Belleville

  • Und dann gibt es noch das Problem der chinesischen Prostitution in Belleville, die gerade derzeit besonders im Rampenlicht steht. Denn in französischen Kinos läuft derzeit  ein intensiv beworbener und hochgelobter Film über die marcheuses, wie die chinesischen Prostituierten von Belleville genannt werden.

IMG_5949.JPG

Sie sind meistens zwischen 40 und 60 Jahre alt (das auf dem Plakat abgebildete junge Mädchen ist die Tochter der Protagonistin des Films), sehen eher verhärmt aus, sind ärmlich angezogen, haben weder Arbeitsgenehmigung noch Aufenthaltserlaubnis, und stehen unter dem Druck, für ihre Familien und Kinder Geld beschaffen zu müssen. „Die Emigration ist für uns, was für die Männer der Krieg ist,“  erklärte eine dieser Marcheuses der Zeitung Le Monde. Die Männer hoffen, dass sie schnell mit dem Sieg nach Hause kommen, wir mit Geld.“[30]

Prostitution ist in Frankreich ja offiziell verboten, seit Neuestem sind auch „Kunden“ mit Strafe bedroht. Das entsprechende neue Gesetz soll Prostitutierten den Ausstieg ermöglichen und das Zuhälterwesen bekämpfen. Aber viele marcheuses fürchten, damit noch mehr in eine gefährliche Illegalität abgedrängt zu werden. Außerdem ständen sie als „Selbstständige“ nicht unter dem Druck von Zuhältern, sondern höchstens unter dem Druck der famliären Erwartungshaltungen…

Belleville wurde, wie am Anfang zitiert, ein laboratoire de la diversité genannt. Und es wird immer wieder als Erfolgsgeschichte gerühmt – im Gegensatz zu manchen cités am Rand der Stadt. Eine solche Erfolgsgeschichte ist Belleville in der Tat, wenn man an die vielen Menschen aus vielen Teilen Europas, ja der Welt denkt, die seit 150 Jahren hier eine neue Heimat gefunden haben. Aber es wird bei einem Blick hinter  Kulissen der Exotik, wie ihn Thierry Jonquet mit seinem Buch „Jours tranquilles à Belleville“ (2013) ermöglicht, doch auch deutlich, wie prekär und gefährdet das dort noch überwiegend herrschende Gleichgewicht ist. Vor allem, wenn der Austausch und die gegenseitige Anregung eher zurückgehen und sich auf engstem Raum ethnische Inseln bilden, wie Jonquet berichtet: Da dominieren in der Schule auf der westlichen Seite der rue de Belleville die Asiaten, während in der Schule auf der anderen Seite der Straße die Blacks fast unter sich sind. Das ist für ihn –und da kann ich ihm nur zustimmen- eine gefährliche Entwicklung. Eine Enklavenbildung und Ghettoisierung müsse unbedingt verhindert werden, ebeso wie die Herausbildung von Parallelgesellschaften, in denen fundamentale Integrationsanstrengungen nicht erbracht würden. Und es gibt auch eine schon 15 Jahre alte, aber immer noch aktuelle Warnung des linken Schriftstellers Jonquets: Wenn es um gravierende Probleme des Zusammenlebens, des vivre ensemble, gehe, darunter auch um Kriminialität und ihre Begleiterscheinung, die Unsicherheit, sei es gefährlich, dies zu Tabus zu erklären mit der Begründung, man würde sich mit solchen Themen in rechtsradikales Fahrwasser begeben.[31]

Die Warnung vor dem von ihr selbst lange Zeit  praktizierten Wegsehen und einer falsch verstandenen Toleranz gehört auch zur Quintessenz des 2016 erschienenen Buches von Géraldine Smith  „Rue Jean-Pierre Timbaud“.

IMG_7223

In diesem Buch beschreibt Smith sehr konkret und eindringlich die Gefährung des multikulturellen Belleville und des dortigen „vivre ensemble“. Die Rue Jean-Pierre Timbaud liegt zwar nicht im heutigen Verwaltungsbezirk Belleville, also einem Teil des 20. Arrondissements, der von der Rue de Belleville, dem Boulevard de Belleville, der Rue de Ménilmontant und der Rue de Pixérécourt umschlossen wird. Aber das alte, 1860 eingemeindete Belleville reicht Ja darüber hinaus und umfasst auch Teile der heutigen 11., 12. und 19. Arrondissements. Die im nördlichen 11. Arrondissement gelegene Rue Jean-Pierre Timbaud im quartier Couronnes gehört damit zum „alten“ Belleville. Géraldine Smith, die viele Jahre mit ihrem Mann und zwei Kindern in Beleville wohnte,  berichtet von den  Erfahrungen ihrer Familie, von Freunden und Bekannten  in diesem Viertel; von der anfänglichen Begeisterung, in einem lebendigen, sozial gemischten und multikulturellen Umfeld zu wohnen – und von dessen allmählicher Veränderung und ihrer eigenen Ernüchterung.

Da ist die öffentliche Schule, in die die Kinder gehen –sie sollen ja nicht in der privilegierten Enklave einer privaten Schule aufwachsen. Die weißen frankophonen Kinder sind dort zwar eine kleine Minderheit, die völlig unterfordert ist und sich meistens langweilt,  aber die Schulleiterin propagiert ihre Rolle als „poissons-pilotes“, die das Niveau der ganzen Klasse heben würden.  Es gehe dabei um eine „démarche  citoyenne, die für die Entwicklung des Viertels unverzichtbar sei. (S. 32) Später meldet sie dann ihre eigenen Kinder in einer Privatschule an….  Die Jungen der Schule spielen mit Begeisterung Fußball: Eine Mannschaft ist  PSG –Paris  Saint Germain- die andere Real Madrid. Aber eines Tages möchte ein Kind mit marokkanischen Wurzeln nicht mehr für eine dieser Mannschaften spielen, sondern für die „Löwen des Atlas“, also die marokkanische Nationalmannschaft, obwohl er von der keinen einzigen Spieler kennt: Seitdem spielt „Frankreich“  gegen „den Rest der Welt“, also vor allem  gegen die Kinder mit nord- oder schwarafrikanischen Wurzeln. Und der kleine Sohn kommt ratlos nach Hause und versteht die Welt nicht mehr: „Ils se prennent tous pour leur origine“  S.122)– ein Armutszeugnis für die republikanische  Integration.  Dann wird die „classe vert“, eine gemeinsame Fahrt in die Berge,  gestrichen ebenso wie die Fahrten  nach England: die meisten muslimischen Eltern weigerten sich aus Angst vor Promiskuität, ihre Töchter daran teilnehmen zu lassen.  Géraldine Smith beschreibt auch, was sich draußen ändert. Beispielsweise:  Als sie vor der Schule Cola-trinkend auf ihren Sohn wartet, wird sie von einem Mann in weißer Djellaba angeherrscht  und als saloppe (Schlampe) beschimpft, die abhauen solle (S.134). Frauen dürften nicht trinkend auf der Straße herumstehen.   Ein Bäcker redet seine Kundschaft nur noch auf arabisch an und bedient zuerst die muslimischen Männer, die Frauen grundsätzlich zuletzt. Der radikal-islamische Iman der Moschee ermuntert die Gläubigen, auf der Straße zu beten, auch wenn die Moschee gar nicht voll besetzt ist: Ostentative Demonstration der „Machtergreifung“ des radikalen Islam in einem Teil der Rue Jean-Pierre Timbaud. Dazu kommt das Gefühl zunehmender Unsicherheit und Fremdheit im eigenen Viertel. Erstes Opfer der Radikalisierung sind übrigens die liberalen Muslime. Entweder sie fügen sich dem auf sie ausgeübten Druck wie der nette Kebab-Verkäufer, der plötzlich keine Jeans mehr trägt und nur noch Halal-Cola verkauft, oder sie weichen ihm durch Umzug aus.

Liest man  die Bücher von Jonquet und Smith, wird man die Elogen auf das mulitkulturelle Belleville, in dem alle Gruppen der Bevölkerung in bester Harmonie zusammen leben, mit Vorbehalten und Fragezeichen versehen. Ob es sich hier, wo man es am wenigsten erwarten würde, um einen Niederschlag  der „fractures françaises“ handelt (Le Figaro 29.4.2016), kann ich nicht beurteilen. Es scheint jedenfalls Tendenzen zu geben, dass die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eher neben- als miteinander leben und dass einige ihren Lebens- und Einfllussbereich kontinuierlich auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen ausweiten: Die Chinesen eher geräuschlos, die muslimischen Integristen eher demonstrativ. Jonquet und Smith kennen  und lieben Belleville. Sie wollen mit ihren Büchern das Bewusstsein für die Besonderheit des Viertels schärfen und dazu beitragen, dass es ein Modell bleibt und nicht zum Mythos verkommt. Man kann nur hoffen, dass sie damit Erfolg haben.

Kleiner ernüchternder Nachtrag Februar 2018:

Die französische Staatssekretärin für die Gleichstellung von Männern und Frauen, Marlène Schiappa, die in einfachen Verhältnissen in  Belleville aufgewachsen ist, hat in einem ausführlichen Interview mit Le Monde (4./.5. Februar 2018) von dem Glück gesprochen, das sie in ihrem Leben gehabt habe. Sie berichtet:

„Eine tolle Französisch-Lehrerin und eine gute Beratungslehrerin haben sich die Zeit genommen, mit mir zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, dem „lycée de secteur“, (also dem eigentlich für sie „zuständigen“ Gymnasium des Viertels. W.J.)  zu entkommen und statt dessen von einem angesehenen Pariser Gymnasium aufgenommen zu werden. Ich habe Russisch und Latein gewählt, und -hopp!- wurde ich von Belleville ins 16. Arrondissement katapultiert. Mein Glück!“

Dies übrigens auch eine kleine Illustration zum französischen Schulsystem – siehe den Blog-Beitrag über Frankreich als Spitzenreiter der schulischen Ungleichheit.

 

Zum Weiterlesen und –hören:

Thierry Jonquet, Jours tranquilles à Belleville. Paris 2013

Clément Lépidis und Emmanuel Jacomin: Belleville. Paris 2008

http://www.franceculture.fr/emissions/les-nuits-de-france-culture/belleville-par-ses-habitants-avant-entendait-chanter-le-coq (Bewohner von Belleville erzählen von ihrem Quartier aus der Zeit „avant sa destruction par les promoteurs“ in den 1970-er Jahren)

Géraldine Smith, Rue Jean-Pierre Timbaud. Une vie de famille entre barbus et bobos. Paris: Stock 2016

Anmerkungen:

[1] http://www.histoire-immigration.fr/la-cite/le-reseau/les-actions-du-reseau/2009-journees-europeennes-du-patrimoine/quartier-de-belleville-paris

[2] Für sie wird manchmal der Begriff „de souche“ verwendet, der i.a. mit „gebürtig“ übersetzt wird. Wenn von „français de souche“ die Rede ist, sind aber weniger die in Frankreich Geborenen gemeint, sondern diejenigen, die schon seit  (mehreren) Generationen in Frankreich leben. Insofern verstößt der Ausdruck auch gegen die republikanische political correctness, weil es nach ihr eine solche Unterscheidung gar nicht geben dürfte. Vielleicht ist es also auch ein Ausdruck politisch schlechten Gewissens, wenn das de souche öfters auch in Anführungsstriche gesetzt wird. .

(2a) siehe Stéphanie Lombard, Street Art Paris. Paris 2017, S. 59. Auf der vorderen inneren Umschlagseite ist der Belvedere von Belleville mit den Malereien von Seth und den  Arbeiten weiterer Street-Art-Künstler abgebildet.

[3]  « Fontaine coulant d’habitude pour l’usage commun des religieux de Saint-Martin de Cluny et de leurs voisins les Templiers. Après avoir été trente ans négligée et pour ainsi dire méprisée, elle a été recherchée et revendiquée à frais communs et avec grand soin, depuis la source et les petits filets d’eau. Maintenant enfin, insistant avec force et avec l’animation que donne une telle entreprise, nous l’avons remise à neuf et ramenée plus qu’à sa première élégance et splendeur. Reprenant son ancienne destination, elle a recommencé à couler l’an du Seigneur 1633, non moins à notre honneur que pour notre commodité. Les mêmes travaux et dépenses ont été recommencés en commun, comme il est dit ci-dessus, l’an du Seigneur 1722 » https://fr.wikipedia.org/wiki/Regard_Saint-Martin

Zur Bedeutung des Wasser für Belleville:  http://plateauhassard.blogspot.fr/2013/03/histoires-deaux-belleville.html

Zum Kloster Saint-Martin-des-Champs -heute das musée des arts et métiers- siehe den Blog-Beitrag über die Freiheitsstatue in New York  und ihre Pariser Schwestern, Teil 3

Es gib noch einen weiteren  schönen Regard in Belleville, den 1583-1613 errichteten Regard de la Lanterne, Rue de Belleville/Rue Complans.

[4] Heute erinnern nur noch der Name Quartier d’Amerique mit der Place des Fêtes als Mittelpunkt und die rue des carrières des Amerique an diese Vergangenheit.

[5] http://www.parisrevolutionnaire.com/spip.php?article135 (Für politisch interessierte Promeneurs eine äußerst interessante und ergiebige Quelle)

[6] https://bataillesocialiste.wordpress.com/2012/08/23/allocution-du-coiffeur-rozier-au-banquet-communiste-de-belleville-1840/

[7] https://paris-luttes.info/banquet-contre-l-etat-d-urgence-a-4635?lang=fr  Allerdings –wohl auch aufgrund des schlechten Wetters- mit deutlich geringerer Beteiligung als beim Banquet von 1840 –sieht man von dem massiven Polizeiaufgebot ab. Dabei ging es noch nicht einmal gegen den Ausnahmezustand als solchen, sondern nur um die Art seiner Instrumentalisierung durch die Regierung!

[8] Es gehört übrigens zu den Perversitäten, die die Geschichte manachmal mit sich bringt, dass ausgerechnet an diesem Ort während der großen rafles unter deutscher Besatzung die Juden  des Viertels zusammengetrieben wurden, bevor sie dann ins Vel d’hiver, nach Drancy und schließlich Auschwitz deportiert wurden. Entsprechend geschah es ja auch mit dem  Gymnase Japy im 11. Arrondissement, einem  weiteren mythischen Ort der französischen Arbeiterbewegung.

[9]  So jedenfalls zu entnehmen der Histoire de la Commune de 1871 von Lissagaray. Entsprechend auch Jule Vallès im L’Insurgé. Die Ehre der letzten Commune-Barrikade beansprucht allerdings  auch –unter Berufung auf Louise Michel-  die rue de la Fontaine-au-Rois

[10] http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2015/11/12/97001-20151112FILWWW00365-paris-le-metro-belleville-change-de-nom.php

[11] http://www.liberation.fr/france/2016/01/10/pour-une-primaire-a-gauche_1425509

http://www.lefigaro.fr/politique/2016/02/04/01002-20160204ARTFIG00039–la-bellevilloise-la-gauche-de-la-gauche-tente-de-mettre-sur-les-rails-la-primai

[13] http://plateauhassard.blogspot.fr/2011/10/lile-damour.html

[14]  http://www.alain-rustenholz.net/2012/02/belleville-ou-la-revanche-du-lapin.html

[15] https://www.youtube.com/watch?v=oTFQK767Qik

[16] http://ateliers-artistes-belleville.fr/les-portes-ouvertes/les-artistes-participant/

[17] http://ateliers-artistes-belleville.fr/artiste/juan-de-nubes/

[18] Guide Vert, Idées des promenades à Paris, S. 48).

http://www.hellocoton.fr/to/8mnt#http://news.celemondo.com/2010/12/la-villa-castel-lieu-de-tournage-de-jules-et-jim/

[19] http://www.lemonde.fr/culture/visuel/2015/04/16/a-belleville-la-rue-denoyez-perd-ses-artistes_4616550_3246.html)

(19a) http://kamlaurene.com/

[20] Siehe dazu: http://voyage.blogs.rfi.fr/article/2012/06/08/belleville-les-multiples-visages-du-paris-populaire (mit interessanten Berichten aus Belleville zum Abspielen und Mithören)

[21] Eric Hazan, L’invention de Paris. Il n’y a pas de pas perdus. Éditions du Seuil 2002, S. 283

Patrick Simon et Claude Tapia: Le Belleville des Juifs tunisiens. Paris 1998

22]  siehe 10. Bericht aus Paris: Spuren der Erinnerung

[23] http://www.tunisiensdumonde.com/les-rendez-vous/2009/03/quartier-belleville-a-paris-la-goulette-sur-seine/

http://leplus.nouvelobs.com/contribution/1326242-insultes-regard-menaces-je-suis-juif-aujourd-hui-j-evite-certains-quartiers-de-paris.html

Siehe auch:  Daniel Gordon, « Juifs et musulmans à Belleville entre tolérance et conflit », Cahiers de la Méditerranée, 67 | 2003, 287-298. http://cdlm.revues.org/135

(23a) Schwarzafrikaner hat es allerdings wohl auch schon seit dem Ersten Weltkrieg in Belleville gegeben. Siehe dazu die Legende vom Sekou-Touré-Baum in dem Innenhof des Hauses 10,rue du Jourdan an der Kirche St Jean Baptiste:

„10 rue du Jourdain se trouve une cour bordée d’immeubles bas et planté entre autres de „Sekou Touré“. Cette plante exotique aurait été importée par les tirailleurs sénégalais  à l’issue de la première guerre mondiale“ (.http://plateauhassard.blogspot.fr/2013/06/la-rue-de-belleville.html)

[24] https://www.youtube.com/watch?v=jBIWL9S32QQ

[25] Jonquet Thierry, « « Jours tranquilles à Belleville ». », Sociétés & Représentations 1/2004 (n° 17) , p. 183-192  http://www.cairn.info/revue-societes-et-representations-2004-1-page-183.htm

[26] http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2010/07/02/01016-20100702ARTFIG00573-la-revolte-des-chinois-de-belleville.php

Siehe zu Belleville auch den Blog-Beitrag über „Chinatown in Paris“ (Rubrik Stadtviertel, 13. Arrondissement)

[27] http://www2.cnrs.fr/presse/thema/600.htmImprimer

[28] http://www.tunisiensdumonde.com/a-la-une/2009/03/au-coeur-du-quartier-de-belleville-%C2%AB-la-goulette-sur-seine-

[29]  www.chinoisdefrance.com

http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2010/07/02/01016-20100702ARTFIG00573-la-revolte-des-chinois-de-belleville.php

[30] Florence Aubenas, Belleville, extérieur nuit. In: Le Monde, 3.2.2016. Enquête, S.

[31] http://www.hommes-et-migrations.fr/docannexe/file/1227/1227_05.pdf