Der Engel in der Rue de Turbigo – Hintersinniges am Bau. Ein Gastbeitrag von Ulrich Schläger

Wer an der Metro-Station Arts et Métiers  (3. Arrondissement)  die U-Bahnlinie 3 oder 11verlässt, kann auf der Fassade des Wohnhauses in der Rue Turbigo mit der Hausnummer 57 einen kolossalen Steinengel mit weit sich ausbreitenden Flügeln entdecken, der sich über drei Stockwerke in die Höhe erstreckt.

Bild: Ulrich Schläger

Geradezu augenfällig ist die Ähnlichkeit seines Kopfes und seines gewellten Haars mit den berühmten Karyatiden der Korenhalle des Erechtheions in Athen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Engel und den Karyatiden ist das plissierte Gewand, das bei den Karyatiden allerdings nur ein Bein bedeckt. Die Karyatiden übten nämlich eine Doppelfunktion als Wächterin und tragendes Element aus. Die Standbeine haben jeweils ihre menschliche Kontur verloren und sich, aufgelöst in langestreckte Plissees,  in stilisierte Baustämme verwandelt.

Foto: Wikipedia

Anders als die Karyatiden im antiken Griechenland, die einer Säule gleich die Last eines Gebälks mit ihrem Kopf tragen, stützt dieser Engel auch mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln den Balkon darüber.

In der linken Hand hält er einen Myrrhe-Zweig, in seiner Rechten eine schlauchförmige Geldbörse. Der Geldstrumpf (englisch „wallet purse“, „miser“) war seit dem späten 18. Jh. weit verbreitet. Es sind lange, schmale Beutel mit Zugbandverschluss oder Verschlussring. Eine zweite Form, heute meist fälschlich als „Geldkatze“ bezeichnet, war bis in die 60er Jahre des 19. Jh. außerordentlich beliebt. Sie besteht aus zwei gegeneinander gesetzten, schlauchförmigen Beuteln mit Eingriffsschlitz in der Mitte.

Diese bourses à deux coulants oder sogenannte Louis-Börsen kamen in der Restaurationszeit auf und waren reich verziert. Sie wurden auch bourses d’avare (englisch „miser’s purse“) genannt.

Welche Bedeutung haben diese Attribute? Worauf verweisen die Accessoires (Quasten, Bommeln, Trotteln, Perlen-Halskette, Bänder) des Engels? Ist die Skulptur eine Allegorie, eine Personifikation? Und wenn ja, für was?

Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir einen Blick auf die Baugeschichte und die städtische Entwicklung des Bezirks werfen, in dem sich dieses Haus befindet. Überdies sollten wir uns kurz mit der Kulturgeschichte der Myrrhe und der Bedeutung des Geldbeutels in der darstellenden Kunst beschäftigen.

Die Baugeschichte des Quartiers

Im Zweiten Kaiserreich Napoleons III. wurde die französische Hauptstadt durch die grands travaux haussmanniens, die großen Arbeiten unter der Regie des Präfekten Georges-Eugène Haussmann, von 1853 bis 1870 radikal umgestaltet und modernisiert. Im Zuge dieser Maßnahmen  wurde die Rue Réaumur bis zur Rue Turbigo an der heutigen Métro-Station Arts et Métiers verlängert.

Die Rue de Turbigo verdankt ihren Namen dem Sieg der verbündeten Italiener und Franzosen über die österreichische Armee bei einer Schlacht am 3. Juni 1859 bei dem lombardischen Ort Turbigo.  Sie war keine Straße mit Häusern der Aristokratie, wie im nahe gelegenen Marais, an der Place des Victoires oder der Place Vendôme, sondern mit ihren repräsentativen Mietshäusern Wohnort der aufstrebenden Bourgeoisie, die im Zweiten Kaiserreich zunehmend an Einfluss gewann. Deren Auswüchse attackierte Émile Zola in seinem Roman La Curée (die Beute) scharf, insbesondere diejenigen, die nach der Devise des Enrichissez-vous! (dt. „Bereichert euch!“) verfuhren und den Staat und die Stadt Paris als ihre Beute betrachteten.

Unter den ersten Mietern befanden sich Stoffhändler, Miedermacher, Schneider, Hutmacher und andere Modeproduzenten. Produktion und Handel mit Textilen bestimmten die Gegend um die Rue Turbigo. Im unweit gelegenen Quartier du Sentier etablierten sich schon unter Ludwig XIV. Posamenten- und Dekorations-Manufakturen, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweite Blüte erlebten. Die in diesem Pariser Bezirk produzierten Pompons, Troddeln, Fransen und Bänder fanden sich an Frauenkleidern, Militäruniformen, an Accessoires oder waren Teil der Dekoration pompöser Wohnräume.

Die Bedeutung der Myrrhe

Bild: Ulrich Schläger

Die Myrrhe ist ein Baum mit kleinen Blättern und auch der Name des zu einem Harz eingetrockneten Sekretsafts dieses Baumes.  Für die alten Ägypter hatte die Myrrhe eine doppelte Bedeutung, sie war ein Mittel, um sich zu wappnen und Unheil abzuwehren und war bedeutsam für den Übergang zur Unsterblichkeit. Deshalb war sie fester Bestandteil der Einbalsamierung von Mumien. Ein mit Myrrhe gewürzter Wein wurde auch Jesus bei der Kreuzigung gereicht, zum einen als Narkotikum, zum anderen aber auch, um den Übergang ins Jenseits zu erleichtern.

Die Myrrhe war auch eine der Gaben der Heiligen Drei Könige. Sie schenkten Gold, Weihrauch und Myrrhe. Gold ist ein Symbol des Reichtums. Es wird Königen als Tribut dargebracht und steht für Körperlichkeit und irdische Welt. Weihrauch dagegen wird den Göttern dargebracht und gilt als Symbol für die Göttlichkeit Christi. Myrrhe aber ist ein Symbol der Heilung, der Magie und der Fähigkeit, die Elemente zu beherrschen. Die Myrrhe galt als ein universelles Allheilmittel für Körper und Seele. Gold, Weihrauch und Myrrhe stehen hier für die drei Welten Körper, Geist und Seele.

In der griechischen Mythologie war Smyrna (Myrrha) die Tochter des Priesters und Königs Kinyras von Zypern. Smyrna ist das griechische Wort für Myrrhe. Smyrna verliebte sich durch einen Zauber Aphrodites in ihren Vater und verführte ihn zwölf Nächte lang. Die Liebesnächte blieben nicht ohne Folgen: Smyrna wurde schwanger. Als der König erkannte, wer ihn verführt hatte, wollte er sein Kind töten. Verfolgt von ihrem Vater flüchtete Smyrna und bat die Götter, sie unsichtbar werden zu lassen. So wurde sie in einen Baum verwandelt und ihre Tränen wurden zum Myrrhenharz. Aber nach neun Monaten brach der Baum auf und ihr Kind Adonis wurde geboren. Die Königstochter Smyrna (Myrrha) erscheint hier als Ausdruck der Großen Göttin, die vom Himmel (Vater) befruchtet wird und dadurch Schönheit (Adonis) gebiert. In dieser Geschichte spiegelt sich unter anderem der magische Schutzaspekt der Pflanze wider.

Die Kostbarkeit der Myrrhe ist auch der Grund, der Braut an ihrem Hochzeitstag einen Myrrhe-Zweig zu schenken. Er steht für langes Leben, Erfolg und Glück, die man der Braut damit wünscht.

Wenn wir also die mythologischen, kulturellen und historischen Aspekte der Myrrhe betrachten, so können wir in ihr die folgende Symbolik erkennen: Die Myrrhe steht für eine Transformation, aber sie dient auch der Abwehr gegen Unheil (insbesondere in der Verbindung mit dem „Schutz“-Engel). Sie ist ein Heilmittel und sie steht für Erfolg (zusammen mit der Geldbörse) und Glück.

Die Bedeutung des Geldbeutels

Bild: Ulrich Schläger

Schon in der Antike galt der Geldbeutel als Symbol des Handels und war deshalb dem Gott der Kaufleute, Merkur resp. Hermes, als Attribut beigegeben. Ein gefüllter Geldbeutel signalisierte Reichtum, Wohlstand, Macht und Einfluss. Die Geldbörse spiegelt zudem Moden und persönlichen Geschmack wider. Bommeln, Troddel, Quasten, Fransen oder Pailletten an den Börsen der Damen entsprachen dem Hang zum aufwändigen Dekor im Second Empire, dem Zweiten Kaiserreich. Ein schönes Beispiel dafür ist die nachfolgend abgebildete bourse d’avare, die bei Druot versteigert wurde.

Die Entwurfsgeschichte des Engels

Die Skulptur geht auf einen Entwurf von Emile-Auguste Delange, Student an der Ecole des Beaux-Arts et Architecture, zurück, der   zusammen mit Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch und Jean-Edme-Victor Pertuisot 1851 an einem von Professor Guillaume Abel Blouel initiierten Wettbewerb für ein Leuchtturm-Projekt teilnahm.

Publikation der Leuchtturmentwürfe durch César Daly. Der dritte Leuchtturm von links ist von Emile-Auguste Delange entworfen.

Projets de phares, concours à l’Ecole des Beaux-Arts, Décembre 1851 (Architects Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch, Auguste-Émile Delange, Jean-Edme-Victor Pertuisot). Extrait de la Revue générale de l’architecture et des travaux publics, 1852, pl.9.

Delanges Entwurf zeigt einen riesigen Engel, der über die Leuchtturmlaterne hinausragt und einen Myrrhezweig in der Hand hält. Die Schutzfunktion, die ein Leuchtturm schon an sich für die Schiffe hat, wird unterstrichen durch die Figur eines Schutzengels mit dem Myrrhezweig in der Hand.

César Daly publizierte 1852 Delanges Entwurf zusammen mit den Leuchtturm-Zeichnungen der anderen drei Studenten in der von ihm herausgegeben renommierten Fachzeitschrift Revue Générale de l’Architecture et Travaux.   Auf welche Weise Eugène Démangeat, der Architekt des Wohnhauses Nr. 57 an der Rue Turbigo an Delanges „Engel“ gekommen ist, wissen wir nicht. Unzweifelhaft ist aber, dass der Engel an diesem Haus eindeutig auf Delanges Entwurf zurückgeht.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Die Figur des Engels verweist kunstgeschichtlich auf die Karyatiden als tragendes, dekoratives Bauelement und zugleich auf seine Aufgabe als Wächter. Seine Symbolik muss im Kontext seines lokalen, sozialen und kulturellen Umfeldes gesehen werden. Das griechische Profil des Engels und seine Renaissance-Frisur und seine Quasten und Pompons passten zum eklektischen Stil des Zweiten Kaiserreichs. Die Geld-Börse mit ihren langen Quasten, die Troddel-artigen Ohranhänger, das Band um das plissierte Gewand sowie die Perlenkette des Engels spiegelten zeitgenössischen Geschmack wider und können, losgelöst von Delanges Entwurf, als Reminiszenz an das Gewerbe des Viertel verstanden werden. Überdies fügte sich der Engel ein in die strengen Haussmannschen Vorschriften, die jedes Element verbaten, das stärker aus der Fassade des Gebäudes herausragte.

Trotz allem Hintersinn, den wir in dem Engel sehen können, ist er vor allem Dekor. Er ist hier nicht mehr in seiner transzendentalen Rolle als Mittler zwischen Mensch und Gott dargestellt, auch nicht primär als Schutzengel, sondern ist nur noch Symbol für Glück, Erfolg, Wohlstand und vielleicht auch Schönheit. Eine Allegorie auf die Nächstenliebe, die einige in dieser Figur zu erkennen glauben, erscheint mir allerdings sehr unwahrscheinlich. Wir befinden uns hier immerhin in einer Straße, die im Rahmen der Transformation der Stadt angelegt wurde, die- wie andere Straßen dieser Zeit auch- Objekt groß angelegter Immobilien-Spekulation war, was aufgrund höherer Mieten eine Vertreibung der ärmeren Schichten zur Folge hatte.

Im kurzen Dokumentarfilm von Agnes Varda über Pariser Karyatiden aus dem Jahr 1984 zitiert die Autorin angesichts des Engels in der Rue de Turbigo die erste Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht  Reversibilité.

Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse,

La honte, les remords, les sanglots, les ennuis,

Et les vagues terreurs de ces affreuses nuits

Qui compriment le coeur comme un papier qu’on froisse?

Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse?

Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Qual,

Scham, Reue, Schluchzen, Ärger,

Und die vagen Schrecken dieser schrecklichen Nächte,

Die das Herz zusammenziehen wie ein zerknittertes Papier?

Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Angst?

Literatur:

Ich bin natürlich nicht der Einzige, der von dem großen Engel fasziniert ist. Deshalb möchte ich an dieser Stelle besonders einen Aufsatz von Rosemary Flannery nennen, der 2012 publiziert wurde und vom dem ich einige Anregungen erhielt:

Rosemary Flannery,  Der Engel der Rue Turbigo.  France Today Editors – October 16, 2012.  Abdruck aus: Rosemary Flannery, An Architectural Tour Through the History of Paris. The Little Bookroom 2012.

Weitere Quellen/Literatur zum Engel in der rue Turbigo:

Zur Geschichte und Bedeutung der Myrrhe: tps://www.satureja.com/i/die-myrrhe-ein-antikes-allheilmittel    

L’ange de la passementerie. Ouvrages de Dames. canalblog.com vom 19.4.2020  http://ouvragesdedames.canalblog.com/archives/2020/04/19/38210885.html

Oliver Gee, The enormous angel you’ve probably never noticed in Paris. https://theearfultower.com/2017/08/19/the-enormous-angel-youve-probably-never-noticed-in-paris/

Sheily Parisienne, L’Ange qui domine la rue de Turbigo, In: Paris, Maman & Moi, 8. August 2012

Agnès Varda, Les dites cariatides. 1984  https://www.cine-tamaris.fr/les-dites-cariatides/

La gigantesque cariatide de la rue de Turbigo, in: Un jour de plus à Paris; Découvertes, Histoire, Visites Guidées (https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-insolite/cariatide-rue-de-turbigo)

Énigme architecturale : l’ange de Turbigo. 6 décembre 2017  https://un-flaneur-a-paris.com/





 

2 Gedanken zu “Der Engel in der Rue de Turbigo – Hintersinniges am Bau. Ein Gastbeitrag von Ulrich Schläger

  1. niedersaetz@bluewin.ch

    Vielen Danke für den Artikel. Ich habe zuerst an eine Bank oder Versicherung gedacht. Freundliche Grüsse aus Zürich Olaf Niedersätz

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