Nicolas de Staël, „Maler zwischen Himmel und Meer“: eine Ausstellung im Musée d’Art moderne de Paris (Sept. 2023 bis Jan. 2024)

Staëls Straßenbild steht am Anfang dieses Beitrags, weil die Straße als Metapher für das Leben und Arbeiten von Nicolas de Staël gelten kann.

La Route (Die Straße) Ménerbes 1954

Man hat Staël als „peintre voyageur“ bezeichnet, einen Maler, der immer unterwegs war: zu neuen Orten und Landschaften, zu neuen Beziehungen, zu neuen Formen seiner Kunst.  Bekannt ist er vor allem durch seine Bilder südfranzösischer Motive mit dem charakteristischen Blau geworden und durch seine  Sizilien-Bilder.

Mer et nuages (Meer und Wolken) Paris 1953

Dies ist eines der Bilder, denen Nicolas de Staël seinen Beinamen „Maler zwischen Himmel und Meer“ verdankt. [1]

                               Agrigent. Ménerbes 1953-1954

Die Ausstellung im Musée national d’Art moderne de Paris (MAM) zeigt aber wohl zum ersten Mal in großer Breite das ganze Spektrum und die Vielfalt seines Werkes.

Das MAM präsentiert die meist aus privaten Sammlungen stammenden Bilder in chronologischer Reihenfolge. Begründet wird das damit, dass Staël sich in seiner Kunst ständig verändert habe, dass fast jedes Schaffensjahr unbewusst, aber in eklatanter Weise auch einer neuen Schaffensperiode entspreche.[1a]

Vor dem Eingang zur Ausstellung wird der Besucher von dem schwarz gekleideten Nicolas de Staël empfangen: Das schwarz-weiß-Foto auf dem Plakat entstand im August 1954. Die Fotografin, Denise Colomb, veranlasste dazu den Maler, sein Atelier leerzuräumen. So präsentiert er sich, ein attraktiver Mann, in monumentaler Größe, stolz und selbstbewusst, aber auch,  die Arme verschränkt, trotzig, auf sich gestellt.

Das Frühwerk (1932/33 bis 1942

Nicolas de Staël,  eigentlich Baron Nikolaï Vladimirovitch Staël von Holstein,  aus baltischem Adel in russischen Diensten stammend, wurde 1914 in Sankt Petersburg geboren. Infolge der Oktoberrevolution flieht die Familie, die Eltern sterben, der kleine Nicolas wird in Brüssel von einer reichen russischstämmigen Familie aufgenommen. Seit 1933 studiert er an der Brüsseler Kunsthochschule. 1939 reist er nach Marokko, wo er Jeannine Guillou, ebenfalls eine Malerin, kennenlernt.  Jeannine ist zwar mit ihrem Sohn Antek (Antoine Tudal) und ihrem Mann unterwegs, den sie aber für Nicolas verlässt. Mit ihm lebt sie bis  zu ihrem Tod 1946 zusammen. Sie stirbt an den Folgen einer Abtreibung.[2] In der Ausstellung sind mehrere Portraits von ihr zu sehen, die, so in der FAZ zu lesen, an El Greco denken lassen.[3]

Etude. Visage de femme. Um 1939

Staël sagte später: „Als ich jung war, habe ich das Portrait meiner ersten Frau gemalt. Ein Portrait, ein wahres Portrait, ist doch der Höhepunkt der Kunst.“ [4]

Die Brücke von Bercy. Paris 1939

Dies ist eines der wenigen gegenständlichen Bilder Staëls, die erhalten sind, weil er die meisten seiner frühen Werke vernichtet hat. Hier sind allerdings schon wesentliche Elemente seines späteren Schaffens vorhanden: Eine Vorliebe für Landschaftsmalerei, das Nebeneinander von Wasser und Himmel, von fester Architektur und Fluss,  das Motiv des Schiffs…

Abstrakte Phase  (1942/43 bis 1951/52)

1938 kehren Staël und seine Frau nach Paris zurück. Bei Kriegsbeginn engagiert er sich als Staatenloser in der Fremdenlegion, wird aber im September 1940 nach dem Waffenstillstand  demobilisiert. Für drei Jahre lässt er sich unter ärmlichsten Bedingungen in Nizza, also  in der noch „freien“ Zone Frankreichs,  nieder, wo er die Bekanntschaft mit Sonia Delaunay, Hans Arp und der Galeristin Jeanne Bucher macht und mit der abstrakten Kunst in engere Berührung kommt. Davon angeregt vollzieht er seit 1942  er einen Wandel zu der damals in vollem Aufstieg begriffenen Abstraktion. Eine primär politische Motivation zur diesem Wandel, also Abstraktion als Akt des Widerstands, lässt sich allerdings offenbar nicht feststellen.[5]

Dass er 1943 nach Paris zurückkehrt,  mag erstaunlich erscheinen. Aber in Paris herrschte damals unter dem deutschen Besatzungsregime ein gewisses Maß an künstlerischer Freiheit, das in Nazi-Deutschland selbst völlig undenkbar gewesen wäre.

Composition. Paris 1948

Man hat Jeanne  Bucher, die eine Galerie in Paris unterhielt, als die  „La  Jeanne d ́Arc de l ́art  contemporaine“ bezeichnet. Sie  stellte unter anderem Künstler wie Dali,  Klee, Rouault, Gris, Chagall,  Picasso, Braque, Ernst, Mondrian, Freundlich, Arp oder Miró aus. Während der deutschen Besatzung  pflegte sie gute Beziehungen zu deutschen Offizieren und erwarb sich durch Ausstellungen gegenständlicher Malerei einen gewissen Freiraum. So konnte sie selbst in dieser Zeit auch avantgardistische, in Nazi-Deutschland als ‚entartet‘ diffamierte Künstler ausstellen. Für Staël war es eine große Auszeichnung, im Januar/Februar 1944 zusammen mit dem in Deutschland verfemten Kandinsky, dem großen Meister und Pionier der Abstraktion, in der Galerie von Jeanne Bucher ausgestellt zu werden.

Die Ausstellung von 1944 konnte nicht offiziell beworben werden, sprach sich aber in Künstlerkreisen herum. Besucht wurde sie von bedeutenden Künstlern wie Georges Braque, Dora Maar, Pablo Picasso, Hans Hartung und von einflussreichen Vertretern der Pariser Kunstszene.[6]

Composition. Paris 1948

Wie bei Kandinsky (Serie der Kompositionen) tragen viele von Staëls abstrakten Werken den Titel Composition. Langsam erhielt Staël nun auch endlich die erhoffte Anerkennung: 1950 kaufte das Musée national d‘Art moderne ein abstraktes Bild von Staël und in den USA wurden erste Bilder von ihm gekauft.

Composition. Paris 1950

In dieser Zeit experimentierte Staël, vielleicht angeregt durch eine Mosaikausstellung im Musée des Monuments français, mit der Verwendung von farblichen Vierecken, die zu einer abstrakten Komposition zusammengefügt werden.  

Composition fond blanc (Komposition auf weißem Hintergrund) Paris 1951

Die in dieser Zeit entstandenen Bilder können aber durchaus auch eine gegenständliche Dimension haben wie die nachfolgend abgebildete weiße Stadt.  

La Ville blanche (Die weiße Stadt). Paris 1951

Es gibt eine abgegrenzte Farbfläche, die als Umriss der Stadt gesehen werden kann, innen vielfarbige   kleine Mosaikstrukturen als Häuser, die Diagonalen als Straßen.  Auf Grund der Farbgestaltung und der  verschiedenen Farbschichten entsteht so das dynamische Bild einer kleinen Stadt. Die Malerei sollte, wieStaël 1952 in einem Interview sagte, gleichzeitig eine abstrakte und eine gegenständliche Dimension haben: „Je  n ́oppose  pas  la  peinture  abstraite  à  la  peinture  figurative. Une  peinture  devrait  être  à  la  fois  abstraite  et  figurative.“    Damit deutet sich der in dieser Zeit vollzogene Übergang zu einer neuen, der letzten Phase seines Schaffens an.

Zwischen Abstraktion und Figuration (1952 bis 1955)

Seit 1952 findet Staël zu einer eigenen Bildsprache zwischen Abstraktion und Figuration. „Er wurde zu einem Grenzgänger zwischen beiden Lagern“, da für ihn Malerei zugleich figurativ und abstrakt sein konnte. „Seine neuen Werke entwickelten einen eigenen Weg im Grenzbereich und eine Infragestellung gewohnter Seherfahrungen.“[7]

Diese letzte Phase seines Schaffens ist auch die kürzeste. Während die ersten beiden Phasen jeweils eine Dekade umfassen, beschränkt sich das ‚Spätwerk‘ Staëls auf  drei  Jahre.  Diese drei Jahre sind die erfolgreichsten und produktivsten: Der Name Staël wird zu einem Markenzeichen auf dem Kunstmarkt und seine Bilder erzielen vor allem in den USA hohe Preise; nahezu  Dreiviertel seiner gesamten  erhaltenen Werke entstehen in dieser kurzen Zeitspanne, das sind  mehr  als  700 von insgesamt 1100 Werken, die im Werkverzeichnis aufgeführt werden. [8]  

1952 und 1953 ist Staël viel unterwegs – sein Leben ist für ihn eine ständige Reise, „un continuel voyage“. Er verlässt das Atelier und malt draußen in der Natur:  in der Île de France, der Provence, der Normandie, wo er auch seinen Freund Georges Braques besucht.  Es entstehen charakteristische Werke wie der „Himmel in Honfleur“, einem Seebad an der Kanalküste, in denen ein Gleichgewicht herrscht zwischen Beobachtung und Abstraktion.

Ciel à Honfleur (Himmel in Honfleur). Paris 1952

Dazu passt, was der Maler v Kees van Dongen sagte:  „Wenn ich an die Bilder von Staël denke, sehe ich eine horizontale Linie, einen sehr weiten Horizont und darüber einen unermesslichen Himmel“.

Paysage (Landschaft) 1952

Mantes, 1952

Le parc de Sceaux. Paris 1952

Am 26. März 1952 nimmt Staël im Pariser Prinzenparkstadion an dem Fußballländerspiel Frankreich gegen Schweden teil.

Parc des Princes. 19×23,7 cm.  Paris 1952

Das  Spiel endet für Frankreich enttäuschend: Durch ein schwedisches Tor in der 86. Minute verliert die französische Mannschaft 0:1. Aber es ist das erste dort unter Flutlicht ausgetragene Fußballspiel und es inspiriert Staël zu einer Serie von Bildern, die dieses Match gewissermaßen unsterblich machen.  

Parc des Princes. 200×350 cm. Paris 1952

Der Maler hat, so das Künstler-Lexikon „Larousse de la peinture“, im Stadion einen „visuellen und emotionalen Schock“ erlitten. „Zwischen Himmel und Erde“, schreibt de Staël dem Dichter René Char, „auf einem Gras, das entweder rot oder blau ist, wirbelt eine Tonne Muskeln in völliger Selbstaufgabe und einer großartigen Präsenz. Was für ein Vergnügen, René! Ich habe sofort begonnen, an beiden Teams zu arbeiten, und schon ist Bewegung in die Sache gekommen.“

Das Hauptwerk, in einem für Staël neuen monumentalen Format, wird im Mai des Jahres ausgestellt und erregt großes Aufsehen. Man hat es „sicherlich eines der großen Werke des 20. Jahrhunderts“ genannt. [9]

Deux vases de fleurs (Zwei Blumenvasen). Lagnes 1953

Im Sommer 1953 lässt sich Staël mit seiner Familie in Lagnes, einem kleinen Ort in der Nähe von Avignon nieder. Die Familie: Das sind Nicolas und seine Frau Françoise Chapouton, die er 1946  kurz nach dem Tod von Jeannine geheiratet hatte, und es sind die drei Kinder aus der Ehe mit Françoise: Anne, Laurence und Jérôme. „Alle Anfänge sind wunderbar für die Arbeit“, schreibt Staël – und in der Tat: Die Landschaft der Provence, die Sonne, das Licht, der Wind entzücken ihn und beflügeln sein Schaffen. Und dazu kommt die Begegnung mit einer jungen Frau, Jeanne Polge, Ehefrau und Mutter, in die er sich Hals über Kopf verliebt – ein „coup de foudre“, ein wahrhafter Blitzschlag. „Quel lieu, quelle fille“, jubelt Staël, und der Jubel ist noch in der rosa Tischdecke zu spüren, auf der die beiden Blumenvasen stehen – eine vielleicht für die Frau, die andere für die Geliebte.

Grignan 1953

Staël malt die Landschaften der Provence, eher gegenständlich als abstrakt. Die Kritik wittert Verrat an der Abstraktion, sein amerikanischer Kunsthändler mahnt ihn, die Produktion von Bildern etwas zu reduzieren, um nicht die Kunden abzuschrecken.

Paysage de Provence (Landschaft der Provence) Lagnes 1953

Im August 1953 bricht Staël auf zu einem road trip nach Sizilien, für den er sich einen kleinen Lieferwagen gekauft hat. Mit dabei: Seine schwangere Frau Françoise, die drei Kinder, Jeanne Polge und eine Freundin seines Freundes René Char.

In Sizilien zeichnet Staël, Landschaften und Tempelruinen.

Sizilien 1953:  Die Säulen des Tempels von Agrigent

Nach der Rückkehr entstehen auf dieser Grundlage in Lagnes und dann Ménerbes im Luberon, wo er ein burgähnliches Anwesen kaufte,  Sizilien-Bilder mit einer reduzierten Formsprache, aber großer leuchtender Farbigkeit.

Syracuse. Ménerbes 1954

Agrigent. Ménerbes 1953/54

Und es entstehen in dieser Zeit viele mit schnellem Filzstift auf das Wesentliche beschränkte Zeichnungen und Gemälde, die die Landschaft der Provence und das Meer feiern.

Paysage Ménerbes (Landschaft Ménerbes). Ménerbes 1953

Bateaux en Méditerranée 1953/1954 (Boote auf dem Mittelmeer)

Les Martigues. Ménerbes, 1953/1954

Im Sommer 1954 ist Staël wieder in Paris. Da entsteht das schöne Bild der nächtlichen Pont des  Arts- ein Brückenbild, das einen Bogen zu dem von 1939 schlägt.

Le Pont des Arts la nuit. Paris 1954

Antibes und das Ende

Ende des Sommers 1954 verlässt de Staël seine Familie und zieht sich nach einem aufgrund vieler internationaler Ausstellungen und damit verbundener Reisen sehr anstrengendem Jahr nach Antibes zurück, wo er am Meer Ruhe finden will, aber auch die Nähe seiner bei Nizza lebenden geliebten Jeanne sucht. Hier entstehen „unter der schwarzen Sonne von Antibes“[10] noch einmal Bilder großer Intensität: In den letzten sechs  Monaten  seines  Lebens  sind es mehr  als  350!

Les poissons (Die Fische). Antibes 1955

Les Mouettes (Die Möven). Antibes 1955

Bateaux de guerre (Kriegsschiff)  Antibes 1955

Le Fort Carré d’Antibes. Antibes 1955 (Ausschnitt)

Diese Bilder gehören zu den letzten, die Staël vor seinem Freitod gemalt hat. Es ist umstritten, inwieweit sich dieses Ende schon in seinen Bildern abzeichnet. Die Ausstellungsmacher  lehnen eine psychologische Deutung ab, die in den  letzten Bildern einen Ausdruck von Melancholie und einen Vorschein der bevorstehenden Selbsttötung sehen.  Anders Jérôme Coignard und Guitemie Maldonado in Connaissance des arts (39): „Das Blau wird bleiern, das Drama steht unmittelbar bevor“.[11]

Zu dem Entschluss, sich das  Leben zu nehmen, hat sicherlich auch die Beziehung zu Jeanne Polgue-Mathieu beigetragen.  Es ist eine unglückliche Liebe: „Zum ersten Mal in seinem Leben liebt Staël mehr als er geliebt wird. Seine Leidenschaft zieht ihn hinab.“, schreibt sein Biograph Biograph Laurent Greilsamer.[12]

Nu couché bleu. Antibes 1955, 114×162 cm

Die menschliche Figur spielt in den Werken Staëls keine wesentliche Rolle. Seine Landschaften sind menschenleer. Gegen Ende seines Lebens entsteht aber eine ganze Serie von Aktbildern und -zeichnungen. Es sind Traumbilder der geliebten, aber sich immer mehr entfernenden Jeanne. Und in dem Bild der nackten blauen Frau lassen sich die beiden entgegengesetzten Farben, blau und rot, aus Ausdruck der inneren Zerrissenheit zwischen Begehren und Enttäuschung verstehen.

Vergeblich versucht Staël, sie fest an sich zu binden. Sie besucht ihn in Antibes, geht aber wieder, entfernt sich immer mehr von seinen obsessiven Ansprüchen. Er überschwemmt sie mit Briefen, manchmal schreibt er mehrere an einem Tag.  Es sind verzweifelte Briefe: „Danke, dass du mir meine Liebe zerreißt, Ich liebe dich zum Schreien, ich liebe dich zum Sterben“ oder „Kleine, du versetzt mich in einen Zustand des Wahnsinns.“ [13]

Schließlich trennt sie sich von ihm und treibt das Kind ab, das sie von ihm erwartet.

Staël schließt sich immer mehr ab, um ein für alle Mal diese Geschichte zu beenden, „à crever cette histoire“,  wie er schreibt, und beschränkt sich darauf, die ihn in seinem  Atelier umgebenden Gegenstände  zu malen.

Le Bocal. Antibes 1955

Coin d’atelier fond bleu (Ecke des Ateliers auf blauem Grund). Antibes 1955

Am 16. März 1955 stürzt er sich in den Tod. Kurz davor schickt er die von Jeanne erhaltenen Briefe ihrem Mann mit den Worten: „Vous avez gagné!“ (Sie haben gewonnen!)[14]

Praktische Informationen

Ausstellung vom 15. September 2023 bis zum 21. Januar 2024

Musée d’Art moderne de Paris

11 avenue du Président Wilson

Öffnungszeiten:

Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr

Donnerstag bis 21.30

Literatur

Laurent Greilsamer,  Le Prince foudroyé, la vie de Nicolas de Staël, Paris 2001

Petra Oepen, Nicolas de Staël, Überlegungen zu Karriere und Nachleben.  Diss. Uni Bonn 2008 https://core.ac.uk/reader/304638260

https://www.arte.tv/de/videos/111772-000-A/nicolas-de-stael-ein-maler-zwischen-himmel-und-meer/

Nicolas de Staël. Musée d’Art moderne de Paris. Connaissance des arts. Hors-série. Paris 2023

Nicolas de Staël. Musée d’Art moderne de Paris. Éditions Beaux Arts, Paris 2023

Catalogue de l’exposition sous la direction de Charlotte Marat-Mabille et Pierre Wat. Éditions Paris Musées, 2023

Anne de Staël, Nicolas de Staël, du trait à la couleur. Paris 2023


Anmerkungen

[1] So im Titel eines Arte-Films über Nicolas de Staël. Entsprechend auch: Michael Böhm, Zwischen Himmel und Meer. https://www.mare.de/nicolas-de-stael-zwischen-himmel-und-meer-content-1326

Alle Bilder dieses Blog-Beitrags, wenn nicht anders ausgewiesen, von Wolf Jöckel

[1a] Ausstellungskurator Pierre Wat in Beaux Arts, S. 6

[2] https://www.ledelarge.fr/2625_artiste_guillou__jeannine

[3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/eine-retrospektive-des-malers-nicolas-de-stael-in-paris-19206693.html

[4] Zitiert in der Informationstafel zu den ausgestellten Portraits Staëls.

[5] Oepen, S. 45

[6] Oepen, S. 50/51

[7] Oepen, S. 135

[8] Oepen, S. 131

[9] Zitate aus: Jörg Altwegg, Wie Fußball dem Künstler die Augen öffnet. In FAZ 31.10.2019 und Coignard, „Parc des Princes“, la victoire de la couleur. In: connaissance des arts, S. 23

[10] Perrine Cherchève in connaissance des arts, S. 64 Siehe auch:  https://www.connaissancedesarts.com/artistes/nicolas-de-stael/sous-le-soleil-noir-dantibes-les-derniers-mois-de-nicolas-de-stael-11184292/

[11] Connaissance des arts, S. 39. Anders der Kurator der Ausstellung Pierre Wat: „La lecture psychologisante qui voulait que, Staël s’étant suicidé à Antibes, en 1955, les tableaux de la période finale sont ceux où plane l’ombre du suicide à venir, nous semble totalement fausse.“ Beaux Arts, S. 6; entsprechend im Interview mit connaissance des arts, S. 9/10: „.. nous nous écartons de l’interprétation psychologique souvent convoquée, qui voudrait que les œuvres de la période d’Antibes soient empreintes de mélancholie et témoignent d’une préméditation de son suicide. Si l’homme a des raisons d’être déséspéré, le suicide reste inexpliquable, ou multifactoriel, et le peintre reste émerveillé et interogateur jusqu’à la fin.“

[12] « Pour la première fois de sa vie, Staël aime plus qu’il n’est aimé. Sa passion pour Jeanne le submerge“,   cit.   https://fr.wikipedia.org/wiki/Nicolas_de_Sta%C3%ABl , Anm. 121)

[13] cit. Beaux Arts, S. 16 und  Connaissance des arts, S. 64 Siehe auch: Marie Zawiska, Nicolas de Staël s’est-il suicidé par amour ? Journal des arts, 16. Oktober 2014

[14] Cit. Beaux Arts, S. 19

Der Spot 13: Ein Zentrum ephemerer Street-Art im 13. Arrondissement in Paris. (Street-Art in Paris 8)

Das 13. Arrondissement ist bekannt als ein Zentrum der Street-Art in Paris. Es sind vor allem die XXL-Formate entlang des Boulevard Vincent Auriol, die ein großes Freilicht-Museum der Street Art bilden. Die dort meist an Fassaden von Hochhäusern präsentierten Werke sind in Abstimmung mit der Stadtverwaltung und auch den betroffenen Hauseigentümern und Bewohnern angebracht. Sie erfüllen die eher einförmigen neueren Bauten des Arrondissements mit Leben, Farbe, Bewegung. Oft werden damit auch Botschaften transportiert, die zum Nachdenken anregen.

Der Spot 13 hat einen anderen Charakter: Es ist ein an der Seine gelegener unwirtlicher, unbewohnter Bereich vor allem an der Porte de la Gare und zwischen dem Boulevard du Général Jean  Simon, der zum Pont National führt,  und dem Boulevard Périphérique an der Grenze zu Ivry-sur-Seine.

Auf der anderen Seite des Boulevard Péripherique stehen die beiden markanten Hochhaustürme (Tours DUO) von Jean Nouvel. So kann man den Spot 13 nicht verfehlen.

Der schon länger existierende Spot 13 wird verwaltet von der im März 2021 gegründeten gleichnamigen Assoziation: Sie eröffnet Street-Art-Künstlern die Möglichkeit, dort zu arbeiten und -für eine begrenzte Zeit- ihre Werke zu präsentieren. Der Spot 13 ist also einem ständigen Wandel unterworfen. Insofern werden auch manche/viele der im Lauf des Jahres 2023 von Frauke und Wolf Jöckel aufgenommenen Bilder inzwischen nicht mehr existieren und sie werden anderen Produkten der Street Art Platz gemacht haben.

In dem ständigen Wandel liegt aber auch eine besondere Attraktion des Spots: Man kann fast sicher sein, bei jedem Besuch Neues zu entdecken und Street-Artisten bei der Arbeit zuzusehen:

Dabei kann man beobachten, wie  unterschiedlich die verwendeten  Techniken sind. 

Hier sind es zum Beispiel Blätter und Zweige, die auf die  Wand gelegt und dann besprüht werden: Eine spezielle Art der pochoir-Technik.

Bianca dagegen arbeitet ganz traditionell mit Palette und Pinsel – und freut sich, wenn man sich für ihre Arbeit interessiert und ihr dabei zusieht.

Einen Rundgang durch den Spot 13 beginnt man am besten mit der Galerie Itinerrance (24b Boulevard du Général d’Armée Jean Simon), gut erreichbar mit der Straßenbahnlinie T 3, Haltestelle Avenue de France. Von dort aus sind es nur wenige Schritte (Richtung Seine) zur Galerie.

Die Galerie itinerrance

Diese Galerie hat für die Street-Art des 13. Arrondissement besondere Bedeutung, weil sie, in Zusammenarbeit mit dem Rathaus des Arrondissements den Parcours der großen  Formate entlang des Boulevard Vincent Auriol entwickelt hat und noch weiter entwickelt.

Die Galerie verfügt über einen großen Ausstellungsraum, in dem Künstler der Street-Art ausgestellt werden, die aber auch Werke zum Verkauf anbieten.

Retrograffitism, Acryl auf Leinwand. Der 1974 geborene und 2023 in der Galerie präsentierte Street-Art-Künstler hat hier offensichtlich eine Anleihe bei den Papierschnitten des späten Matisse gemacht….

Am Boulevard du Général d’Armée Jean Simon

Bevor man die Treppe zum „Untergrund“ der porte de la gare  heruntergeht, sollte man sich etwas vor der Urban Arts Butik (20, Boulevard du Général d’Armée Jean Simon) umsehen, weil auch/schon dort Street-Artisten am  Werk waren.

Den bunten Urwald-Traumbildern der Künstlergruppe Louyz sind wir auch schon im kleinstädtischen  Idyll des Viertels Buttes aux Cailles im 13.  Arrondissement begegnet. Dort konnten wir sie sogar bei der Arbeit an einem großem Wandbild beobachten.

Dieser alte Mann hat offenbar aufgehört zu träumen: Erinnerungen und Traurigkeit fallen auf ihn herab wie tote Blätter – so wie in dem beigefügten melancholischen Gedicht von Jacques Prévert….

Die Treppe abwärts

Diese enge lange Treppe mit den hohen Wänden an der Seite scheint ein wahres Eldorado für Street-Artisten zu sein. Hier gibt es kaum ein Fleckchen, das noch nicht entsprechend genutzt wurde.

Links oben einer der weißen Männer von Jerôme Mesnager. Die schwarz-weiße Skelett-Katze am unteren Bildrand von Mr Byste (vielen Dank, Heike, für den Hinweis) jagt die Ratten die Treppe hinunter.

In den Gläsern spiegeln sich Bilder von der anderen Seite des Treppenabgangs.  Hier ist es zum Beispiel ein bunter Schmetterling – vielleicht ein Werk von Gérard Laux und  Michel Allemand  (Mosko), die mit ihren bunten Tieren viele Orte in Paris farbig und phantasievoll bereichern.

Der Krieg in der Ukraine ist in den französischen Medien nur ein peripheres Thema. Das ist nicht weiter erstaunlich, weil Frankreich -anders als Deutschland- bei der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen und bei der Unterstützung des Landes -selbst bei Waffenlieferungen- einen hinteren Platz einnimmt. Bei der Street-Art ist das anders….

Aus Bomben können nur Gräber entstehen.

Im „Untergrund“ der Porte de la Gare

Auf beiden Seiten des Quai d’Ivry gibt es unterhalb der Straßenüberführung und  Brücke große Räume, die -mit Gittern provisorisch abgesperrt, aber tagsüber geöffnet- zur Gestaltung wie geschaffen  sind.

Allerdings sind diese Räume so düster, dass im Allgemeinen nur mit künstlichem Licht gearbeitet werden kann. Umso bemerkenswerter sind die Ergebnisse.

Dies ist ein Werk von ROA, einem belgischen Street-Artisten, dessen Name nicht bekannt ist. ROA hat schon in allen Erdteilen gearbeitet, auch in Deutschland (Köln und Berlin). Es ehrt natürlich den Spot 13, dass er hier gleich mehrfach vertreten ist.

Und ganz in der Nähe, am den Jardins Abbé-Pierre/Grands-Moulins, gibt es ein großes Wandbild von ihm, das allerdings nicht ephemer sein soll – auch wenn es im (hier nicht abgebildeten) unteren Teil schon mit Plakaten gegen die Rentenreform überklebt ist…

Eine Hommage an die 2022 verstorbene Miss Tic, die „princesse du graffiti“

… und eine weitere an Josephine Baker, deren sterbliche Überreste 2021 ins Pantheon aufgenommen wurden.  

Als wir dieses Bild aufgenommen haben, bezog es sich auf den Krieg in der Ukraine, inzwischen hat es auf tragische Weise neue Aktualität erhalten….

Nelson Mandela: It is in your hands to  make a better world für all who live in it.

Unter den Fahrbahnen des Boulevard Périphérique

Der hauptsächliche Aktionsraum des Spot 13 ist das weite und weitgehend freie Gelände unterhalt des Boulevard Périphérique und seiner Auffahrten. Ein Vorteil dieses Gelände besteht auch darin, dass hier eine Arbeit ohne künstliche Beleuchtung möglich ist.

Frauen der Welt. Mit einem Zitat von Simone Beauvoir: „On ne naît pas femme on le devient“.  (Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es)

Ein Werk des in Paris sehr präsenten Street-Artisten Fred le Chevalier

Unter dem Pflaster liegt der Strand – oder: geht es zum Strand….


Weitere Bilder zum Spot 13 in dem Street-Art-Blog: https://streetartgallery.eu/2023/01/19/paris-silvester-2022/ 

Weitere Blog-Beiträge zur Pariser Street Art

Ein Rundgang durch La Nouvelle Athènes (das Neue Athen), Zentrum der französischen Romantik im 9. Arrondissement von Paris

Ein Stadtviertel Nouvelle Athènes/Neues Athen zu nennen, mag sehr anspruchsvoll, ja vermessen erscheinen. Es hat seine Grundlage aber im traditionellen kulturellen Selbstverständnis Frankreichs. Denn durch die Französische Revolution hatte sich Frankreich befreit, „die Freiheit, die der griechischen Kunst zur Blüte verholfen hatte, bekam nun ihren Sitz in Frankreich. Damit war Frankreich die legitime Nachfolgerin Griechenlands, als das neue Athen erhob Paris den Anspruch kultureller Hegemonie.“[1] Insofern war auch das musée Napoléon/Louvre der selbstverständliche Ort für die griechischen Kunstwerke, die Napoleon in Italien geraubt hatte, und dann auch für die weitere aus seinen Feldzügen mitgebrachte Raubkunst. Und insofern ist es auch verständlich, dass der ehemalige Bürgermeister von Paris, Jean Tiberi, sein Buch über die intellektuelle und künstlerische Attraktion von Paris „La Nouvelle Athènes“ überschrieb.[2]

Dass nun speziell ein in den 1820-er Jahren neu entstandenes Stadtviertel den Namen „La Nouvelle Athènes“ erhielt, ist einer dem Zeitgeist geschuldeten Strategie von Financiers und Architekten des Quartiers zu verdanken. Es war ja die Zeit des griechischen Unabhängigkeitskampfes gegen die osmanische Herrschaft, der eine große Sympathiewelle auslöste.  Dazu passte der Name „Neues Athen“ hervorragend. Und neben dem Bezug zum modischen Philhellenismus wurde damit gleichzeitig eine kulturelle Ambition herausgestellt, die ein entsprechendes künstlerisches, intellektuelles -und natürlich auch zahlungskräftiges Publikum ansprechen sollte. Natürlich musste dieser Anspruch auch architektonisch untermauert werden durch eine entsprechende architektonische Gestaltung, also durch Anklänge an die griechisch-römische Antike in der Tradition des französischen Neoklassizismus.[3]

Ein schönes Beispiel dafür ist das Stadtpalais (Hôtel particulier),  das die Schauspielerin Mlle Duchesnois, eine Diva der Comédie française, 1822 von dem Promoter des neuen Viertels kaufte. Das entzückende, innen reich dekorierte Schlösschen gehörte zu den ersten Bauten von „La Nouvelle Athènes“.

Das einem römischen Triumphbogen nachempfundene Portal in der rue de la Tour des Dames Nummer 7.[4]

Nicht weit davon, in der Nummer 1, befindet sich ein weiteres schönes Beispiel für den das Viertel charakterisierenden Neoklassizismus. Hier wohnte seit 1824 eine weitere bedeutende Schauspielerin, Mlle Mars.

Zwei dorische Säulen umrahmen die Eingangstür dieses hôtel particulier. Anders als in der griechischen Architektur haben sie vor allem eine dekorative Funktion- aber das reichte offenbar:  Es war damit dem Anspruch von „La Novelle Athènes“ hinreichend Genüge getan.

Elegante jonische Säulen schmücken die Rückseite des Gebäudes.

Bei dem Rundgang kann man immer wieder solche antikisierenden Elemente entdecken:

Das war Teil einer höchst erfolgreichen Marketing-Strategie: La Novelle Athènes wurde zu einem Zentrum des kulturellen Lebens von Paris und einem der „haut-lieux“, der wichtigsten Schauplätze der französischen romantischen Bewegung.[5] Dazu gehörten, um nur einige Namen zu nennen, die Maler Horace Vernet,  Delacroix,  Géricault und Gustave Moreau, die Schriftsteller Alexandre Dumas, Georges Sand, Charles Baudelaire und Théophile Gautier, die Musiker Frédéric Chopin, César Franck und Pauline Viardot, die Stars der Comédie française François-Joseph Talma, Mlle Mars und  Mlle Duchesnois, die einen angesagten Salon unterhielt, in dem auch Victor Hugo verkehrte.  

Am Ende des 19. Jahrhunderts verlor das Viertel allerdings an Anziehungskraft, der Westen der Stadt -vor allem das 16. Arrondissement- gewann nun an Attraktion. Nicht mehr das „neue Athen“, sondern der Westen mit Guimards „art nouveau“- Bauten galt nun als Ausdruck der Modernität. Und so ist La Nouvelle Athènes heutzutage, wie die Zeitung Libération 1995 schrieb „so unbekannt, dass selbst die Mehrheit seiner Bewohner noch nicht einmal den Namen kennt.“[6]

Anlass genug also für einen Rundgang durch „das Neue Athen“.  Dessen kultureller Reichtum soll anhand von sechs Stationen veranschaulicht werden.  Anfangs- und Endpunkt verfügen über Metro-Stationen und sind insofern gut zu erreichen.

A. Place Pigalle (Métro Linie 2 und 12)

B. über rue Frochot/Villa Frochot und rue Victor Massé zur

C. Cité Malhesherbes

Unterwegs: Die gusseisernen Türelemente

über rue des Martyrs, rue Clausel, place Gustave Toudouze zur

D. 4. place Saint Georges

über rue Notre Dame  de Lorette zur Kirche

E. Notre Dame de Lorette

über rue Saint-Lazare und rue Taitbout zum

F. Square d’Orléans

über rue Taitbout, rue d’Aumale, rue Catherine de La Rochefoucauld, rue La Bruyère und rue Henner zum

G. Musée de la Vie Romantique

über rue Chaptal und rue Blanche zur

H. Place Blanche (Metro Linie 2)

Es gibt darüber hinaus auch noch andere interessante Stationen: Zum Beispiel das musée Gustave Moreau in der rue de La Rochefoucauld. Das habe ich allerdings nicht berücksichtigt, weil ich kein Freund der symbolischen Malerei von Moreau bin. Da bitte ich um Verständnis…. Und natürlich kann man den Rundgang auch teilen, zum Beispiel in einen östlichen Parcours (A,B, C, D, E) und einen westlichen (E, F, G, H – evtl. mit dem Musée Gustave Moreau) – oder in einen nördlichen und einen südlichen… Es gibt viele Möglichkeiten, das „neue Athen“ zu erkunden… Auf jeden Fall: Es lohnt sich!

Place Pigalle

Aus meiner Jugend habe  ich noch den hübschen Schlager Bill Ramseys im Ohr:

Pigalle, Pigalle
Das ist die große Mausefalle mitten in Paris
Pigalle, Pigalle
Der Speck in dieser Mausefalle schmeckt so zuckersüß…[7]

Die place Pigalle gehört, und darauf bezieht sich dieses Lied, zu dem Pariser Rotlichtviertel. Dazu passt allerdings ganz und gar nicht der Name dieses Platzes: Der ist nämlich benannt nach dem Bildhauer Jean-Baptiste Pigalle, Schöpfer nicht nur der berühmten Merkur- und Venus-Statuen am Fuß des Schlosses von Sanssouci, sondern auch einer wunderschönen Darstellung Marias mit dem Jesuskind auf dem Arm in der Pariser Kirche Saint-Sulpice: Ruhig steht sie da im Glanz des himmlischen Lichts und hat die Macht des Bösen und der Finsternis, verkörpert durch eine Schlange, gebrochen.

Der Platz ist heute ziemlich unwirtlich, kein Ort zum Verweilen. Aber das soll sich bald ändern: Der Autoverkehr soll zurückgedrängt werden, es soll weniger Beton und Asphalt und mehr Platz für Fußgänger und Vegetation geben.

So soll der Platz schon 2024 aussehen! Le Parisien 11. April 2023

Villa Frochot

Verlassen wir nun diesen zu widersprüchlichen Assoziationen Anlass gebenden Platz und machen uns auf den Weg zur place Saint Georges, einem Zentrum des Nouvelle Athènes-Viertels. Auf dem Weg dorthin kommen wir am Eingang zur Villa Frochot vorbei. Das ist ein abgeschlossener Bereich mit exklusiven Villen, früher und heute bewohnt von prominenten, wohlhabenden und Ruhe suchenden Menschen.[8]

 Henri de Toulouse-Lautrec hatte  hier ein Atelier speziell für seine Aktmalerei, Jean Renoir und Django Reinhardt haben hier gewohnt.  Normal Sterblichen ist der Zugang aber leider verwehrt.

 Immerhin kann man vor dem Eingang die schöne Glasmalerei im Art Déco-Stil bewundern, die bei Dunkelheit festlich erleuchtet ist.[9]

Bei diesem Glaskunstwerk soll die berühmte Welle von Hokusai aus dem 19. Jahrhundert Pate gestanden haben:

Sehenswert sind auch die beiden seitlichen gusseisernen Türen.

Hier dienen sie sogar als Hintergrund für Modefotografien.

…. besonders für den Hund war das eine arge Geduldsprobe, und er konnte nur mit zahlreichen „Leckerlis“ dazu bewegt werden, unbeweglich auf seinem Platz auszuharren….

Unterwegs: Die gusseisernen Türelemente

Bei dem Rundgang sollte man auch immer einen Blick auf die Eingangstüren der Häuser werfen..

Man wird dann nämlich immer wieder schöne gusseiserne  Türelemente entdecken, die typisch für das Viertel sind. Besonders in der Entstehungszeit des „Neuen Athens“ waren diese Elemente sehr beliebt. Es gibt sie fast überall in Paris, aber hier sind sie besonders phantasievoll und vielfältig.

Sie haben nicht nur einen ästhetischen Wert, sondern sie hatten auch eine ganz praktische Funktion: Auf diese Weise konnten die Bewohner leicht erkennen, wer da vor der Tür stand und Einlass begehrte….

Diese Türelemente waren keine Einzelstücke. Die aus Katalogen ausgewählten Motive wurden mit Hilfe vorhandener Formen reproduziert, was die Kosten senkte. 

So konnte man es sich leisten, sogar die Tür eines Abstellraums für Hausmüll mit einer solchen Verzierung auszustatten…. Aber vielleicht war das früher ja einmal der Raum für die Concierge…

Gerade in Nouvelle Athènes, das für eine zahlungskräftige Klientel gebaut wurde, gab es oft besonders breite Türen mit zwei Türflügeln. Das waren die sogenannten „cochères“, also Einfahrten für Pferdedroschken, die von einem Kutscher (cocher) gefahren wurden. Solche breiten Türen waren dann auch ein deutlicher Hinweis auf den Wohlstand der dort lebenden Menschen. Auch die gusseisernen Türelemente sollten natürlich dazu passen:

Hier zum Beispiel auf dem linken Türflügel eine gekrönte junge Dame….

…. und auf dem rechten Türflügel der dazu passende noble Mann….

Die Cité Malhesherbes

Bevor es weitergeht zur place Saint- Georges sollte man nicht versäumen, einen kleinen Abstecher zur Cité Malhesherbes zu machen, die man über die rue Victor Massé erreicht. Eine Gedenktafel am Haus Nummer 12 erinnert daran, dass Rodolphe Salis hier sein zweites Kabarett Le chat noir einrichtete.

Die berühmte schwarze Katze Steinleins, die -auf Tassen, T-Shirts, Schlüsselanhängern etc abgebildet- zu den klassischen Paris-Souvenirs gehört, wurde für dieses Kabarett in der rue Victor Massé -damals rue de Laval- entworfen. Hier ist es der Street-Artist AA (Amour/Anarchie), der die Erinnerungstafel entsprechend bereichert hat.

Die Cité Malhesherbes ist wie alles Cités dieser Zeit ein abgeschlossener Bezirk. Im Gegensatz zur Cité Frochot ist es allerdings unter der Woche möglich, über den Eingang an der place Lino Ventura/59, rue des Martyrs hineinzugelangen. Benannt ist die Cité Malhesherbes nach Guillaume de Lamoignon de Malesherbes. Der war Rechtsbeistand von König Ludwig XVI. bei dessen Prozess, der mit dem Todesurteil endete. Am 22. April 1794 fiel auch der Kopf von Malhesherbes unter der Guillotine. Sein Anwesen wurde konfisziert und Mitte des 19. Jahrhuderts neu bebaut. Ein kleiner Rundgang lohnt sich durchaus, weil es dort einige schöne hôtels particuliers zu sehen und zu bewundern gibt.

Vor allem das hôtel Jollivet, das für den Maler Pierre-Jules Jollivet errichtet wurde.

Jollivets Spezialität waren Bilder aus emaillierter/glasierter Terrakotta. Beispiele seiner Kunst ließ er auch auf der Fassade seines Hauses anbringen.

Der deutsch-französische Pariser Stadtbaumeister Jacques Ignace Hittorff  schätzte die Arbeiten von Jollivet sehr und beauftragte ihn deshalb mit der Ausschmückung der Fassade der Kirche Saint-Vincent-de-Paul.

Sehenswert ist auch das Eckhaus Nummer 17, die Villa Clara mit dem neugotischen Türmchen.

Besonders schön die beiden Medaillons auf rotem Grund. In der Villa soll es auch Gästezimmer (chambres d’hôtes) geben: Sicherlich ein nobler Ort für einen kleinen Paris-Trip….

Das Haus Nummer 12 der Cité war übrigens Sitz der SFIO (Section française de l’International Socialiste) und von 1936 bis 1975 ihrer Nachfolgerin, der Parti Socialiste. Heute beherbergt das Haus die Fondation Jean Jaurès, das Pendant der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung.

Der Platz Saint- Georges

Der zu dem städtebaulichen Projekt des „Neuen Athens“ gehörende Platz Saint-Georges sollte unbedingt zu einem Spaziergang durch das Neue Athen gehören. Es handelt sich nicht um einen geschlossenen Platz, sondern mehrere Straßen laufen auf ihn zu. Die Mitte wurde zunächst durch einen Brunnen markiert, den Gustave Caillebotte 1880 malte.[10]  Die breite untere Brunnenschale weist darauf hin, dass der von eleganten Lampen umgebene Brunnen zunächst vor allem als Pferdetränke angelegt war.

Seit 1903 steht hier das Denkmal für Paul Gavarni, einen Grafiker und Karikaturisten des 19. Jahrhunderts.

Vorbild für die Anlage des Platzes soll die im 17. Jahrhundert entstandene Place des Victoires  Ludwigs XIV.  gewesen sein, einer der 5 königlichen Plätze von Paris. So herrschaftlich- monumental und einheitlich ist der Platz Saint-Georges sicherlich nicht, aber er hat einen unverkennbaren Charme; vor allem durch die kleinen Vorgärten der umgebenden Häuser und deren edle Fassaden.

 Place Saint-Georges Nummer 28: Der Salon der Gräfin Païva

Ein schönes Beispiel dafür ist das Haus Nummer 28 mit seiner reich gegliederten Fassade, die schon Balzac bei seinen Spaziergängen durch das Viertel auffiel. [11]

Er habe da „ein Haus aus dem 16. Jahrhundert,  ganz neu,“ entdeckt. [12] In der Tat: Der Stil dieses Hauses ist nicht mehr, wie am Anfang von Nouvelle Athènes, der Neoklassizismus, sondern die Neorennaissance, die -zusammen mit der im Viertel auch präsenten Neogotik- die Ära des Neoklassizismus ablöste. Aber natürlich sind auch da die Anklänge an die Antike unverzichtbar: Hier vor allem durch die an Helm und Schild erkennbare Statue der Minerva/Athena.  Zusammen mit der Abondance, der Allegorie des Überflusses mit ihrem Füllhorn, rahmt sie das Mittelfenster über dem Eingang ein.  Bei den beiden Medaillons zu ihren Füßen könnte es sich um Portraits des Besitzers und des Architekten des Gebäudes handeln.

Foto: Wolf Jöckel

Vor allem ist die Prominenz dieses Hauses allerdings der skandalumwitterten Gräfin Païva zu verdanken, die hier einmal wohnte. Als Tochter eines aus Polen stammenden armen jüdischen Webers war Thérèse Lachmann in Moskau aufgewachsen, hatte sich dann, Mann und Kind zurücklassend, in ihre Traumstadt Paris aufgemacht, um dort ihr Glück zu suchen. Zunächst schlug sie sich als Prostituierte in Neu Athen durch, bevor sie, mit einem unbändigen Aufstiegswillen und einer „beauté de diable“ ausgestattet, zur Kurtisane aufstieg. Durch eine nur formelle Heirat mit einem portugiesischen Adeligen wurde sie zur Gräfin Païva. In der von ihr gemieteten Wohnung an der Place Saint-Georges führte sie das Leben einer anspruchsvollen Kurtisane („une courtisane de haute volée“), deren Salon einer der gesuchtesten von Paris war. Stammgäste dort waren „die drei Musketiere der Thérèse“, ihre engsten Freunde: der Schriftsteller Théophile Gautier, der Journalist und Kunstkritiker Graf Paul de Saint-Victor und Arsène Houssaye, ebenfalls ein Journalist, Schriftsteller und Literaturkritiker- alles höchst prominente Figuren der Pariser intellektuellen Szene. Aber das war noch nicht das Ende ihres Aufstiegs: Schließlich gelang es ihr, die Gunst eines der reichsten Männer Europas zu gewinnen, des schlesischen Kohlebarons Henckel von Donnersmarck. Der heiratete sie und  errichtete ihr ein Stadtpalais an den Champs-Elysées, das noch heute existierende Hôtel Païva.  Es ist also irreführend, wenn, wie oft üblich,  das Haus an der Place Saint-Georges Hôtel Païva genannt wird. Es war ja gar kein hôtel particulier, sondern sozusagen ein Haus mit Mietwohnungen, und die Païva war hier nur zwischenzeitliche Mieterin.  An den Champs-Elysées dagegen war sie die unbeschränkte Herrin, die dort mit unbegrenzten Geldmitteln ihren Traum eines Märchenschlosses, ihr eigentliches Hôtel Païva, verwirklichen konnte.

 place Saint-Georges Nummer 27: Fondation Dosne-Thiers und Bibliothèque

Ein weiteres repräsentatives Gebäude am Platz Saint-Georges ist das der Stiftung Dosne-Thiers. Das Stadtpalais (Hôtel particulier) war lange Zeit der Wohnsitz des Historikers und Staatsmannes Adolphe Thiers und seiner Frau Élise Dosne. Die letzte Erbin vermachte das Anwesen 1905 dem Institut de France.

Das noble Interieur [13] kann von zahlungskräftigen Interessenten gemietet werden, es finden aber auch von Zeit zu Zeit öffentliche Konzerte statt.

(Foto Wolf Jöckel)

Ein wesentlicher Bestandteil der Stiftung ist die auf Napoleon und das 19. Jahrhundert spezialisierte Bibliothek, die für Studienzwecke genutzt werden kann.

Allerdings wurde das Gebäude der Stiftung erst in den Jahren nach 1873 errichtet. Davor gab es einen Vorgängerbau  aus den Anfangsjahren von La Nouvelle Athènes, der vom Schwiegervater Adolphe Thiers‘ errichtet worden war. [14]

„Maison de Monsieur Thiers place Saint-Georges. Photographie de Ernest Charles Eugène Appert. Paris, musée Carnavalet.

Thiers kam in den 1820-er Jahren aus der Provinz nach Paris, wo er schnell Karriere machte. Er wurde mehrfach Minister, in den 1830-er und 1840-er Jahren mehrmals Ministerpräsident (Président du Conseil), von 1871 bis 1873 Präsident der französischen Republik. Durch die Heirat mit Elise Dosne residierte er „im Herzen des Neuen Athens“,  als Journalist, Historiker und Politiker also genau am rechten Ort. [15] 1871 beendete er den deutsch-französischen Krieg und schlug mit rücksichtsloser Härte die Pariser Commune nieder. In einem symbolischen, aber hilflosen Akt des Widerstands zerstörte die Commune das Haus. [16]

Dank des Engagements des Malers Gustave Courbet, des damaligen „Kultusministers“ der Commune, konnte aber die wertvolle Einrichtung des Hauses und vor allem die Bibliothek gesichert und gerettet werden. Gedankt wurde ihm das allerdings nicht…. [17]

Fondation Taylor (1, rue la Bruyère)

Am Platz Saint-Georges hat noch eine weitere Stiftung ihren Sitz, und zwar die Fondation Taylor. Sie wurde schon 1844, also zur romantischen Blütezeit von La Nouvelle Athènes, von dem Philanthropen Isidore Taylor gegründet.

Zweck ist die Unterstützung von Künstlern, der vor allem regelmäßige und wechselnde Ausstellungen in den Räumen des Hauses dienen.  Der Erlös der verkauften Werke kommt allein den Künstlern zugute.

Zur Fondation gehört auch das Atelier im obersten Stockwerk: Die jonischen Kapitelle verweisen darauf, dass wir uns hier mitten im Viertel Nouvelle Athènes beffinden.

Und innen gibt es ein schönes  Mosaik der Musen.

Hier ein Blick in die Apsis des Ausstellungsraums anlässlich einer von unserem Freund Carlos Lopez kuratierten Grafik-Ausstellung im November/Dezember 2021 [18]

Neben dem Eingang hat auch der Invader seine Spuren hinterlassen….

Notre Dame de Lorette

Diese Kirche wurde von 1823 bis 1836 im Stil einer römischen Basilika errichtet, ein hervorragendes Beispiel des französischen Neoklassizismus. Dem Namen des Viertels entsprechend hätte ja eher ein Tempel im griechischen Stil errichtet werden müssen, aber der wäre hier völlig fehl am Platze gewesen. Und der französische Neoklassizismus orientierte sich ja sowieso eher an der imperialen römischen Architektur, die Größe, Macht und Autorität ausstrahlte: Zu den Zeiten Napoleons und der bourbonischen Herrscher davor und danach höchst willkommene politische Botschaften. 

Foto: Wolf Jöckel

Der scharfzüngige Kunstkritiker Théophile Gautier hat ein vernichtendes Urteil über die Kirche gefällt: Der Portikus bestehe aus vier viel zu eng nebeneinanderstehenden Säulen und einem Giebel mit einem verabscheuungswürdigen Basrelief. Der viereckige Glockenturm sehe aus wie das Taubenhaus auf einem Bauernhof.[19] Die Kritik am Glockenturm kann ich nachvollziehen, die an den vier eng beeinander stehenden Säulen eher nicht: Gerade in der Perspektive von der rue Laffitte aus, auf die sich Gauthier bezieht, ergibt sich doch ein überzeugender Eindruck des Portikus, der danach noch durch den Bau der Kirche Sacré Cœur gesteigert wurde.

Der Innenraum der Kirche beeindruckt mit ionischen Säulen und einer Kassettendecke.

Aristide Cavaillé-Coll baute in der Kirche 1836–1838 eine seiner ersten  Orgeln auf. Der Komponist César Franck war hier von 1846 bis 1859 Organist.

Bemerkenswert ist übrigens auch in einer Seitenkapelle die Tür der Zelle, in der der Abbé Sabattier eingeschlossen war, bevor er mit anderen Geiseln in den letzten Tagen der Pariser Commune, der semaine sanglante,  in der rue Haxo erschossen wurde.[20]  Es wird sich dabei sicherlich um eine Tür aus dem  Roquette-Gefängnis handeln, wo  die Geiseln vor ihrer Exekution gefangen  gehalten wurden.

Und bemerkenswert sind die Kreuzwegstationen, die von der Porzellanmanufaktur von Sèvres hergestellt wurden.

Aber auch das Innere fand vor Gauthier keine Gnade. Es sähe aus wie ein Boudoir -also ein Damenzimmer mit erotischen Konnotationen-  und auf diese Weise befinde sich die Kirche genau am rechten Platz.

Damit spielt Gauthier auf die 1841 von dem Journalisten Nestor Roqueplan so genannten Lorettes an, einer von der Kirche abgeleiteten Bezeichnung.  Allerdings führten die Lorettes einen wenig Kirchen-kompatiblen Lebenswandel. Es waren nämlich Mädchen, die allein vom „Verkauf ihrer Reize“ (wie es im Französischen so schön heißt) an verschiedene Männer lebten, anders als die Grisettes, die auch noch einem „bürgerlichen Beruf“ nachgingen, oder die Kurtisanen, die von einem reichen Mann ausgehalten wurden. Nach Balzac war das Wort Lorette eine dezente Bezeichnung für den zweifelhaften Status eines Mädchens, weshalb die Akademie française in Anbetracht des (fortgeschrittenen) Alters ihrer Mitglieder auf eine Definition verzichtet habe.[21]  Die Lorettes konzentrierten sich seit den 1820-er Jahren gerade in dem neu entstehenden Nouvelle Athènes: Die Käufer der Appartements vermieteten diese nämlich zunächst gerne zum Trockenwohnen an die Lorettes, die sich so für wenig Geld ein nobles und auch für ihre Kunden attraktives Ambiente leisten konnten. 

Square d’Orléans  (80, rue Taitbout)

1829 erwarb der englische Architekt Edward Cresy das Areal, um dort ein Immobilienprojekt nach englischem Vorbild zu verwirklichen: In der Mitte ein großer rechteckiger Platz, darum herum mehrere mehrstöckigen, zum Teil sehr repräsentative Bauten mit zum Verkauf bestimmten Wohnungen. Antike Anklänge wie auch hier die ionischen Säulen gehörten im „Neuen Athen“ natürlich unbedingt dazu.

Seit seiner Fertigstellung 1832 gehörte der zunächst nach dem damals regierenden „Bürgerkönig“ Louis-Philippe benannte Platz zu den gesuchtesten Adressen der künstlerischen Elite der Stadt.

Einer der ersten Mieter in dem neuen Areal war der Schriftsteller Alexandre Dumas, der 1831 in die Nummer 3 einzog -zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin, seiner gerade geborenen Tochter Marie-Alexandrine und dem 6-jährigen Alexandre. Dumas war aktiv an der Julirevolution beteiligt, dazu passte auch, dass er den Square Louis-Philippe als Wohnsitz wählte, auch wenn er bald auf Distanz zum neuen König ging. In die Geschichte des Platzes ging das Fest ein, das er an Fasching 1833 auf dem Platz veranstaltete und zu dem er, wie er in seinen Memoiren schrieb, „fast alle Künstler von Paris“ eingeladen hatte; mehr als 700 seien es gewesen. [22]

In Nummer 7 wohnte der Maler Edouard Dubufe, der in der Zeit des Zweiten Kaiserreichs Napoleons III. gewissermaßen zum Hofmaler avancierte. Er portraitierte nicht nur Kaiserin Eugénie,sondern auch Künstlerkollegen wie seinen Nachbarn Alexandre Dumas, Alfred de Musset, den Komponisten Gounod und -nicht zuletzt- die Tiermalerin Rosa Bonheur. 23]

Seit 1840 lebte auch die gefeierte Pianistin und Mezzo-Sopranistin Pauline Viardot hier. Sie war sehr eng befreundet mit dem damals liierten Künstlerpaar Frédéric Chopin und Georges Sand. Die ließen sich im Oktober 1842 im Square Louis-Philippe/Square d‘Orléans nieder.

Repräsentativer Eingang zur Wohnung von George Sand (die Nummer 5)–  diesmal sind es Säulen mit dorischem Kapitell, die ein „Nouvelle Athènes“- Gefühl vermitteln sollen. 

Chopin wohnte in einem kleinen Erdgeschoss-Appartement in der Nummer 9.

Georges Sand schrieb über diese Zeit in ihrer Autobiographie, sie und Chopin hätten nur über einen großen Hof gehen brauchen, um sich zu treffen, ob bei ihr oder -wenn er bereit gewesen sei Musik zu machen- bei ihm. [24]

Hier zwei Skizzen von Chopin und George Sand für ein geplantes Doppelportrait der beiden, das allerdings nicht ausgeführt wurde. [25]

Zu den Bewunderern von Georges Sand gehörten ihr Nachbar Alexandre Dumas,  Honororé de Balzac, Gustave Flaubert, Franz Liszt, mit dem sie vor Chopin liiert war, und auch der in der Nähe wohnende Heinrich Heine. Für ihn war George Sand „der größte Schriftsteller, den das neue Frankreich hervorgebracht“, und er verehrte sie, ebenso wie Chopin, den „Raphael des Fortepiano.“ 26]

Allein die hier exemplarisch genannten Personen vermitteln einen Eindruck, welche Bedeutung der Square d‘Orléans in der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Zentrum künstlerischen Lebens in Paris hatte. Heute haben dort teilweise Büros ihren Platz, so dass er immerhin unter der Woche frei zugänglich ist.

Musée de la vie romantique  (16, rue Chaptal)

Das Romantik-Museum befindet sich im ehemaligen Wohnhaus des Malers Ary Scheffer, das 1830 erbaut wurde. Ary Scheffer war Holländer, ließ sich aber in Paris nieder und wurde Zeichenlehrer der Kinder des späteren Königs Louis Philippe. Dazu war er ein gesuchter Portraitist.

Thomas Phillips, Portrait von Ary Scheffer (um 1840)

Le Tout-Paris romantique, das ganze „romantische Paris“ traf sich in seinem Haus: Georges Sand, Chopin, Delacroix, Rossini, Liszt, Thiers, Dickens…

Foto: Wikipedia/Velvet

Das Erdgeschoss präsentiert  Portraits, Möbel und Schmuck aus dem 18. und 19. Jahrhundert und ist Georges Sand gewidmet. Zu sehen sind einige „Devotionalien“….

…und .ihr Portrait von Auguste Charpontier (zwischen 1837 und 1839)….

… und einige schöne Landschaftsbilder von George Sand, die sogenannten „dendrites“.

George Sand verwendete dabei eine spezielle Technik: Sie verteilte Farben auf dem Papier und legte dann das Blatt einer Pflanze darauf. Durch unregelmäßigen Druck auf dieses Blatt entstanden Muster -ähnlich wie bei Versteinerungen- die sie weiter bearbeitete. „Mit Hilfe meiner Phantasie sehe ich Bäume, Wälder oder Seen, und ich verstärke die vom Zufall produzierten ungefähren Forrmen“, schrieb Georges Sand dazu. Im Begleittext zu diesen Bildern wird vermerkt, dass später auch Max Ernst eine solche Technik verwendet habe…

In der ersten Etage befinden sich Gemälde des Malers Ary Scheffer und einige Werke seiner Zeitgenossen.

Hier Scheffers Portrait der Sängerin Pauline Viardot (1840)

 Im Garten des Museums lädt der Teesalon Rose Bakery zu einer Pause ein.

Foto: Pierre Antoine aus: https://museevieromantique.paris.fr/fr/salon-de-th%C3%A9-informations-pratiques

Über die rue Blanche zur place Blanche

Zum Abschluss unseres Rundgangs geht es nun über die rue Blanche zur place Blanche. Der Name, „weiß“ bezieht sich darauf, dass über diese Straße der auf dem Hügel von Montmartre abgebaute weiße Kalkstein (plâtre) in die Stadt und auch zur Verschiffung an die Seine transportiert wurde. Der Kalkstaub färbte die Straße und die umliegenden -sonst eher grauen- Gebäude weiß.[27] Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese Steinbrüche von Montmartre ausgebeutet.  

Hier ein Bild des Hügels von Montmartre mit dem Weg zu den Steinbrüchen und einer der früher typischen Windmühlen.[28] Von denen ist kaum noch etwas übrig geblieben. Aber die berühmte, wenn auch erst im 19. Jahrhundert entstandene Moulin Rouge an der place Blanche erinnert noch an diese Vergangenheit. Insofern hat auch dieser Platz -wie die place Pigalle- einen doppelten  Bezug: zu dem Weiß des Kalksteins und dem Rot der Mühle und des umliegenden Vergnügungsviertels.   


Anmerkungen

[1] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/3085/1/Allroggen-Bedel_Winckelmann_Die_Villa_Albani_2007.pdf  S. 114

Alle Fotos des Beitrags, wenn nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel

Ich danke Inès Duhesme, die mich auf einem Spaziergang durch das Viertel begleitete, für ihre Anregungen. Detlev Harms danke ich für die Erstellung der Karte.

[2] Jean Tiberi, La Nouvelle Athènes. Paris, capitale de l’esprit. Paris 1992

[3] Siehe dazu: https://www.hisour.com/de/neoclassicism-in-france-29435/

[4] Bild aus: https://www.montmartre-secret.com/2017/11/masemoiselle-duchesnois.une-tragedienne-rue-de-la-tour-des-dames.html

[5] Siehe: Colette Becker, Les Hauts Lieux du Romantisme en France. Paris 1991, S. 234f

[6] https://www.liberation.fr/libe-3-metro/1995/08/19/nouvelle-athenes-au-hasard-des-mysteres-entre-pigalle-et-trinite-hotels-particuliers-et-vieux-jardin_141134/

[7] https://www.youtube.com/watch?v=hR2FnLodERM

[8] https://www.pariszigzag.fr/insolite/histoire-insolite-paris/avenue-frochot-privee-hantee

[9]https://www.architecture-art-deco.fr/verriere-art-deco-2-rue-frochot-paris.html

[10] https://fr.wikipedia.org/wiki/Monument_%C3%A0_Gavarni#/media/Fichier:Gustave_Caillebotte_-_La_Place_Saint-Georges.jpg

[11] Bild aus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Paris_Place_Saint-Georges_2.jpg

[12] Zit. bei Caron, S. 28

[13] Bild aus: https://www.fondation-dosne-thiers.fr/informations-pratiques/

[14] Nachfolgendes Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Fondation_Dosne-Thiers#/media/Fichier:H%C3%B4tel_Thiers_1846.jpg

[15] https://www.europexplo.com/visite-de-la-fondation-dosne-thiers/

[16] Bild aus: https://www.commune1871.org/la-commune-de-paris/histoire-de-la-commune/illustres-communards/711-courbet-dans-la-commune-2

[17] Siehe dazu den Blog-Beitrag https://paris-blog.org/2021/06/14/150-jahre-abriss-der-vendome-saule-durch-die-commune-teil-2-der-fall-der-saule-und-der-fall-courbets/

[18] Es gibt in jedem Jahr eine Grafik-Ausstellung in der Fondation. Zu der letzten (2022): https://www.taylor.fr/expositions/2022/choro-bestiarum-la-taille-et-le-crayon

[19] Zit. bei Caron, La Nouvelle Athènes, S. 19

[20] https://www.histoires-de-paris.fr/massacre-rue-haxo/

[21] «Lorette est un mot décent pour exprimer l’état d’une fille d’un état difficile à nommer et que, par pudeur, l’Académie a négligé de définir, vu l’âge de ses quarante membres.» Zit. in: https://www.liberation.fr/libe-3-metro/1995/08/19/nouvelle-athenes-au-hasard-des-mysteres-entre-pigalle-et-trinite-hotels-particuliers-et-vieux-jardin_141134/

[22] Caron, S. 87/88

[23] Siehe dazu die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2022/12/15/beruhmt-vergessen-und-wiederentdeckt-die-tiermalerin-rosa-bonheur-im-musee-dorsay/ und https://paris-blog.org/2022/08/12/das-chateau-de-by-von-rosa-bonheur-ihre-arche-noah-im-wald-von-fontainebleau/

[24] Le Square d’Orléans http://www.neufhistoire.fr/articles.php?lng=fr&pg=310&prt=1 

[25] Portrait of Frédéric Chopin and George Sand – Wikipedia

[26] DHA (Düsseldorfer Heine-Ausgabe), Bd XIII, S. 125

[27] https://www.rtl.fr/actu/debats-societe/la-rue-blanche-marquee-par-les-carrieres-de-platre-de-montmartre-7784171855

[28] https://www.montmartre-secret.com/2022/05/la-rue-blanche.paris-9.html