Die einzigartige historische Jagdtapete „La Chasse de Compiègne“ in Paris und im württembergischen Dätzingen

Gegenstand dieses Beitrags ist die Panoramatapete La Chasse de Compiègne.[1] Panoramatapeten bestehen aus mehreren mit Holzmodeln bedruckten Papierbahnen, die rundum an allen Wänden eines Raums befestigt werden. Zusammengefügt entsteht so ein sogenanntes Panorama: Der Betrachter, der sich in der Mitte des Raums befindet, hat den Eindruck, von einer ländlichen oder städtischen Szene oder historischen Ereignissen umgeben zu sein, die ihn gedanklich in eine andere Zeit oder an einen anderen Ort versetzen. Über hundert Motive wurden hauptsächlich zwischen 1800 und 1855 von Manufakturen in Paris, Lyon und Rixheim im Elsass produziert. Im Laufe des 19. Jahrhundert hatten sie zunächst in Europa, dann weltweit einen überwältigenden Erfolg.

Dass ausgerechnet La Chasse de Compiègne Gegenstand des nachfolgenden Beitrags ist, hat mehrere Gründe:

  • Es ist eine der ersten Panorama-Tapeten überhaupt und die erste mit einem Jagdmotiv
  • Wegen des bedeutenden Künstlers, der sie entworfen hat
  • Weil die Manufaktur, die sie hergestellt hat, eine äußerst interessante Geschichte hat und dazu auch noch in dem Faubourg Saint-Antoine in Paris lag, dem wir in besonderer Weise verbunden sind.
  • Es gibt von der Chasse de Compiègne nur noch wenige Exemplare, davon eines im Musée de la Chasse et de la Nature in Paris [2a]
  • Weil aber ein vollständiges und nach erfolgter Restaurierung hervorragendes Exemplar wieder seinen Weg nach Dätzingen bei Stuttgart gefunden hat. Also geht es hier auch um eine auf diesem Blog besonders willkommene deutsch-französische Geschichte.

Und schließlich auch noch ein kleiner kulturgeschichtlicher Nutzen der Jagdtapete: Sie widerlegt nämlich verbreitete Hypothesen zum Ursprung eines emblematischen französischen Kulturguts: des Baguette….

Der Künstler

Entworfen wurde die Jagdtapete 1812 von dem Künstler Antoine Charles Horace Vernet, genannt Carle Vernet. Carle stammt aus einer bedeutenden Malerfamilie: Sein Vater, Joseph Vernet, war ein auf Seestücke spezialisierter Maler. Sein Sohn und Schüler, Horace Vernet, war einer der erfolgreichsten Maler seiner Zeit, der in seinen Schlachtbildern die Siege Napoleons und des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe feierte. Dabei konnte Horace in besonderem Maße nutzen, was er bei seinem Vater gelernt hatte: Der hatte sich nämlich auf Reiterszenen spezialisiert.

1789 war Vernet mit seinem monumentalen, 13 Meter langen Gemälde „Der Triumph des Aemilius Paullus“ in die Académie royale de Peinture et de Sculpture aufgenommen worden, ein Bild, das seinen Ruhm als eines Meisters der Pferdedarstellung begründete.

Metropolitan Museum of Arts (New York)

Eines seiner berühmtesten Bilder ist „Le matin d’Austerlitz“, das Napoleon -natürlich hoch zu Ross- inmitten seiner Generäle zeigt, denen er Befehle für die Schlacht gibt.[3]

Napoleon bewunderte das Bild auf dem Salon von 1808 und zeichnete daraufhin Vernet, der ihn schon auf seinem Italienfeldzug begleitet hatte, mit dem Orden der Ehrenlegion aus. Die Aufträge für Napoleon und seine Umgebung -wie die Marschälle Davoud und Berthier häuften sich. Berthier war nämlich von Napoleon in den Rang eines Grand Veneur (obersten Jagdmeisters) erhoben worden und so lag es nahe, dass er für die in der damaligen Zeit besonders geschätzten Jagdszenen Carle Vernet engagierte.

Charles-Horace Vernet, genannt Carle: Chasse de l’empereur Napoléon Ier au bois de Boulogne, musée de l’Ermitage à Saint-Pétersbourg.

Hier eine „Scène de chasse“ von Vernet, die die Jagd als gesellschaftliches Ereignis der Aristokratie in Szene setzt: Eine große Zahl von Reitern ist um die Bodensenke versammelt, in die ein Hirsch von einer großen Hundemeute gejagt wurde. Am oberen Rand der Senke betrachten Damen in ihrer Kutsche das Spektakel.

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Der in der linken Mitte des Gemäldes postierte Chef der Jagdgesellschaft setzt nun den tödlichen Schuss. Der Schütze ist hervorgehoben durch die weißen Hosen und -aus der Nähe betrachtet- unschwer als Napoleon höchstpersönlich zu erkennen. Der Kaiser war ein leidenschaftlicher Jäger: Allerdings war er kein sehr treffsicherer Schütze. Neben ihm ist aber ein Begleiter postiert, auf dessen Schulter er das Gewehr anlegen kann. Napoleon selbst hat dieses Gemälde bei Vernet bestellt: Die Jagd war für ihn weniger ein persönliches Vergnügen, sondern sie diente der Einübung militärischer Tugenden, die eine „große Nation“ auszeichneten. Und das Bild diente – wie überhaupt die Kunst des Empire- der Überhöhung Napoleons und der Herausstellung seines Ranges. [3a]

Die Tapete

Carle Vernet war aufgrund seiner Nähe zum Kaiser und seines Ranges als Maler von Pferden und Jagden also geradezu prädestiniert, eine große Jagdtapete zu entwerfen. Seine monumentale Darstellung des Triumphs des Aemilius Paulus hatte ja auch schon Panoramacharakter, und sie zeigt, wie brillant er aufwändige Szenen mit einer Vielzahl von Personen gestalten konnte: Beste Voraussetzungen also, ein bedeutendes und erfolgreiches Werk zu schaffen.

 La Chasse de Compiègne zeigt in vier Episoden die Jagd einer adeligen Gesellschaft. Anders als bei üblichen Tapeten werden also nicht Muster serienmäßig reproduziert, sondern es wird eine Geschichte erzählt. Sie beginnt mit dem „Auszug der Jagdgesellschaft vor den Parkgittern des Schlosses von Compiègne“.[4]

Musée de la Chasse et de la Nature, Paris

Mit der Wahl von Compiègne als Ausgangspunkt der Jagd befand sich Vernet ganz auf der Höhe der Zeit. Auf Befehl Napoleons war nämlich das Schloss gerade instandgesetzt und erweitert worden. 1810 hatte der Kaiser dort die Erzherzogin Marie Louise, die Tochter des österreichischen Kaisers, empfangen, die er geheiratet hatte, um seine Macht zu konsolidieren und um von ihr den ersehnten Thronfolger zu erhalten.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Bei den Umbauarbeiten wurde auch der Garten erneuert und zum umliegenden Wald geöffnet, indem die Umfassungsmauer durch ein Parkgitter ersetzt wurde, das auf dieser ersten Szene der Jagdtapete deutlich zu erkennen ist.

   Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Offensichtlich handelt es sich um eine sehr noble Jagdgesellschaft- darauf deutet das Wappen auf dem Wagen hin. Eine eindeutige Zuordnung des Wappens ist zwar nicht möglich, es verweist allerdings auf Napoleons jüngste Schwester Caroline. Dies könnte die Dame im lilafarbenen Kleid sein, die oberhalb des Wappens platziert ist und auch in weiteren Szenen der Jagd zu sehen ist. Besonders beim abschließenden Picknick spielt sie wieder eine hervorgehobene Rolle. [5] Historisch belegt ist die wichtige Rolle Carolines bei der Verbindung Napoleons mit Marie-Louise: Auf Wunsch Napoleons holte seine Lieblingsschwester die künftige Frau ihres Bruders in Wien ab und begleitete sie auf dem Weg nach Frankreich. Am ersten Souper Napoleons mit Marie-Louise soll auch Caroline teilgenommen haben. Dass allerdings eine eindeutige Zuordnung von Wappen und Personen in der Vorlage Vernets nicht möglich ist, erwies sich als Vorteil, denn so musste man hier in der späteren nach-napoleonischen Version der Jagdtapete keine Veränderungen vornehmen.

In den weiteren Szenen wird die Hetzjagd mit Hunden (Parforce-Jagd) dargestellt:

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Der Hirsch wird von Jägern und Hunden verfolgt, von den Hunden gehetzt überquert er einen Fluss.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Dies ist sicherlich die Oise, die in der Nähe Compiègnes vorbeifließt.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses steht eine Wassermühle: Vielleicht nur ein ländliches Accessoire, vielleicht aber auch ein Hinweis auf die Wasserpumpe, die auf Befehl Napoleons errichtet wurde, um das Schloss mit frischem Wasser zu versorgen.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Bei dieser Burgruine handelt es sich um das am südöstlichen Rand des Waldes gelegene Schloss Pierrefonds.[7] Es war am Anfang des 17. Jahrhunderts weitgehend zerstört worden und seitdem eine malerische Ruine. Die kaufte 1810 Kaiser Napoleon: ein Grund mehr für Vernet, sie auf dem  Jagdteppich entsprechend in Szene zu setzen. 1857 erhielt übrigens Viollet-le-Duc von Napoleon III. den Auftrag zur Restaurierung und Rekonstruktion der Anlage, die 10 Jahre später der bayerische König Ludwig II. besuchte, um sich Anregungen für seinen geplanten Neubau in Neuschwanstein zu holen….

Ein landestypisches Dörfchen am Fluss gibt es auch.

Foto: Wolf Jöckel (Paris)

Die vorletzte Szene zeigt den todgeweihten Hirsch, Er hat sich zwar noch nach Kräften gewehrt. Einer der Hunde liegt tot am Boden. Aber vergebens: Es wird zum Halali geblasen. Gut zu erkennen ist der Jäger, der dabei ist, mit dem Hirschfänger dem am Boden liegenden Hirsch den Todesstoß ins Herz zu versetzen.  Im Allgemeinen hatte diese „Ehre“ der Jagdherr oder eine von ihm benannte Person. [8] Die Jagdbeute ist für die Hunde bestimmt, die den Hirsch zerreißen. Auch die begleitenden Damen -zuerst die im lilafarbenen Kleid- werden an den Schauplatz des Geschehens geleitet, um dem Schauspiel beiwohnen zu können.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Von einem aufklärerischen Mitfühlen mit den Leiden des Tieres -wie in Mathias Claudius‘ „Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten der ihn parforcegejagt hatte“- ist hier nichts zu spüren.[9]

Und natürlich werden auch die schlimmen Konsequenzen der Treibjagden für die Bauern ausgeblendet, deretwegen der Bauer in Gottfried August Bürgers Gedicht von 1773  seinen durchlauchtigen Tyrannen anklagt: 

Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut
Darf Klau’ und Rachen hau’n?

Wer bist du, daß, durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –

Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Roß, und Hund, und Du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.[10]

Bei Vernet dagegen ist die Jagd in eine sozialromantische Idylle eingebettet:

Foto: F. Jöckel (Paris)

Da spielt der kleine Bauernjunge mit den Jagdhunden, und die Bauernfamilie unterbricht kurz ihre Arbeit, um der Jagd zuzusehen.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Für die herausgeputzten Spaziergänger ist die Jagd natürlich eine besondere Attraktion.

Foto: F. Jöckel (Paris)

Am Ende applaudiert sogar eine Bäuerin zur erfolgreichen Jagd.

Die ist dann Anlass für ein galantes Picknick in der Natur, zu dem sich die feine Jagdgesellschaft versammelt.[11]

Ehemalige Sammlung Zuber (Rixheim/Elsass)

Es wird Champagner ausgeschenkt  – der Sektkelch der jungen Dame im lilafarbenen Kleid, die wir schon aus der ersten Szene der Jagdtapete kennen, wird gerade von einem Kavalier gefüllt. Der andere junge Mann links im Bild reicht dazu ein Baguette.

Foto: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Handelte es sich um ein klassisches holländisches Interieur, wäre dies eine eindeutige Verführungsszene: Der erwartungsvoll hingehaltene Kelch der Frau, der gerade von einem Mann mit prickelndem Champagner gefüllt wird (natürlich Champagner! – bei den Holländern war es noch der Wein…), dazu das imposante Baguette – ein Brot, das sich nach den Worten des Historikers Steven Kaplan gerade wegen seiner „forme phallique“ auszeichnet[12] und das hier auch entsprechend positioniert ist und in Szene gesetzt wird. Da kann es kaum Zweifel geben, dass der mit der malerischen Tradition sicherlich vertraute Carle Vernet hier nicht nur den Abschluss der Jagdszene gestaltete, sondern gewissermaßen ihre Fortsetzung. Jetzt sind die chasseurs de jupons (Schürzenjäger) an der Reihe und die jungen Damen sind ihre bereitwillige Beute…

Bemerkenswert an dieser Szene ist das Baguette aber nicht nur wegen seiner erotischen Konnotation, sondern vor allem deshalb, weil sie gängige Entstehungsversionen des Baguettes widerlegt:

Da wird oft als Ursprung das Jahr 1839 genannt, als der Wiener August Zang in der rue de Richelieu in Paris eine boulangerie viennoise gründete und das Baguette als „pain viennois“ verkaufte.[13]

Einer anderen Version zufolge verdankt das Baguette seine Entstehung dem Versuch, Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau der ersten Pariser Metro Blutvergießen zu verhindern: Da habe es nämlich oft Streit zwischen Arbeitern aus der Bretagne und der Auvergne gegeben, die mit Messern aufeinander losgegangen seien. Mit der Einführung des Baguettes habe es keine Notwendigkeit für Messer auf den Baustellen gegeben…[14]

Eine sicherlich sehr sympathische Legende, die aber wie die Wiener Import-Version nicht zutreffen kann, denn die Jagdtapete mit dem Baguette-Beweisstück wurde ja schon zu Zeiten des napoleonischen Kaiserreichs entworfen und hergestellt.

Eine dritte Version datiert zwar die Entstehung des Baguettes auf die Zeit Napoleons[15], kann aber ebenfalls nicht überzeugen: Napoleons habe die Bäcker der Grande Armée beauftragt, kleine Brote zu backen, die die Soldaten leichter in ihre Taschen stecken könnten als die damals üblichen Brotlaibe (boules): Das Baguette also gewissermaßen als Kommissbrot?!  So verwöhnt wurden die Soldaten von Napoleons Grande Armée nun wahrhaft nicht, dass sie mehrfach täglich mit frischen Baguettes versorgt wurden. Ganz im Gegenteil. Nicht umsonst nannte Napoleon sie die grognards.[16]

Die Geburtsstunde des Baguette auf den 15. November 1793 zu datieren, erscheint mir dagegen durchaus plausibel.[17]  Damals dekretierte der Nationalkonvent, dass alle Franzosen das gleiche Brot essen sollten. Bis dahin war das Brot aus weißem Mehl den Reichen vorbehalten, für die Armen blieb das Brot aus Kleie. Damit sollte es  Schluss sein. Alle Bäcker müssten nun, bei Androhung von Gefängnisstrafen, das gleiche Brot für alle backen, „le Pain Égalité“.  Das blieb allerdings zunächst nur ein frommer Wunsch. Erst mehrere Generationen später wurde das Baguette dann tatsächlich das Brot für alle Schichten der Bevölkerung. „Das bevorzugte Brot der Aristokratie“ (Pierre Sommet) war es  allerdings, wie die Jagdtapete zeigt, schon zu Zeiten Napoleons.

 Die Herstellung und der Hersteller

Die Herstellung einer Panoramatapete war ausgesprochen aufwändig und entsprechend kostspielig.  Dementsprechend konnten sich nur Angehörige des Adels und des Großbürgertums ein Exemplar leisten.

Die Tapete zeigt in vier Episoden die Jagd einer adeligen Gesellschaft in den Wäldern von Compiègne.  Einzelne Papierbögen wurden dafür zu insgesamt 25 Bahnen von jeweils 55 Zentimeter Breite und etwa 250 Zentimeter Länge zusammengefügt und mit Holzmodeln bedruckt, mit jeweils einem Model für jede Druckfarbe.

Der Druck eines solchen Wandschmucks mit Hilfe mehrerer tausend verschiedener Holzmodel  war eine echte handwerkliche Meisterleistung.

Christiane Rossner schreibt in ihrem Monumente-Artikel:

„Panoramatapeten des 19. Jahrhunderts gelten als künstlerischer Höhepunkt der manuellen Tapetenherstellung. Weil es noch kein Endlospapier gab, fügte man einzelne Papierbögen zu Bahnen von etwa 250 Zentimeter Länge und 55 Zentimeter Breite zusammen, bedruckte jede einzelne Bahn mit Holzmodeln und setzte diese aneinandergereiht zu den Darstellungen zusammen. Der Herstellungsprozess war enorm aufwendig und vielschichtig, da die Größen der Druckmodel das Bogenmaß des Papiers nicht übersteigen durften. Daher wurde für jede einzelne Druckfarbe ein Model hergestellt – für eine Tapete in diesem Umfang waren es 1.600 bis 2.000 Model.“[18]

Immerhin hatte eine solche Herstellungstechnik auch den Vorteil, dass man zum Beispiel bei der Wahl der Farben entsprechend flexibel sein konnte. In der ersten Edition der Tapete von 1812, zu der die Jagdtapete von Dätzingen und das Pariser Exemplar gehören, tragen die Reiter rote Röcke, die Helfer blaue. Das entsprach der englischen Tradition, die Vernet so sehr verehrte, dass er damit sogar von dem bei den napoleonischen Jagden üblichen grün abwich. [19]

In  der Restaurations-Edition von 1815 dagegen erhielten die Röcke das bourbonische Blau.[20] Ein Beispiel dafür ist die Jagdszene aus der Sammlung Zuber, die damit der zweiten Edition zuzuordnen ist.

Der Hersteller: Die Manufaktur Jacquemart in Paris, Nachfolgerin der Manufacture Réveillon

Zu einem derart aufwändigen Produktionsverfahren waren nur Betriebe in der Lage, die über entsprechende personelle und finanzielle Ressourcen verfügten.  Die Manufacture Jacquemart und Bénard im Faubourg Saint-Antoine war ein solcher Betrieb. 1791 hatte sie die Manufacture royale de papier peint des Jean-Baptiste Réveillon übernommen, die bedeutendste französische Produktionsstätte von bedrucktem  Papier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und dazu ist Réveillon ein Name, auf den  man unweigerlich stößt, wenn es um die Vorgeschichte der Französischen Revolution geht. Es lohnt sich also, einen kurzen Blick auf das Unternehmen zu werfen, dessen Nachfolge Jacquemart und Bénard 1791 antraten.[21]

Réveillon gründete seine Papier-Manufaktur 1756 in dem Ort L’Aigle (Orne). Es gelang ihm, die damals führende englische Produktion von bedrucktem Papier zu imitieren und die französischen Konkurrenten an Qualität und Quantität zu übertreffen. So wurde Réveillon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur bedeutendsten französischen Produktionsstätte von papier peint. 1759 verlegte Réveillon seine Produktion nach Paris. Zeichen seines Erfolgs und seiner unternehmerischen Weitsicht war der Kauf der Folie  Titon Mitte  der 1760-er Jahre. Die Folie Titon war ein weitläufiger Landsitz in dem östlich von Paris gelegenen Faubourg Saint-Antoine, gebaut 1673 für Maximilien Titon, den  Besitzer der manufactures royales d’armes Ludwigs XIV.

Der Kauf dieses Landsitzes hatte für Réveillon mehrere Vorteile:

  • Es gab genügend Platz, um dort seine Werkstätten unterzubringen.
  • Im Faubourg Saint-Antoine  war der Zunftzwang aufgehoben, was mehr unternehmerische Freiheit ermöglichte.
  • Da es in dem Viertel ein dichtes Netz von verschiedenen Handwerksbetrieben gab, war dort auch ein großes Potential qualifizierter Arbeitskräfte vorhanden.[22]
  • Der Faubourg Saint-Antoine war damals das  französische  Zentrum der Kunsttischlerei. Also gab es ein hohes Maß an „know how“ gerade  im Bereich der Holzverarbeitung, was  bei der Herstellung von bedruckten Tapeten ein besonderer Vorteil war.
  • Und nicht zuletzt gewann Réveillon durch diesen  Firmensitz  erheblich an Reputation: Die Folie Titon gehörte damals zu den Sehenswürdigkeiten von Paris – ihr Name und der Réveillons gehörten nun zusammen.[23]

Reveillon verstand es auch sehr geschickt, seinen Firmensitz entsprechend zu nutzen. Als großbürgerlicher Mäzen arbeitete er mit den Brüdern Montgolfier bei der Herstellung der Heißluftballone zusammen. Er saß auch selbst in dem ersten Ballon, der  am 19. November 1783 im Garten der Folie Titon abhob: Seine Hülle bestand aus Stoff, auf den mit goldenen Sonnen bedrucktes Réveillon-Papier geklebt war – eine grandiose Marketing-Aktion.[24]

In den Jahren vor der Französischen Revolution war Réveillon am Zenith seines Ruhms:  1784 erhielt seine Manufaktur den begehrten Titel „manufactures royales“ und 1786 eine Goldmedaille aus der Hand des einflussreichen Finanzministers Jacques Necker.

Allerdings litt Reveillons Manufaktur unter der Wirtschaftskrise, zu der nach einem Freihandelsabkommen  mit England die billige englische Konkurrenz wesentlich beitrug. Réveillon, ein eher fortschrittlicher Unternehmer, schlug deshalb am 23. April 1789 vor, die an der Stadtgrenze erhobenen Zölle (den verhassten octroi) abzuschaffen, um damit die Preise der Grundnahrungsmittel, vor allem den Brotpreis, zu senken.[25] Damit gäbe es Spielraum, die Löhne um 25% zu kürzen, um das Überleben der Betriebe zu ermöglichen. Natürlich konnte und wollte Ludwig XVI. angesichts der leeren  Staatskassen nicht auf den octroi verzichten. So blieb nur die Drohung drastischer Lohnsenkungen, die sich wie  ein Lauffeuer in den Handwerker- und Arbeitervierteln im Osten der Stadt verbreitete.  So kam es zur Revolte von Arbeitern: Sie zogen in die Innenstadt vor das Hôtel de ville mit dem Ruf Le pain à deux sous und verbrannten Stoffpuppen mit  den Zügen Réveillons. Am 27./28. April besetzten aufgebrachte Arbeiter des Viertels sein Haus und die Manufaktur und zündeten die Gebäude an. Der Fabrikherr konnte sich nur durch die Flucht in die nahe gelegene Bastille retten. Herbeigerufene Truppen beendeten die  Revolte, wobei 12 Soldaten und hunderte Arbeiter ums Leben kamen: Mehr als bei dem Sturm auf die Bastille zweieinhalb Monate später, dessen blutiges Vorspiel die „affaire Réveillon“ war.[26]

So ist es nur allzu verständlich, dass Réveillon nach dieser Erfahrung und inmitten revolutionärer Umbrüche wenig Interesse an der Fortführung seiner arg in Mitleidenschaft geratenen Manufaktur hatte. Pierre Jacquemart (1737-1804) et Eugène Balthasar Crescent Bénard de Moulinières übernahmen 1789 von dem nach England emigrierten Reveillon die Leitung der Manufaktur, die sie 1792 kauften und der sie den neuen Namen „manufacture Jacquemart et Bénard“ gaben.

Trotz der revolutionären Umbrüche konnte die Manufaktur von Jacquemart und Bénard an die Erfolgsgeschichte des früheren Unternehmens anknüpfen. 1797 beschäftigte sie mehrere hundert Personen. Bekannt in ganz Europa belieferte sie Ministerien, Verwaltungen, die Räume des Nationalkonvents in den Tuilerien und sie war an der Ausgestaltung fast aller öffentlichen Feste und Zeremonien beteiligt. [27] Seit 1809 wurde sie von Auguste-François Jacquemart (1776-1854) geleitet, der seinem Vater nachfolgte. Als Bénard aus dem Unternehmen ausschied, um Bürgermeister des 8. Arrondissements von Paris zu werden, wurde auch der Name der Manufaktur entsprechend geändert. Es war von nun an die Manufaktur „Jacquemart“.

Dies war auch die Blütezeit der Panoramatapeten. Deren bedeutendste Protagonisten waren die Manufakturen von Joseph Dufour in Mâcon, der sich 1806 in Paris niederließ, und die Manufaktur von Jean Zuber in Rixheim. 1804 vertrieb Dufour die Panoramatapete les Sauvages de l’océan Pacifique und Jean Zuber die Vues de Suisse. Als Jacquemart 1812 seine Jagdtapete auf den Markt brachte, bot Zuber seine aktuelle Panoramatapete Arcadie an und Dufour gleich zwei außerordentlich erfolgreiche Panoramtapeten: les Monuments de Paris und les Rives du Bosphore. Die Konkurrenz war also äußerst hart, und so war es ein geschickter Schachzug von Jacquemart, dem renommierten Carle Vernet den Entwurf seiner „Chasse de Compiègne“ anzuvertrauen, der die in ihn gesetzten Erwartungen ja auch glänzend erfüllte.

Angesichts des äußerst aufwändigen Produktionsverfahrens und der harten Konkurrenz war das Jagdtapeten-Projekt Jaquemarts allerdings trotzdem ziemlich riskant. Jean Zuber jedenfalls, der wusste, was die Herstellung einer monumentalen Panoramatapete bedeutete, wunderte sich über den Mut seines Konkurrenten, als er schrieb, Jaquemart setze mit dieser Jagdtapete alles auf eine Karte. Er, Zuber, wisse nicht, ob Jacquemart auf seine Kosten käme. Und vielleicht war auch das kühne Projekt verantwortlich für eine kurzzeitige Insolvenz der Pariser Manufaktur. Aber zumindest künstlerisch wurde der Mut doch belohnt: Jacquemart schuf auf der Grundlage des Entwurfs von Vernet die erste aller Jagdtapeten, die aufgrund ihrer Zeichnung und Farbigkeit als Meisterwerk und als eine der besten Panoramatapeten überhaupt gilt.[28]  Das erkannte auch Zuber an, der von seinem Konkurrenten ein Exemplar der „Chasse de Compiègne“ erwarb und im Esszimmer seiner Anwesens in der alten Commanderie in Rixheim installierte.[29]

La Chasse de Compiègne in Paris und Dätzingen

Angesichts der Qualität und Besonderheit der „Chasse de Compiègne“ ist es zu erklären, dass diese Panoramatapete internationale Verbreitung erfuhr. Exemplare gelangten nach England (Royal Albert Museum[30]), in die Schweiz[31], in die USA und zwei auch nach Deutschland- neben dem Schloss von Dätzingen in Württemberg auch in das Jagdschloss Friedrichsmoor bei Schwerin.[32]

Die Jagdtapeten von Paris und Dätzingen werden nachfolgend vorgestellt.

Paris

Das Pariser Musée de la Chasse et de la Nature ist in zwei noblen Stadtpalais im Pariser Marais untergebracht.  Wie viele der alten Stadtpalais im Marais waren auch diese ziemlich heruntergekommen, bis sie in den 1960-er Jahren von der Stiftung des jagdbegeisterten François Sommer gekauft wurden, um zunächst im hôtel de Guénégaud das Musée de la Chasse et de la Nature einzurichten, das dann durch Räume im  benachbarten  hôtel de Mongelas noch erweitert wurde.

Auf seiner Homepage stellt das Museum die Panoramatapete „Les chasses de Compiègne“ (sic) -versehen mit einer Abbildung und Erläuterungen- besonders heraus. [32a] Umso größer war unser Erstaunen, als wir Ende Juli 2021 das Museum besuchten, um uns die Tapete anzusehen. Weder die Dame an der Kasse noch das aufsichtsführende  Personal, das wir ansprachen, konnte uns irgendeine Auskunft geben, wo die Tapete zu finden sei. Es müsse sich um ein Missverständnis handeln, so wurde uns versichert, in dem Museum gäbe es nichts Dergleichen. Als ich auf die entsprechende homepage- Präsentation verwies, war die Ratlosigkeit groß.  Vielleicht sei die Tapete gerade an ein anderes Museum ausgeliehen; oder sie werde restauriert; oder sie lagere im Zuge der Umgestaltung des Museums im Depot….  Auch der freundliche junge Mann im Museumsshop hatte noch nie etwas von der Jagdtapete gehört, bemühte sich aber nach Kräften, den interessierten ausländischen Besuchern weiterzuhelfen. Aber die Suche in der ausliegenden Literatur war vergebens. Aber dann kam die Rettung in Gestalt eines vorbeieilenden Herrn, den der junge Mann ansprach. Es war der Kommunikationsdirektor der Stiftung Sommer, der, bevor er am nächsten Tag in Urlaub fuhr, noch einige Unterlagen ins benachbarte hôtel de Mongelas bringen wollte. Da waren wir genau an der richtigen Adresse! Denn dort – im Salon Vernet- sei die Panoramatapete angebracht.

Eingang zum Hôtel de Mongelas

Dieser Teil des hôtels gehört nicht zum Museum, sondern zu dem  noblen Pariser Jagdclub, ist also normalerweise nur Mitgliedern zugänglich.

Auf dem Weg zum Salon Vernet ließ uns unser freundlicher Führer auch noch die nachträglich in das  hôtel eingebaute repräsentative Treppenanlage bewundern.

Immerhin hatte sie niemand Geringeres als der „Erste Architekt“ und königliche Hofbaumeister Ludwigs XIV., Jules Hardouin-Mansart, entworfen.

Doch dann waren wir endlich am Ziel unserer Wünsche: dem Salon Vernet. Es ist ein kleiner, intimer Raum, ohne Fenster. Als Raucherkabinett deshalb -und wegen der kostbaren Tapete- wohl kaum tauglich. Vielleicht ziehen sich dorthin kleine Herrenrunden für vertrauliche Gespräche zurück. Die gedämpfte Atmosphäre mit der dezenten  Beleuchtung würde jedenfalls dazu passen.

Ein eindrucksvolles Ensemble! Es ist zu hoffen, dass es wenigstens von Zeit zu Zeit (zumindest an den Tagen des offenen Denkmals/Journées du Patrimoine) auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird!

Die Panoramatapete von Dätzingen

Damit kommen wir zum Ende dieses Beitrags, aber gleichzeitig auch zum Anfang unseres spannenden Jagd-Abenteuers. Denn aufmerksam wurde ich auf die Chasse de Compiègne durch einen im Februar 2020 erschienen Artikel in Monumente, dem Magazin der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die die Restaurierung der Tapete im Schloss Dätzingen finanziell unterstützte.  Unter dem Titel „Jagdszenen im königlichen Schlafzimmer“ berichtete  Christiane Rossner über die Geschichte der Tapete und die Bemühungen um ihre Restaurierung.

Wir nahmen Kontakt auf mit Herrn Ratz, dem Leiter des in dem Schlösschen untergebrachten Heimatmuseums,  und der war so freundlich, uns im Juli 2021 die damals noch nicht für die Öffentlichkeit zugängliche Tapete zu zeigen.  Nachfolgend ein Ausschnitt (noch ohne Bordüre).

Foto: Wolf Jöckel Juni 2021

Die Renovierung der Tapete erwies sich als ausgesprochen kompliziert: Die Tapete war nämlich in den 1960-er Jahren unsachgemäß eingelagert worden. Da die Papierbahnen mit dem Druck nach innen aufgerollt wurden, war der Farbauftrag gestaucht und viel Farbe ging verloren. Zudem hatten sich in den Kleberresten Pilze gebildet.[33] 

Hier ein Bild des beklagenswerten Zustandes vor der Restaurierung:

Und so sah das noch nicht restaurierte Picknick aus: [34]:

Umso beeindruckender der jetzige Zustand! Die Tapetenbahnen 5-18 nach der Restaurierung:

(Bild: Hans Zelesner, Förderverein Schloss Dätzingen, Oktober 2021)

Und wie kam diese kostbare und seltene Jagdtapete ausgerechnet nach Dätzingen? Eine interessante Geschichte, die Christiane Rossner in ihrem Monumente-Artikel referiert:

„Generalleutnant Carl Ludwig von Dillen war sich der großen Ehre sehr bewusst: Sein Dienstherr, König Friedrich I. von Württemberg, hatte ihm 1810 Schloss Dätzingen bei Grafenau  geschenkt. 1806 war das Schloss, das zuvor lange dem Malteserorden gehört hatte und 1733 repräsentativ zum Sitz des Komturs ausgebaut worden war, an das Königreich Württemberg gefallen.“

Das Schloss und der Maltesersaal

Und weiter Christiane Rossner:

„Wenige Monate nach dieser großzügigen Schenkung veranstaltete König Friedrich eine dreiwöchige Jagd in den Wäldern von Dätzingen, wobei er im Schloss seines Günstlings residierte. In Erinnerung an dieses spektakuläre Ereignis, in das mehr als 4000 Menschen eingebunden waren, orderte Carl Ludwig von Dillen bei der berühmten Pariser Manufaktur Jacquemart & Bénard die jüngst kreierte Panoramatapete „La Chasse de Compiègne“ und ließ den edlen Wanddekor mit Jagdszenen vermutlich im Dätzinger Schlafgemach des landesherrlichen Gastes anbringen.“

Ein Schlafgemach als Ort für eine Jagdtapete mag etwas ungewöhnlich erscheinen, ist es in diesem Fall aber eher nicht. Denn dass  Carl Ludwig Emanuel Dillenius innerhalb von zehn Jahren nicht nur geadelt und in den Grafenstand erhoben wurde, sondern  sich auch -wie böse Zungen feststellten- „von einem  Bereiterjungen“ im Marstall von Schloss Ludwigsburg zu einem der mächtigsten Männer des Königreichs Württemberg „emporschwang“, hatte er wohl der dem König „inne wohnenden Neigung zu den Männern“ zu verdanken.[35]

Hier ein Portrait des jungen Mannes (die im Schloss Dätzingen ausgestellte Kopie eines Gemäldes von Schloss Ludwigsburg)

Die Auswahl der „Chasse de Compiègne“ war im Blick auf seinen landesherrlichen Gönner in mehrfacher Hinsicht eine passende Auswahl: Natürlich vor allem, weil das Motiv dem jagdbegeisterten Monarchen entgegen kam und dem Anlass des Kaufs entsprach. Dazu aber auch deshalb, weil es sich bei der Jagdtapete gewissermaßen um den letzten Schrei aus Paris handelte, und Frankreich war damals gerade für den württembergischen König das Maß aller Dinge. Friedrich I. war ja 1806 durch Napoleons Gnaden zum König erhoben worden, er trat dann auch gleich dem unter Napoleons Protektorat stehenden Rheinbund bei, und Friedrichs einzige Tochter Katharina heiratete König Jérôme von Westfalen, Napoleons jüngsten Bruder. Und schließlich hatte Compiègne, wo die Jagd der Panoramatapete angesiedelt ist, in württembergischen Ohren einen guten Klang. Denn 1810 erhielt das junge Königreich Württemberg durch den Vertrag von Compiègne weiteren  territorialen Zuwachs….

1961 verkaufte Adrienne von Bülow,  die Nachfahrin von Dillens,  das Schloss, das einer grundlegenden Renovierung unterzogen wurde. Die Tapete wurde abgelöst, aber unsachgemäß eingelagert. Jetzt ist die aufwändige Restaurierung abgeschlossen und bald kann dieses einzigartige Kunstwerk wieder an seinem angestammten Platz, inzwischen Sitz des Heimatmuseums, bewundert werden.[36] Ein Ausflug in das 30 Kilometer südwestlich von Stuttgart gelegene Dätzingen lohnt sich!

Die renovierte Tapete von Dätzingen wird eingeweiht:

Am 11.11. 2021 wurde die Fertigstellung der renovierten Tapete mit einem Festakt im Maltesersaal des Schlosses begangen. Im Mittelpunkt stand dabei eine Präsentation des Restaurators Thomas Wieck aus Stuttgart, der die großen Herausforderungen schilderte und mit Bildern veranschaulichte, vor die ihn die Restaurierung der Tapete stellte.

Hier ein Stück der Tapete im „ursprünglichen“ Zustand:

Bild: Thomas Wieck (Dätzingen)

Man muss schon über viel Erfahrung und Können verfügen, um sich solchen Herausforderungen zu stellen. Klar war dabei, dass zahlreiche Ergänzungen vorgenommen werden mussten.

Bild: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Dabei legte Herr Wieck großen Wert darauf, dass die vorgenommenen Retuschen auch erkennbar sind. Er verwendete hier eine besondere Form der Strichretusche (Tratteggio-Retusche), die sogenannte Additionsretusche. Er erläutert diese Technik wie folgt:

„Sie basiert auf der alten Erkenntnis, dass sich jede Farbe prinzipiell aus den drei Primärfarben zusammensetzen lässt. Aber da die Naturpigmente nicht die Eigenschaften der Primärfarben erreichen können, verwende ich zusätzlich noch die drei sog. Sekundärfarben, also die Mischtöne aus jeweils zwei Primärfarben. Das ergibt den bekannten Farbkreis.

Die erste Strichlage besteht aus einem einzelnen Farbton, z.B. gelb. Man bewertet das Ergebnis und stellt naturgemäß fest, dass es innerhalb der Umgebung zu gelb ist. Man geht vom Gelb durch den Farbkreis und nimmt als zweite Strichlage die Gegenfarbe, somit Violett. Dann ist das Ergebnis vielleicht zu rot und man geht somit zum Grün. So nähert man sich dem gewünschten Farbton immer weiter an. Man sollte das aber nicht uferlos fortsetzen – und da kommt eben die Erfahrung zum Tragen – im Allgemeinen kommt man mit 3-4 Strichlagen zum gewünschten Ergebnis, allerdings besteht noch eine gravierende Schwierigkeit – der Helligkeitswert. Diesen kann man durch den Einsatz von Schwarz bzw. Weiß steuern, aber vor allem durch die Einstellung der Deckkraft der einzelnen Farbaufträge. Bei der Verwendung von Schwarz ist wieder Vorsicht geboten – ein zu starker Grauwert ist nicht so einfach wieder herauszubekommen.  Die Form der Striche muss möglichst gleichmäßig in der Strichbreite sein, da sonst wieder eine Farbe die anderen übertönt, und sie sollte in der Länge so gestaltet werden, dass möglichst keine Farbverdichtungen entstehen können. Hier ist Übung wichtig und es braucht dazu viel Zeit.

Man kann Vieles richtig, aber auch noch mehr falsch machen, und deshalb verwenden viele Restauratoren diese Form der Retusche nicht so gerne. Aber wenn die Methode beherrscht wird, funktioniert sie schneller als eine jeweilige Nachmischung des Farbtones, und das Erscheinungsbild der retuschierten Fläche ist m. E. schöner und eleganter.“

Bild: Thomas Wieck (Dätzingen)

Eine besondere Problematik war eine große Leerstelle dort, wo früher ein Ofen stand. Hier wurde auf Initiative und auf Kosten des Museumsleiters Herrn Ratz und unter Zustimmung des zuständigen Denkmalpflegers eine fotografische Ergänzung vorgenommen, wobei die Tapete von Friedrichsmoor die Vorlage lieferte. Auch hier galt aber, dass nicht die Illusion eines originalen Zustandes erzeugt werden sollte.

Bild: Wolf Jöckel (Dätzingen)

Insgesamt: Eine große gemeinschaftliche Anstrengung mit einem beeindruckenden Ergebnis, auf das das Museum von Dätzingen, der Förderverein und die Gemeinde Grafenau stolz sein können.

Literatur:

Raphaël Abrille, « Un papier peint d’après Carle Vernet à l’hôtel de Guénégaud », Vènerie, n° 191, septembre 2013, p. 78-83.

Julia Greipl, Tapeten-Trend im Empire. Sie ziert wieder Wände von Schloss Dätzingen: Die Panoramatapete „La Chasse  de  Compiègne“. In: Monumente, herausgegeben von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Oktober 2021, S. 62

Odile Nouvel-Kammerer (dir.), Papiers peints panoramiques, Paris, Flammarion-UCAD, 1990 (La Bibliothèque du musée des Arts décoratifs)

Christiane Rossner: Jagdszenen im königlichen Schlafzimmer. In: Monumente 30. Jg. Nr. 1, Februar 2020, S. 30–31

Herrmann Schöpfer und Monika Dannegger-Flamm, Die Jagdtapete La Chasse de Compiègne in La Tour-de-Peilz bei Vevey.

Christine Velut,  L’industrie dans la ville : les fabriques de papiers peints du faubourg Saint-Antoine (1750-1820) In:  Revue d’histoire moderne & contemporaine 2002/1, S.  115 – 137 https://www.cairn.info/revue-d-histoire-moderne-et-contemporaine-2002-1-page-115.htm

Histoire. Le papier peint a pris son essor avec l’atelier de Jean-Baptiste Réveillon à L’Aigle dans l’Orne In: Le Réveil normand. 23. August 2019 https://actu.fr/normandie/l-aigle_61214/histoire-papier-peint-pris-essor-latelier-jean-baptiste-reveillon-laigle-dans-lorne_26669039.html


Anmerkungen

[1] Die Bezeichnung der Jagdtapete wird unterschiedlich gehandhabt. Oft findet man die Plural-Version „Les Chasses de  Compiègne“ (selbst auf der website des Pariser Musée de la  Chasse  et  de la  Nature) korrekt ist aber -auch nach Auffassung von M. Abrille, dem Generalsekretär des Museums, der Singular  („La Chasse  de Compiègne“). Immerhin handelt es sich ja um die Darstellung einer Jagd.  Ich verwende also die inhaltlich korrekte Singular-Version.

[2] https://www.museepapierpeint.org/de/1638-2/panoramatapeten/

[2a] Hier eine von dem Restaurator der Dätzinger Tapete erstellte Liste der noch vorhandenen Exemplare der Chasse de Compiègne

  • Schloss Friedrichsmoor (Neustadt-Glewe – Westmecklenburg)
  • Schweiz, Kanton Vaud, Gemeinde La Tour de Peilz, Chemin du Cèdre 24, Haus der „maîtres du domaine de Burier“
  • Chateau du Minois, 42530 Saint-Genest-Lerpt, Frankreich
  • Sammlung Zuber, Rixheim, Frankreich – wurde nach USA verkauft, dort in Privatbesitz
  • Musée de la chasse et de la nature, 62 Rue des Archives, 75003 Paris, Frankreich
  • Bergamo, Museumssammlung
  • Victoria and Albert Museum, Cromwell Road in Kensington, West London Adresse: Cromwell Rd, Knightsbridge, London SW7 2RL, Vereinigtes Königreich
  • Owsley House, Museum in Kentucky, Stanford Rd, Lancaster, KY 40444, USA
  • USA – mindestens drei Exemplare in Privatbesitz
  • In Schloss Mesothen [oder Meţotnes Palace (district of Bauska – Lettland) war ein Exemplar im Speisezimmer vorhanden. Bestand heute ist unklar.
  • Ein Exemplar soll sich in Riga (Lettland) im „Kleisti-Manor-House“ (anderer Namen: Kleisterhof, Kleissenhof) (damalige Besitzer Familie Vegesack) befunden haben. Bestand heute ist unklar.
  • Am 18.9.2016 wurde ein Exemplar im Grand Palais, Paris vorgestellt. Ob hier ein Verkauf bzw. Versteigerung vorgelegen hat, ist derzeit dem Berichterstatter unbekannt.

[3] Dieses und das nachfolgende Bild aus: https://themiscyra.wordpress.com/2014/10/26/les-chevaux-de-vernet/  Dort gibt es auch Abbildungen weiterer Reiterbilder von Vernet.

[3a] https://www.venerie.org/20-juillet-2021-napoleon-ier-etait-mauvais-tireur-mais-stratege-de-la-cynegetique/ Dieser Quelle ist auch der Bildausschnitt der kaiserlichen Jagd entnommen. Siehe auch: https://napoleonhautsdefrancecom.files.wordpress.com/2018/03/musc3a9es-senlis_vernet-napolc3a9on_ods.pdf

[4]  Bild aus: https://www.chassenature.org/oeuvres/objets-d-arts/les-chasses-de-compiegne-d-apres-carle-vernet   Exemplar aus dem musée de la chasse et de la nature Paris.

[5]  Raphaël Abrille, « Un papier peint d’après Carle Vernet à l’hôtel de Guénégaud », Vènerie, n° 191, septembre 2013, p. 78-83. siehe auch: https://jerrypairflorida.com/products/la-chasse-de-compiegne-jacquemart Nicht so eindeutig wird die Zuordnung von Schöpfer und Dannegger-Flamm vorgenommen.. Dort auch die nachfolgenden Informationen zur besonderen Rolle von Caroline.

[7] Siehe:  https://jerrypairflorida.com/products/la-chasse-de-compiegne-jacquemart  und  https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Pierrefonds

[8] https://www.wildhueter-st-hubertus.de/einiges-ueber-die-parforcejagd-3

[9]http://www.zeno.org/Literatur/M/Claudius,+Matthias/Gedichte+und+Prosa/Asmus+omnia+sua+secum+portans/Dritter+Teil/Vorlesung+an+die+Herren+Subskribenten/c)+Schreiben+eines+parforcegejagten+Hirschen

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Bauer_an_seinen_durchlauchtigen_Tyrannen

[11] https://antique-wallpaper.com/en/papier_peint/les-chasses-de-compiegne-picnic/   

[12] https://www.franceculture.fr/gastronomie/a-lorigine-de-la-baguette-de-pain

[13] Siehe:  https://www.franceculture.fr/gastronomie/a-lorigine-de-la-baguette-de-pain Mais d’après une autre source, c’est un boulanger autrichien, August Zang, qui aurait introduit la baguette en France. En 1839, le Viennois ouvrait une boulangerie à Paris. Il y aurait vendu des pains de forme ovale, comme ceux que l’on trouvait alors en Autriche.   Siehe auch z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Baguette

[14] https://www.republicain-lorrain.fr/culture-loisirs/2020/11/15/c-est-arrive-le-15-novembre-1793-l-origine-mysterieuse-de-la-baguette-de-pain

[15] L’origine de la baguette de pain blanc remonterait à l’époque de Napoléon. Ses boulangers auraient inventé une miche allongée pour rendre le pain plus facilement transportable par les soldats. https://www.pariszigzag.fr/secret/histoire-insolite-paris/petite-histoire-de-la-baguette-notre-pain-quotidien

Siehe auch: https://www.dna.fr/culture-loisirs/2020/11/15/c-est-arrive-le-15-novembre-1793-l-origine-mysterieuse-de-la-baguette-de-pain

[16] https://www.napoleon.org/magazine/dico-d-epoque/grognard/

[17] https://www.dna.fr/culture-loisirs/2020/11/15/c-est-arrive-le-15-novembre-1793-l-origine-mysterieuse-de-la-baguette-de-pain und https://www.herodote.net/almanach-ID-2138.php

[18] Christiane Rosner: Jagdszenen im königlichen Schlafzimmer. In: Monumente 30. Jg. Nr. 1, Februar 2020, S. 30–31

[19] https://www.denkmalschutz.de/presse/archiv/artikel/panoramatapete-in-schloss-grafenau-in-daetzingen-wird-dsd-foerderprojekt.html Zur Farbgebung siehe auch den Aufsatz von Abrille a.a.O.

[20] https://antique-wallpaper.com/en/papier_peint/les-chasses-de-compiegne-passage-of-the-river/   https://www.chassenature.org/oeuvres/objets-d-arts/les-chasses-de-compiegne-d-apres-carle-vernet: Dort heißt es: „La redingote rouge des veneurs témoigne de l’anglomanie qui règne en France au long du XIXe siècle“. Eher bezeugt allerdings der rote Rock der Reiter die Anglomanie Vernets.

Es handelt sich hier um ein Exemplar aus der Sammlung Zuber in Rixheim, das von den Erben des Sammlers versteigert wurde. Siehe: https://www.antiquesandthearts.com/preview.php?id=851 (Die Picknick-Szene allein wurde für 75.000 Dollar angeboten, die gesamte Panoramatapete für 185.000 Dollar)

[21] Zur Geschichte der Manufaktur Réveillons siehe: https://actu.fr/normandie/l-aigle_61214/histoire-papier-peint-pris-essor-latelier-jean-baptiste-reveillon-laigle-dans-lorne_26669039.html

[22] Zum Faubourg Saint-Antoine siehe die Blog-Beiträge  https://paris-blog.org/2016/04/04/der-faubourg-saint-antoine/  und  https://paris-blog.org/2016/04/06/der-faubourg-saint-antoine-teil-2-das-viertel-der-revolutionaere/

[23] Siehe dazu: Christine Velut,  L’industrie dans la ville : les fabriques de papiers peints du faubourg Saint-Antoine (1750-1820) In:  Revue d’histoire moderne & contemporaine 2002/1, S.  115 – 137

https://www.cairn.info/revue-d-histoire-moderne-et-contemporaine-2002-1-page-115.htm Dort wird die Folie Titon als un endroit prisé de la capitale bezeichnet.

[24] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Folie_Titon#/media/Fichier:Montgolfiere_1783.jpg

[25] Zum octroi und der Zollmauer um Paris siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2020/06/01/ledoux-lavoisier-und-die-mauer-der-generalpaechter/

[26] Bild aus: Le saccage de la Folie Titon-Pillage de la maison Réveillon au faubourg Saint-Antoine le 28 avril 1789 | Paris Musées

Siehe dazu:  27-28 avril 1789 – Pillage de la manufacture Réveillon – Herodote.net und  https://paris-blog.org/2016/04/06/der-faubourg-saint-antoine-teil-2-das-viertel-der-revolutionaere/

[27] https://data.bnf.fr/14965205/jacquemart_et_benard_manufacture/ und  Raphaël Abrille, « Un papier peint d’après Carle Vernet à l’hôtel de Guénégaud », Vènerie, n° 191, septembre 2013, p. 78-83.

[28] Henri Clouzot et Charles Follot ont qualifié en 1935 La chasse de Compiègne comme « un des plus parfaits du genre, aussi bien pour le dessin que pour le coloris »  Zit. In: https://fr.wikipedia.org/wiki/Domaine_de_Burier

Abrille (a.a.0.) spricht von einem coup de maître.

[29] https://antique-wallpaper.com/en/papier_peint/les-chasses-de-compiegne-picnic/

Zur Manufaktur Zuber in Rixheim siehe: https://fr.wikipedia.org/wiki/Manufacture_Zuber

[30] https://collections.vam.ac.uk/item/O127862/la-chasse-de-compiegne-wallpaper-vernet-carle/la-chasse-de-compi%C3%A8gne-wallpaper-vernet-carle/

[31] https://fr.wikipedia.org/wiki/Domaine_de_Burier  

[32] https://www.meck-pomm-lese.de/sehenswuerdigkeiten/burgen-und-schloesser/jagdschloss-friedrichsmoor/ und https://www.meckpress.de/2014/10/22/szenen-einer-hofjagd/

[32a] https://www.chassenature.org/oeuvres/objets-d-arts/les-chasses-de-compiegne-d-apres-carle-vernet  Letzter Zugriff am 20.10.2021

[33] Julia Greipl, Tapeten-Trend im Empire. Sie ziert wieder die Wände von Schloss Dätzingen: Die Panoramatapete „La Chasse de Compiègne“. In: Monumente, Oktober 2021, S. 62

[34] Bild von: https://www.denkmalschutz.de/presse/archiv/artikel/panoramatapete-in-schloss-grafenau-in-daetzingen-wird-dsd-foerderprojekt.html

[35]  J. S. Ersch und J. G. Gruber (Hg.), Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, erste Section, 49. Theil, Leipzig 1849, S. 393 und Eduard Vehse, Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, 26. Band, 4. Abtheilung, 4. Theil, Hamburg 1853, S. 65–68   Zitiert bei: Carl Ludwig Emanuel von Dillen – Wikiwand

Welche herausragende Stellung von Dillen am Württemberger Hof hatte, wird auch daran deutlich, dass er 1809 seinen Landesherrn bei dessen Besuch in Paris anlässlich des 5. Krönungsjubiläums Napoleons begleitete. Von Dillen ist bei allen Empfängen dabei, und beim Krönungsfest in Notre Dame war er „in der Tribüne der Kaiserin, wo alle Prinzessinnen des Hauses zugegen waren.“ (Brief von Dillens an seine Frau vom 9.12.1809- Zitiert in den Begleitmaterialien zur Ausstellung in Dätzingen).

[36] http://www.grafenau-wuertt.de/Start/Schloss+Daetzingen/Heimatmuseum.html

Weitere geplante Beiträge

Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf

Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen, Teil 2: Der Kult der großen Männer

Das Pariser Stadtmuseum musée Carnavalet ist nach jahrelanger Renovierung wieder eröffnet: Ein erster Rundgang

Die alte Eiche (Le Gros Chêne) von Allouville-Bellefosse in der Normandie: Ein Gastbeitrag von Zora del Buono

Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus dem Buch Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen  von  Zora del Buono.  Die Autorin hat ein Jahr lang eine Reise „zu fünfzehn der ältesten und größten Individuen der Erde“ unternommen, außergewöhnlichen Bäumen, deren Portraits in diesem Buch versammelt sind.  Es sind ganz unterschiedliche Baumarten –Eibe, Sumpfzypresse, Kiefer, Pappel, Riesenmammutbaum, Esskastanie, Eiche, Arve, Linde- und sie befinden sich in mehreren Ländern:  Schweden, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Italien und den USA.

Die von Zora del Buono ausgewählten Bäume sind einzigartig. Sie haben eine eigene Persönlichkeit, befinden sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, haben oft eine aufregende Geschichte. Einer dieser Bäume ist so mächtig, dass er sogar eine Kapelle und die Behausung eines Eremiten beherbergen konnte.  Es ist die Stiel-Eiche von Allouville-Bellefosse in der Normandie. Ich bin sehr froh darüber, dass der Verlag Matthes&Seitz zugestimmt hat, das Portrait dieses Baumes in den Paris- und Frankreich-Blog aufzunehmen.  Die Normandie war schon wiederholt Schauplatz von Beiträgen in diesem Blog, aber die bezogen sich auf den Zweiten Weltkrieg und darauf, wie aus früheren Feinden Freunde geworden sind.[1] Hier geht es nun um einen sehr alten und immer noch sehr lebendigen Baum, den wohl ältesten Frankreichs.  Er hat schon viel erlebt und überlebt, „Wikinger, Freibeuter, exaltierte Kleriker und mistgabelschwenkende Bauern“. Zora del Buono stellt ihn uns vor. Bonne lecture!

Le Gros Chêne- Die Eiche von Allouville-Bellefosse.

Quercus robur  Stiel-Eiche

  • rund 1200 Jahre/ Höhe: 18 Meter/ Stammumfang:  15 Meter
  • Allouville-Bellefosse, Haute-Normandie, Frankreich / 49⁰ 59’ N,  0⁰ 67’ O/ 135 Meter ü.M.

„Ganz schön phallisch“, bekommt meist zu hören, wer ein Bild der Eiche von Allouville-Bellefosse herumreicht. Und in der Tat, wenn man vor ihr steht, sieht sie aus, als sei ihrem Hauptstamm ein grüngestricktes Kondom übergestülpt worden, einem Stamm ohne Äste, gerade deswegen aber von kräftiger, geradezu viriler Statur, aufrecht aus buschigem Laubwerk ragend, von einem Hütchen bedeckt und einem Kreuz gekrönt.

Und weil wir uns in Frankreich befinden, wird der Eindruck noch ergänzt durch eine andere Assoziation, jene Verlockung, die Gustave Courbet 1866 in seinem wunderbaren Gemälde L’Origine du monde verewigt hat: den Schoß einer Frau, eine Vulva, im Fall unserer Stiel-Eiche in Form eines wohlgeformten Schlitzes im Stamm, durch den sich hineinzwängen kann, wer der Verheißung im Innern nachspüren will,

…..  und den dort eine Marienstatue empfängt und ein Blumentopf auf dem Altar, vom Licht einer Lampe beschienen, die aufglimmt, sobald man die intarsienverkleidete Höhle betritt. Es duftet nach feuchtem Holz und ein wenig nach Muff, und wenn jemand vor einem darin war, vielleicht auch nach Parfüm.

Dass ein Baum eine Kapelle beherbergt, ist ungewöhnlich. Dass ein Baum mit Schindeln verkleidet wurde, nicht minder. Dass ein Baum drüber hinaus eine Kammer für einen Eremiten birgt, im Obergeschoss gewissermaßen, ist eine Stilblüte besonderer Art. Zu verdanken sind diese Kapriolen zwei Männern von ausgeprägter Fantasie, einem Pfarrer und einem Abt, Père de Cerceau und Abbé du Détroit.

Die Eiche war schon achthundert Jahre alt, als die beiden 1696 auf die Idee kamen, aus dem Friedhofsbaum von Allouville das exaltierteste Kirchenmonument Frankreichs zu machen. Allouville-Bellefosse ist heute ein blumengeschmücktes Dorf voller Fachwerkhäuser, gut tausend Menschen leben hier. Auffällig in der gesamten Gegend sind die in strenger Linie dicht nebeneinander gepflanzten Bäume, meist Buchen, die auf eigens geschaffenen Wällen ein oder zwei Meter höher stehen; manchmal umzingeln sie die Gehöfte, auch in doppelter Reihe und schützen diese so vor dem Westwind, der vom Meer her über die flache Landschaft peitscht; clos-masure  wird diese eigenwillige Pflanzung genannt. Allouville-Bellefosse liegt auf einem Plateau, unten fließt die Seine in großen Schleifen, es ist nicht weit bis nach Le Havre und zur Mündung in den Atlantik, die Seine ist breit und bei Flut strömt sie in die verkehrte Richtung. An ihrem Ufer hat Victor Hugo gewohnt und William Turner die Flusslandschaft  gemalt, vier Mal kam er hierher, sein englischer Auftraggeber war der Verleger einer damals neuen Buchgattung, des Reiseführers. An Herbstmorgen wie diesem wabern Nebelschwaden über dem Fluss, aber in Allouville oben scheint die Sonne, kaum ein Mensch ist zu sehen, nur selten hält ein Auto und jemand stürzt in ein Geschäft, den Motor lässt er laufen. Am zentralen Platz im Dorf gibt es neben der Kirche zwei Kneipen, den Fleischer, die Charcuterie, den Coiffeur, die Apotheke und natürlich die dicke Eiche, Le Gros Chêne.

Die einen sagen, sie sei im Jahr 911 gepflanzt worden, zur Feier der Gründung der Normandie, als Karl der Einfältige, der auf Französisch den etwas ansprechenderen Namen Charles le Simple trägt, mit dem Normannen Rolle, der den letzten Wikingereinfall auf Frankreich kommandierte, einen Vertrag abschloss und dem Mann aus dem Norden die Grafschaften und Bistümer, die heute der Region Haute-Normandie entsprechen, abtrat. Der heidnische Rolle ließ sich taufen, nannte sich Robert und heiratete Gisela, eine uneheliche Tochter Karls. Andere, Botaniker vor allem, glauben, die Eiche sei hundert Jahre älter, habe also um das Jahr 80 gekeimt. Auf jeden Fall stand sie schon als mächtiges Wahrzeichen da, als der berühmteste Bürger Allouvilles 1585 neben ihr in der damals noch hölzernen Kirche St. Quentin getauft wurde: Pierre Belain d’Esnambouc. Dessen wegen Kriegsturbulenzen hochverschuldete Eltern waren gezwungen, sein Erbe, die Herrschaft Esnambouc, zu verkaufen. Der Achzehnjährige heuerte in Le Havre an, auf einem kleinen Schiff, das in die Karibik segelte. Pierre Belin d’Esnambouc wurde einer der bekannten Freibeuter Frankreichs, Kapitän eines mit einem für die „Küsten von Guinea und Brasilien und andere Orte“ geltenden Kaperbrief ausgestatteten Segelschiffs, der mit Vorliebe spanische Geleonen überfiel. Auf der Insel St. Kitts lernte er ehemalige Piraten kennen, die Tabak anpflanzten, segelte nach Frankreich und überzeugte Kardinal Richelieu, ins Tabakgeschäft einzusteigen. Nach allerlei Auseinandersetzungen mit Engländern und einheimischen Kalinago gründete d’Esnambouc auf Martinique die erste französische Kolonie der Karibik. Während dieser verwegenste Bürger Allouvilles in tropischen Gefilden in unzählige Abenteuer und Gemetzel verwickelt war, hatte auch die Eiche seines Heimatdorfes Gewalteinwirkungen zu verkraften. Sie wurde durch Blitzeinschläge und Unwetter mehrerer Hauptäste beraubt und auch gekappt, war nun kein hoher Baum mehr, sondern nur noch einer mit einem dicken Stamm.

Der Jesuit Jean-Antoine de Cerceau verwaltete als Priester Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur Friedhof und Kirche der Gemeine Allouville, sondern auch die dazugehörige Eiche. Er und sein lustiger Freund du Détroit wollten eines Tages wissen, wie viele Kinder wohl in den hohlen Stamm passen würden. Die beiden Geistlichen trommelten die Schulkinder des Dorfes zusammen und stopften sie gewissermaßen in den Baum, hintereinander, ineinander, übereinander. Vierzig Kinder fanden angeblich Platz, das Experiment war ein voller Erfolg und das Baumumfunktionierungsprojekt geboren: Unten sollte eine öffentlich zugängliche Kapelle eingebaut werden, oben eine private Kammer, eine Klausurzelle für Père du Cerceau, die er über eine sich um den Stamm windende Treppe erreichen konnte.

Denn du Cerceau war nicht nur Priester, sondern auch Dichter, er schrieb vor allem Komödien, die in Jesuitenschulen aufgeführt wurden; die beiden Herren müssen viel Spaß gehabt haben, während sie über ihren Plänen saßen, womöglich war auch Rotwein mit im Spiel.

Man darf die Eremitenkammer nicht geräumig denken, kaum vorstellbar, dass hier neben einer Schreibstelle ein Bett Platz gefunden haben soll. Auch die Kapelle ist winzig, 1,75 auf 1,20 Meter, die Raumhöhe allerdings liegt bei angenehmen 2,30 Mtern, und blick man nach oben, sieht man nicht nur die rissige Innenseite des Baumes, sondern auch all die Metallverstrebungen, die im Laufe der Zeit eingebaut wurden, um dem eigenwilligen Raum Stabilität zu verleihen und den Boden der darüberliegenden Kammer abzusichern.

An diesem Baum kann man sehr deutlich erkennen, dass das Leben der Bäume in den äußersten Schichten steckt, auf das tote Kernholz kann getrost verzichtet werden, wichtig ist allein, dass das teilungsaktive Kambiumgewebe intakt ist und nach innen Splintholz bildet und nach außen Bast, damit Wasser und Mineralien aus dem Boden durch die Kapillaren der neu gebildeten Splintholzzellen von der Wurzel in die Krone und die in den Blättern gebildeten Zucker und andere Nährstoffe durch den Bast von der Krone in die Wurzeln gelangen können. Dass auf der Borke Quadratmeter um Quadratmeter Holzschindeln angebracht wurden, scheint der Eiche nicht allzu sehr geschadet zu haben, sie ist eine der ältesten Stiel-Eichen überhaupt; keine der sogenannten Tausendjährigen Eichen, derer Deutschland sich rühmt, hat das Alter dieses doch recht malträtierten Exemplars erreicht. Seit der Abt und der Pfarrer die Kapelle gesegnet und der Jungfrau Maria geweiht haben, finden hier Gottesdienste statt, noch heute zweimal im Jahr. Historische Fotos zeigen den Pfarrer im Talar neben dem geschlitzten Eingang, der immer schmaler wird, weil die Eiche weiter wächst, die Kirchgemeinde steht in Sonntagskleidung bis auf die Straße hinaus.

 Nachdem Père du Cerceau Allouville verlassen hatte, um am Hof von Versailles Lehrer zu werden, blieb die Eremitenkammer leer. Sein Ende übrigens war so spektakulär wie sein Leben: Einer seiner Schüler spielte an einer Waffe herum und erschoss ihn aus Versehen.

ère du Cerceau Allouville verlassen hatte, um am Hof von Versailles Lehrer zu werden, blieb die Eremitenkammer leer. Sein Ende übrigens war so spektakulär wie sein Leben: Einer seiner Schüler spielte an einer Waffe herum und erschoss ihn aus Versehen.

Es ist aber nicht so, dass mit dem Umbau der Kapelle Ruhe eingekehrt wäre in Allouville, zu viele originelle Geister leben in dieem Dorf, Roger Devaux ist einer. Weißhaarig, langbärtig und verwildert wie ein alter Wikinger oder Appenzeller- Devaux nämlich liebt das Appenzell, was eine eher ungewöhnliche Vorliebe für einen Nordfranzosen sein dürfte-, ist er nicht nur der Lokaljournalist, sondern auch der Organisator des Vélosolexclubs, des jährlichen Oldtimerrennens, der Heiligenausstellung mit tausendzweihundert Heiligenstatuen aus fünfundachtzig Ländern, des Vereins zur Förderung der Trachtenkultur für Jugendliche, des Rentnerausflugs zum Münchner Oktoberfest, und vor allem ist er der Fürsprecher der Eiche. Er hat mehrere Bücher über den Baum veröffentlicht, auch eine Postkartensammlung mit Lithografien und historischen Fotos: spielende Kinder, Hündchen natürlich, Nonnen, Damen in eleganten Roben, die aus Kutschen steigen, und sogar traditionell arabisch gekleidete Spahi, nordafrikanische Kavalleristen, die im Ersten Weltkrieg für Frankreich kämpften. Am Abend wird Roger Devaux anlässlich der Preisverleihung zum schönsten Baum der Nation im Fernsehen zu sehen sein, neulich sprach er im japanischen Fernsehen, und ihm ies es zu verdanken, dass Le Gros Chêne bei den Koreanern einen Kultstatus erreicht hat, sie reisen in Bussen an.

Devaux sitzt oft nach der Arbeit im Le Pousserdas, einer mit Holz verkleideten und Fototapete geschmückten Bar gegenüber der Eiche. Die Bar ist auch der Tabakladen des Dorfes, am Tresen stehen Männer vor ihren Schnapsgläsern. Als Reporter des Courrier Cauchois müsse er aufpassen, was er über die Leute schreibe, ein Fünkchen Wahrheit könne einen Flächenbrand entfachen, sagt Devaux. Und so gehen wir sicherheitshalber zu den historischen Wahrheiten über und er zückt die Lithografie eines anderen wahnwitzigen Baumes, einer Rotbuche, die in direkter Nachbarschaft der Eiche gelebt hatte: Auch ihre Krone ist nicht mehr naturbelassen, sondern zu einem raumhohen, messerscharfen Zylinder geschnitten, eine Leiter führt zur türgroßen Öffnung im Blattwerk, ein Mann steigt hinauf, ein weiterer nimmt ihn oben in Empfang, unterhalb der Leiter liegt ein anderer lasziv im Gras, die quadratischen Baumfenster sorgen für Licht im Inneren, sechzehn Menschen sollen in der Buche um einen runden Tisch herum getafelt haben. Dieser Baum hat die Französische Revolution nicht überlebt, er war wohl zu dekadent, die Revolutionäre haben ihn angezündet.

Le Gros Chêne hätte beinahe das gleiche Schicksal ereilt, zumal sie ein religiöser Ort war und man ihr allerlei magische Kräfte angedichtet hatte. „Weg mit dem mystischen Unsinn!“, lautete das aufklärerische Credo, doch als 1793 eine Gruppe „von Alkohol und demagogischer Wut trunkener“ Revolutionäre die Eiche abfackeln wollte, soll der Lehrer Jean Baptiste de Bonheur in Windeseile die Jungfrau Maria entfernt und eine Tafel mit der Aufschrift Temple de la raison an dem Baum montiert haben, der die Furiosen wie durch ein Wunder von der Zerstörung abhielt, vielleicht lag es auch an den Bauern, die ihren geliebten Baum mit Mistgabeln verteidigten. Andere Kirchhofbäume brannten lichterloh, diese Eiche blieb unbeschadet stehen.

Was den Aufklärern nicht gelang, hätten 1988 beinahe die Behörden geschafft. Der alte Baum war in Schieflage geraten, eine unerfreuliche Neigung zur Straße hin. Experten wurden angefragt, ein englischer Professor plädierte dafür, die Eiche zu fällen, sein französischer Kollege hielt dagegen. Der Stamm war zudem von Moos überwuchert, die Rinde beschädigt, der Baum litt unter Pilzbefall. Die Gemeinde stellte sich auf die Seite des einheimischen Experten, ein aufwändige Sanierung wurde veranlasst und seither wird der Baum gestützt und gehalten, er ist das Herz von Allouville-Bellefosse.

In der Kirche selbst sei nicht mehr viel los, sagt Devaux, sie hätten einen engagierten jungen Pfarrer aus Afrika hiergehabt, aber die Einheimischen hatten ihn loswerden wollen, ein fremder Schwarzer, unmöglich. Jetzt komme einmal im Monat ein Pfarrer aus dem Nachbarort und halte die Messe, ansonsten verwaise die Kirche, das hätten sie nun davon, diese guten Katholiken, schimpft Devaux. Der vertriebene Pfarrer ist nach Kamerun zurückgekehrt, die Geschichte sei, so Devaux, die Schande des Dorfes, darüber könnten auch die hübschen Rabatten nicht hinwegtäuschen. Er höre auf keinen Fall damit auf, die Welt nach Allouville-Bellefosse zu holen, gerade stehe er mit Baumfreunden aus Singapur im Gespräch. Aber all diese chasseurs d’arbres, die Baumjäger, fänden sowieso ihren Weg in die Normandie, so wie Rob McBride, der in der internationalen Baumszene berühmte Engländer, der sich offiziell treehunter nennt, oder der Italiener, der für die Mailänder Gaswerke arbeitet und in seiner freien Zeit dicke Eichen vermisst, nicht dicke Bäume, nein, nur dicke Eichen.

Vor lauter Wikingern, Freibeutern, exaltierten Klerikern und mistgabelschwenkenden Bauern, vor lauter Schindeln, Metallstreben, Treppen und Treppchen, Trockenblumen, Phalli und anderen Obszönitäten mag man fast vergessen, wer hier eigentlich vor einem steht: ein sehr, sehr alter Baum. Ein sehr lebendiger alter Baum zudem, der wächst und gedeiht und seine Form verändert, der Schindeln sprengtr und gegen Metallklammern kämpft, die in seine Äste einzuwachsen drohen. Ein Baum, der, falls er gesund bleibt und man ihn lässt, den Venusschlitz in seinem Stamm immer mehr zusammenziehen wird, bis kein Mensch sich mehr in sein Inneres zwängen kann und die Jungfrau Maria einsam im Dunkeln steht, um irgendwann verschlungen zu werden.

Es ist aber nicht so, dass mit dem Umbau der Kapelle Ruhe eingekehrt wäre in Allouville, zu viele originelle Geister leben in dieem Dorf, Roger Devaux ist einer. Weißhaarig, langbärtig und verwildert wie ein alter Wikinger oder Appenzeller- Devaux nämlich liebt das Appenzell, was eine eher ungewöhnliche Vorliebe für einen Nordfranzosen sein dürfte-, ist er nicht nur der Lokaljournalist, sondern auch der Organisator des Vélosolexclubs, des jährlichen Oldtimerrennens, der Heiligenausstellung mit tausendzweihundert Heiligenstatuen aus fünfundachtzig Ländern, des Vereins zur Förderung der Trachtenkultur für Jugendliche, des Rentnerausflugs zum Münchner Oktoberfest, und vor allem ist er der Fürsprecher der Eiche. Er hat mehrere Bücher über den Baum veröffentlicht, auch eine Postkartensammlung mit Lithografien und historischen Fotos: spielende Kinder, Hündchen natürlich, Nonnen, Damen in eleganten Roben, die aus Kutschen steigen, und sogar traditionell arabisch gekleidete Spahi, nordafrikanische Kavalleristen, die im Ersten Weltkrieg für Frankreich kämpften. Am Abend wird Roger Devaux anlässlich der Preisverleihung zum schönsten Baum der Nation im Fernsehen zu sehen sein, neulich sprach er im japanischen Fernsehen, und ihm ies es zu verdanken, dass Le Gros Chêne bei den Koreanern einen Kultstatus erreicht hat, sie reisen in Bussen an.

Devaux sitzt oft nach der Arbeit im Le Pousserdas, einer mit Holz verkleideten und Fototapete geschmückten Bar gegenüber der Eiche. Die Bar ist auch der Tabakladen des Dorfes, am Tresen stehen Männer vor ihren Schnapsgläsern. Als Reporter des Courrier Cauchois müsse er aufpassen, was er über die Leute schreibe, ein Fünkchen Wahrheit könne einen Flächenbrand entfachen, sagt Devaux. Und so gehen wir sicherheitshalber zu den historischen Wahrheiten über und er zückt die Lithografie eines anderen wahnwitzigen Baumes, einer Rotbuche, die in direkter Nachbarschaft der Eiche gelebt hatte: Auch ihre Krone ist nicht mehr naturbelassen, sondern zu einem raumhohen, messerscharfen Zylinder geschnitten, eine Leiter führt zur türgroßen Öffnung im Blattwerk, ein Mann steigt hinauf, ein weiterer nimmt ihn oben in Empfang, unterhalb der Leiter liegt ein anderer lasziv im Gras, die quadratischen Baumfenster sorgen für Licht im Inneren, sechzehn Menschen sollen in der Buche um einen runden Tisch herum getafelt haben. Dieser Baum hat die Französische Revolution nicht überlebt, er war wohl zu dekadent, die Revolutionäre haben ihn angezündet.

Le Gros Chêne hätte beinahe das gleiche Schicksal ereilt, zumal sie ein religiöser Ort war und man ihr allerlei magische Kräfte angedichtet hatte. „Weg mit dem mystischen Unsinn!“, lautete das aufklärerische Credo, doch als 1793 eine Gruppe „von Alkohol und demagogischer Wut trunkener“ Revolutionäre die Eiche abfackeln wollte, soll der Lehrer Jean Baptiste de Bonheur in Windeseile die Jungfrau Maria entfernt und eine Tafel mit der Aufschrift Temple de la raison an dem Baum montiert haben, der die Furiosen wie durch ein Wunder von der Zerstörung abhielt, vielleicht lag es auch an den Bauern, die ihren geliebten Baum mit Mistgabeln verteidigten. Andere Kirchhofbäume brannten lichterloh, diese Eiche blieb unbeschadet stehen.

Was den Aufklärern nicht gelang, hätten 1988 beinahe die Behörden geschafft. Der alte Baum war in Schieflage geraten, eine unerfreuliche Neigung zur Straße hin. Experten wurden angefragt, ein englischer Professor plädierte dafür, die Eiche zu fällen, sein französischer Kollege hielt dagegen. Der Stamm war zudem von Moos überwuchert, die Rinde beschädigt, der Baum litt unter Pilzbefall. Die Gemeinde stellte sich auf die Seite des einheimischen Experten, ein aufwändige Sanierung wurde veranlasst und seither wird der Baum gestützt und gehalten, er ist das Herz von Allouville-Bellefosse.

In der Kirche selbst sei nicht mehr viel los, sagt Devaux, sie hätten einen engagierten jungen Pfarrer aus Afrika hiergehabt, aber die Einheimischen hatten ihn loswerden wollen, ein fremder Schwarzer, unmöglich. Jetzt komme einmal im Monat ein Pfarrer aus dem Nachbarort und halte die Messe, ansonsten verwaise die Kirche, das hätten sie nun davon, diese guten Katholiken, schimpft Devaux. Der vertriebene Pfarrer ist nach Kamerun zurückgekehrt, die Geschichte sei, so Devaux, die Schande des Dorfes, darüber könnten auch die hübschen Rabatten nicht hinwegtäuschen. Er höre auf keinen Fall damit auf, die Welt nach Allouville-Bellefosse zu holen, gerade stehe er mit Baumfreunden aus Singapur im Gespräch. Aber all diese chasseurs d’arbres, die Baumjäger, fänden sowieso ihren Weg in die Normandie, so wie Rob McBride, der in der internationalen Baumszene berühmte Engländer, der sich offiziell treehunter nennt, oder der Italiener, der für die Mailänder Gaswerke arbeitet und in seiner freien Zeit dicke Eichen vermisst, nicht dicke Bäume, nein, nur dicke Eichen.

Vor lauter Wikingern, Freibeutern, exaltierten Klerikern und mistgabelschwenkenden Bauern, vor lauter Schindeln, Metallstreben, Treppen und Treppchen, Trockenblumen, Phalli und anderen Obszönitäten mag man fast vergessen, wer hier eigentlich vor einem steht: ein sehr, sehr alter Baum. Ein sehr lebendiger alter Baum zudem, der wächst und gedeiht und seine Form verändert, der Schindeln sprengtr und gegen Metallklammern kämpft, die in seine Äste einzuwachsen drohen. Ein Baum, der, falls er gesund bleibt und man ihn lässt, den Venusschlitz in seinem Stamm immer mehr zusammenziehen wird, bis kein Mensch sich mehr in sein Inneres zwängen kann und die Jungfrau Maria einsam im Dunkeln steht, um irgendwann verschlungen zu werden.

Zora del Buono, Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen

Erschienen in der Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky

© 2015 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Alle Rechte vorbehalten.

Anmerkung:

[1] https://paris-blog.org/2016/04/29/normandie-teil-1-die-allgegenwaertige-vergangenheit/ 

https://paris-blog.org/2016/05/08/normandie-teil-2-schattenseiten-der-vergangenheit/ 

https://paris-blog.org/2019/06/07/6-juni-1944-aus-feinden-werden-freunde/ 

https://paris-blog.org/2021/04/14/himmlische-freundschaft-ein-gastbeitrag-von-michaela-wiegel/

Bildnachweise:  

Zora del Buona, S. 96 und 103;

https://de.wikipedia.org/wiki/Ch%C3%AAne_d%E2%80%99Allouville

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Chnedallouville7.jpg

Le vieux chêne d’Allouville-Bellefosse (Seine-Maritime) – Krapo arboricole (wordpress.com)

https://fr.wikipedia.org/wiki/Ch%C3%AAne_d%27Allouville  (Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. Abgedruckt  in: René Dumesnil, La Seine normande, 1938, S. 62

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