Die Zeitung Libération feiert ihren 50. Geburtstag: Eine Bilderstrecke

5.2.1973: Die Geburtsstunde von Libération

Wenn Sie jeden Morgen eine freie Tageszeitung haben wollen…

Am 5.2.1973 erschien die erste Ausgabe der Tageszeitung Libération. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte auch Jean-Paul Sartre. Die Zeitung verstand sich als Sprachrohr einer Gegenöffentlichkeit, als Stimme des Volkes (du peuple) und Vertreterin eines Konzepts der direkten Demokratie. Sie versprach, ohne Werbung und Einfluss-nehmende Geldgeber auszukommen. Libération wurde damit auch zum großen Vorbild für die fünf Jahre später gegründete Berliner Tageszeitung/taz.

Eine große Bedeutung spielten für Libération von Anfang an Fotos. Es wurde eine eigene unabhängige Fotoagentur engagierter Fotografen in Selbstverwaltung gegründet, die für Libération arbeiteten. Auch wenn diese Agentur nur bis Ende der 1970-er Jahre bestand , blieben die Fotos ein Markenzeichen der Zeitung. Seit den 1980-er Jahren bekamen sie sogar in einem Prozess zunehmender Professionalisierung einen besonderen Stellenwert: Sie waren nicht einfach nur Illustrationen zu Texten, sondern erhielten eine Eigenständigkeit, die es in dieser Weise in anderen Presseorganen nicht gab. Und dabei genossen die Fotografen auch eine außergewöhnliche Freiheit. Deshalb waren viele hervorragende Fotografen bereit, trotz eines vergleichsweise niedrigen Haustarifs für Libération zu arbeiten.

Es bot sich daher an, zum 50-jährigen Jubiläum eine Ausstellung von Titelfotos der Zeitung zu machen. Sie fand statt im cour d’honneur des hôtel de Soubise im Pariser Marais.

Dort ist nämlich der Sitz der Archives Nationales, des Staatsarchivs, dem anlässlich des Jubiläums das Archiv von Libération übergeben wurde.

Nachfolgend ist eine Auswahl der dort präsentierten Bilder wiedergegeben, teilweise mit kleinen Erläuterungen der jeweiligen Fotografen. Dazu kommen einige weitere von mir ausgewählte Aufmacher-Fotos und Titelseiten.

Juli 1973 (Christian Weiss)

Ein Foto der Uhrenfabrik LIP in Besançon. Die Beschäftigten machten 1973 Europa-weit Furore: Im Kampf gegen Entlassungen nahmen sie Produktion und Verkauf von Armbanduhren in die eigene Hand. Sie wurden damit Vorbild für zahlreiche deutsche Unternehmen in Selbstverwaltung, die damals gegründet wurden.  Christian Weiss, ein Gründer des selbstverwalteten Fotolib-Agentur, hatte zu LIP natürlich ein besonders emotionales und professionelles Verhältnis.

11. September 1973: Der Staatsstreich in Chile  (Jean Noël Darde)

Der Eingang des vom Militär gestürmten Präsidentenpalais in Santiago de Chile. Der gewählte Präsident, Salvador Allende, war vom Militär gestürzt worden und hatte Selbstmord begangen.

10. September 1976

Dass Libération Mao, dem Gründer der Volksrepublik China, anlässlich dessen Tod eine ganze Titelseite widmete, ist nicht weiter erstaunlich, waren doch die ersten Mitarbeiter der Zeitung überwiegend militante Maoisten. Erstaunlicher ist schon, dass die ganze Seite chinesische Schriftzeichen verwendet. Die handgeschriebene bzw. -gemalte Schlagzeile bezieht sich auf die Mao verherrlichende Hymne der Kulturrevolution:  Der Osten ist rot. Die zweite Zeile ist allerdings abgewandelt: statt des chinesischen „Die Sonne geht auf“ geht auf der Titelseite von Libération anlässlich des Todes von Mao die Sonne unter… [1]

16.11.1976

„Gabin ist tot. Giscard steckt in der Scheiße. Der Beaujolais ist gut. Frankreich macht weiter“

Der Schauspieler Jean Gabin war am Vortag gestorben, die Auseinandersetzung zwischen dem Prädidenten Valéry Giscard d’Estaing und seinem Ministerpräsidenten Jacques Chirac erreichte mit der Gründung einer neuen rechten Partei, der RPR, einen neuen Höhepunkt, aber wie Libération zu dieser Titelseite schreibt: Der Beaujolais ist süffig und Frankreich ewig…[2]

August 1977 Larzac  (Armand Borland)

Demonstation von Bauern und Pazifisten gegen die seit Beginn der 1970-er Jahre geplante Erweiterung eines Militärgeländes im Larzac, einer Hochebene im französischen Zentralmassiv. Teilweise kamen dort über 100 000 Teilnehmer zu Protestkundgebungen zusammen. Der Kampf dauerte 10 Jahre: Erst als 1981 François Mitterand zum Staatspräsidenten gewählt wurde, wurden die Pläne zum Ausbau des Militärgeländes verworfen.

Mai 1981 (Jacques Torredano)

Das Foto zeigt Giscard d’Estaing auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung. Nach der Niederlage Giscards platzierte Libération das Foto auf der Titelseite mit dem Titel Rideau (Der Vorhang fällt)

17. April 1980:   Sartre geht dahin…

Am 15. April 1980 starb Jean-Paul Sartre, einer der Gründungsväter von Libération. Die Zeitung ehrte ihn mit einem ganzseitigen Foto auf dem Titelblatt: eine Premiere- begleitet von Zitaten aus der autobiographischen Schrift Sartres Les Mots.

17. September 1981

„Todesstrafe für die Guillotine“: Titelseite von Libération anlässlich der Parlamentsdebatte über die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich. Es handelt sich dabei um ein vom damaligen Justizminister Robert Badinter verfolgtes und schließlich -auch gegen erhebliche Bedenken in der öffentlichen Meinung-  erfolgreich durchgesetztes Projekt. Dass der Anfang 2024 verstorbene Badinter 2025 ins Pantheon aufgenommen werden  soll, ist wesentlich auch dieser Initiative zu verdanken.

  1. Dezember 1981

1982 Paris, La Goutte d’Or (Martine Barrat)

Martine Barrat schreibt zu diesem Foto: „Als Aicha Guerma hier gesprungen ist, hatte ich große Angst. Sie sagte mir, sie wolle fliegen. Und danach: Ich wäre gerne ein Schmetterling. 1982 lebte die Familie Guerma in einem Häuschen von 22 Quadratmetern mit ihren sieben Kindern im Goutte d’Or. Herr Guerma verließ um 6 Uhr morgens das Haus und kam spät in der Nacht zurück. Er arbeitete als Spülhilfe in einem Restaurant. Eine größere Wohnung konnte er nicht finden.“

10. Februar 1985, Saint-Ouen (Jean-Claude Coutausse)

Das Foto zeigt den Vorsitzenden der KPF, Georges Marchais, beim 25. Kongress der Partei. Jean-Claude Coutausse zu diesem Foto:  „Ein Foto für die Agence France press (AFP) zu machen, für die ich damals arbeitete, bedeutete, ein gefälliges Foto für Jedermann zu machen, und das nahm man  in Kauf. Bei Libé war das ganz anders. Sie lassen dir eine ungeheure Freiheit des Ausdrucks, um dich an einen dir  bekannten Leserkreis zu wenden. Das machte Bilder möglich, die aus dem üblichen Rahmen fallen. So wie dieses Foto von Marchais, von dem man nur die Augenbrauen sieht.“

11. November 1989, West-Berlin, Fall der Mauer (Raymond Depardon)

Raymond Depardon zu diesem Bild: „Einen Tag nach dem Fall der Mauer hat mich Libération nach Berlin geschickt. Ich habe schnell dieses Foto (rechts unten W.J.) gemacht, das Libé als erste Zeitung veröffentlicht hat. Es gab noch nicht viele ausländischen Fotografen, sie hatten noch nicht genug Zeit gehabt zu kommen. Ich konnte kein Deutsch. Manchmal hatte ich den Eindruck, in einem science-fiction-Film zu sein. Vielleicht war ich weniger sentimental als die deutschen Fotografen. … Man fühlte, dass man einen historischen Augenblick erlebte.“

Tod von Marlene Dietrich Mai 1992

L’ange passe nimmt Bezug auf die Rolle Marlene Dietrichs in dem Film „Der blaue Engel“, der Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“. Un ange passe bezeichnet im Französischen aber auch einen Moment der Stille in einem Gespräch: Ein wunderschönes Foto mit einem dazu passenden Wort…

November 1992 (Alexis Cordessis)

Alexis Cordesse zu diesem Bild: „Laurent war gerade 18 Jahre alt, als er erfuhr, dass er AIDS hatte.  Schwer erkrankt konnte er nicht mehr arbeiten und allein leben und kehrte zu seinen Eltern zurück. Ich habe über die letzten drei Wochen vor seinem Tod im Alter von 22 Jahren eine Reportage gemacht. Er wollte ein letztes Mal das Meer sehen, zusammen mit seinen Nächsten, die einverstanden waren, dass ich sie begleite.“

1995 Grozny. (Laurent van der Stockt)

Dieses Bild wurde aufgenommen während des Tschetschenien-Krieges.  Dazu Laurent van der Stockt:

„Dieses Foto entstand im Keller des Parlaments-Gebäudes, das bis zu seiner Zerstörung durch russische Bomben von tschetschenischen Kämpfern verteidigt wurde. Es sind russische Soldaten, die in Gefangenschaft geraten waren. Sie wussten nicht,  wo  sie waren. Sie hatten  keine Ahnung, wo Tschetschenien liegt. Sie waren nur kleine Räder in einer riesigen Maschine, die über sie hinweg ging: Kanonenfutter.“

26.11.1997  Tod der Sängerin Barbara

Meine schönste Liebesgeschichte, das seid ihr…

13.7.1998 (Charles Platiau)

„La vie en bleu“ : Am 12. Juli 1998 besiegte die  französische Fußball-Nationalmannschaft Brasilien mit 3:0 und wurde damit Fußballweltmeister. Der Spieler auf dem Titelbild ist Didier Deschamps, der Kapitän der Weltmeistermannschaft und spätere Trainer des französischen Nationalteams.

Oktober 1998 (Richard Dumas): Godard dans l’œil de Libé

Der Regisseur Jean-Luc Godard kurz vor einem Interview mit Libération. In einem Raum der Redaktion, rue Béranger, gab es ein großes rundes Fenster mit Blick auf „tout Paris“. Das ist  „das  Auge von Libération“,  l‘œil de Libé.

22.4.2002 (Antonio Ribeiro)

NON mit dem Portrait von Jean-Marie Le Pen. Der hatte im ersten Wahlgang für die französische Präsidentschaft den sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin knapp überflügelt. Damit hatte zum ersten Mal ein rechtsradikaler Politiker die entscheidende Stichwahl (gegen Jacques Chirac) erreicht.

29.4.2002 Paris, Place  de la Nation (Guillaume Herbaut)

Guillaume Herbaut zu dem Foto: „Place de la Nation zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahl. Als ich dieses Foto machte, habe ich zwei Bilder gesehen: la Liberté guidant le peuple von Delacroix und le Radeau de la Méduse von Géricault. Die Darstellung der Republik kurz vor dem Untergang, und wir klammen uns an dem Floß fest. Das Foto  erschien auf der Titelseite  der Ausgabe zum 1. Mai mit der Aufschrift „Marchons“. Ich habe es auf den Demonstrationszügen gesehen.“

Um einen Sieg Le Pens zu verhindern, stimmten im zweiten Wahlgang auch viele linke Wähler für Chirac: So wurde er mit 82,21 % der Stimmen in eine zweite Amtszeit gewählt. Wenn bei den nächsten Präsidentschaftswahlen die Tochter Jean-Marie Le Pens, Marine Le Pen, wieder im zweiten Wahlgang vertreten sein sollte, was zu erwarten ist, wird man kaum wieder mit einer solchen republikanischen Abwehrfront rechnen können…

2003 Das bombardierte Irak (Bruno Stevens)

Bruno Stevens zu dem Foto: „Ich war zum ersten Mal im Oktober 2002 im Irak, dann wieder Ende Januar 2003 während des Krieges und bin bis Ende Mai dort geblieben.  …Dieses Foto habe ich an einem Nachmittag in Bagdad aufgenommen, auf einer Straße, die ein sehr armes und schiitisches Stadtviertel von den anderen Stadtteilen trennt. Ein starkes Bombardement hatte etwa 20 zivile Opfer verursacht. Auf etwa 200 Metern gab es Schäden. Der Himmel war bedeckt wie bei einem Sandsturm. Eine Frau stand unter Schock. Ihr Bruder war gerade getötet worden. Zehn Jahre später, 2013, bin ich nach Bagdad zurückgekehrt und habe genau diesen Ort wieder aufgesucht. Ich wollte wissen, wie der Krieg das Leben der von mir fotografierten Menschen verändert hatte. Ich habe auch den Besitzer des zerstörten Geschäfts getroffen, den man auf dem Foto  hinter seinem Auto sieht. Er war überhaupt nicht zufrieden mich zu sehen, der ich aus dem Westen kam. Der Krieg hatte sein Haus zerstört, vielleicht sein Leben.“

Allerdings hatte sich Frankreich (wie auch Deutschland) damals geweigert, an dem Krieg teilzunehmen, der auf der Grundlage bewusster Falschinformationen von den USA  betrieben wurde.

Oktober 2006: Evacuation du squat de Cachan (Diane Grimonet)

Dazu Diane Grimonet: „Das war damals die größte Hausbesetzung von Frankreich. Etwa 700 Männer, Frauen, Alleinstehende und Familien, wohnsitzlos oder ohne Aufenthaltsgenehmigung (sans-papiers), lebten seit 2003 in einem ehemaligen Studentenwohnheim von Cachan. Seit Anfang August 2006 wurden sie von dort vertrieben.“

14. Juni 2011

2011 feierte der französische Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier sein 35-jähriges berufliches Jubiläum: 1976 hatte er seine erste eigene Kollektion vorgestellt. Zum Anlass seines Jubiläums wurde Gaultier von Libération eingeladen, um dort einige Tage als Modejournalist zu arbeiten. Dabei entstand eine ausgefallene Idee, wie sie wohl auch nur dort entstehen kann: Gaultier stattete nämlich einige Mitarbeiter/innen mit Kleidern aus, die aus Zeitungsseiten von Libération angefertigt waren… : Habiller des Libé en Libé dans Libé.

11. September 2011

10. Januar 2015, Place de la République: Je suis Charlie (Johann Rousselot)

Große Solidaritätsdemonstration nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Terroristen drangen mit Sturmgewehren in die Räume der Redaktion ein, in denen gerade eine Konferenz stattfand. 12 Menschen wurden erschossen, 11 verletzt.

7. Juni 2015 Insel Kos: Der Tourist und die Migranten (Oliver Jobard)

Oliver Jobard:  „Ich war auf der Insel,  um eine syrische Familie bei ihrer Ankunft in Griechenland zu begleiten. Aber die Insel Kos ist ziemlich groß und die Boote kamen nicht immer an der gleichen Stelle an. An diesem Tag war ich an einem sehr touristischen Ort mit Liegen und Sonnenschirmen. Es war früh am Morgen und ein einziger Tourist badete gerade. Als das Boot sich näherte, bekam er Angst und entfernte sich.  Es waren Syrer in dem Boot. Kaum waren sie an Land, streckten sie sich auf den Liegen aus, erschöpft von ihrer Fahrt.“

1.Dezember 2018 Paris: Fièvre jaune  (gelbes Fieber)  Boby

Dazu Boby, der Fotograf: „Ich habe noch niemals so viel Zerstörung gesehen. Und auch nie so viele verschiedene Leute, die sich da zusammengetan hatten: Junge, Alte, man sah, dass das für manche noch ganz ungewohnt war: Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, ohne Helme. Ein Familienvater nahm eine Absperrung und schrie: Vorwärts Leute, wie im Mittelalter. Die Gelbwesten hatten die rond-points (Kreisel) verlassen und die Champs-Élysées gestürmt.“

22. Februar 2019 Place de la République: Greta  (Lucile Boiron)

Greta Thunberg auf einer Klima-Demonstration von Schülern und Studenten auf der Place de  la République in Paris

15. April 2019: „Notre drame“ (Stephane Lagoutte)

Stephane Lagoutte zu dem Foto: „Ich habe mich, wie die Menge, zuerst an das Geländer der Brücke gedrängt, um die brennende Kathedrale zu fotografieren. Als es Nacht wurde, habe ich diese beiden auf dem Trottoir sitzenden Personen gesehen, mit dem Rücken zum Feuer. Ich habe gehofft, die beiden Szenen in einem Bild zu verbinden. Dieses Foto, das am nächsten Tag in Libération veröffentlicht wurde, ging viral. Zwei Jahre später erfuhr ich die Geschichte der beiden. Damals waren sie befreundet. Und genau zu diesem Zeitpunkt haben sie sich zum ersten Mal umarmt. Als Freunde dieses Foto sahen, dachten sie, die beiden wären ein Paar. Aber das kam erst danach. Sie hatten das Foto im musée Carnavalet gesehen, das einen Abzug gekauft hatte. Sie haben mich zu ihrer Hochzeit eingeladen, vier Jahre nach dem Brand von Notre-Dame.“

29. März 2020 Paris (Frédéric Stucin)

Stucin hat während der rigiden französischen Covid- Ausgangssperre Fotos vom menschenleeren Paris gemacht: keine touristischen Orte, sondern Fotos seiner vertrauten, nun geradezu surrealen Umgebung.

2. März 2022 Ukraine (Rafael Yaghobzadeh)

Rafael Yaghobzadeh: Das Foto wurde aufgenommen in Butscha am 2. Mai, einen Tag bevor die Russen die Stadt einnahmen und vor den russischen Massakern. Das junge Mädchen steht mitten auf der völlig verbrannten Straße. Es ist die Bahnhofstraße, die Hauptverkehrsader der Stadt. … Nach der Befreiung der Stadt und der Entdeckung der russischen Massaker bin ich nach Butscha zurückgekehrt. Ich konnte das junge Mädchen nicht finden, um ihr das Foto zu zeigen, das auf der ersten Seite von Libération abgedruckt wurde.

26. Juli 2022: Macrons olympische Bewährungsprobe

26. September 2022: Frau, Leben, Freiheit

„Trotz der Repression lässt die Mobilisation im Iran nicht nach. Und das, was am Anfang eine Bewegung für die Rechte der Frauen war, wird zu einem Aufstand gegen das Regime.“

11. Dezember 2023: Immigration; das Frankreich, das hilft

Anlässlich der heftigen, teilweise von extremer Xenophobie geprägten Debatten um ein neues Einwanderungsgesetz, das an diesem Tag in der Nationalversammlung behandelt wird,  macht Libération seinen Aufmacher mit dem Frankreich, das den exilés à la rue, den auf der Straße lebenden Flüchtlingen, hilft“ – ob  in Schulen, Vereinen, Sporthallen, Wohnungen….

21. Februar 2024: Missak und Mélinée Manouchian werden ins Pantheon aufgenommen

Der Armenier Missak Manouchian wurde am 21. Februar 2024 mit seiner Frau Mélinée ins Pantheon aufgenommen, die höchste Ehre, die Frankreich zu vergeben hat. Manouchian war im Zweiten Weltkrieg  Leiter einer Gruppe von ausländischen Widerstandskämpfern gegen die deutschen Besatzer. Er ist der erste Ausländer und Kommunist im Pantheon. „La France enfin reconnaissante“ – (das endlich dankbare Frankreich) bezieht sich auf die Inschrift auf dem Portikus des Pantheons: la patrie reconnaissante. Das enfin drückt aus, dass es endlich Zeit sei für die Anerkennung des Engagements der ausländischen Widerstandskämpfer.


[1] Libé fête son demi-siècle : 1976, les Mao pour le dire – Libération (liberation.fr)

[2] http://unes.liberation.fr/detail.cfm?idpicture=217572030

Wimmelbild und Suchspiel: Das offizielle Olympiaplakat Paris 2024.  Was zu sehen ist und was nicht….

Anfang März 2024 präsentierte das Organisationskomitee das offizielle Plakat für die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 in Paris.

Im März wurden die beiden Hälften des Plakats -jeweils kurz und alternierend mit anderer Werbung- auf Plakatwänden der Stadt präsentiert.

Die linke Seite bezieht sich auf die Olympischen Spiele (26. Juli bis 11. August),  die rechte -hier gerade auf der Plakatwand zu sehen- auf die Paralympischen Spiele (28. August bis 8. September). Es handelt sich um eine „poetisch-futuristische Darstellung“ (Libération) mit etwa 40 000 Figuren und 47 Wettbewerben, also, ganz anders als die bisherigen offiziellen Olympiaplakate, um ein echtes Wimmelbild.[1]  

Unschwer zu erkennen ist das olympische Logo, und zwar gleich zweimal: auf der linken, olympischen, wie auf der rechten, paralympischen Seite.

Ganz deutlich in der Mitte des Plakats ist auch das olympische Maskottchen zu erkennen.

Es heißt Phryge, in Anlehnung an die phrygischen Mützen aus der Zeit der Französischen Revolution, denen das Maskottchen nachempfunden ist. Die phrygische Mütze gehört zu den Symbolen der Französischen Republik, auch Marianne trägt eine. So sollen Name und Design des blau-weiß-roten Maskottchens mit seinen Sportschuhen das sportbegeisterte Frankreich und seine Spiele repräsentieren.[2]

Das rote Maskottchen ist passender Weise über dem Obelisken auf der place de la Concorde positioniert, wo der letzte französische König Ludwig XVI. und seine Frau Marie-Antoinette guillotiniert wurden… Soll das an die Köpfe enthaupteter tatsächlicher oder angeblicher Feinde der Republik erinnern, die während der Französischen Revolution auf Piken aufgespießt  und triumphierend durch die Straßen getragen wurden? Wohl kaum! Das würde doch nicht zu dem unbeschwerten olympischen Jahrmarktstreiben des Plakats passen. Honni soit, qui mal y pense… Auf der place de la Concorde ist eine große Zuschauertribüne aufgebaut: Auf dem Platz werden ja mehrere neue olympische Straßensportarten ausgetragen: Breakdance, BMX, Skateboard, 3×3-Basketball 

Die olympische Flamme selbst fehlt noch auf dem Plakat. Denn wo die nach dem Fackellauf durch Frankreich letztendlich aufgestellt werden soll, ist noch nicht bekannt. Thomas Bach, der Präsident des IOC, hat in einem Interview mit Le Monde (19.3.2024) versichert, es werde sich um einen würdigen und bedeutsamen Platz handeln, aber den wolle/könne er noch nicht verraten.  Also ist auf dem Plakat nur eine noch nicht erleuchtete Fackel zu sehen. Sie ist im Hafen von Marseille postiert, wo sie am 8. Mai ankommen und dann einen Parcours durch ganz Frankreich bis nach Paris absolvieren wird.

Über den Hafen und die Fackel fliegt die Patrouille Frankreichs – hier allerdings nur mit 8 statt der obligatorischen 9 Flugzeuge. Es gehört zur Tradtion des französischen Nationalfeiertags, dass am 14. Juli diese Formation die Champs-Élysées überfliegt, die französischen Nationalfarben hinter sich hierziehend. Die gibt es allerdings hier nicht. (Dazu später mehr).

Neben dem Obelisken sind auch andere prominente Bauwerke und Wahrzeichen von Paris zu sehen: Natürlich der Eiffelturm, inmitten des Karussell-ähnlichen Stade de France, des Olympiastadions….

…. darüber der Trocadero-Platz, auf dem die Eröffnungszeremonie der Spiele enden wird.

Mitten auf dem Platz eine hochgereckte Hand mit den olympischen Medaillen.

Rechts oben der Arc de Triomphe, auf dem gerade im Rahmen der paralympischen Spiele ein Tennisspiel von Rollstuhlfahrern stattfindet und durch den gerade ein Metro-Zug fährt…

… rechts unten das in den letzten Jahren für die Olympischen Spiele aufwändig restaurierte Grand Palais

Links unten der (ebenfalls frei gestaltete) pont Alexandre III., an dem -coûte que coûte-  die Freiwasser-Schwimmwettbewerbe starten sollen und das Triathlon-Schwimmen. Einen Plan B bei zu großer Wasserverschmutzung gibt es jedenfalls nicht ..[3] Auch Ruderboote sind hier zu sehen– obwohl die Ruderwettbewerbe natürlich nicht auf der Seine ausgetragen werden, sondern im Stade nautique von Vaires-sur-Marne. Der pont Alexandre ist übrigens voll mit Menschen, konkret Läufern. Das ist ein Hinweis auf den für den 10. August geplanten Volksmarathon, der genau auf dem Kurs des olympischen Marathons stattfinden wird.[4]

…. links oben der Invalidendom (zu dem später mehr): Also eine kleine Auswahl illustrer Pariser Sehenswürdigkeiten.

Aber es gibt auch kleine, wenn auch kaum weniger bedeutende Sehenswürdigkeiten auf dem Plakat. So links unterhalb des Grand Palais einen der vielen grünen Wallace-Brunnen, die in Paris seit den 1870-er Jahren kostenloses Trinkwasser spenden. Auf dem Plakat ist er allerdings überdimensioniert, damit man ihn auf dem Wimmelbild überhaupt wahrnehmen kann.

Dazu sind  47 olympische und paralympische Sportarten berücksichtigt worden. Hier eine kleine Auswahl:

Das Klettern

Die Reitwettbewerbe. Die  finden im Schlosspark von Versailles statt, der hier durch die charakteristische Parterre-Gestaltung entsprechend angedeutet ist.

Fußball und zwei Fechter im Rollstuhl auf dem Dach des Grand Palais. Die Fechtwettbewerbe der Olympiade werden zwar nicht auf, aber unter der Kuppel dort ausgetragen.

Boxer und Volleyball unter bzw. neben dem Eiffelturm. Der Ring der Boxer hängt übrigens an  Seilen in der Luft, vermutlich ein Hinweis auf die Seile, die den Boxring umgeben.[5]

Auf dem Dach der Metro, die gerade unter dem Arc de Triomphe durchfährt, findet ein Judo-Wettkampf statt. Der Ort passt sehr gut, weil diese Disziplin für Frankreich sehr medaillenträchtig ist…

Die Surfwettbewerbe finden in Tahiti statt, wo es eine „der schönsten und besten Wellen der Welt“ gibt, die hier eindrucksvoll anrollt.[6]

Entworfen hat das Plakat Ugo Gattoni, der seinen Namen, begleitet von einem Maskottchen, auf einer Aussichtsplattform über dem bunten olympischen Jahrmarktstreiben platziert hat. Getragen wird die Plattform übrigens von einer an ihrer phrygischen Mütze erkennbaren Marianne, dem Symbol Frankreichs.[7]

Bekannt geworden ist Gattoni durch seine quadratischen, seidenen und sehr teuren Hermès-Tücher (les carrés d’Hermès) wie zum Beispiel das Tuch Hippopolis, auf dem auch das Hermès-Logo abgebildet ist.

Gattoni hat seine Arbeiten so beschrieben: „ziemlich realistische Darstellungen in einem surrealistischen Universum“. Das gilt für die Hermès-Tücher und auch für das Olympiaplakat. Und immer sind die Darstellungen so vielfältig, dass der Betrachter zum Promenieren und Erkunden eingeladen wird. [8] Das Olympia-Plakat mit seinen Pariser Sehenswürdigkeiten und 47 Sportarten bietet sich geradezu für ein Suchspiel an. Darauf wurde anlässlich seiner Präsentation denn auch öfters hingewiesen. Das Stichwort dazu: Où est Charly? (deutsche Version: Wo ist Walter?)[9] Das ist eine Serie von Heften mit Wimmelbildern, auf denen jeweils ein Weltenbummler namens Charlie/Walter gefunden werden muss. Auf dem Olympia-Plakat wird man den allerdings nicht finden. Aber auf die Suche nach den über das Plakat verteilten acht Maskottchen kann man durchaus gehen.  Und für das Suchspiel Ich seh‘ etwas, was du nicht siehst eignet sich das Plakat ebenfalls- jedenfalls in seiner Version als Poster – die beiden Teile zu je 29 Euro…. Eine farblose Version zum Ausmalen ist auch im Angebot, und ein -vielfach angeregtes- Puzzle wird es sicherlich bald geben.

Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde das Plakat im Musée d’Orsay. Die Botschaft: Es handelt sich um ein Kunstwerk, das entsprechend eingeordnet werden soll: Der hochrenommierte Sender France-Culture hat denn auch Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel den Älteren als ästhetische Ahnherren des Plakats ausgemacht….[10]

Pieter Bruegel hat ja ein wunderbares Wimmelbild zum Thema Kinderspiele gemalt. Und das hat vielleicht die Zeitschrift Marianne zu folgender satirischer „Richtigstellung“ veranlasst. Danach handelt es sich bei dem verbreiteten Plakat um eine mit künstlicher Intelligenz erstellte Fälschung, die „ein Neffe von Anne Hidalgo beim Spielen mit seinem PC erstellt hatte (…) Um die Software zu starten, gab der Teenager folgende Begriffe ein: „Paris“ / „Olympische Spiele“ / „viel Rosa“ / „Walt Disney“ / „Vergnügungspark“ / „voll inklusiv“ / „wo ist Charlie“ / und schließlich „meiner Tante gefallen“ sowie „dem chinesischen Publikum gefallen“. 42 Sekunden später erhielt der Junge diese schillernde, aber dennoch sehr unterhaltsame virtuelle Kreation, die er über eine Whatsapp-Schleife mit seinen Schulkameraden teilte. Das gefälschte Poster hätte diese private Schleife nie verlassen dürfen, aber durch ein schreckliches Missverständnis konnte es sich unkontrolliert verbreiten.“ [11]

Das Olympiaplakat: Ein Skandal!?

Allerdings gab es auch ganz heftige Reaktionen: „Scandaleux“ urteilte Éric Ciotti, der Vorsitzende der konservativen Republikaner (Les Républicains). Nach Auffassung des Spitzenkandidaten der Partei für die Europawahlen François-Xavier Bellamy werden durch das Plakat Frankreich und seine Geschichte ausgelöscht, seine Wurzeln zerstört. Ins selbe Horn bliesen auch die Vertreter der rechtsradikalen Parteien: Es sei unverzeihlich, „unsere Identität“ unsichtbar zu machen, so einer Vertreter des rechten/rechtsextremen Rassemblement National (RN), und die Spitzenkandidatin der ultrarechten Gruppe Reconquête, Marion Maréchal, ging sogar so weit, den Sinn der Olympischen Spiele in Frankreich anzuzweifeln, wenn sie nur dazu da seien, zu verbergen „was wir sind“.[12]

Was ist es, dass Politiker von rechts und ganz rechts so in Aufruhr versetzt hat? Es ist vor allem ein kleines fehlendes Kreuz auf der Spitze des Invalidendoms:

Manque de drapeau français et de la croix des Invalides... À peine dévoilée  l'affiche des Jeux crée la polémique

Le Figaro 5.3.2025

Dazu Éric Ciotti: Die Kuppel des Invalidendoms sei doch nicht die eines Supermarkts, sondern  einer Kapelle. Indem das Kreuz von seiner Spitze entfernt werde, leugne das offizielle Plakat der Olympischen Spiele die Identität dieses Bauwerks sowie die französische Geschichte. Das sei „scandaleux!“[13]

François-Xavier Bellamy: Sie -also wohl Ugo Gattoni und die Verantwortlichen des Organisationskomittes- seien bereit, die Realität zu verbiegen und damit Frankreich und seine Geschichte zu verleugnen.  Wie könne man vorgeben, ein Land zu lieben, wenn man seine Wurzeln zerstöre?[14]  

Und Gipfel der nationalen Verleugnung und des Skandals: Auf dem ganzen Plakat fehle ausgerechnet die Tricolore, die Nationalfahne.

Da sehnen sich manche wohl  zurück nach 1924 und dem damaligen Plakat, als Frankreich im Vollgefühl des Sieges im Ersten Weltkrieg stolz seine Fahne und die in Reih und Glied aufmarschierenden  olympischen Helden  präsentierte.

Im Gegensatz allerdings zu dem, was in manchen Presseartikeln und in den sozialen Medien  verbreitet wurde, hat das IOC keinerlei Vorgaben für das offizielle Olympiaplakat gemacht. Pflicht ist lediglich, dass das offizielle Logo, die Jahreszahl und Ort und Nummer der Olympiade angeben sein müssen. Ansonsten haben das jeweilige Organisationskomitee freie Hand. Und Ugo Gattoni betonte ja ausdrücklich, er habe etwas Episches, Grandioses und Festliches schaffen und nicht die Realität 1 zu 1 wiedergeben wollen.[15] Und da war Gattoni ja auch sonst im Umgang mit den sogenannten heiligsten Gütern der Nation großzügig: Da fährt ja eine Metro nicht nur durch den Arc de Triomphe, sondern damit auch über die Flamme des unbekannten Soldaten, eine Weihestätte der Republik- wobei da merkwürdigerweise der Aufschrei ausblieb…

Und was die Fahne angeht: Es gibt zwar keine offizielle Regel, aber eine Tradition, keine Landesfahne auf dem offiziellen Olympiaplakat abzubilden. Selbst Hitlerdeutschland hatte 1936 darauf verzichtet, das Hakenkreuz auf dem Plakat der Spiele von 1936 in Berlin zu platzieren. Und das Organisationskomitee für die Pariser Spiele konnte immerhin darauf hinweisen, dass der Dreiklang bleu-blanc-rouge der Tricolore durchaus im Plakat vertreten sei- beispielsweise auf der Cocarde der Maskottchen oder auf den Flugzeugen der Patrouille de France.

Und macht man sich auf die Suche, wird man auch an anderen Stellen die Farben der Tricolore finden…

Außerdem sei als nationales Symbol Marianne auf dem Plakat abgebildet.

Auf der von Marianne getragenen Aussichtsplattform sieht man übrigens ein internatonales Publikum, das wohlwollend und begeistert von oben auf das bunte olympische Treiben herabblickt. Die Dame hält in ihrer Hand einen Ball, vermutlich die Weltkugel symbolisierend, auf dem ein Vogel sitzt; vielleicht eine  Friedenstaube: Die Olmpischen Spiele als Veranstaltung des Friedens für die ganze Welt – schön wärs….

Die Kehrseite der Medaille

Dass da alles friedlich-freundlich zugeht und das Fest durch keine Dissonanzen getrübt wird, ist bei einem olympischen Plakat nicht anders zu erwarten und sollte auch kein Kritikpunkt sein.

Dass es aber durchaus eine Fülle von möglichen Problemen rund um die Olympischen Spiele gibt, wird immer deutlicher, je näher sie kommen: Das betrifft vor allem, angesichts eines schon in Normalzeiten völlig überlasteten und teilweise maroden öffentlichen Nahverkehrs, die Bewältigung eines Massenansturms von Olympia-Gästen, und es betrifft die Frage, wie man die Sicherheit der Spiele garantieren kann: ein Problem, das gerade nach dem blutigen IS-Anschlag bei Moskau noch einmal mehr ins öffentliche Bewusstein geraten ist.

Und dann gibt es auch noch den Wunsch der Verantwortlichen, das frohe Fest nicht durch unangenehme Bilder von aufdringlichen Bettlern, heruntergekommenen Obdachlosen, Drogenabhängigen  oder an den Seineufern oder in Parkanlagen kampierenden Flüchtlingen zu stören. Diesen Wunsch -und daraus folgende entsprechende Maßnahmen- gab es auch schon bei anderen Olympischen Spielen- Paris macht da keine Ausnahme. Und die Tendenz, das strahende Bild der ville lumière nicht von am Rand der Gesellschaft -aber nicht immer am Rand der Stadt-  Lebenden verdunkeln zu lassen,  gibt es ja schon seit den Zeiten des Barons Haussmann.

Die Zeitung Libération hat am 22. März den Unerwünschten  (Les Indésirables) der Olympischen Spiele einen mehrseitigen Aufmacher gewidmet. Menschen ohne festen Wohnsitz, ohne legalen Aufenthaltsstatus (sans-papiers), Prostituierte (travailleurs du sexe– sic!) seien  schon teilweise aus Paris entfernt worden, andere unter verstärkter polizeilicher Überwachung. Es gäbe zahlreiche Opfer der von manchen Organisationen so bezeichneten «sozialen Säuberung» (nettoyage sociale).

„Paris verbirgt sein Elend“ (Libération 22.März 2024)

In ihrem Leitartikel schreibt Libération dazu: „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass vier Monate vor der Eröffnungszeremonie angestrebt wird, alle diejenigen aus Paris und der Region Île-de-France zu entfernen, für die die Straße die letzte Zuflucht ist. Und das sind in diesen Zeiten der Kriege und der wirtschaftlichen Probleme viele. Das führt zu verzweifelten Situationen wie bei der kürzlichen Auflösung des Lagers von Minderjährigen am Ufer der Seine.“[16]   Verzweifelte Situationen auch deshalb, weil es bei vergleichbaren Räumungsaktionen 2023 für die Betroffenen keine längerfristigen alternativen Angebote gab.[17]

Die katholische Hilfsorganisation Secours Catholique de Paris beklagt deshalb, dass der Anspruch der Olympia-Organisatoren, solidarischere, ökologischere und inklusivere Spiele als bisher abzuhalten, nicht eingehalten werde. Die Olympiade werde jedenfalls nicht wie versprochen ein Fest für alle sein.

Es gäbe nämlich noch die vielen „Vergessenen des Festes“, über deren Situation die Organisation eine Informationsbroschüre veröffentlicht hat.[18]

Auch die FAZ hat sich in ihrer Ausgabe vom 27. März des Themas angenommen. Die Paris-Korrespondentin Michaela Wiegel schreibt unter der Überschrift „Die Migranten, die Paris vor Olympia verlassen müssen“:

„Die Regierung hat die Vorstellung zurückgewiesen, dass die Räumungs- und Verlegungsoffensive in Paris im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen steht. Vielmehr würden die Migranten im Namen der nationalen Solidarität in andere Regionen geschleust. (…) Die Hauptstadtregion betreue bereits durchschnittlich 120.000 Menschen in Notunterkünften. Dabei reichen die öffentlichen Aufnahmezentren bei Weitem nicht aus, deshalb werden Hotels zur Unterbringung herangezogen. Doch viele Hotels haben rechtzeitig vor den Olympischen Spielen Eigenbedarf angemeldet. Sie wollen ihre Zimmer lieber lukrativer an Olympia-Besucher vermieten.

Hilfsorganisationen beklagen das Vorgehen der Behörden. Sportlern und Besuchern aus aller Welt solle im Olympia-Sommer ein makelloses Stadtbild vorgeführt werden. ‚Olympia ist ein wunderschöner Lack, der die Armut verbirgt‘, sagte Paul Alauzy für das Aktionsbündnis Die Kehrseite der Medaille.“ (Le Revers de la médaille).

Dies ist ein Zusammenschluss von etwa 80 Hilfsorganisationen, die im Vorfeld der Olympischen Spiele auf die „Vergessenen des Fests“ aufmerksam machen und eine nettoyage sociale verhindern wollen.[19] Zum Beispiel durch Aktionen wie Anfang Februar.

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Da wurden u.a. die Worte Olympische Spiele : „Man ist nicht fertig“ auf den Arc de Triomphe projiziert.[20]

Die Plakate, die dabei hochgehalten wurden, interpretieren auf sarkastische Weise den olympischen Slogan Citius, altius, fortius, communiter. Plus vite, plus haut, plus fort, ensemble. Schneller, höher, stärker, gemeinsam.

Schneller um die notleidende Bevölkerung aus der Île-de-France zu entfernen.  Foto: Frauke Jöckel. Seineufer. März 2024

„Um alle Nationen hier zu empfangen, mussten alle ausgeschlossen werden, die schon da waren.“

Auch an berühmten Pariser Sehenswürdigkeiten wurden von dem Kollektiv Plakate aufgehangen. „Olympische Spiele 2024: Offene Grenzen für die Reichen, soziale Säuberung für die Armen“, steht darauf.[21]

„Höher bei der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen ohne offiziellen Aufenthalts-Status“. Foto: Frauke Jöckel

Auf dem olympische Plakat Gattonis gibt es ebenfalls den olympischen Slogan citius, altius,fortius, communiter, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu erkennen: auf dem Sprungbrett, auf dem ein junger Mann mit einer Taube auf einem ausgestreckten Arm dabei ist, sich in das olympische Gewimmel zu stürzen. (Rechts oben übrigens der grüne Wallace-Brunnen)

Es ist zu hoffen, dass die Pariser Olympiade die fröhlichen, bunten und friedlichen Spiele bieten kann, die das Plakat verheißt. Und vielleicht kann der öffentliche Druck doch dazu beitragen, dass die Situation der oubliés de la fête stärker ins Bewusstsein der Verantwortlichen rückt und schließlich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen beiträgt. Immerhin lässt es sich Frankreich einiges kosten, damit während der olympischen Spiele sozial eitel Sonnenschein herrscht: Die öffentlich Bediensteten erhalten zum Beispiel besondere Olympia-Prämien: Nicht auszudenken, wenn etwa die Bediensteten der Nahverkehrsgesellschaft RATP während der Spiele die Arbeit niederlegten. Aber auch ein eklatanter Widerspruch zwischen dem Anspruch solidarischer, ökologischer und inklusiver Spiele und einer „sozialen Säuberung“ würde einen dunklen Schatten auf die Spiele werfen.


Anmerkungen

[1] https://www.liberation.fr/sports/jeux-olympiques/jo-2024-paris-saffiche-en-mode-poetico-futuriste-20240304_GX6HSQTPEJCUDMK2C5Y4S4JF4I/  und https://www.radiofrance.fr/franceculture/l-origine-de-l-esthetique-de-l-affiche-des-jo-de-paris-2024-4077326 : Hier wird sogar das deutsche Wort „Wimmelbild“ verwendet, um den Charakter des Olympia-Plakats zu beschreiben.

Gesamtansicht des Plakats: https://medias.paris2024.org/uploads/2024/02/Paris2024-Contenus-Affiche_Officielle-2.jpg Die nachfolgenden Detailbilder des Plakats sind teilweise Ausschnitte aus dieser Internet-Seite oder es sind Aufnahmen, die ich mit einiger Mühe an den den Plakatwänden gemacht habe. Deshalb zum Beispiel auch die Spiegelung umliegender Gebäude bei dem Foto mit der olympischen Fackel.

[2] Bild aus: https://shop2.olympics.com/de/paris-2024/paris-2024-olympics-plush-mascot-24cm/t-3477660852+p-5670692888164+z-9-1924114719

[3] https://www.leparisien.fr/jo-paris-2024/natation/le-plan-b-cest-de-nager-dans-la-seine-pourquoi-les-organisateurs-restent-confiants-pour-les-jo-de-paris-06-08-2023-7DD4567RZZAM5GOREK4EA7RWJU.php und

https://www.eurosport.fr/jeux-olympiques/paris-2024/2024/paris-2024-pas-de-plan-b-pour-les-epreuves-des-jeux-olympiques-dans-la-seine_sto10060374/story.shtml

[4] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[5] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[6] https://olympics.com/de/paris-2024/veranstaltungsorte/teahupo-o-tahiti

[7] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[8] „Des dessins assez réalistes, d’un univers surréaliste”. Zitiert in: Ugo Gattoni, scenariste onirique. In: Website von The Socialite Family

 und  https://www.juliahountou.com/blog/2020/5/22/ugo-gattoni  Dieser Seite ist auch das Bild entnommen.

[9] Zum Beispiel: https://www.huffingtonpost.fr/jo-paris-2024/article/jo-de-paris-2024-les-affiches-officielles-sont-dignes-d-un-ou-est-charlie-avec-des-mascottes-cachees_230483.html

https://www.leparisien.fr/jo-paris-2024/jo-paris-2024-des-mascottes-a-trouver-facon-ou-est-charlie-decouvrez-laffiche-officielle-des-jeux-04-03-2024-3RKBNF2ROVHI7COGBN3TKTMN7A.php

[10] L’origine de l’esthétique de l’affiche des JO de Paris 2024 (radiofrance.fr)

[11] https://www.marianne.net/societe/vous-trouvez-l-affiche-officielle-des-jo-de-paris-cata-nous-aussi-retour-sur-une-terrible-erreur

[12] https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/affiche-des-jo-2024-la-droite-et-l-extreme-droite-s-insurgent-contre-la-disparition-d-une-croix_230771.html

[13] https://twitter.com/ECiotti/status/1764971665451073645?

[14] https://twitter.com/fxbellamy/status/1764961702242595162

[15] Zu der Polemik und der Gegenkritik siehe: https://www.liberation.fr/checknews/pourquoi-la-croix-des-invalides-et-le-drapeau-francais-ne-figurent-pas-sur-laffiche-des-jo-de-paris-20240306_IJWOVJZAUNDTFFJIWKOSJTHKAM/  und

https://www.lepoint.fr/sport/polemique-sur-l-affiche-des-jo-l-artiste-explique-pourquoi-il-a-supprime-la-croix-des-invalides-06-03-2024-2554348_26.php#11

[16] Éditorial von Alexandra Schwartzbrod, Inclusifs, vraiment?

[17] https://www.lemonde.fr/sport/article/2024/03/13/paris-2024-a-l-approche-des-jeux-les-associations-de-lutte-contre-la-pauvrete-craignent-un-nettoyage-social_6221713_3242.html

Bild aus: fr.news.yahoo.com

[18] https://drive.google.com/…/1d_CmqzQGe0…/view

Bild aus: https://www.facebook.com/photo/?fbid=812525414247672&set=a.638007431699472

[19] https://lereversdelamedaille.fr/

[20] Bilder der Aktion aus: https://www.20minutes.fr/paris/4074624-20240205-jo-paris-2024-collectif-enflamme-arc-triomphe-denoncer-sort-abris

[21] FAZ 27.3.2024 a.a.O.

Zu den Olympischen Spielen in Paris siehe auch den Blog-Beitrag:

Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf

Selbst flüchtige Paris-Besucher kennen es: Das imposante Reiterstandbild des französischen Königs Heinrich IV. Auf einem hohen Sockel und mitten auf dem Pont Neuf postiert, ist es kaum zu übersehen.  Man kommt daran vorbei, wenn man auf der Brücke die Seine überquert oder wenn man eine Seinerundfahrt  auf einer der Vedettes du Pont Neuf unternimmt. Denn vom Denkmal aus führen Treppen hinunter zur Anlegestelle und außerdem zur Westspitze der Île de la Cité, die gerade bei Sonnenuntergang viele Menschen anzieht. Dort liegt auch ein ebenso beliebter kleiner ruhiger Platz, ein idealer Ort für romantische Sonnenuntergänge. Robert Doisneau hat ihm ein wunderbares Foto gewidmet. Der Platz trägt den Spitznamen des Königs trägt: Square du Vert-Galant. Zur Bewandtnis dieses Spitznamens später mehr.

Foto: Wolf Jöckel

Das Reiterstandbild auf dem Pont Neuf ist das erste eines französischen Königs: und zwar eines ganz außerordentlichen Herrschers und einer ebenso außerordentlichen Persönlichkeit, und es ist ein Reiterstandbild mit einer ganz außergewöhnlichen, spannenden Geschichte,

Wie kein Herrscher vor ihm hat Henri Quatre, wie Heinrich IV. in Frankreich genannt wird, Paris mit seinen Bauten und Planungen hauptstädtischen Glanz verleihen und die Stadt aus ihrer mittelalterlichen Enge herauszuführen versucht. Das wohl markanteste dem König zu verdankende Bauwerk ist der Pont Neuf, auf dem die Reiterstatue postiert ist.

Henri Quatre, der erste König des Bourbonen-Geschlechts (1589 bis 1610), ist  bis heute in Frankreich  populär. Demoskopen haben herausgefunden, dass er nach Napoleon und Ludwig XIV. den dritten Platz auf der Herrscher-Bekanntheitsskala der Franzosen einnimmt. Und gerade den Vergleich mit Napoleon und Ludwig XIV.  braucht Henri Quatre nicht zu scheuen: Während Napoleon, nachdem er Europa mit Krieg überzogen hatte, schmählich auf St. Helena endete, und Ludwig XIV. ein von Kriegen zerrüttetes Frankreich hinterließ, wurde Henri Quatre- zynisch gesprochen- gerade noch so rechtzeitig ermordet, dass auf seinen Glanz kein Schatten fallen konnte. Ein Jahr später hätte er vielleicht als alternder Lüstling dagestanden, der einen europäischen Krieg vom Zaune bricht, um eine vor ihm in Brüssel in Sicherheit gebrachte verheiratete junge Frau, auf die er sein Auge geworfen hatte, im wahrsten Sinne des Wortes zu erobern.[1]

So aber ist und bleibt er der König des Friedens, „le roi de la paix“, der König des Edikts von Nantes, der König der Toleranz also und der Freiheit des religiösen Bekenntnisses- und damit auch der Ahnherr der für Frankreich typischen Trennung von Staat und Kirche.  Er ist und bleibt der König, der Frankreich nach dem grauenhaften Gemetzel der Religionskriege einte und ihm ein wirtschaftlich und finanziell tragfähiges Fundament verlieh, worauf seine Nachfolger –und vor allem dann sein Enkel Ludwig XIV.- aufbauen konnten.  Und nicht zuletzt ist und bleibt er der gute König, der jedem Franzosen sein sonntägliches Huhn im Topf versprach.

Die Popularität Henri Quatres ist aber auch ein Ergebnis der Geschichtspolitik. Seine schon von ihm selbst  systematisch betriebene Selbstinszenierung und die sofort nach seinem Tod einsetzende Überhöhung als Henri le Grand dienten dazu, die Regentschaft von Maria de Medici, seiner Frau, und die Herrschaft seiner Nachfolger zu festigen.

Auch die vom Wiener Kongress wieder eingesetzten Bourbonen beriefen sich gerne auf Henri Quatre und arbeiteten kräftig an seinem Mythos. Sie waren es ja auch, die die von den Revolutionären – wenn auch nicht ohne schlechtes Gewissen- eingeschmolzene Reiterstatue des Königs auf dem Pont Neuf wieder erneuerten, und zwar, wie der damals noch monarchistische Victor Hugo bemerkte,  unter tatkräftiger Mithilfe der Pariser.

Es lohnt sich also, die Reiterstatue und ihre Geschichte etwas näher zu betrachten

Ein Standbild für „Henri le Grand“

1604/1605 bestellte Maria von Medici, die Frau Heinrichs IV.,   bei dem Florentiner Bildhauer Giambologna (Jean de Bologne) ein Reiterstandbild für ihren Mann. Vorbild war die von Jean de Bologne geschaffene Reiterstatue ihres Großvaters Cosimo I., bei deren Einweihung auf der Piazza della Signoria 1594 sie anwesend war. [2]

Giambologna: Reiterstandbild Cosimo I. (1581–1594); Florenz, Piazza della Signoria
© Lee Sandstead

Diesem Auftrag kam nach der Ermordung Heinrichs IV. eine ganz besondere Bedeutung zu:  Der neue König, Louis XIII, war erst neun Jahre alt; Frankreich, von Kriegen und Hungersnöten erschöpft und zwischen Protestanten und Katholiken gespalten, rang um Konsolidierung. Maria von Medici,  die mit breiter Ablehnung konfrontierte Regentin, war bestrebt, die bourbonische Dynastie zu festigen. Die allgemeine Verehrung für den letzten König  war dafür ein probates Mittel.

Allerdings konnte die Statue erst am 23. August 1614, also 4 Jahre nach der Ermordung Heinrichs IV., eingeweiht werden. Grund für die Verzögerung war der Tod Jean de Bolognes im Jahr 1608, so dass die Statue erst von seinem Schüler Pietro Tacca fertiggestellt werden konnte. Im Hafen von Livorno wurde sie auf ein Schiff verladen, um nach Frankreich transportiert zu werden. Allerdings kenterte das Schiff an der Küste von Sardinien und nur mit Mühe konnte die Statue gerettet werden und auf einem anderen Schiff die Fahrt nach Le Havre  und danach die Seine aufwärts nach Paris fortsetzen.

Währenddessen war genug Zeit, einen geeigneten Platz für die Statue zu finden. Schließlich wählte man als  Standort den Pont Neuf: Er gehörte zu den Bauwerken, die Heinrich IV. betrieben hatte und die teilweise in direkter Nachbarschaft lagen wie die place und die rue Dauphine und die große Louvre-Galerie.  Vor allem aber gehörte der Pont Neuf  schon damals zu den beliebtesten und belebtesten Orten der Stadt: Ein Paradies für Flaneure, Straßenhändler und Straßenmädchen, Marktschreier, Gaukler und  Scharlatane,  für das Volk jedweden Alters,  Geschlechts oder sozialen Rangs. Am Fuß der Statue war gewöhnlich der angestammte Platz der Verkäuferinnen von Obst und Gemüse, die man gerne dames d’Henri IV   nannte.  Der hätte sicherlich seine Freude an diesem Ort für seine Statue gehabt. Er war hier mitten unter „seinem Volk“.

Auf diesem Ausschnitt aus dem Paris- Plan von Mathias Merian aus dem Jahr 1615  ist der Pont Neuf sehr gut zu erkennen.  In seiner Mitte zwischen den beiden Brückenteilen- auf der Südspitze der Île de la Cité und vor der Öffnung zum Dreieck der  Place Dauphine-  die Statue Heinrichs IV. Links entlang der Seine die Große Galerie, die das Louvre  und das Tuilerien-Schloss miteinander verband. Auf der unteren rechten Seite des Plans die Abtei Saint-Germain-des-Prés.

Der  König auf seinem Pferd hielt in der rechten Hand einen Kommandostab und trug eine leichte Rüstung à la française.  Das ist ein Unterschied zu späteren Reiterstatuen französischer Könige, die im Allgemeinen im römisch-imperialen Stil gekleidet sind, womit der Anspruch absoluter Herrschaft zum Ausdruck gebracht wird.[3]  Den universellen  Herrschaftsanspruch der französischen Krone symbolisiert allerdings der Sockel des Standbilds, der erst 1635 fertiggestellt wurde [4]. Er war mit Reliefs geschmückt, die die Siege Heinrichs IV. feierten, dazu an den Ecken mit vier Gefangenen, deren Arme auf dem Rücken gefesselt waren und die auf den Trophäen erbeuteter Waffen  saßen. Auch hierfür gab es ein aktuelles Vorbild, nämlich das Standbild des Großherzogs Ferdinand I. der Toscana in Livorno, das Pietro Tacca, Vollender des Reiterstandbilds auf dem Pont Neuf, geschaffen hatte. [5]

Die heute im Louvre ausgestellten Gefangenen der Henri Quatre-Statue wurden von einem weiteren Schüler Jean de Bolognes, Franqueville, gestaltet, der noch von Heinrich IV. nach Paris berufen worden war.

Der Fuß eines der  Gefangenen, des zweiten von rechts, steht auf dem Panzer einer Schildkröte, er verkörpert Afrika, also den Süden.  Der ältere Gefangene mit dem starken Bartwuchs erinnert an die Barbaren der antiken Kunst und verkörpert wohl den Norden und gleichzeitig das Alter.

Fotos der vier Gefangenen: Wolf Jöckel

Der bartlose Gefangene ganz rechts verkörpert dagegen die Jugend: Die Macht des Königtums erstreckt sich also über alle Himmelsrichtungen und Lebensalter. Alle Figuren sind  Ausdruck eines „eleganten Manierismus“, den Franqueville aus der Toscana nach Paris importiert hatte.[6]

Das Motiv der vier Gefangenen wurde dann wieder aufgegriffen für die Reiterstatue Ludwigs XIV. auf der place des victoires in Paris. Anlass war  der mit dem Frieden von Nimwegen siegreich beendete holländische Krieg des Sonnenkönigs, und  die vier Gefangenen repräsentierten die vier besiegten Länder: Der Anspruch universeller Herrschaft war hier, anders als noch bei dem Reiterstandbild Heinrichs IV., ganz konkret, mit brutaler Direktheit und  ohne jede „manieristische Eleganz“ zum Ausdruck gebracht.[7]

Henri Quatre, der Vert galant

Ganz und gar unimperial und natürlich war das von Jean de Boulogne gestaltete Portrait Heinrichs IV.,  das von zeitgenössischen Beobachtern als ausgesprochen lebensnah bezeichnet wurde. Es war ein lächelnder König –  einzigartig unter den Darstellungen französischer Herrscher. Dieses für Henri Quatre typische Lächeln wurde als Ausdruck der Volkstümlichkeit, aber auch als das gewinnende Lächeln des Vert galant angesehen.

Abbildung der Reiterstatue Heinrichs IV. aus dem Jahr 1640 (Ausschnitt)[8]

„Vert galant“ war der Spitzname für Henrich IV. – nach dem Wörterbuch von Larousse  die literarische Bezeichnung für einen –trotz seines  fortgeschrittenen Alters-  agilen und unternehmungslustigen Mann, wobei sich die Unternehmungslust eindeutig auf Frauen bezieht.[9] Und an einer solchen amourösen Unternehmungslust hat es dem König nicht gefehlt, wie seine über 50 bekannten Maitressen und sicherlich mindestens ebenso viele unbekannten Liebschaften beweisen.  Noch bis ins Alter von 40 Jahren soll Henri Quatre der festen Überzeugung gewesen sein, bei seinem Geschlechtsteil handele es sich um einen Knochen. Aber das ist vielleicht auch Teil der Mythenbildung. Henriette d’Entragues, eine seiner Mätressen, hat ihn immerhin schnippisch „Capitaine bon vouloir“ genannt und vertraute einem seiner ersten Biographen, Tallemant des Réaux, an, Henri habe als Liebhaber keine Bäume ausgerissen (il n’était pourtant pas grand abatteur de bois)[10] Aber vielleicht war dieses Urteil auch nur die Rache dafür, dass Henri sie nicht zur Königin gemacht hat, wie sie es gerne gewollt hätte. Immerhin hatte Henri Quatre –neben dem Thronfolger- mit vier Mätressen 8 Kinder, die legitimiert wurden. Und unumstritten ist, dass er sich in Liebesdingen  literarisch verdient gemacht hat. Es gibt sogar eine Sammlung seiner Liebesbriefe, und einer von ihnen, 1586 an seine damalige Geliebte Diane d’Andois geschrieben, gehört sogar -wie kein geringerer als Marcel Proust urteilte- zu den schönsten Texten der französischen Literatur.[11]  

Dass ihr König ein Vert galant  war,  störte seine Untertanen nicht – im Gegenteil: es förderte eher seine Volkstümlichkeit. Um 1600 entstand der Marche de Henri IV, ein Lied, das den König hochleben lässt:  Die erste Strophe:

Vive Henri IV. / Vive ce Roi vaillant!

Ce diable à quatre A / le triple talent

De boire et de battre / Et d’être un vert-galant,

(„Es lebe Heinrich IV., / es lebe der wackere König! / Dieser Tausendsassa / hat das dreifache Talent / des Saufens, Fechtens / und eines Lebemanns.“)[12]

Und auch in der Vorstellung der nachfolgenden Generationen ist Henri Quatre vor allem der Vert galant geblieben, was ihn, wie ein Kenner der Materie lakonisch urteilte, „den Franzosen nicht unsympathisch macht“.[13]

Die Revolution reißt die Königsdenkmäler nieder:  Selbst der verehrte Henri Quatre  muss fallen

Im Zeitalter der Aufklärung genoss Heinrich IV. ein hohes Maß an Verehrung, deren Kristallisationspunkt die Reiterstatue auf dem Pont Neuf war. Voltaire, auch Autor der den König verherrlichenden Henriade, schreibt 1766, während der Krankheit des Dauphins habe man viele Bürger gesehen, die um die Statue wie um einen Altar gekniet und den verstorbenen König wie einen Gott angefleht hätten.[14]  1788, auf dem Höhepunkt der Krise des Ancien Régime, versammelten sich Bürger um die Statue Heinrichs IV., um die Berufung des populären Finanzministers Necker und die Entlassung verhasster Minister zu feiern. Deren Bilder wurden am Fuß der Statue verbrannt.

Auch nach dem Beginn der Revolution erfreuten sich Henri Quatre und seine Reiterstatue weiter großer Beliebtheit. Kurz nach dem Sturm auf die Bastille, im Juli 1789,  wurde der neue Bürgermeister von Paris, Bailly, vor dem „cheval de bronze“ gefeiert, so als solle damit die Revolution in die Ahnenreihe des ersten Bourbonenkönigs eingeordnet werden.

Im Juni 1791, nach der versuchten  Flucht des Königspaares, wurden Ludwig XVI. und Marie Antoinette zum Ziel heftiger Attacken. Ludwig XVI. wurde als Schwein dargestellt, Marie Antoinette als „louve“, also als Prostitutierte. (Die römischen Prostitutierten versuchten durch Wolfslaute Kunden anzuziehen).

In dieser zeitgenössichen Karikatur sieht man Ludwig XVI. als Schwein in einem Fass, während der ganz entsetzte Henri Quatre noch mit allen Insignien seines Königtums gezeichnet ist: Der Rüstung und dem Degen des Kriegsherrn, dem Orden des Heiligen Geistes und dazu dem Bart eines volkstümlichen Königs.

Und noch 1792 schien Henri Quatre vor jedem antiroyalistischen Furor sicher zu sein. Damals wurde in Paris ein populäres Spottlied auf Louis Capet, den ehemaligen Ludwig XVI.,  gesungen. Der beklagte sich im ersten aus royalistischer Sicht verfassten Teil über sein Schicksal und verglich sich mit Henri Quatre, der zwar dem Herzen des Volkes nah sei, aber doch „einige Schwächen“ gehabt habe. In dem die Position des revolutionären Volkes wiedergebenden zweiten Teil wird darauf geantwortet:

Henri war gut, wenn auch ein wenig freizügig, Wir vergeben ihm seine Schwächen;

Aber ein betrunkener Fürst und seine Hure Richten mehr Schaden an als hundert Geliebte.[15]

Als im September 1792 Freiwillige sich zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichteten, fand dies auf dem Pont Neuf statt, wo das Reiterstandbild Heinrichs IV. gestanden hatte: Das war da aber schon zerstört und die Überreste waren von einem Gerüst umgeben.[16]

Edouard Détaille, Verpflichtung von Freiwilligen im  September 1792 vor dem Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont -Neuf. Rechts der Eingang zur place Dauphine. Ehemaliges Wandbild im Hôtel de Ville von Paris

Denn vier Tage nach dem Sturz der Monarchie am  10. August 1792 hatte die Nationalversammlung beschlossen,  „Denkmäler des Stolzes, der Vorurteile und der Tyrannei“ seien mit den geheiligten Prinzipien der Freiheit und Gleichheit nicht vereinbar und sollten deshalb beseitigt werden. Die Bronze dieser Denkmäler solle für die Herstellung von Kanonen verwendet werden und damit der Verteidigung des Vaterlandes dienen.[17]

Am gleichen Tag, dem 14. August, erschienen die Bürger des Stadtviertels Heinrichs IV. vor den Schranken der Nationalversammlung und verkündeten, dass sie die Statue des Königs zerstört hätten, nach dem ihr Stadtviertel den Namen trage. „Die Erinnerung an die Tugenden Heinrichs,“ erklärte der Sprecher der Deputation, „haben uns eine Weile zurückgehalten, dann aber fiel uns ein, dass er“ kein konstitutioneller König gewesen ist. Wir sahen in ihm nur noch den Tyrannen – und die Statue fiel. Wir schlagen vor, auf dem Platz, wo das Denkmal stand, Tafeln zu errichten, auf denen die Menschenrechte geschrieben stehen.“ [18]

So wurde also auch das  Reiterstandbild des populären Henri Quatre zerstört- so wie auch die anderen königlichen Standbilder auf den places royales der Stadt.[19]   Nur die vier Gefangenen blieben verschont: Anders als bei den Gefangenen von der place des victoires, die als abschreckende Beispiele für die Tyrannei des Absolutismus dienen sollten, waren es hier ästhetische Gründe, die für die Erhaltung ausschlaggebend waren. Dabei handelte es sich gewissermaßen um einen Kompromiss zwischen verschiedenen Strömungen in der Französischen Revolution, was den Umgang mit dem kulturellen Erbe angeht: Auf der einen Seite die Zerstörung von Werken, die man entsprechend des Beschlusses der Nationalversammlung vom 10. August 1792 als Verherrlichung  des Aberglaubens und der Tyrannei ansah, auf der anderen Seite das Bemühen um die Bewahrung bedeutender Kunstwerke. Weil der revolutionäre Vandalismus verheerende Ausmaße annahm, dekretierte die Nationalversammlung schon 5 Wochen später den Schutz bedrohter Meisterwerke der Kunst: Auch wenn Denkmäler des Despotismus zerstört würden, so sollten künstlerische Meisterwerke einen ehrenhaften Platz erhalten und das Gebiet eines freien Volkes bereichern.[20]  Heute sind sowohl die Gefangenen vom Pont Neuf als die von der place des victoires im Louvre zu sehen.

„Der Kaiser Napoleon dem französischen Volk“: Ein Mammut – Obelisk auf den Pont Neuf!

Am 15. August 1810 verfügte Napoleon in einem Tagesbefehlt aus dem Lager von Schönbrunn bei Wien im Hochgefühl des Sieges über das kaiserliche Österreich:

„Da wir ein dauerndes Denkmal unserer Zufriedenheit mit dem Betragen unserer großen Armee und unseres Volks, während der Feldzüge von Jena und an der Weichsel, an den Tag legen wollen, so haben wir verordnet und verordnen wie folgt:

Art.1. Es soll auf der Erdfüllung des Pont-Neuf ein Obelisk von 180 Fuß Höhe, aus Granit von Cherbourg,  mit folgender Inschrift errichtet werden: Der Kaiser Napoleon dem französischen Volk

Art. 2. Auf den veschiedenen Seiten dieses Obelisks sollen alle Thaten, welche während dieser beiden Feldzüge zur Ehre Frankreichs verrichtet worden, vorgestellt werden.“  [21] 

Napoleon beauftragte seinen „Generaldirektor der Museen“, Vivant Denon, mit der Durchführung des Projekts. Denon war daran gelegen, den Ruhm des Kaisers im öffentlichen Raum wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Dazu schrieb er einen Wettbewerb aus. Hier der Entwurf des Architekten und Zeichners Louis-Pierre Baltard, einem damals hochgeschätzten neoklassizistischen Architekten und Zeichner (und Vater des noch berühmteren Victor Baltard): Ein monumentales Konzept ganz im Sinne des Auftraggebers. [22]

Der geplante Obelisk wäre mit seinen fast 60 Metern mehr als doppelt so hoch gewesen wie der Obelisk von Luxor, der 1836 auf der Place de la Concorde aufgestellt wurde. „Aber der Granit-Lieferant erwies sich als unzuverlässig. Die Kosten drohten aus dem Ruder zu laufen. Die technischen Schwierigkeiten schienen unüberwindlich“. So blieb dieses megalomane Projekt Paris und dem Pont Neuf erspart. [23]

Ein neues Standbild aus dem eingeschmolzenen Napoleon

Nach dem Sturz Napoleons wurde im Zuge der Restaurationspolitik des Wiener Kongresses auch das französische Königtum restauriert und die Bourbonen traten wieder die Herrschaft in Frankreich an. Zu ihrer Legitimation stützten sie sich von Anfang an auf die nach wie vor populäre Figur des ersten Bourbonen. Henrich IV., der die Legitimität der Monarchie und die nationale Versöhnung verkörperte, war nach der Revolution und dem Kaiserreich Napoleons ein idealer Bezugspunkt. Als der neue König Ludwig XVIII. am 3. Mai 1814 in Paris einzog, erwartete ihn auf dem Pont Neuf eine provisorische Gips-Statue seines Ahnherrn mit der Sockelinschrift: Die Rückkehr Ludwigs lässt Henri wiederaufleben.

Entworfen wurde das provisorische Standbild von dem aus Köln stammenden Architekten Jakob Ignaz Hittorff, der seit 1810 in Paris lebte und bis zur Ära Haussmann die Stadtentwicklung wesentlich mitprägte. Hittorff wirkte 1814 maßgeblich an der Erstellung der Empfangsbauten für die Bourbonen mit und erhielt dafür den Titel „Inspecteur du Roi pour les fêtes et cérémonies“. [24] 

Die Zeit für die Anfertigung dieser Reiterstatue war allerdings sehr kurz. Da passte es gut, dass damals die Quadriga vom Brandenburger Tor in Paris abgestellt war – Die Demontage der Quadriga von Johann Gottfried Schadow (1793) war Teil des systematischen napoleonischen Kunstraubs. [25]

„Der Pferdedieb von Berlin“. Karikatur auf Napoleons Raub der Quadriga vom Brandenburger Tor in Berlin. (ca 1813)[26]

So fertigte Hittorff Zeichnungen von einem der Pferde der Quadriga des Brandenburger Tores und von seinen Einzelteilen an – kurz bevor die Quadriga nach einem 21-jährigen Zwangsaufenthalt in Paris wieder an ihren angestammten Platz zurückkehrte.  [27]

So konnte das Provisorium rechtzeitig fertiggestellt werden und Ludwigs XVIII. konnte bei seinem Einzug nach Paris auf dem Pont Neuf Station machen, seinem Ahnherren die Ehre erweisen und sich als dessen Nachfolger präsentieren.[28]

 (C) RMN-Grand Palais (Château de Versailles) / image RMN-GP

Das Provisorium von 1814 wurde dann durch eine von dem Bildhauer François-Frédéric Lemot geschaffene  neue bronzene Version ersetzt. Die Herkunft der Bronze war –wie das Standbild überhaupt- Ausdruck der restaurativen Geschichtspolitik der Bourbonen: Sie stammt von den eingeschmolzenen Napoleon-Statuen von der place Vendôme und der Säule der Großen Armee von Boulogne-sur-Mer. Dazu kam die Bronze des napoleonischen Generals Desaix von der place des victoires. Ganz gezielt wurde das Metall der Napoleon- Statuen allein für die Herstellung des Pferdes Heinrichs IV. verwendet: Dem jetzt als Usurpator geltenden Napoleon wurde damit die „Ehre“ verwehrt, in der Gestalt des populären Henri Quatre auf dem Pont Neuf „weiterzuleben“. Nach einer weit verbreiteten Legende steckt aber doch noch ein bisschen Napoleon in der Bronzefigur Heinrichs IV: Denn Balthazar Mesnel, einer der beteiligten Handwerker und überzeugter Bonapartist habe neben einem Pamphlet gegen die Bourbonen auch eine kleine Napoleonstatuette in der Statue versteckt. [29] Bei der Restaurierung der Reiterstandbilds Henri Quatres imm Jahr 2004 hat man nun die Beifügungen im Bauch des Pferdes genau untersucht. Neben den „offiziellen“ Beigaben wurden im Bauch des Pferdes zwei zylindrische Bleidosen und eine hölzerne Kapsel gefunden. In ihr befand sich eine Liste aller Gießer und Ziseleure der Gießerei, die bei der Statue mitgewirkt hatten. Die kleinere Bleidose enthielt ein zusammengerolltes schwer beschädigtes Papier. Möglicherweise ist das die Libelle des Napoleon-Bewunderer und Anti-Bourbonen Mesnel. Die größere Dose aus Blei enthielt einen Tierleim, in dem früher Reliquien eingebettet wurden, hier möglicherweise „napoleonische Reliquien“, wie Körperfragmente, Nägel oder Haare des Kaiser, meist übrigens Fälschungen, die damals im Handel waren. Eine Statuette Napoleon wurde nicht gefunden!  [30]

Am 14. August begann der einem Triumphzug  gleichende Transport des fertigen Standbilds von der Gießerei im Westen von Paris über die Champs-Élysées zum Pont Neuf. Gezogen wurde der Wagen von 34 Ochsen, aber während des Weges wurde er von einer begeisterten Menge begleitet, die es sich nicht nehmen ließ, selbst Hand anzulegen-  vor allem auf dem  Anstieg auf den Pont – Neuf, als die Ochsen am Ende ihrer Kraft waren. 

Translation de la nouvelle statue équestre d’Henri IV depuis l’atelier du Roule jusqu’au Pont-Neuf. Estampe de 1818 [31]

Den jungen Victor Hugo inspirierte das zu einer Ode, in der er die „tausend starken Arme“ bejubelt, die das Gefährt anschöben. Auch wenn sein Arm dabei Schaden nähme: „Henri sieht mir aus dem Himmel zu“.[32]

Am 25. August 1818, dem Tag des heiligen Ludwig (jour de la Saint Louis), wurde die Statue in einem aufwändigen Festakt eingeweiht und  gleichzeitig die Rückkehr der Monarchie gefeiert.

Bild von Hippolyte Lecomte (1781 – 1857) © RMN-  Grand Palais- D. Arnaudet

Um die Statue ist ein weißer Triumphbogen errichtet – die Farbe der Monarchie-  auf der gegenüber errichteten Tribüne, am Eingang zur Place Dauphine, haben die Honoratioren Platz genommen; vor allem natürlich Ludwig XVIII. und seine Familie, darunter auch die Herzogin von Angoulême, die Tochter Ludwigs XVI. Das Kapitel der Revolution und der Republik wird damit gewissermaßen offiziell beendet.[33]

Bei der Gestaltung der Reiterstatue hat sich Lemot auf das alte Vorbild von 1614 bezogen. Wie damals  trägt Henri eine leichte Rüstung und hält den Kommandostab in seiner rechten Hand. Eher huldvoll als lächelnd blickt er von seinem Podest nach unten. Ein Vert galant ist er jetzt nicht mehr – dafür wurde immerhin der Platz auf der Westspitze der Île de la Cité so benannt.

Auf dem Sockel wurden 1820  zwei Reliefs angebracht: Eines zeigt den Einzug Henris nach Paris im Jahr 1594, das andere  den „guten König“, wie er Brot an die Pariser Bevölkerung verteilt – immerhin besser als die Verherrlichung der kriegerischen Taten Heinrichs IV. auf dem ersten Standbild.

Bronzerelief vom Sockel (Ausschnitt) Fotos des Denkmals: Wolf Jöckel

Im Innern der Statue wurden wie Reliquien verschiedene Dokumente und Gegenstände eingeschlossen, die sich auf die Entstehung des neuen Standbildes in der Tradition des ursprünglichen beziehen, vor allem aber auf das Leben und die Bedeutung Heinrichs IV. Es ist der „gute König“, der hier gefeiert wird, der Frankreich nach den Wirren der Religionskriege geeint und befriedet hat, er ist der erste Bourbone, aber er ist auch und vor allem ein großer Mann, den die Nachwelt wegen seiner Verdienste würdigen kann. Sein Grab in Saint Denis wurde 1793 zerstört und geplündert – hier aber hat er an einem zentralen Ort der Stadt seinen Platz: Es sollte ein Ort der Verehrung für den alten und der Legitimation für den neuen König sein, und er ist heute ein Erinnerungsort an einen der bedeutendsten Könige, die Frankreich je hatte. [34]

Die Reiterstatue Henrichs IV., im Hintergrund die Kuppel des Pantheons

Und es ist ein Ort, der bis heute seine Anziehungskraft nicht verloren hat.

Liebesschlösser an der Statue Henri Quatres

Familiäre Reiterspiele: Aus einer Plakatausstellung am Hôtel de Ville von Paris zu den Olympischen Spielen 2024. Foto: Wolf Jöckel März 2024

Das Bild des volkstümlichen „guten Königs“ Henri Quatre ist immer noch lebendig….

Literatur:

Jean-Pierre Babelon,  La statue d’Henri IV sur le Pont-Neuf.  Monuments et mémoires de la Fondation Eugène Piot  87/ 2008 S. 217-239  https://www.persee.fr/doc/piot_1148-6023_2008_num_87_1_1649

Jean-Pierre Babelon,  Henri IV  Dès sa mort, il entre dans la légende. Le Figaro, 1.8.2009  https: /www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2009/08/01/01006-20090801ARTFIG00046–henri-iv-des-sa-mort-il-entre-dans-la-legende-.php

Barthélemy Jobert / Pascal Torrès,  Inauguration de la statue équestre d’Henri IV sur le Pont-Neuf, 25 août 1818, Histoire par l’image  : http://histoire-image.org/de/etudes/inauguration-statue-equestre-henri-iv-pont-neuf-25-aout-1818

Joël Cornette, Déboulonner la statue d’Henri IV.  in: L’Histoire vom 14. November 2020 https://www.lhistoire.fr/d%C3%A9boulonner-la-statue-d%E2%80%99henri%C2%A0iv-0

Département de l’action culturelle et éducative, Archives nationales, Entre pratique inaugurale et trésor mémoriel : étude du contenu de la statue de Henri IV de 1818 http: //www4.culture.fr/patrimoines/patrimoine_monumental_et_archeologique/insitu/pdf/marguin-960.pdf

Jean-François Dubost,  Henri IV au Pont-Neuf. Genèse, hésitations sémantiques et détournements d’une effigie royale (1604-1640). Aus: Colette Nativel (Hrsg), Henri IV, Art et pouvoir.  Presses universitaires François-Rabelais 2016.  https://books.openedition.org/pufr/8435

Janine Garisson, Henri IV, le roi de la paix. Paris: Tallandier 2000

Laurent Loiseau/Brice Agnelli, Paris d’Henri IV. Hachette livre 2010

Valérie Montalbetti,   Quatre Captifs provenant du piédestal de la statue équestre d’Henri IV sur le Pont-Neuf (1614-18)    http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/quatre-captifs-provenant-du-piedestal-de-la-statue-equestre-d-henri-iv-sur-le-pont-ne

Ernst  Steinmann, Die Zerstörung der Königsdenkmäler in Paris. Monatshefte für Kunstwissenschaft, X. Jahrgang 1917, Heft 10/11 14515091.pdf (core.ac.uk)

Victoria E. Thompson,  The Creation, Destruction and Recreation of Henri IV: Seeing Popular Sovereignty in the Statue of a King. In:History and Memory  (Indiana University Press)  24/2012 , S.  5-40  https://www.jstor.org/stable/10.2979/histmemo.24.2.5?seq=1

23 août 1614 : la statue équestre de Henri IV est placée sur le Pont-Neuf.  Nach den  « Mémoires historiques relatifs à la fonte et à l’élévation de la statue équestre de Henri IV sur le terre-plein
du Pont-Neuf à Paris », von 1819
bearbeitet von der Redaktion von La France pittoresque. 23. August 2020. https://www.france-pittoresque.com/spip.php?article6334


Anmerkungen

[1]  Frédéric Bidouze,  Henri IV ou l’énigme sensuelle d’un roi vainqueur  

Henri IV ou l’énigme sensuelle d’un roi vainqueur

[2] Nachfolgendes Bild aus: http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2012/06/der-soldnerfuhrer-von-padua.html  Dort gibt es auch einen schönen Überblick über die historische Genese der Reiterstatuen seit der Antike

[3] Bild aus: https://www.lhistoire.fr/d%C3%A9boulonner-la-statue-d%E2%80%99henri%C2%A0iv-0  https://books.openedition.org/pufr/8435, Abschnitt  77

[4] Bild aus: https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Fichier:Quatre_Captifs_(Statue_%C3%A9questre_d%27Henri_IV).jpg

[5]https://en.wikipedia.org/wiki/Pietro_Tacca#/media/File:Livorno,_Monumento_dei_quattro_mori_a_Ferdinando_II_(1626)_-_Foto_Giovanni_Dall’Orto,_13-4-2006_12.jpg

[6] http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/quatre-captifs-provenant-du-piedestal-de-la-statue-equestre-d-henri-iv-sur-le-pont-ne

[7] Siehe den Blog-Beitrag zur place des victoires: https://paris-blog.org/2020/03/12/la-place-des-victoires-der-platz-der-siege-ludwigs-xiv-in-paris-das-modell-eines-koeniglichen-platzes/ 

[8] Melchior Tavernier, La statue équestre d’Henry le Grand sur son piédestail, 1640, Paris, BnF, Dpt des estampes et de la photographie, détail. Aus: https://books.openedition.org/pufr/8435

[9] https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/vert/81664#176984Vert galant,  homme d’un certain âge encore alerte et entreprenant auprès des femmes.

[10]  https://www.periegete.com/henri-iv-ou-lenigme-sensuelle-dun-roi-vainqueur/ 

[11] Zu den Liebesbriefen siehe:  https://www.canalacademie.com/ida6243-Les-lettres-d-amour-d-Henri-IV-2-2.html

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Marche_de_Henri_IV

[13] https://www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2009/08/01/01006-20090801ARTFIG00046–henri-iv-des-sa-mort-il-entre-dans-la-legende-.php

[14] « Lorsque la mort sur lui [le Dauphin] levait sa faux tranchante,
On vit de citoyens une foule tremblante

Entourer ta statue et la baigner de pleurs ;
C’était là leur autel, et, dans tous nos malheurs,
On t’implore aujourd’hui comme un dieu tutélaire. » (épître XCVI).  Zit: Déboulonner la statue d’Henri IV | lhistoire.fr  Darauf beruhen auch die nachfolgenden Ausführungen.

[15] Henri fut bon quoiqu’un peu libertin,
Nous lui pardonnons ses faiblesses ;
Mais prince ivrogne et princesse catin
Font plus de mal que cent maîtresses.

Aus: https://marie-antoinette.forumactif.org/t1808-chansons-et-poemes-satiriques-au-xviiieme-siecle

[16] https://www.parismuseescollections.paris.fr/fr/musee-carnavalet/oeuvres/les-enrolements-volontaires-sur-le-terre-plein-du-pont-neuf-en-septembre#infos-principales

[17] « L’Assemblée nationale, considérant que les principes sacrés de la Liberté et de l’Égalité ne permettent point de laisser plus longtemps sous les yeux du peuple français les monuments élevés à l’orgueil, aux préjugés et à la tyrannie ; et considérant que le bronze de ces monuments, converti en canons, servira utilement à la défense de la Patrie, décrète [que …] toutes les statues, bas-reliefs et autres monuments […] élevés sur les places publiques, seront enlevés par les soins des représentants des communes […]. » zit: http://archives.nancy.fr/tresors-darchives/destruction-statue-louis-xv/ 

[18] https://core.ac.uk/download/pdf/14515091.pdf, S. 15

[19] Siehe Babelon  https://www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2009/08/01/01006-20090801ARTFIG00046–henri-iv-des-sa-mort-il-entre-dans-la-legende-.php  und https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-reportage/anciennes-statues-places-royales

[20] Lors de la destruction du monument à la Révolution, en 1792, seuls les Captifs furent épargnés en raison de „leur dessin svelte et léger [qui] honorait les premières antiquités de la France„. http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/quatre-captifs-provenant-du-piedestal-de-la-statue-equestre-d-henri-iv-sur-le-pont-ne

 Wortlaut des Beschlusses der Nationalversammlung vom 16. September 1792: www.culture.gouv.fr  Les grandes dates

 Zur Auseinandersetzung über Zerstörung und Bewahrung in der Französischen Revolution siehe: Daniel Hermant, Destructions et vandalisme pendant la Révolution française . In: Annales, 1978, S. 703-719 https://www.persee.fr/doc/ahess_0395-2649_1978_num_33_4_293964

[21] zit. in: Österreichs Kriegsgeschichte im Jahr Achtzehnhundertneun. Dritter und letzter Theil. Leipzig und Altenburg 1811, S. 134

[22] Bild aus: https://www.parismuseescollections.paris.fr/fr/musee-carnavalet/oeuvres/projet-d-obelisque-a-elever-sur-le-pont-neuf#infos-principales

[23] Reinhard Kaiser, Der glückliche Kunsträuber. Das Leben des Vivant Denon. München 2016, S. 269

Die nachfolgende Gesamtansicht von Benjamin Zix aus: https://art.rmngp.fr/fr/library/artworks/benjamin-zix_projet-d-obelisque-sur-le-pont-neuf-vue-de-l-ile-de-la-cite_lavis-brun_dessin-a-la-plume_1809

[24]le retour de Louis fait revivre Henri“. Zit: https://www.photo.rmn.fr/Package/2C6NU0AK5WZG9?PBC=2CO5S9IZDCBN:2C6NU0L9Y2SW:2C6NU0AK5WZG9 Hittorfs Skizze der Reisterstatue:  http://www.ensba.fr/ow2/catzarts/voir.xsp?id=00101-26868&qid=sdx_q0&n=1&sf=&e= Zur Bedeutung Hittorfs siehe die entsprechenden Beiträge von Ulrich Schläger auf diesem Blog. Siehe auch: Karl Hammer, Jakob Ignaz Hittorff : Ein Pariser Baumeister, 1792–1867, Stuttgart 1968, S. 14 (= Pariser Historische Studien, Band 6 https://perspectivia.net/publikationen/phs/hammer_hittorff )

[25] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/kunstraeuber-napoleon-vor-200-jahren-kehrte-die-quadriga-zurueck/9873746.html  Allgemein zum Kunstraub Napoleons siehe die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2021/05/01/vivant-denon-der-kunstrauber-napoleons-und-sein-musee-napoleon-louvre-teil-1-die-grose-ausstellung-deutscher-raubkunst-1806-1807/ und https://paris-blog.org/2021/05/05/vivant-denon-der-kunstrauber-napoleons-und-sein-musee-napoleon-louvre-teil-2-die-raubkampagnen-denons-in-deutschland-soll-ich-etwa-nichts-nehmen/ Außerdem: Bénédicte Savoy,  Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Köln/Wien 2010 und Reinhard Kaiser, Der glückliche Kunsträuber. Das Leben des Vivant Denon. München: C.H.Beck 2016

[26] https://transliconog.hypotheses.org/kommentierte-bilder-2/1813-ca-napoleons-raub-der-berliner-quadriga-in-der-karikatur

[27] Bild 1: Jakob Ignaz Hittorff, Die Quadriga vom Brandenburger Tor in Berlin1814  (Fêtes de la restauration – Détail du quadrige de Berlin),Numéro d’inventaire : PC 43234-05. (Ausschnitt) Zu diesem Pferd und zu Hittorffs Beteiligung siehe auch: Bénédict Savoy: „Kunstraub – Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen“, Böhlau-Verlag, Wien-Köln-Weimar, 2011, S.375-379.

Bild 2: 1 Fêtes de la restauration . (Titre forgé) . Détails du moulage de la statue équestre d’Henri IV . Jacques Ignace Hittorff, Carnet, Détails du moulage de la statue équestre d’Henri IV . Numéro d’inventaire : PC 43234-06

Die beiden Abbildungen verdanke ich Herrn Ulrich Schläger. Merci beaucoup!

[28] Gemälde von Antoine Ignace Melling. Bild aus: https://www.photo.rmn.fr/Package/2C6NU0AK5WZG9?PBC=2CO5S9IZDCBN:2C6NU0L9Y2SW:2C6NU0AK5WZG9

[29] Siehe Edgar Schmitz: Das Trojanische Pferd und die Restauration. Die Auseinandersetzung um die Colonne de la Place Vendôme als Paradigma der gescheiterten Restauration. In: Gudrun Gersmann, Hubertus Kohle (Hrsg.): Frankreich 1815–1830. Trauma oder Utopie? Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution. Stuttgart 1993, besonders S. 192/193

http://blogpontsdeparis.blogspot.com/2011/01/heurs-et-malheurs-du-bon-roi-henri.html   Zur place des Victoires siehe den Beitrag auf diesem Blog: https://paris-blog.org/2020/03/12/la-place-des-victoires-der-platz-der-siege-ludwigs-xiv-in-paris-das-modell-eines-koeniglichen-platzes/ 

[30] Die Passage über die Restauration der Statue und die nicht gefundene Napoleon-Statuette verdanke ich Ulrich Schläger. Ebenso die nachfolgenden Literaturhinweise.

Siehe: La statue d’Henri IV sur le Pont-Neuf. Les Boîtes trouvées dans le «Cheval de Bronze», par Jean-Perre Babelon ; Monuments et mémoires de la Fondation Eugène Piot Année 2008 87 pp. 217-239 , https://www.persee.fr › doc › piot_1148-6023_2008_nu…;

ferner: Revue des patrimoines, 14 | 2010 Le cavalier du Pont-Neuf : histoire, restauration et secrets de la statue équestre de Henri IV , par  Pascal Liévaux ; https://doi.org/10.4000/insitu.6970;

desgleichen: Entre pratique inaugurale et trésor mémoriel : étude du contenu de la statue de Henri IV de 1818, par Département de l’action culturelle et éducative et Archives nationale. In: Revue des patrimoines 14/2010 https://doi.org/10.4000/insitu.7011  und: Restauration de la statue de Henri IV, par  Stéphanie Celle et Carlo Usai ; https://doi.org/10.4000/insitu.6989. Revue des patrimoines, 14 | 2010 ; Le cavalier du Pont-Neuf : histoire, restauration et secrets de la statue équestre de Henri IV.

[31] Bild aus: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8414235g.item

[32] (…) Par mille bras traîné le lourd colosse roule“ décrit le poète (…) Ah ! Volons, joignons-nous à ces efforts pieux. Qu’importe si mon bras est perdu dans la foule ! Henri me voit du haut des cieux (…)   Zit. http://blogpontsdeparis.blogspot.com/2011/01/heurs-et-malheurs-du-bon-roi-henri.html

[33] https://histoire-image.org/de/etudes/inauguration-statue-equestre-henri-iv-pont-neuf-25-aout-1818   Bemerkenswert ist übrigens, dass das Bild von Lecomte von Louis-Philippe in Auftrag gegeben wurde, der ja immerhin durch die Revolution von 1830 und den Sturz Ludwigs XVIII. an die Herrschaft kam.  Aber auch für ihn war Heinrich IV. ein zentraler legitimatorischer Bezugspunkt.

[34] Siehe: http://www4.culture.fr/patrimoines/patrimoine_monumental_et_archeologique/insitu/pdf/marguin-960.pdf

Paris mit Enkeln: Im Louvre. Ein Gastbeitrag von Rotraut Grün-Wenkel

Nach vielen Parisreisen mit Freunden und Freundinnen und nach längeren Aufenthalten zum Sprachenlernen fasste ich 2021 den Entschluss, meinen Enkelkindern „mein Paris“ zu zeigen. Ein Ausflug von drei bis vier Tagen immer nur mit einem Kind. Im November 2021 begann ich mit dem ersten Enkel nach seinem Schulabschluss, dabei die Idee verfolgend, mit jedem Enkelkind den Schulabschluss so zu feiern. Ein undurchführbares Vorhaben angesichts meines Alters (76) und des Alters des jüngsten Enkelkindes (3). Also folgte der ersten Tour die nächste 2022, dann gleich zwei Besuche 2023.

Das Programm ist vorbereitet mit Platz für Änderungswünsche. Immer aber gehört der Louvre dazu. Die Schwelle ins größte Museum der Welt muss ich mit ihnen überschreiten, ihnen auch zeigen, dass man in einem Museum auch ganz wenig ansehen kann, dass der Anspruch, „den Louvre“ zu besuchen und alles zu sehen, unerfüllbar ist. Der freie Eintritt für Jugendliche und junge Erwachsene soll von ihnen zum Wiederkommen genutzt werden.

Ich habe zehn Objekte für die Enkelbesuche ausgewählt, danach können wir den Louvre verlassen oder auf Wunsch weitere Werke anschauen.

Hier möchte ich auf vier Skulpturen eingehen.

  1. Nike von Samothrake

Geht man die Treppe zum Denontrakt hinauf in Richtung Mona Lisa, steigt man direkt auf Nike von Samothrake zu. Der marmorne Schiffsrumpf, auf dem sie steht, erhebt sich mächtig, ja bedrohlich über uns. Und ganz oben weit über uns scheint Nike zu fliegen: Sie ist mit ihren ausgebreiteten Flügeln wie ein herabschwebender Engel dargestellt. Und in der Tat war es die Göttin Nike, die die christliche Vorstellung von den zwischen Himmel und Erde schwebenden geflügelten Engeln prägte.

Sie stammt wahrscheinlich aus dem zweiten Jahrhundert v.Chr. und. wurde von einem uns unbekannten Künstler auf Rhodos, woher der Marmor stammt, erschaffen. Die Figur wird der hellenistischen Periode (ca. 300 v. Chr.) zugeordnet, einer Zeit, in der die Bildhauer versuchten, Menschen lebendig mit dem Ausdruck ihrer Emotionen darzustellen.

Nike ist in Bewegung, sie überbringt die Nachricht eines Sieges, der fehlende Arm grüßte die Wartenden. Das schließt man aus einer Hand, die gefunden wurde, und die eine Geste des Grußes macht.

Ihr Körper ist nass von der Fahrt auf hoher See, ihr Gewand klebt am Körper und zeichnet Bauch und Nabel ab. Ihr Gewicht steht auf dem vorangestellten Bein, das andere ist entspannt. (Fachbegriff: Kontrapost). Man sollte mal ausprobieren, so zu stehen!

1863 fand der französische Vizekonsul im Osmanischen Reich, Charles Champoiseau, Fragmente der Nike-Statue. Sie wurden vor Ort zusammengesetzt, nach Paris gebracht und im Louvre aufgestellt. Damals herrschte in Frankreich Kaiser Napoleon III., ein Neffe Napoleons I, seines großen Vorbilds. Da war die Siegesgöttin ein passendes Geschenk…. Während des Zweiten Weltkriegs war die Statue, wie auch andere Kunstwerke des Louvre, aus Sicherheitsgründen ausgelagert. Am 21. Juni 1945 kehrte sie wieder zurück, und die antike Nike von Samothrake wurde in ein Siegesdenkmal der Résistance transformiert.

Größe der Figur 245 cm, mit Sockel, 328 cm.

2. Venus de Vienne – Aphrodite accroupie

Skulpturensaal Antiquités grecques, etrusques et romains; entdeckt in Sainte-Colombe-lès-Vienne

Die Skulptur stammt aus dem 2. Jh. v. Chr., eine römische Kopie des hellenistischen Originals. Diese Venus / Aphrodite ist weniger bekannt   als die Venus von Milo und andere, aber sie berührt mich ganz besonders.

Venus, die gerade aus dem Bad kommt oder gerade hineinsteigt, trägt auf dem Rücken ihren Sohn Cupido / Amor, von dem hier nur noch eine Kinderhand zu sehen ist. Vielleicht hatte Cupido auch Pfeil und Bogen bei sich. Wir wissen es nicht.

Den Sohn der Venus, nun erwachsen, finden wir im selben Saal auf der anderen Seite wieder in der berühmten Skulptur von Canova Amor und Psyche.

3.  Der Gladiator Borghese ca. 100 n.Chr. wahrscheinlich griechisch

Diese Skulptur bringt mich und meine Enkel immer zum Lachen. Sie steht unübersehbar gleich am Eingang des großen Saales.

Der vorwärts nach oben gereckte Arm lässt uns ein an dem Arm angebrachtes Mobiltelefon assoziieren.

Ursprünglich war es aber die Befestigung eines Schildes, den dieser Fechter einmal trug. Auch das Schwert in der anderen Hand ist nicht mehr erhalten.

4. Amor und Psyche von Antonio Canova (1787-1793)

Die Geschichte der beiden ist sehr schön und ausführlich in den Metamorphosen des Apuleius erzählt. Ich versuche eine Zusammenfassung.

Venus, die schönste der Göttinnen, erfuhr, dass es in einem Königreich eine wunderschöne Prinzessin mit Namen Psyche gebe, die schönste junge Frau überhaupt. Das verletzte den Stolz der schönen Venus und sie sann nach Vernichtung dieser Rivalin.

Die wunderschöne Prinzessin Psyche ist verzweifelt, denn kein Mann hält um ihre Hand an, kein König, kein Prinz, kein Edelmann, noch nicht einmal ein Mann aus dem Volke. Sie, Psyche, gleicht einer Göttin, der sich kein Mann zu nähern wagt. Schließlich befragt ihr Vater, der König, das Orakel. Die Antwort lautet ganz im Sinne der Venus, dass er seine Tochter allein auf einen einsamen Felsen über dem Meer auf ihren schrecklichen Ehemann warten lassen solle. Der Vater folgt gramgebeugt diesem Rat.

Venus beauftragte sogleich ihren Sohn Armor einen Liebespfeil auf Psyche zu schießen, damit sie sich in einen Menschen verliebe, „einen Elenden, den das Schicksal zu Schande und Armut verdammt hat“. Der folgsame und immer zu Unfug aufgelegte Sohn macht sich auf, diesen Wunsch seiner Mutter zu erfüllen. Doch Amor erweist sich diesmal als schlechter Schütze, vielleicht betört von der Schönheit Psyches, trifft er sich selbst mit dem Pfeil, worauf er in Liebe entbrennt.

Psyche wartet bebend vor Angst auf dem Felsen über dem Meer auf ihren Gatten. Da kommt der Wind Zephyr und nimmt sie mit in ein wunderschönes Schloss mit verwunschenem Park, wo Psyche von Geistern verwöhnt wird. Jede Nacht nun, wenn es ganz dunkel ist, kommt ihr zärtlicher Geliebter zu ihr, vor der Morgendämmerung verschwindet er wieder.

Psyche, die sich einsam fühlt, bittet darum, ihre Schwestern sehen zu dürfen. Diese sind eifersüchtig auf das schöne Leben der Psyche und sinnen darauf, den Gatten, das Ungeheuer, zu erkennen. Als Psyche nun eines nachts eine Öllampe entzündet, um den Geliebten zu sehen, bewundert sie ihn selbst und auch seine Pfeile, wobei sie sich in den Finger sticht und nun auch in Liebe entbrennt. Sie stößt versehentlich an die Öllampe, ein Tropfen heißes Öl verletzt Amor leicht, lässt ihn erwachen und wütend davonfliegen.

Nun erfährt Venus vom Ungehorsam ihres Sohnes, der verletzt zu ihr zurückkehrt. Sie bestraft Psyche mit vielen erniedrigenden Aufgaben, die diese nur mit Hilfe göttlicher Wesen bewältigen kann. Eine Aufgabe ist, ein buntes Gemenge von Samenkörnern zu ordnen. Dies gelingt Psyche mit Hilfe der freundlichen Ameisen.

Als letzte Aufgabe soll sie von Proserpina aus der Hölle des Todes eine Dose mit  Schönheitscreme für Venus füllen lassen. Auch dies gelingt Psyche, doch auf dem Rückweg gibt sie ihrer Neugier nach und öffnet die Dose. Aus der Dose entweicht nichts Greifbares, sondern tiefer Schlaf.

So findet sie Amor und erlöst sie mit einem Kuss. Das gemeinsame Kind erhält den Namen Voluptas (Lust).

Nach Apuleius, 2.Jh. n.Chr., Amor und Psyche, Beck’sche Reihe: Die großen Geschichten der Menschheit. Aus dem Lateinischen von Eduard Norden München 2007

Und wir sind wieder im Louvre bei Canova.

Diese Besuche mit den Enkelkindern im Louvre liefen trotz des unterschiedlichen Alters (19/18/17/13) sehr ähnlich ab. Sobald wir den Louvre nach Sicherheitskontrolle und Garderobenablage betreten hatten, verstummten die Jugendlichen. Ob der Grund meine Erzählung ist oder doch eher dieses monumentale Museum mit seiner bisher noch nicht erlebten Fülle der Eindrücke, es entwickelt sich kein Gespräch, nur Staunen und Anschauen. Auffällig ihre Reaktion, als ich die Wartezeit im Raum der Mona Lisa mit der Betrachtung der Hochzeit von Kana verkürzen wollte. Ein kurzes Anschauen, dann sofort wieder den Blick auf die sich langsam nähernde Mona Lisa gerichtet. Überhaupt nahmen sie alle das lange Warten gelassen hin.

Allein J (17) meldete zu Beginn des Besuches einen Wunsch an. Als ich ihm auf dem Leporello unseren Weg und die Ziele zeigen wollte, tippte er mit dem Finger auf den Plan: Da will ich hin. Es war die etruskisch-italienische Skulpturensammlung im Denon Flügel, das Interesse kam aus dem Lateinunterricht. J wollte nach dem vorgeplanten Rundgang mehr sehen, so bestaunten wir noch Ausstellungsstücke der Galerie d’Apollon.

M(19) saß irgendwann in der römisch-etruskischen Sammlung auf einer Bank am Fenster und schaute in sein Handy. Ich ließ ihm Zeit, im Louvre gibt es guten Empfang in die sozialen Medien und das, so dachte ich, braucht er zwischendurch. Wahrscheinlich hat er sie auch gecheckt, es stellte sich aber auch heraus, dass er Informationen über einzelne Skulpturen aufgerufen hatte, vielleicht auch über den Hermaphrodit, über den er mit mir nicht näher sprechen wollte.

L (18) besuchte einige Wochen nach unserer Reise Paris mit seiner Freundin. Auf meine Frage, was sie sich ansehen wollten, meinte er: Wir machen die Tour, die du mit mir gemacht hast. Darüberhinaus haben sie anderes entdeckt, im Louvre waren sie begeistert von den Apartements Napoleons III., besonders von den Lüstern.

Die Enkelin E (13) erzählte nach der Heimkehr ihren Eltern begeistert von der Deckengestaltung im Raum der französischen Maler. Ihre Begeisterung bezog sich auf die gesamte Reise, Ausnahme das Museum Picasso.

Ich denke, dass meine Enkel und die Enkelin nie zuvor so vielen Nacktdarstellungen sowohl bei den Skulpturen als auch in manchen Gemälden begegnet sind. Auch hier könnte ein Grund für ihr Verstummen liegen.

Die nächste Fahrt folgt im April 24 mit E (11). Ob er, der gerne redet, dies auch im Louvre tun wird?

Hittorff contra Haussmann: Die Place de l’Etoile, ein Repräsentations- oder ein  Zirkulationsraum? 

Dies ist der dritte Beitrag von Ulrich Schläger in der Reihe über den aus Köln stammenden Pariser Stadtbaumeister Johann Jgnaz  Hittorff.

Nach dem ersten Beitrag, in dem Ulrich Schläger einen Überblick über das Leben, Wirken und die Nachwirkung von Hittorff gab….

…. folgte ein Beitrag über die von Hittorff gestaltete Place de la Concorde.

Gegenstand des nachfolgenden Beitrags ist die Place de l’Étoile (place Charles de Gaulle), dessen Randbebauung ebenfalls ein Werk Hittorffs ist. Auch zur Gestaltung der die beiden Plätze verbindenden Prachtmeile der Champs-Élysées hat Hittorff  beigetragen. Umso merkwürdiger und bedauerlicher, dass er selbst vielen Parisern ein Unbekannter ist. Und umso verdienstvoller, dass Ulrich Schäger ihn in diesen Beiträgen angemessen würdigt.

Schläger beschreibt in dem nachfolgenden Beitrag die Auseinandersetzung zwischen Hittorff und Haussmann über die Gestaltung des Platzes. Für Haussmann sollte es ein Zirkulationsraum sein, für Hittorff ein Ort der Repräsentation mit dem Arc de Triomphe als Mittelpunkt. Dass sich damals eher Haussmann durchsetzte, habe ich als Jugendlicher in den 1950-er Jahren selbst erfahren. Ich war von Freunden meiner Eltern zu einer Reise in die Normandie eingeladen worden und wir durchquerten dabei auch mit dem Auto Paris. Die Place de l’Étoile mit seinen mindestens 12 ungekennzeichneten Fahrspuren wurde für mich -trotz des damals eher bescheidenen Autoverkehrs- zu einem Albtraum: Noch Jahre später träumte ich manchmal, ich würde endlos mit dem Auto um den Triumphbogen herumkreisen, ohne im Gewühl der Autos einen rettenden Ausweg erreichen zu können.

Jetzt ist die Stadt Paris dabei, bis zum Frühjahr 2024 die Zahl der Fahrspuren deutlich zu verringern und dafür den für Fußgänger reservierten Ring um den Triumphbogen deutlich zu erweitern: Eine späte Genugtuung für Hittorff!

Die Bauarbeiten an der Place de l’Étoile. Im Hintergrund das von Hittorff entworfene Hôtel des Maréchaux. Foto Wolf Jöckel 2.2.2024

Bonne lecture!  Wolf Jöckel

Abb. 1: Place de l’Étoile. WordPress.com https://autrecarnetdejimidi.wordpress.com

Aus der Vogelperspektive betrachtet, erscheint die Place de l’Étoile, seit 1970 in Place Charles-de-Gaulle umbenannt, mit dem Arc de Triomphe im Zentrum und ihren symmetrisch ausgehenden zwölf großen Avenuen als riesiger Verteilungsraum und als Krönung der von Napoleon III. initiierten und von seinem Präfekten Georges-Eugène Haussmann exekutierten Transformation von Paris.

Dass die Place de l’Étoile durch ihre Lage und den Triumphbogen mehr ist als ein gigantischer Verkehrsknotenpunkt, soll hier am Prozess der Platzgestaltung, die in der Planung und Umsetzung alles andere als gradlinig verlief, aufgezeigt werden.

Die Konzepte von Jakob Ignaz Hittorf als verantwortlichem Architekten und von Haussmann als Organisator der Transformation konnten nicht unterschiedlicher sein. Hinzu kam das besondere Interesse Napoleons III. gerade an diesem Platz mit dem Sieges-Monument seines von ihm bewunderten Onkels Napoleon I.

Um die verwickelte Platzgenese zu verstehen, müssen wir nicht nur in der Geschichte zurückgehen, sondern auch die grundsätzlich verschiedenen Auffassungen zu der Gestaltung öffentlicher Räume bei Hittorff und Haussmann in den Blick nehmen.

Durch die Julirevolution von 1830, dem Ende der Bourbonendynastie und der Auflösung der Menus Plaisirs du Roi verliert Hittorff seine angesehene Anstellung als Architekt des Königshauses, doch bereits zwei Jahre später, 1832, wird er dank des Innenministers Adolphe Thiers architecte de la ville de Paris. Die Neugestaltung der Place de la Concorde und der Champs-Élysées, der zum großen Triumphbogen auf der Place de l’Étoile hinaufführenden großen Straßenachse, werden Hittorff anvertraut. Seine Vision einer Monumentalanlage, einer Via triumphalis, die an der Place de la Concorde beginnen und auf der hoch gelegenen Place de l’Étoile ihren architektonischen Höhepunkt finden soll, kann er aber nicht realisieren.

Die schon in der Julimonarchie begonnene Ausweitung der Stadt nach Westen einschließlich der entlang der Avenue des Champs-Élysées entstandenen beliebten Vergnügungseinrichtungen, an denen maßgeblich Hittorff beteiligt war, setzt sich in der 2. Republik und im II. Kaiserreich fort. Um diese Entwicklung voranzutreiben und ein neues urbanes und gesellschaftliches Zentrum zu schaffen, wird Hittorff unter Kaiser Napoleon III. von dessen Prefect de la Seine, Jean-Jacques Berger, mit der Gestaltung der Place d’Étoile, der Avenue de l’Impératrice – heute Avenue Foch – und des Bois de Boulogne beauftragt.

Zwischen Hittorff und Haussmann, dem Nachfolger von Berger, kommt es bei der Avenue de l’Impératrice und dem Bois de Boulogne zu derart heftigen Auseinandersetzungen, dass Hittorff hier von der weiteren Planung ausgeschlossen wird.  Diese komplette Ausschaltung Hittorffs gelingt Haussmann bei der Place de l’Étoile nicht, weil dieser Platz zu eng mit der Selbstdarstellung Kaiser Napoleons III. verbunden ist.

Napoleon III. will nicht nur mit dem „Eventrement“, dem „Ausmisten“ bzw. der „Ausweidung“ der unhygienischen Viertel der Stadt die Lebensbedingungen und die öffentliche Gesundheit verbessern, den Bürger Licht, Luft und sauberes Wasser bringen, die labyrinthischen, schwerkontrollierbaren, „sozialen und politischen Sprengstoff bergenden Ballungsräume“ [1] mit breiten Straßen durchbrechen und Krisenpotentiale beseitigen, er will auch ein Paris mit prachtvollen Boulevards und eindrucksvollen Bauten, ganz nach dem Vorbild Napoleons I.

Dabei soll die Place de l’Étoile nicht nur innerhalb des urbanen Gefüges eine Schlüsselstellung bei der Entstehung eines künstlerisch gestalteten Stadtbildes einnehmen, sondern auch mit dem Arc de Triomphe Zentrum des Ruhmeskultes für Napoleon I. werden.

Schon 1850 hatte er als Präsident der 2. Republik die am Bogen eingemeißelte Liste der Generalsnamen um Louis und Jérôme Bonaparte, die Namen seines Vaters und Onkels, erweitern lassen, und nicht ohne Grund hatte er seinen Staatsstreich am 2. Dezember 1851 auf den Jahrestag von Napoleons Kaiserkrönung und den Sieg von Austerlitz gelegt.

Später, im November 1863, wird er auf der Vendômesäule die Napoleon-Statue von Émile Seurre,  den »Petit Caporal«, gegen Napoleon als römischer Imperator austauschen, in Anlehnung an die Statue von Antoine-Denis Chaudet von 1810. Während Napoleon im schlichten Militärmantel, Zweispitz und der Hand in der Weste [2] – „die Versöhnung des militärischen Ruhmes mit der nachrevolutionär-konstitutionellen Freiheitsgeschichte Frankreichs in einem konsensträchtigen »monument national«“ illustrierte, sollte mit Napoleon in der Toga der „imperiale und bellizistische Impetus“ (Helke Rausch) des Napoleon- Mythos erneuert werden. „Im Namen der Nation wurde nicht die Rettung der revolutionären Freiheits-Errungenschaften, sondern die Reaktivierung der »gloire militaire« zur Quintessenz der Napoleon-Erinnerung.“ [3]

Jetzt unter Napoleon III. scheint für Hittorff die Gelegenheit gekommen, seine Vorstellung einer festlichen, künstlerisch ausgestalteten Platzanlage zu verwirklichen, die nicht nur den Intentionen des Kaisers gerecht wird, sondern auch den Untertanen und Fremden aus aller Welt den Anspruch von Paris als Welt-Hauptstadt vor Augen führt.

Doch was Hittorf hier zunächst vorfindet, ist alles andere als glanzvoll. Zwar imponiert der Arc de Triomphe durch seine Monumentalität und seinen skulpturalen Schmuck, aber er steht, wie uns zeitgenössische Darstellungen zeigen, inmitten eines unbefestigten Platzes ohne jede Randbebauung. 

Abb. 2: Jules-Frédéric Bouchet (1799-1860) L’Arc de Triomphe und die Barrière de l’Étoile, 1837

Ungeordnet und unterschiedlich in der Breite münden einzelne Straßen, unterbrochen von unregelmäßigen Baumgruppen, in den Platz ein. An der Einmündung der Avenue des Champs-Élysées in der Platz sind die beiden von Ledoux  geschaffenen Pavillons der ehemaligen Zollmauer des ancien régime noch vorhanden. Sie werden erst 1860 abgerissen.

Abb. 3: Blick auf das Innere des Hippodroms; im Hintergrund der Arc de Triomphe

An den südlichen Teil des Platzes grenzt seit 1845 eine Pferderennbahn, der Hippodrome de l’Étoile. Sie wird erst 1855 beim Durchbruch der Avenue Kléber zur Place de l’Etoile abgerissen.

Ohne eine einheitliche Bebauung, ohne irgendeinen repräsentativen Rahmen steht der große Triumphbogen auf dem leeren Platz der Anhöhe, nur umgeben von einem Kreis von mit Ketten verbundenen Prellsteinen.

Abb. 4: Arc de triomphe de l’Étoile, par Gaspard Gobaut 1852. Links im Hintergrund das Hippodrome de l’Étoile

Er ist weder wirkungsvoll eingebunden in seine unmittelbare Umgebung noch in die Achse zwischen Louvre – Tuilerien – Place de la Concorde –  Champs-Élysées.

Der Triumphbogen war 1806 von Kaiser Napoleon I. nach der Schlacht bei Austerlitz in Auftrag gegeben und seiner siegreichen Armee gewidmet. Er war wie der Arc de Triomphe du Carrousel, die Vendôme-Säule und die geraubten Kunstschätze, insbesondere aus den vatikanischen Museen, Emblem der translatio studii et imperii von Rom nach Paris, der Ablösung des römischen durch das napoleonische Imperium. Und Paris war nicht einfach das neue, sondern das wahre, das vollendete Rom.

Der Bau wird 1806 nach vielfachen Planänderungen von François Chalgrin begonnen, der, wie der Kunsthistoriker und Archäologe Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy meinte, dazu neigte, Bauten möglichst monumental zu gestalten ganz im Sinn von Napoleon:  „Il n’y a de beau que ce qui est grand.“ („Schön ist nur, was groß ist.“). [4]

Der Bau schreitet nur langsam voran. Als 1810 Napoleon mit seiner künftigen Frau, der Erzherzogin Marie-Luise von Österreich, in Paris einzieht, verdeckt Chalgrin den halbfertigen Bogen mit einem Provisorium aus Gebälk und bemalter Leinwand. Am Ende des I. Kaiserreichs verbleibt ein unvollendetes Bauwerk von gewaltigen Ausmaßen.

Abb. 5: Einzug in Paris von Napoleon und Marie-Luise von Österreich 1810

Für die auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen war Napoleon mehr als nur ein Emporkömmling, er war immer ihr Feind. Das bestimmte auch ihre Beziehung zum Arc de Triomphe. Selbst als unfertiger Bau war der Triumphbogen eng mit der überlebensgroßen Gestalt Napoleons verbunden, der nicht nur das Schicksal Frankreichs, sondern des ganzen Kontinents bestimmt hatte. Napoleons Exil und Tod auf Sankt Helena am 5. Mai 1821 hatte seine Heroisierung nur noch befördert.

Napoleon war es gelungen, seine Verbannung nach St. Helena virtuos zum Martyrium zu stilisieren, indem er für sich eine Leidensgeschichte erfand. Seine Begleiter, Heinrich Heine nennt sie treffend die „Evangelisten“, überlieferten diese Geschichte, allen voran das „Mémorial de Sainte-Hélène“:   nach Napoleons Lieblingsjünger ­Emmanuel de Las ­Cases das „Evangelium“.  Mit den vermeintlichen Aussagen ­Napoleons wurde das Buch zu einem internationalen Bestseller. Napoleon war der neue Prometheus, angekettet an den Felsen von Sankt Helena.

Auch Historienmaler ließen sich von diesen Vorstellungen inspirieren, so Horace Vernet, dessen Gemälde »Le Tombeau de Napoléon à Sainte-Hélène ou l’Apothéose de Napoléon« – zu Deutsch etwa »Napoleons Grab auf Sankt Helena und seine Vergöttlichung« – ein großer Erfolg war.[5]

Abb. 6: Horace Vernet:Das Grab und die Apotheose Napoleons auf Sankt Helena

Im Sinn von Vernets »Apotheose« hielt Bonaparte nun erst recht Einzug in die Geschichte und in das kollektive Gedächtnis der Nation. Klarsichtig beschreibt der Royalist ­François-René de Chateaubriand in seinen Mémoires d’outre-tombe (Erinnerungen jenseits des Grabes, Teil 3, VI) die Wirkung dieser Selbststilisierung: „Le monde appartient à Bonaparte ; ce que le ravageur n’avait pu achever de conquérir, sa renommée l’usurpe. Vivant il a manqué le monde ; mort, il le possède.“ („Die Welt gehört Bonaparte; was der Verwüster nicht mehr hatte erobern können, usurpiert sein Ruhm. Als Lebender hat er die Welt verfehlt; als Toter besitzt er sie.“).

Napoleon wurde zum Verteidiger und Helden der liberalen Ideale der Französischen Revolution und der glorreichen Zeiten der jüngsten französischen Geschichte hochstilisiert, der den Mächten der Restauration Paroli bietet. Er wurde zur Identifikationsfigur der antibourbonischen Opposition.

Den Arc de Triomphe im Sinne von Napoleon fertigzustellen und damit seinen Nachruhm zu befördern, war deshalb nicht im Interesse der Bourbonen. Es gab sogar Überlegungen, den Torso abzureißen und eine Säule mit der Statue Ludwig XVI. zu errichten, die aber fallengelassen wurden. Ludwig XVIII. ordnete zwar am 9. Oktober 1823 die Fertigstellung des Triumphbogens an, allerdings mit einer neuen Widmung. Geehrt werden sollte nicht die kaiserliche Armee, sondern die Armée des Pyrenées, die unter der Führung von Louis Antoine de Bourbon, Herzog von Angoulême und Neffe von Ludwig XVIII., den spanischen König (Ferdinand VII.) wieder auf den Thron gesetzt hatte.

Eine Festschrift mit dem Titel Entrée triomphale de S. A. R. monseigneur le duc d’Angoulême, généralissime de l’armée des Pyrénées … erscheint. Die Bauarbeiten unter Louis-Robert Goust  und Jean-Nicolas Huyot nach überarbeiteten Plänen von Chalgrin kommen aber nicht voran.

Abb. 7: Einzug des Herzogs von’Angoulême in Paris am 2. Dezember 1823

Und so wird nach dem Sieg des Herzogs von Angoulême in Spanien am 2. Dezember 1823 bei der Siegesparade auf dem Champs-Élysées der halbfertige Triumphbogen mit Attrappen-förmigen Auf- und Anbauten versehen, mit Fahnen umkränzt. Vor den Bogen werden hohe Sockel gestellt, dekoriert mit Trophäen und Rostralsäulen, bekrönt von der Göttin des Sieges, eine Komposition von Hittoffs Kollegen und Freund Jean-François-Joseph Lecointe, die beide für die königlichen Feste und Zeremonien zuständig waren. Es bleibt bei dieser flüchtigem, ephemeren Dekoration, dem aktuellen Anlass geschuldet.

Auch unter Karl X. werden Pläne für den Weiterbau des Bogens gemacht, umgesetzt wird aber nichts an der Place de l’Étoile und ihrem mächtigen Torso.

In der Juli-Monarchie, die sich nach der Revolution von 1830 unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe von Orléans etabliert, kommt es zum Strategiewechsel. Louis-Philippe ist bemüht, die bonapartistischen Sympathien im bürgerlichen Lager zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft zu nutzen. So bringt er einige Prestigeprojekte auf den Weg, die Napoleon als Teil der französischen Geschichte ehren sollten:

  • Auf der Siegessäule der Place Vendôme wird 1833 wieder eine Statue Napoleons gestellt, jetzt aber in schlichter Uniform und nicht wie die ursprüngliche Statue als römischer Imperator, schließlich will man aus politischen Gründen nicht an die imperialen Ambitionen Napoleon Bonapartes anknüpfen.
  • 1836 wird der Arc de Triomphe auf der Place de l’Étoile von Abel Blouet fertig gestellt und am 30. Juli 1836 eingeweiht. Auch sein plastischer Schmuck stammt aus dieser Zeit. Das Bildprogramm ist keine Verherrlichung von Napoleon allein, sondern auch der siegreichen Heerführer und Truppen. Der Bogen wird deshalb als Denkmal der gesamten Nation betrachtet.
  • 1837 wird ein neues Frontispiz am Panthéon angebracht, auf dem Bonaparte einen prominenten Platz unter den großen Männern Frankreichs einnimmt.
  • 1840 schließlich erreicht die Revitalisierung des Napoleon-Kultes ihren Höhepunkt mit der Rückholung der sterblichen Reste Napoleon von Sankt Helena nach Paris und dem grotesken Schauspiel des Triumphzuges des toten Kaisers bei der Überführung in den Invalidendom am 15. Dezember 1840.

Trotz all dieser Bemühungen scheitert der Plan Louis-Philippes, sich „zum heroischen Nachfolger Napoleons zu stilisieren, indem er sich die Erinnerung an diesen aneignet“. [6]

Kehren wir nach diesem Exkurs über das  Schicksal des Arc de Triomphe zu Napoleon III. und der Gestaltung der Place de l’Étoile zurück.

Mit der Februarrevolution von 1848 gelangt Louis Napoléon Bonaparte, ein Neffe des großen Korsen, als Staatspräsident an die Macht. Nach dem Staatsstreich im Dezember 1851 und der Ausrufung des Zweiten Französischen Kaiserreiches sieht er sich als Napoleon III.  nicht nur als Nachfolger Bonapartes, sondern fast schon als seine Reinkarnation. Napoleon III. will vom Heldentum seines Onkels profitieren, deshalb kommt gerade der Place de l’Étoile und seinem Triumphbogen eine herausragende Rolle zu.

Hittorff steht vor einer dreifachen Herausforderung: Er muss einen prachtvollen Platz ganz in der Tradition Napoleon I. erschaffen, er muss sich mit den riesigen Dimensionen des Bogens selbst auseinandersetzen und er muss den Platz in die umgebenden urbanen Strukturen einbeziehen.

Als einzige Veränderung am Bogen selbst sieht er wie am Arc Triomphe du Carrousel eine Bekrönungsgruppe vor, eine Idee, die schon Jahre zuvor immer wieder diskutiert wurde.  Schon Albert Blouet, Pierre-François-Léonard Fontaine und Jean-Nicholas Huyot hatten freie Skulpturengruppen auf dem Bogen geplant.[7]

Provisorische Bekrönungen des Arc de Triomphe hatte es allerdings aus Anlass von Festen und Zeremonien schon vorher gegeben. Meist sollten sie die Nation, den Frieden, den Sieg, aber weniger konkrete Personen symbolisieren. Für die Revolutionsfeier des Jahres 1838 schuf man nach dem Entwurf von Gabriel-Bernard Seurre eine Attrappe aus Holz, Gips und Leinwand. Hittorff hat dieses Motiv für seinen Plan von 1853 übernommen:

Abb. 8: Étienne Achille Réveil Hauptfassade des Triumphbogens mit der provisorischen Bekrönung von 1838 (Ausschnitt)

Auf einem Triumphwagen mit sechs Pferden, gelenkt von Genien, steht eine Gestalt in weiter Toga mit dem Löwenfell des Herkules über der Schulter. Die rechte Hand umfasst einen Stab mit dem gallischen Hahn an der Spitze, der linke Arm hält eine Gesetzestafel, in Hittorffs Entwurf mit dem Wort „CODE“, wohl ein Bezug auf den „Code Napoléon“, das napoleonische Gesetzeswerk. Seurres Figur verkörperte den Genius des Staates. Bei Hittorff den siegreichen Genius des Kaiserreiches, wie  Uwe Westfehling meint. [8]

Abb. 9: Jean-Auguste-Dominique Ingres, Die Apotheose Napoleons. Entwurf für das Pariser Rathaus.  

Die Gespann-Gruppe war von den Personifikationen des Sieges und des Ruhmes begleitet, wie auf dem Deckengemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres im Salon de l’Empereur des Hôtel de Ville zu sehen war. Das Gemälde, das die Apotheose Napoleons auf einem Triumphwagen zeigt, wurde zwar 1871 beim Aufstand der Commune zerstört, ist aber in Zeichnungen und Kopien erhalten.

Eine erneute ephemere Bekrönung sehen die Pariser 1840, als die sterblichen Überreste von Napoleon I. von St. Helena nach Frankreich überführt werden:  auf dem Triumphbogen steht Napoleon im Krönungsornat.

Letztlich wurde der Triumphbogen aber nicht bekrönt, und Hittorff konzentrierte sich darauf, für den Triumphbogen einen angemessenen Rahmen zu finden. 1853 entwirft er den Plan eines Denkmalforums. Seine aquarellierte Federzeichnung gibt in einer Gesamtansicht den Blick aus der Richtung der Champs-Élysées mit dem Arc de Triomphe im Zentrum wieder.

Abb. 10: Hittorff, Jakob Ignaz, Entwurf für ein Denkmalsforum auf der Place de l‘ Étoile, Gesamtansicht, 15.06.1853.

Für die umgebende Fläche des Bauwerks greift Hittorff auf ein früheres Standbildprogramm für die Champs-Élysées zurück, das hier seinen Abschluss finden soll.  „Die Statuen setzten sinnvoll den für die nationale Prozessionsstraße der Avenue des Champs-Élysées vorgesehenen Schmuck von Denkmälern verdienstvoller Franzosen fort.“ [9]

Nach seinem Plan von 1853 sollen sich in zwei Halbkreisen jeweils zehn Denkmäler der hervorragendsten Feldherren Napoleons auf hohen Sockeln um den Bogen gruppieren. Dabei wechselten sich Einzelstatuen mit Reiterstandbildern ab.

Abb. 11:  Ausschnitt des Plans von 1853  

Der Kreis der Denkmäler ist seinerseits von einer geschlossenen repräsentativen Gebäudefront umgeben, die im Abstand von ca. 172 m die Platzmitte einfasst. Die gleichmäßigen Fassaden zeigen ein Arkadengeschoss, zwei Stockwerke mit hohen Fenstern und ein Mansardendach. Die sternförmig auf den Platz zulaufenden Straßen sind symmetrisch angeordnet und werden an der Platzeinmündung durch Torbogen überfangen.

                  Abb. 12: Großer Torbogen für die Champs-Élysées

Die großen Torbauten, die die Einmündung der breiten Avenuen wie der Avenue des Champ-Élysées oder der Avenue du Parc de Boulogne (die spätere Avenue de l’Impératrice und heutige Avenue Foch) markieren, grenzen unmittelbar an die Gebäude. Die kleineren Torbögen, die die nicht so breiten Straßeneinmündungen überspannen, sind in die Hausfassaden eingegliedert, ohne sie zu überragen. Der Platz erhält dadurch eine geschlossene Umbauung, wie wir sie noch heute bei der Place Vendôme und der Place des Vosges sehen.

                                          Abb. 13: Kleiner  Torbogen für die Rue du Bel Air

Bei der Gestaltung der Torbögen greift Hittorff auf römische Vorbilder zurück, wahrscheinlich inspiriert durch die Porte de Saint-André und die Porte d’Arroux  in Autun  im Département Saône-et-Loire in der Region Bourgogne-Franche-Comté, die er 1822 gesehen und gezeichnet hatte.

Abb. 14: Hittorff,  Porte de Saint-André à Autun. 1822

Mit den Torbauten nimmt Hittorff das Motiv des Triumphbogens im Zentrum des Platzes auf und im Rückgriff auf die römische Antike verschafft er dem Platz einen imperialen Charakter, der ihn über alle anderen Plätze der Stadt herausheben soll.

Zusätzlich hat Hittorff im Entwurf von 1853 noch Siegessäulen vorgesehen, die hier mit den westlichen Ecken der großen Torbauten verbunden sind und die als Bekrönung Herrscherstatuen tragen. Uwe Westfehling glaubt, dass Hittorff hier von den Säulen der Barrière du Trône inspiriert worden ist. [10] Auf den dortigen Säulen,  die zu den Zollbauten von Ledoux aus der Zeit des ancien régime stammen, stehen die Statuen Ludwig des Heiligen und Philippe Augusts.

Abb. 15: Barrière du Trône 1885

Im Triumphalforum der Place de l’Étoile „tritt [deutlich] der repräsentative und kulissenhafte Charakter dieser offiziellen Architektur hervor. Es werden Denkmalstypen addiert und gehäuft. Das Projekt zeigt nahezu alle Motive, die man der Triumphalidee im 19. Jahrhundert zuordnete, auf engstem Raum zusammengedrängt: Triumphbogen, Siegeswagen, historische Reliefs, Ehrensäulen, Reiterdenkmäler und Standbilder. Der Aufwand erinnert an die Monumentalanlagen, die im Spätbarock in Frankreich geplant wurden. … Hittorffs Plan für ein Triumphalforum in Paris, der dem Alterswerk des Architekten zuzurechnen ist, gehört zu einer ersten Phase der Wiederaufnahme barocker Formen im 19. Jahrhundert, die besonders in Frankreich zu beobachten ist.“[11]

Das Forum an der Place de l’Étolie sollte der krönende Abschluss einer riesigen, an der Place de la Concorde beginnenden Denkmalanlage sein und war als Schauplatz von Festzügen, Paraden und Zeremonien gedacht.

Derartige Zeremonien hatte Paris, wie schon erwähnt, anlässlich der Heimholung Napoleon I. am 15. Dezember 1840 erlebt, als sich der Trauerkondukt durch den Arc de Triomphe, die Champs-Élysées zur Place de la Concorde bewegte und von dort zum Dome des Invalides. Die Champs-Élysées war mit Säulen, Statuen und Kandelabern geschmückt. An der Corcorde – Brücke standen vier Siegessäulen, acht allegorische Figuren und eine Kolossalstatue von Cortot, welche die Unsterblichkeit darstellte.

Abb.16: Zug mit den sterblichen Überresten Napoleons über die Champs-Élysée zum Invalidendom

Fast 45 Jahre später, am 31. Mai 1885, nimmt wieder eine pompöse Inszinierung unter dem Triumphbogen an der Place de l’Étoile ihren Anfang: Die sterblichen Überreste von Victor Hugo werden in das Pantheon überführt.

Abb. 17: Beerdigung von Victor Hugo. Der Katafalk mit dem Sarg unter dem Arc de Triomphe

Unter dem Bogen ist ein castrum doloris , ein Trauergerüst, aufgebaut, auf dem der Katafalk ruht. Wiederum ist der Bogen mit einer Gespanngruppe bekrönt, mit Trauerflor umhüllt.  Feuerschalen auf hohen Podesten bilden einen Kreis um den Bogen. Und wiederum bewegt sich der Trauerzug über die Champs-Élysées zur Place de la Concorde hinunter.   

Aber in diesen mit Geschichte und Zeremonien verbundenen Bildern denkt der neue Präfekt Haussmann nicht. Die Stadt als architektonisches Gesamtkunstwerk, die Ausgestaltung festlicher und malerischer Platzanlagen sind für Haussmann keine primären Ziele der Umwandlung von Paris, für die er seit 1853 verantwortlich ist. So scheitert Hittorffs großes Forum-Projekt  in erster Linie nicht nur an den hohen Baukosten.

Georges-Eugène Haussmann hat andere Vorstellungen von der Funktion und dem Aussehen des Platzes. Haussmann will gerade Durchbruchstraßen, Verkehrszentren, die Menschen- und Warenströme effizient verbinden, verteilen, steuern und beschleunigen.

Die monumentale Geschlossenheit von Hittorffs Konzept ist hier hinderlich. Eine Repräsentations- und Zeremonial-Architektur passt nicht in Hausmanns Konzept einer nach rationalen Prinzipien funktionierenden Stadt.  Haussmann will einen offenen Platz mit zwölf breiten Radikalstraßen und aus verkehrstechnischen Gründen eine zusätzliche Ringstraße (die heutige Rue de Tilsitt und Rue de Presbourg), und er setzt sich bei Napoleon III. durch.

Hittorff legt also 1854 einen zweitem Entwurf für die Place de l’Étoile vor, bei dem das gesamte Programm des Triumphalforums entfällt: Auf den weiten jetzt offenen Platz mit dem unbekrönten Arc de Triomphe führen sternförmig 12 symmetrisch angeordnete große Avenuen. Es bleibt aber das Problem einer angemessenen Einfassung des Platzes.

Abb. 18: Entwurf Hittorffs für die Place de l’Etoile von  1854

Durchsetzen kann sich Hittorff dabei mit dem Bau gleichmäßig gestalteter dreigeschossiger Hôtels, großbürgerlicher Wohnungen, die den Platz umgeben und deren Eingänge an der Ringstraße liegen. Diese Hôtels, die er zusammen mit Rohault de Fleury entwirft,  bilden mit ihren diskret gebogenen Fassaden, die sich „durch klare Gliederung und vornehme Zurückhaltung auszeichnen“ (Karl Hammer) und ihren Vorgärten mit einheitlichen Gittern einen weitgefassten kreisförmigen, dekorativen  Rahmen um den dominanten, massigen Triumphbogen in seinem Zentrum.

Abb. 19: Blick auf die Place l’Étoile, nach einer Zeichnung von M.Wibaille 1857

„In glücklich gewählten Proportionen treten sie gegenüber dem ins Riesenhafte gesteigerten Triumphbogen zurück. Sie sind nach dem Grundsatz vollkommener Gleichartigkeit angelegt, in Haustein ausgeführt, mit Pilastern, Balustraden, vorspringenden Gesimsen, Karniesen und anderen Ornamenten geschmückt, die einem antikisch neubelebten und modisch werdenden Neo-Louis-Seize-Stil entstammten.“ [12]

Abb. 20: Fassade eines der hôtels der Randbebauung. Zeichnung von 1870

Abb. 21: Detail der Fassade.

Über diese Randbebauung kommt es wiederum zu einer Auseinandersetzung zwischen Hittorff und Hausssman, der größere Bauten um den Platz errichten will, weil sie seiner Ansicht nach „besser im Einklang mit den kolossalen Massen des Platzes und seines Denkmals stehen“ [13]. Er kann sich aber in diesem Punkt bei Napoleon III. nicht durchsetzen. Hittorf überzeugt den Kaiser, dass höhere Einzelbauten die Wirkung des Triumphbogens beeinträchtigen würden. „L’Empereur qui avait un culte presque superstitieux pour la mémoire de son oncle Napoléon Ier et un respect poussé à l’extrême pour tout ce qui s’y rattachait, se rendit de suite à cette observation“ („Der Kaiser, der eine fast abergläubische Verehrung für das Andenken seines Onkels Napoleon I. und einen bis zum Äußersten getriebenen Respekt für alles, was damit zusammenhing, hatte, gab sich dieser Betrachtung sofort hin“) [14].

Abbildung 22: Wolf Jöckel

Vielleicht hat auch der Mäanderfries des Arc de Triomphe, den Hittorff für seine Randbebauung übernommen hat, Wirkung gezeigt…. Haussmann muss sich jedenfalls fügen und rächt sich, indem er „die in seinen Augen proportionslosen Häuserfassaden […] durch dichte Baumanpflanzungen verdeckt.“ [15]

Auch wenn Hittorff sich mit seinem Napoleon-Forum nicht durchsetzen konnte, so gelang es ihm doch, durch bewusste Gewichtung der Baumassen und durch die angemessenen Proportionen der Randbebauung die Wirkung des Triumphbogens nicht nur zu bewahren, sondern noch zu steigern, der damit zugleich Auftakt und Schlussakkord der Avenue des Champs -Élysées wurde.

Abb. 23:  Modell der Place de l’Étoile nach seiner derzeitigen Umgestaltung

Hittorff hat das geschichtliche Potential des Platzes und die Wirkungskraft des Triumphbogens besser verstanden als Haussmann, der die Platzgestaltung in seinen Memoiren als eine der größten Leistungen seiner Amtszeit für sich reklamierte. Für Haussmann war der Triumphbogen nicht mehr als eine Aussichtsplattform, von der aus wie auf einem Plan die von ihm beanspruchte Neustruktuierung der Stadt gesehen werden konnte:   „Cette belle ordonnance, que je suis très fier d’avoir su trouver, et que je considère comme une des œuvres les mieux réussies de mon administration, apparaît dans son ensemble, comme sur un plan, du haut de l’Arc de Triomphe, où montent beaucoup plus d’étrangers que de Parisiens.“ („Diese schöne Anordnung, auf die ich sehr stolz bin und die ich als eines der erfolgreichsten Werke meiner Verwaltung betrachte, wird in ihrer Gesamtheit, wie auf einem Plan, sichtbar von der Spitze des Triumphbogens, auf den viel mehr Ausländer als Pariser hinaufsteigen.“) [16]

Die Symbolkraft des Triumphbogens, die sich schon, wie wir gesehen haben, bei den verschiedenen Festakten gezeigt hatte und bei historischen Ereignissen offenkundig wurde, zeigte sich in hohem Maße, als das Monument der napoleonischen Siege mit der Einweihung des Grabmals für den unbekannten Soldaten aus dem I. Weltkrieg am 11. November 1920 zur säkularen Weihestätte der ganzen Nation mutierte.

Auf seinem Grab brennt seit dem 11. November 1923 die ewige Flamme, täglich in einer Zeremonie („Ravivage de la Flamme“ = „Wiederbelebung der Flamme“) symbolisch neu entfacht.

Abb. 24: Präsident Macron entzündet die ewige Flamme am Grab des unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe

Literatur:

Abbildungsverzeichnis:

Abb.1:   Place de l’Étoile. (WordPress.com https://autrecarnetdejimidi.wordpress.com )

Abb. 2: Jules-Frédéric Bouchet (1799-1860) L’Arc de Triomphe et la Barrière de l’Étoile, 1837 (https://lilasbleu.livejournal.com  …) und  facebook: John d’Orbigny Immobilier, 4 octobre 2016)

Abb. 3: Vue intérieure de l’Hippodrome, on distingue le haut de l’Arc de Triomphe (Wikipedia) siehe auch: https://www.cirk75gmkg.com/2018/03/l-hippodrome-de-l-etoile-ou-de-la-republique-1845-1856.html

Abb. 4: Arc de triomphe de l’Étoile, par Gaspard Gobaut 1852. Links im Hintergrund das Hippodrome de l’Étoile. (Bildquelle: Gallica/BnF)

Abb. 5: Pierre-François-Léonard Fontaine – Entrée dans Paris de l’Empereur et l’Impératrice, 1810, dessin, Bildquelle: https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl020231070

Abb. 6: Horace Vernet: »Le Tombeau de Napoléon à Sainte-Hélène ou l’Apothéose de Napoléon« https://wallacelive.wallacecollection.org/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=65509&viewType=detailView

Abb. 7: Entrée à Paris de S.A.R. Mgr le duc d’Angoulême, le 2 décembre 1823 (© Reproduction Patrick Cadet / Centre des monuments nationaux. Histoire de l’Arc de triomphe. https://www.paris-arc-de-triomphe.fr

Abb. 8: Étienne Achille Réveil:  Façade principale de l’Arc de triomphe de l’Etoile avec le projet de couronnement exécuté aux fêtes de Juillet 1838(Ausschnitt); Bildquelle: BnF/Gallica

Abb. 9: Jean-Auguste-Dominique Ingres – Esquisse pour l’Hôtel de Ville de Paris , Apothéose de Napoléon Ier   https://www.parismuseescollections.paris.fr/fr/petit-palais/oeuvres/esquisse-pour-l-hotel-de-ville-de-paris-apotheose-de-napoleon-ier#infos-principales

Abb. 10: Hittorff, Jakob Ignaz, Entwurf für ein Denkmalsforum auf der Place de l‘ Étoile, Gesamtansicht, 15.06.1853. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. Pl. E. 2. Rheinisches Bildarchiv Köln, Walz, Sabrina, Reproduktions-Nr: rba_c020402

Abb. 11: Kat.-Nr. 277 (Ausschnitt) Hittorff, Jakob Ignaz, Entwurf für ein Denkmalsforum auf der Place de l‘ Étoile, Gesamtansicht, 15.06.1853. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. Pl. E. 2. Rheinisches Bildarchiv Köln, Walz, Sabrina, Reproduktions-Nr: rba_c020402 (Ausschnitt)

Abb. 12:   Großer Torbogen für die Champs-Élysées; Köln, Wallraf-Richartz-Museum

Abb. 13:   Kleiner  Torbogen für die Rue du Bel Air; Köln, Wallraf-Richartz-Museum

Abb. 14: Porte de Saint-André à Autun – La face opposée (Cologne, bibliothèque universitaire). par Hittorff 1822

Abb. 15: Paris, ancienne barrière du Trône, ZVAB

Abb. 16:  Funérailles de l’Émpereur Napoléon – Passage du Char funèbre aux Champs-Élyséss le 15 Decembre 1840 (Musée Carnavalet, Histoire de Paris)

Abb. 17:    Funérailles de Victor Hugo, le catafalque sous l’Arc de triomphe, par Georges François Guiaud (Musée Carnavalet)

Abb. 18:  Entwurf: Jakob Ignaz Hittorff – Place de l’Etoile, Plan actuel. 1854 Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. E.11. Rheinisches Bildarchiv Köln, Reproduktions-Nr: rba_c011158

Abb. 19:  Vue de la Place l’Étoile, projetée d’après un dessin de M.Wibaille, architecte, 1857 (Le Monde illustré, Vol. 1 (Apr.-Dec. 1857)

Abb. 20:  Abbildung aus: Maisons les plus remarquables de Paris construites pendant les trois dernnières années par Messieurs … Architectes…, Paris, 1870

Abb. 21: Fassadendetail. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 22: Mäanderfries der Randbebauung Hittorffs. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 23: Foto aus: https://www.science-et-vie.com/article-magazine/paris-la-place-de-letoile-va-se-mettre-au-vert Paris: la place de l’étoile va se mettre au vert. 23.3.2021

Abb. 24: https://www.lalsace.fr/actualite/2019/05/08/macron-ravive-la-flamme-a-l-arc-de-triomphe-la-ceremonie-du-8-mai-en-images


Anmerkungen:

[1] Helke Rausch. Kultfigur und Nation: Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848-1914, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2014

[2] „Die Hand im Rock/in der Weste“ galt in der Antike als Zeichen sittlicher Tugend. Bei Napoleon wurde die Geste zu einem politischen Symbol des kontrollierten, besonnenen Herrschers stilisiert.

[3] Helke Rausch, ebd.

[4] zitiert nach: Bruno Klein: Napoleons Triumphbogen in Paris und der Wandel der offiziellen Kunstanschauungen im Premier Empire, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 59. Bd., H. 2 (1996), pp. 244-269

[5] siehe: https://www.napoleon.org/histoire-des-2-empires/tableaux/allegorie-de-lexil-et-de-la-mort-de-napoleon-a-sainte-helene-ou-le-tombeau-de-napoleon/

[6] Benjamin Marquart: Napoleon I.: Revolutionär, Kaiser, Medienstar; in:  Spektrum Spezial Archäologie – Geschichte – Kultur4/2019 Helden

[7] Abbildungen dazu in: Manuscrit et description graphique de l’Arc de Triomphe de l’Etoile, par Jules-Denis Thierry, 1er inspecteur du monument, 1836

[8] Uwe Westfehling: J. I. Hittorffs Pläne für ein Denkmalforum in Paris. Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Vol. 36 (1974), pp. 273-294 (22 pages); https://www.jstor.org/stable/24657147

[9] Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historische Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart.

[10]Uwe Westfehling, ebd.

[11]  Uwe Westfehling, ebd.

[12] Karl Hammer, ebd.

[13] Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historische Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart.

[14]  zitiert nach Karl Hammer, ebd. und eigene Übersetzung

[15]   Karl Hammer, ebd.

[16] Mémoires du baron Haussmann III; Grand Travaux de Paris; Le Plan de Paris, Chapitre III, p. 76. Paris, Victor-Havard, Éditeur, 1890; 2. Édition 1893.Book digitized by Google from the library of the New York Public Library and uploaded to the Internet Archive by user tpb.

Weitere Blog-Beiträge zur Place de l’Étoile/Arc de Triomphe

We could be heroes: Eine Installation von Raphaël Barontini zur Sklaverei im Pantheon (Oktober 2023 – Februar 2024)

Am 10. Mai 2001 wurden in Frankreich durch das „loi Taubira“ ausdrücklich und im Blick auf die eigene Geschichte Sklavenhandel und Sklaverei zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt. Gleichwohl hat sich auch danach Frankreich schwer getan -und tut sich zum Teil noch bis heute schwer- mit diesem düsteren Kapitel seiner Vergangenheit angemessen umzugehen. Siehe dazu den entsprechenden Blog-Text aus dem Jahr 2017:

Das Pantheon hat sich nun zwischen Oktober 2023 und Februar 2024  auf zweifache und ganz unterschiedliche Weise des Themas angenommen. In der Krypta wurde in einer Ausstellung über „Figuren des Kampfs gegen die Sklaverei“ informiert.  

Darüber, in dem riesigen kreuzförmigen Raum des Pantheons mit seiner gewaltigen Kuppel, gab es eine monumentale künstlerische Installation zur Sklaverei bzw. den Kämpfen um ihre Abschaffung. Im Rahmen des Programms „un artiste/un monument“ hatte das Centre des Monuments Nationaux, Hausherr des Pantheons, dem Künstler Raphaël Barontini  dazu freie Hand (carte blanche) gegeben, die dieser auch auf eindrucksvolle Art und Weise nutzte. Diese Installation ist Gegenstand des nachfolgenden Beitrags.  

Der Auftrag an Raphaël Barontini kam nicht von ungefähr. Das Pantheon rühmt sich ja, Persönlichkeiten zu ehren, die sich für die Abschaffung der Sklaverei engagierten und nennt als Belege den Theoretiker Condorcet, der in seinen  Réflexions sur l’esclavage des nègres von 1781  die Sklaverei als ein Verbrechen verurteilte, den Politiker Victor Schoelcher, der 1848 in der Nationalversammlung das Gesetz zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien durchsetzte, und den Kämpfer Toussaint Louverture, den Helden der haitischen Revolution.

Für den 1984 in Saint-Denis bei Paris geborenen und dort lebenden Raphaël Barontini sind Kolonialismus und Skaverei zentrale Themen seiner künstlerischen Arbeit. Der Titel der Installation im Pantheon We could be heroes weist darauf hin, dass es hier um eher unbekannte Helden geht, gewissermaßen um ein „Panthéon imaginaire“ des Kampfes gegen die Sklaverei.  Immerhin ist zwei von denen, die Barontini vorstellt,  die Ehre zuteil geworden, zu den „grands hommes“ des Pantheons zu gehören, allerdings lediglich durch an die Wand angebrachte Erinnerungstafeln: Toussaint Louverture und Louis Delgrès.[1]

Die Portraits

Die eher unbekannten Personen der Installation sind nicht diejenigen des Mutterlandes, die sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt haben, sondern es sind Menschen der Kolonien, aus Afrika Deportierte oder schon auf kolonialen Plantagen Geborene, die gegen die von ihnen selbst erlittene Versklavung von Menschen gekämpft, für diesen Kampf ihr Leben eingesetzt und oft auch geopfert haben.

Dazu Barontini:

Ich habe mich dafür entschieden, eine Kosmologie von historischen Figuren zu porträtieren, die als Kollektiv oder Einzelpersonen gegen die Sklaverei in den Antillen und dem Indischen Ozean gekämpft haben. Auch wenn einige dort gefeiert werden, ist mir das Fehlen von Portraits und deren Notwendigkeit deutlich geworden. Ich habe mich also daran gemacht, neue Bildnisse zu schaffen, stolze und starke Figuren, die ein Echo auf ihre Kämpfe und ihre Geschichten darstellen.

Das Fehlen der Bilder ist für Barontini ein „Fehler der Geschichte“, den er mit seinen Arbeiten zu korrigieren versucht. [2]

Jean-Baptiste Belley,  Raphaël Barontini  und Cécile Fatiman im Pantheon   ©Quentin Menu

Hier posiert Barontini vor den Bannern mit den Portraits von Jean-Baptiste Belley und Cécile  Fatiman. Belley gehört allerdings zu den eher bekannteren Personen aus den Kolonien, die gegen die Sklaverei kämpften. 1746 oder 47 wurde er im Senegal geboren und als 2-jähriges Kind auf einem Sklavenschiff nach Saint-Domingue, den von Frankreich beherrschten westlichen Teil der Insel Hispaniola,  deportiert. 1791 kämpfte er dort gegen die Bourbonen und wurde, nachdem die besiegt waren,  1793 erster schwarzer Abgeordneter des Nationalkonvents, das am 3. Februar 1794 die Sklaverei in den französischen Kolonien abschaffte. Es gibt ein Portrait des „schwarzen Jacobiners“ Belley, gemalt 1797 von Anne Louis Girodet-Trioson.[3]

Belley stützt sich hier auf einen Sockel mit der Büste des Priesters Guillaume Raynal, der durch seine drastischen Schilderungen der Situation der Sklaven in Amerika die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei wesentlich befördert hatte.[4] Barontini hat aus diesem Bild die Haltung Belleys übernommen und auch sein weißes Halstuch, ansonsten ist es aber eine sehr freie, phantasievolle Darstellung, die auch für die anderen Portraits der Ausstellung charakteristisch ist.

Cécile Fatiman, deren Portrait neben Belley aufgestellt ist, war eine Mamo, eine haitianische Voodoo-Priesterin. Sie leitete 1791, zusammen mit dem anschließend zu sehenden, Dutty Boukman die Voodoo-Zeremonie in Bois Caïman,  den Beginn des Sklavenaufstands der haitianischen Revolution. Ihr Gewand und die Spitzen waren typisch für die Priesterinnen, deren Aufgabe es war, den Willen der Geister zu erkennen und mitzuteilen. Auf dem oberen Teil ihres Kopfes trägt sie einen Teil eines Fetisches aus Benin, der Wiege des Voodoo-Kults.

               Sanité Belair und Dutty Boukman

Sanité Belair wurde um 1781 in Saint-Domingue geboren.  Sie kämpfte 1802 -zusammen mit ihrem Mann- als Offizier gegen die von Napoleon entsandten Truppen des Generals Leclerc, der wieder die Kontrolle über das von Toussaint Louverture beherrschte Haiti wiedergewinnen sollte. Sanité Belair wurde in den Kämpfen gefangengenommen und exekutiert. Sie erreichte allerdings, dass sie wie ihr Mann und die anderen männlichen Gefangenen wie ein Soldat erschossen und nicht -wie sonst bei Frauen üblich- enthauptet wurde.

     Bank von Haïti, Geldschein 10 Gourdes (Bildausschnitt)[5]

Zum zweihundertjährigen Jubiläum der haitianischen Revolution und Unabhängigkeit wurde 2004 ein Geldschein mit ihrem Portrait herausgegeben.

Auffällig an den Portraits Barontinis ist deren phantasievolle Präsentation mit bunten Tüchern, Spitzen und Federn, ausgefallenen Kleidungsstücken und teilweise geradezu bizarrem Kopfschmuck. Barontini bezieht sich dabei auf eine Tradition, die sich in den Antillen der Kolonialzeit entwickelte: Die Sklaven versammelten sich von Zeit zu Zeit, zunächst getrennt nach ihrer Herkunft in nations (kreolisch: nasyon), um sich gegenseitig zu unterstützen, aber auch um sich ihrer Identität zu vergewissern. Die nations gaben sich auch gesellschaftliche Strukturen mit Königen und Königinnen, Ehrendamen, Knappen, Fahnenträgern etc. Gekleidet waren sie mit phantastischen Kostümen, in denen sie u.a. gerne Attribute der Kolonialmächte verwendeten. Sie nahmen damit auch an den von den Plantagenbesitzern zu Karneval veranstalteten Umzügen teil. Die Sklavenhalter duldeten diese Veranstaltungen, weil sie ihrer Meinung nach dazu dienten, die Sklaven ruhigzustellen.[6]  

Die Zusammenkünfte der Sklaven konnten aber auch eine religiöse und politische Dimension haben: Der oben rechts abgebildete Voodoo-Priester Dutty Boukman leitete in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1791 zusammen mit Cécile Fatiman die Zeremonie vom Bois-Caîman. Diese Versammlung von Sklaven aus dem Norden von Saint-Domingue bereitete die Revolution von 1794 vor, die schließlich zur Unabhängigkeit von Haïti im Jahr 1804 führte.  

Auch danach wurde die Tradition der Versammlungen fortgeführt und sie lebt bis heute im Karneval der Antillen fort. Der ist für Barontini nicht nur ein festliches Ereignis, sondern eine Form des politischen Widerstands, ein Ausdruck der kollektiven Identität und einer traditionellen Kultur, die auch noch in den Zeiten der Globalisierung lebendig ist. [7]

Auch die aus Dahomey stammende Abdaraya Toya (Mitte des 18. Jahrhunderts 1805), die als Sklavin nach Saint-Domingue deportiert wurde, beteiligte sich am Kampf um die haïtianische Unabhängigkeit. Sie kämpfte unter dem Namen Victoria Montou an der Seite des von Jean-Jacques Dessalines, des zukünftigen Kaisers von Haïti. Dieser Kriegsname veranlasste Raphaël Barontini ganz offensichtlich zu Anlehnungen an die berühmte Statue der Nike von Samothrake, der griechischen Siegesgöttin,  im Louvre.

Foto: Rotraut Grün-Wenkel

Die Flügel der Siegesgöttin hat Barontini frei/haïtianisch umgestaltet, den Torso direkt von der Louvre-Nike übernommen…

Der letzte von Barontini vorgestellte Freiheitskämpfer ist Louis Delgrès. Er hatte als Offizier in der republikanischen Armee Frankreichs gedient und führte 1802 in Guadeloupe die Revolte gegen die von Napoleon Bonaparte dekretierte Wiedereinführung der Sklaverei an. Als die Truppen des Generals Richepanse anrückten, wurde seine von den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägte Proklamation  „à l’univers entier“ in Guadeloupe verbreitet:

„Der letzte Schrei der Unschuld und der Verzweiflung. In den schönsten Tagen eines Jahrhunderts, das für immer durch den Triumph der Aufklärung und der Philosophie berühmt sein wird, sieht sich eine Klasse von Unglücklichen, die man vernichten will, gezwungen, ihre Stimme zu erheben, um, wenn sie verschwunden ist, der Nachwelt  ihre Unschuld und ihr Unglück kundzutun.“[8]

Angesichts der feindlichen Übermacht und der Aussichtslosigkeit eines weiteren Widerstands sprengten sich Delgrès und seine 300 Gefährten entsprechend ihrer revolutionären Devise „Freiheit oder Tod“  (vivre libre ou mourir)  am 28. Mai 1802 in die Luft.

In Paris ist eine wenig attraktive Straße -man ist fast geneigt zu sagen: pflichtschuldig- nach ihm benannt – ein eher peinlicher Umgang mit „einer der hervorragendsten Persönlichkeiten unserer Republik“.[9]

Die erläuternden Worte zu Delgrès auf dem Straßenschild lauten: „Von den Antillen abstammender französischer Offizier, gestorben für die Abschaffung der Sklaverei.“ Das ist nicht ganz korrekt, denn Delgrès starb ja nicht im Kampf für die Abschaffung der Sklaverei, sondern im Kampf gegen ihre Wiedereinführung durch Napoleon. Aber vielleicht erschien das zu komplex für ein Straßenschild, vielleicht wollte man aber auch die Erinnerung an den Nationalhelden Napoleon nicht trüben…

Zur Geschichte der Sklaverei

Neben der Portrait-Galerie gehören zu der Ausstellung auch große textile Installationen im Querschiff des Pantheons. Thema im nördlichen Querschiff sind der Sklavenhandel und die Sklaverei.

Hier eines der Sklavenschiffe, in deren Rumpf eingepfercht die in Afrika zusammengetriebenen Menschen nach Amerika transportiert wurden.

Die Überlebenden wurden dann an Plantagenbesitzer verkauft. In den französischen Kolonien der Antillen waren das vor allem Zuckerplantagen.

Auf der Installation Barontinis wird das veranschaulicht durch die Domaine Murat, eine der ältesten Zuckerplantagen von Guadeloupe und seit 1839 die bedeutendste Zuckerfabrik der Kolonie.

Über 300 Sklaven waren dort beschäftigt, symbmolisiert bei Barontini durch die eisernen Fesseln. [10]

Darunter eine der sechs Vitrinen, die Anselm Kiefers anlässlich der Pantheonisierung von Maurice Genevoix 2021 auf Einladung von Präsident Macron für das Pantheon gestaltete. Geehrt werden in der abgebildeten Vitrine die oft namenlosen Opfer des Ersten Weltkriegs: celles de 14 und ceux de 14. Ich denke, dass das gut passt zu den vielen namenlosen Opfern der Sklaverei. (Ein Beitrag über Kiefers Arbeiten im Pantheon steht auf dem Programm dieses Blogs.)

An die namenlosen Opfer der Sklaverei  erinnert Barontini durch das eindrucksvolle Bild des herabstürzenden Sklaven: Le Gouffre/Der Abgrund

Barontini hat hier die Studie des Joseph le Maure von Théodore Chasseriau aus dem Jahr 1838 übernommen.[11] Joseph war im 19. Jahrhundert ein berühmtes und gesuchtes Modell der Pariser Malerateliers.

Auch für Théodore Géricault hat er Modell gestanden.

Auf dessen berühmtem Gemälde Das Floß der Medusa (Louvre) soll er gleich für drei der Schiffbrüchigen als Modell gedient haben – unter anderem für den verzweifelt mit einem roten Tuch nach dem rettenden Schiff Winkenden.[12]  Bei Barontini stürzt Joseph -sinnbildlich für alle versklavten Menschen- in einen Abgrund…

Aber die Sklaven haben ihr Schicksal ja nicht nur erduldet. Es gab auch viele Kämpfer und Kämpfe gegen die Sklaverei. Darum geht es auf der südlichen Seite des Querschiffs; ganz konkret um die Schlacht von Vertières am 18. November 1803, eine eher vergessene/verdrängte Niederlage napoleonischer Truppen.[13]

In dieser Schlacht kämpften die aufständischen Haïtianer gegen die napoleonischen Truppen, die entsandt worden waren, um die französische Herrschaft über die Insel von Santo Domingo wiederherzustellen und die Wiedereinführung der Sklaverei durchzusetzen. Kommandeur der französischen Truppen war der General Rochambeau, verschanzt im Fort von Vertières – oben rechts abgebildet.  

Die Truppen der Aufständischen wurden angeführt von General Jean-Jacques General Dessalines (hier links im Bild). Der war als Sklave geboren worden, hatte als freier Mann in der republikanischen französischen Armee Karriere gemacht, sich aber nach der Wiedereinführung der Skaverei den Aufständischen angeschlossen. Die Schlacht endete mit einem Sieg der Freiheitskämpfer. Rochambeau musste kapitulieren und kehrte mit dem Rest seiner Truppen nach Frankreich zurück. So konnte Haîti am 1. Januar 1804 seine Unabhängigkeit als erste schwarze Republik proklamieren. Es ist die einzige französische Kolonie der Karibik, die ihre Unabhängigkeit mit den Waffen errungen hat.

Bei dem Reiter neben Dessalines handelt es sich sicherlich um François Capois, auch Capois-la-Mort genannt, der sich in der Schlacht von Vertières besonders auszeichnete. Mehrere Male versuchte er vergeblich, das Fort zu erstürmen, in dem sich Rochambeau mit seinen Truppen verschanzt hatte. Beim vierten Sturm wurde Chapois‘ Pferd von einer Kanonenkugel getroffen, aber er stürmte mit ‚lauten Vorwärts-Rufen zu Fuß weiter. Dann wurde ihm auch sein mit Federn geschmückter Helm weggeschossen, aber auch das konnte ihn nicht aufhalten. Am nächsten Tag schickte Rochambeau einen seiner Offiziere in das feindliche Hauptquartier mit einem Pferd, das er dem schwarzen Achill als Ausdruck der Bewunderung für seine große Tapferkeit und als Ersatz für das zu seinem großen Bedauern von seinen Truppen getötete Pferd als Geschenk übergab. So wurde Capois zu einem Helden der Schlacht und des haïtischen Freiheitskampfes.[14]

Über der Darstellung der Schlacht hat Barontini zwei weitere Helden des Kampfes gegen Sklaverei herausgestellt, Solitude und Toussaint Louverture.

Solitude war die Tochter einer afrikanischen Sklavin, die während der Deportation auf die Antillen von einem weißen Matrosen vergewaltigt wurde. An der Seite von Louis Delgrès kämpfte Solitude in Guadeloupe gegen die Wiedereinführung der Sklaverei. Im Mai 1802 wurde sie, schwanger, von den napoleonischen Truppen gefangen genommen und 6 Monate später, einen Tag nach ihrer Entbindung, gehängt. Den Willen und/oder Mut, auch sie ins Pantheon aufzunehmen, hat allerdings bisher noch kein französischer Präsident gehabt.

Bei Veranstaltungen und Umzügen am 10. Mai, dem nationalen Erinnerungstag an die Sklaverei (journée nationale des mémoires de l’esclavage[15]), wird aber -wie hier 2016 in Paris- oft an Solitude erinnert.

Toussaint Louverture wird von Barontini hoch zu Ross als siegreicher Feldherr dargestellt. Louverture wurde als Sklave in Saint-Domingue geboren 1801. Nach der (zwischenzeitlichen) Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien 1894 schloss er sich an der Spitze einer Armee von 4000 Mann dem revolutionären Frankreich an und kämpfte erfolgreich gegen die Spanier, die Santo-Domingo nicht aufgeben wollten. Louverture wurde so zum unangefochtenen Führer der einheimischen Bevölkerung. 1801 erhielt Saint-Domingue eine Verfassung, die der Insel eine gewisse Autonomie sicherte mit Louverture als Gouverneur auf Lebenszeit. Napoleon beauftragte nun seinen Schwager, den General Leclerc, in Saint-Domingue „die Herrschaft der Schwarzen zu vernichten“ und  die Sklaverei wieder herzustellen.  Louverture, der die Beinamen „Spartacus Noir“ und „der schwarze Napoleon“ erhielt, leistete Widerstand gegen das französische Expeditionskorps. Unter dem Bruch gegebener Zusicherungen und Vereinbarungen wurde er in einen Hinterhalt gelockt, gefangen genommen und nach Frankreich deportiert. Ohne Prozess, beschuldigt des Hochverrats, wurde er in die Festung Joux im Jura verbracht und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Dort starb er 1803, neun Monate vor der Unabhängigkeit Saint-Domingues, das als Haiti erster unabhängiger Staat Lateinamerikas wurde. [16]

Heute würdigt immerhin eine Erinnerungsplakette im Pantheon Toussaint Louverture und erinnert an diese période noire (Barontini) der Geschichte.

Zur Erinnerung an Toussaint Louverture. Kämpfer für die Freiheit und Wegbereiter der Abschaffung der Sklaverei, haïtischer Held, deportiert und gestorben 1803 im Fort Joux

In seiner Verbannung auf Sankt Helena bedauerte Napoleon, der wahrhaftig nicht zur Selbstkritik neigte, seine Entscheidung, ein Expeditionskorps nach Saint-Domingue zu schicken. Das sei sein größter Fehler als Verwalter des Empire gewesen, zu dem Josephine -die ja aus einer Familie von Plantagenbesitzern stammte- ihn veranlasst habe. Statt dessen hätte er mit Louverture verhandeln und ihn zum Vizekönig von Saint-Domingue machen sollen …[17] Ja, wenn…. Vielleicht würde dann nicht nur eine Inschrift im Pantheon an Louverture erinnern, sondern seine sterblichen Überreste würden dort in der Krypta ruhen und vielleicht wäre dann Saint-Domingue heute ein département-d’Outre-mer wie Martinique und Guadeloupe….

Am Ende seines Beitrags in dem Begleitheft zur Ausstellung schreibt Patrick Chamoiseau:

Ich lächle bei dem Gedanken, dass das in seiner eisigen Dunkelheit schlafende alte Pantheon, das zwischen seiner Bestimmung als Tempel der Götter, Kirche und Haus der Toten schwankte, das in seiner Funktion als Feier der nationalen Geschichte andere Geschichten, andere Erinnerungen ausschloss; dass dieses Gebäude einer vertikalen Nation, das in einer exklusiven Logik geschaffen wurde,  … nachdem es in letzter Zeit kleine Öffnungen gegeben hat, die das Unerwartete vorsichtig aufgenommen haben, das Unerwartete ein wenig geehrt haben;  ja, ich mag die Vorstellung, dass dieses Denkmal einer alten Welt dieses Mal mit einem Schlag diese Ovation der Materialien, Kräfte und Formen, der Leinwände, des Leders, der Rhythmen und Farben, diesen künstlerischen ‚Konvoi‘, den Raphael Barontini in ihm auslöst, erfährt.[18]So entstehe im Pantheon eine Verbindung zwischen Jahrhunderten, zwischen unterschiedlichen Kulturen und Traditionen, zwischen alter und neuer Welt, es entstehe ein „panthéon vrai de la Relation“.


Anmerkungen

[1]  https://en.m.wikipedia.org/wiki/File:Inscription_Toussaint_Louverture.jpg und https://en.m.wikipedia.org/wiki/File:Inscription_Louis_Delgr%C3%A8s.jpg

[2] https://la1ere.francetvinfo.fr/au-pantheon-une-exposition-pour-propulser-les-figures-meconnues-de-la-lutte-contre-l-esclavage-sur-le-devant-de-l-histoire-1436723.html  Insgesamt gibt es im ersten Teil der Ausstellung 10 Portraits, von denen ich nachfolgend 5 vorstelle.

Zitat: Interview mit Barontini in der Broschüre zur Ausstellung: We Could Be Heroes. Étitions du patrimoine 2023, S. 12

[3] Bild aus: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Depute-jean-baptiste_belley-492-688.jpg Zitat aus dem Flyer zur Pantheon-Ausstellung

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Guillaume_Thomas_Fran%C3%A7ois_Raynal

[5] Bild aus https://www.ma-shops.de/numiscollection/item.php?id=181797

[6] Patrick Chamoiseau, Le Panthéon de la Relation. In: We Could Be Heroes. Étitions du patrimoine 2023. Siehe auch:

Luciani Lanoir L’Etang, Des rassemblements d’esclaves aux confréries noires https://www.erudit.org/fr/revues/bshg/2009-n152-bshg02577/1036866ar.pdf

[7] Humberto Moro im Flyer der Ausstellung

[8] „Le dernier cri de l’innocence et du désespoir. C’est dans les plus beaux jours d’un siècle à jamais célèbre par le triomphe des lumières et de la philosophie, qu’une classe d’infortunés qu’on veut anéantir se voit obligée de lever la voix vers la posteriorité, pour lui faire connaître lorsqu’elle aura disparu, son innoncence et ses malheurs.“  Zit. im Ausstellungs-Flyer.

[9] Siehe dazu: https://paris-blog.org/2017/11/01/der-schwierige-umgang-mit-einem-duesteren-kapitel-der-franzoesischen-vergangenheit-die-erinnerung-an-sklavenhandel-und-sklaverei/  Zitat einer Ministerin für die überseeischen Gebiete Frankreichs aus: http://www.esclavage-memoire.com/evenements/hommage-aux-esclaves-banc-memorial-a-louis-delgres-a-paris-118.html

[10] Bild aus: https://www.destination-marie-galante.fr/site-habitation-murat.php

[11] https://fr.wikipedia.org/wiki/Joseph_%28mod%C3%A8le%29#/media/Fichier:Mus%C3%A9e_Ingres-Bourdelle_-_Etude_d’apr%C3%A8s_le_mod%C3%A8le_Joseph,_1839_-_Th%C3%A9odore_Chasseriau_-_Joconde06070001378.jpg  Siehe dazu: Joseph modèle noir  https://www.youtube.com/watch?v=fj-KvmlGBYI

[12] Bild aus: https://www.deutschlandfunk.de/franzobel-das-floss-der-medusa-die-normalitaet-des-grauens-100.html  (Ausschnitt)

[13] Siehe z.B. https://muse.jhu.edu/article/609570/summary

https://www.jeuneafrique.com/1463437/culture/a-vertieres-les-esclaves-dhaiti-font-capituler-les-troupes-de-napoleon

[14] https://fr.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7ois_Capois

[15] Siehe dazu z.B.  https://www.vie-publique.fr/questions-reponses/279717-10-mai-journee-nationale-des-memoires-de-lesclavage und https://www.publicsenat.fr/actualites/politique/commemoration-de-labolition-de-lesclavage-pourquoi-la-ceremonie-a-lieu-le-10-mai

[16] Salim Lavrani, Toussaint Louverture, au nom de la dignité. Regard sur la trajectoire du précurseur de l’indépendance d’Haïti. https://journals.openedition.org/etudescaribeennes/20979 Siehe auch: https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/le-vif-de-l-histoire/2021-annee-napoleon-et-toussaint-louverture-3453582  und https://chateaudejoux.com/decouvrez-le-chateau/joux-lieu-de-memoire/

[17] https://www.jeuneafrique.com/mag/1049099/culture/haiti-toussaint-louverture-lhomme-et-le-mythe/ 

[18] Patrick Chamoiseau, Le Panthéon de la Relation. In: We Could Be Heroes. Étitions du patrimoine 2023, S. 9/10 (freie Übersetzung von W.J.)

Weitere Blog-Beiträge mit Bezug zum Pantheon

Armenier, Kommunist, Mann der Résistance: Missak Manouchian wird ins Pantheon aufgenommen (21.2.2024)

„Missak Manouchian hat zur grandeur Frankreichs beigetragen. Seine einzigartige Tapferkeit, sein patriotischer Elan … und sein stiller Heroismus … stellen eine besondere Quelle der Inspiration für unsere Republik dar. Missak Manouchian verkörpert die universellen Werte so wie „die zwanzig und drei, die im Fallen FRANKREICH schrie’n“, und auch sie werden mit ihm gefeiert. Denn die Gruppe Manouchian -Ausländer, Juden, Kommunisten-  verteidigte eine Republik, in der das Bekenntnis zu den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit alle Heldentaten ermöglicht, alle Opfer erlaubt und alle Schicksale vereint und überhöht….. Das für Frankreich vergossene Blut hat für alle die gleiche Farbe.“[1]

Mit diesen pathetischen Worten verkündete Präsident Macron seine Entscheidung, den Widerstandskämpfer Missak Manouchian in den Ruhmestempel Pantheon aufzunehmen, die höchste Ehrung der französischen Republik. Seine sterblichen Überreste werden dort, zusammen mit denen seiner Frau Mélinée[2]–  an der Seite von Rousseau und Voltaire, von Zola und Victor Hugo, von Jean Moulin und der zuletzt ins Pantheon aufgenommenen Josephine Baker aufgebahrt sein.

Präsident Macron hat für diese Ankündigung einen besonderen Anlass gewählt: Nämlich den 18. Juni 2023, den Jahrestag des für die Geschichte Frankreichs wegweisenden Appells des Generals de Gaulle vom 18.Juni 1940. Nach der französischen Niederlage hatte der in einer Rundfunkansprache von Radio London dazu aufgerufen, weiter Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu leisten. Frankreich sei zwar besiegt, habe aber nicht den Krieg verloren, weil die Flamme des Widerstands noch nicht erloschen sei.[3]

1960, wiederum an einem 18. Juni,  hatte de Gaulle, inzwischen Staatspräsident, auf dem westlich von Paris gelegenen Mont-Valérien eine Erinnerungsstätte für die im Kampf gegen Hitlerdeutschland Gefallenen eingeweiht. Der Mont-Valérien war während des Zweiten Weltkriegs der hauptsächliche Ort gewesen, an dem die Besatzer Mitglieder des Widerstands, Juden, Kommunisten und Geiseln hinrichteten.[4] Und nun, am 18. Juni 2023 erklärte Präsident Macron bei der Gedenkfeier auf dem Mont-Valérien alle, die an diesem Widerstand gegen die Besatzer teilgenommen hatten, zu Helden. Dazu gehörten auch die ausländischen und kommunistischen Mitglieder des Widerstands, die die „Gruppe Manouchian“ bildeten. Am 21. Februar 1944 wurden 23 Mitglieder der Gruppe auf dem Mont-Valérien hingerichtet. Und 80 Jahre später, am 21. Februar 2024, wird  Missak Manouchian zusammen mit seiner Frau stellvertretend für die ausländischen Mitglieder der Résistance in das Pantheon aufgenommen werden.[5]

Wer war Missak Manouchian, und warum ist er, wie in den französischen Medien einhellig geurteilt wird, der Pantheonisierung würdig? Geboren wurde er am 1. September 1906 im Osmanischen Reich. Seine Eltern wurden während des Ersten Weltkriegs Opfer des Völkermords an den Armeniern. Mit seinem Bruder gelang ihm die Flucht ins Gebiet des heutigen Libanon und 1924 kam er nach Frankreich. Dort arbeitete er zunächst als Tischler in Marseille, dann bei Citroën in Paris, wo  damals viele Armenier Zuflucht suchten. Manouchian war literarisch interessiert, besuchte Kurse der Sorbonne und gründete eine armenische Literaturzeitschrift, für die er Baudelaire und Rimbaud übersetzte, nebenher schrieb er auch selbst Gedichte. 1931 trat er der Kommunistischen Partei bei. [5a]1933 beantragte er die französische Staatsbürgerschaft: Er wolle so rasch wie möglich eingebürgert werden, schrieb er am 1. August 1933 an das Justizministerium, um seinen Militärdienst ableisten zu können. Die Eingabe war allerdings erfolglos; vermutlich, weil er damals aufgrund der Weltwirtschaftskrise arbeitslos war.In einem armenischen Arbeitskreis der Partei lernte er Mélinée kennen, seine künftige Frau. Auch ihre Familie war dem Genozid zum Opfer gefallen. 1939 engagierte er sich freiwillig in der französischen Armee. Da er aber in der Bretagne stationiert war, nahm er 1940 nicht an den Kämpfen teil und wurde nach dem Waffenstillstand demobilisiert.

1941 schlossen sich Missak und Mélinée dem Widerstand gegen die NS-Besatzung an, weil er das Land, das ihn beschützt hatte, nun selbst beschützen müsse, wie er später schrieb. Er wurde an die Spitze des Pariser Netzwerks FTP-MOI (Francs-tireurs et partisans-Main d’œuvre immigrée) befördert, eine Gruppe, in der vor allem Armenier, Italiener, Spanier und verfolgte Juden organisiert waren. 1943 verübten sie insgesamt dreißig Anschläge, vor allem auf militärische Eisenbahntransporte, aber auch Einrichtungen und Personen der Besatzungsmacht. Spektakulär war vor allem das Attentat auf den SS-General Julius Ritter, der in Frankreich den Service du travail obligatoire (STO) leitete, der die besonders verhasste Zwangsarbeit von Franzosen in Deutschland organisierte. Als Repressalie wählten die Besatzer 50 Gefangene als Geiseln aus und erschossen sie auf dem Mont-Valérien. Aufgrund der Anschläge wurde die FTO-MOI von den auf die Verfolgung „innerer Gegner“ spezialisierten brigades spéciales der französischen Polizei immer engmaschiger überwacht, bis ein beträchtlicher Teil des Netzwerks identifiziert war. Die deutsche Besatzungsmacht wäre dazu nicht in der Lage gewesen, wärend die französische Polizei ja schon seit längerem Ausländer, Juden und Kommunisten im Visier hatte.

Dies ist das Organigramm der Gruppe Manouchian, hergestellt von den französischen Spezialbrigaden aufgrund der vermutlich zwischen dem 24. Juli und 11. November 1943 durchgeführten Beschattungsaktionen.[6] Die Namen beziehen sich zum Teil auf äußere Merkmale der Beobachteten, meist auf den Ort der ersten Identifizierung. Missak Manouchian, der zum ersten Mal im Bahnhof Bourg-la-Reine ins Fadenkreuz der Spezialbrigaden kam, firmiert -in der Mitte des Spinnennetzes-  unter dem Namen Bourg.

Hier ein Auszug aus einem Protokoll einer Beschattungsaktion (filature) vom 9. November 1943- da ist Manouchian schon identifiziert: „Manouchian verlässt seine Wohnung um 7.15 Uhr, nimmt die Metro in Pernety und steigt an der Gare de Lyon aus. Mit dem Zug um 8.02 Uhr fährt er bis Brunoy, wo er um 8.45 aussteigt. Beim Bahnhofsausgang trifft er Estain“.  Dabei handelte es sich um den Manouchian übergeordneten Joseph Epstein, den militärischen Führer der FTP-MOI[7]. „Sie begeben sich nach Épinay-sous-Sénart, drehen dann um und betreten ein Café vor dem Bahnhof von Brunoy. Dort bleiben sie 50 Minuten. Sie trennen sich um 11.30 Uhr, und Manouchian fährt mit dem Zug zurück nach Paris.“[8] Allerdings schlägt die französische Geheimpolizei hier noch nicht zu, sondern erst einige Tage später.  Am 16. November wird Manouchian verhaftet, verhört und dann mit weiteren Mitgliedern seiner Gruppe den Deutschen überstellt.

Polizeifotos der Préfecture de Police von Paris, November 1943[9]

Es folgt ein Prozess vor dem Kriegsgericht beim Kommandanten von Groß-Paris, im Hotel Continental rue de Rivoli/rue de Castiglione.  Dabei wandte sich Manouchian an die Kollaborateure der Spezialbrigaden und sagte den berühmten Satz: „Ihr habt die französische Staatsbürgerschaft nur geerbt, wir haben sie uns verdient.“[10] Am 21. Februar 1944 wird er auf dem Mont-Valérien mitsamt 21 seiner Genossen hingerichtet. Joseph Epstein wird erst später verurteilt und hingerichtet. Der französischen Spezialpolizei ist seine wahre Identität unbekannt -für sie ist „Estain“ ein Franzose, der in einen Propaganda-Prozess gegen Ausländer und Juden nicht passt   [11]

8 Mitglieder der Gruppe kurz vor der Erschießung. Dritter von links in der Reihe/Zweiter von links auf dem Foto ist Manouchian.[12] 

Hinrichtung der Widerstandskämpfer der Gruppe Manouchian, Lichtung der Erschossenen des Mont-Valérien, 21. Februar 1944. Von der Erschießung durften keine Fotos gemacht werden. Es war ein deutscher Unteroffizier, der Nazigegner Clemens Rüther, der heimlich drei Fotos der Hinrichtung machte. Olga Bancic, die einzige Frau in der Gruppe, wird nach Deutschland gebracht und dort enthauptet. Wollte man den deutschen Soldaten ersparen, auf eine Frau zu schießen? [13]

Vielleicht wären Missak Manouchian und die Mitglieder seiner Gruppe unter den vielen Opfern der Résistance und des Krieges in Vergessenheit geraten, hätte es nicht das „Rote Plakat“ (affiche rouge) gegeben. Es war ein Propagandaplakat der deutschen Besatzer und der Vichy-Behörden, auf dem die am 21. Februar Erschossenen als ausländische und mehrheitlich jüdische  Kriminelle dargestellt wurden- an der Spitze Missak Manouchian: „Armenier, Anführer der Bande, 56 Attentate, 150 Tote, 600 Verwundete“. Die rote Farbe ist die Farbe des Blutes.[14]

Jedenfalls fragte sich später Mélinée Maouchian, die die Verfolgung u.a. dank des Schutzes der Familie Aznavour überlebte:  „Es gibt Tage, an denen ich nicht anders kann, als daran zu denken, dass vielleicht, wenn die Nazis nicht dieses rote Plakat gemacht hätten, niemand über Manouchian, Boczor, Rajman, Alfonso und die anderen ausländischen Kämpfer gesprochen hätte. Sie wären begraben und vergessen worden.“[15]

Flugblatt zu dem Plakat.[16] Die nationalistische Propaganda stellte die Manouchian-Gruppe als Feinde Frankreichs dar. Ihre Aktionen seien „ein ausländisches Komplott gegen das Leben der Franzosen“. Um dieser Propaganda nicht Vorschub zu leisten, verübten die FTP-MOI nur Anschläge auf deutsche Militärangehörige und militärische Objekte, nicht auf Franzosen.

Es gibt unterschiedliche Darstellungen, wo und in welchem Umfang Plakat und Flugblatt verbreitet wurden.[17] Und unterschiedlich wird auch dargestellt, wie die französische Bevölkerung auf das Plakat reagierte. Verbreitet wird festgestellt, es habe nicht die gewünschten Reaktionen provoziert; ganz im Gegenteil: Die Pariser hätten die Plakate beschmiert, Blumen niedergelegt und in großen Lettern „morts pour la France“ (gestorben für Frankreich) darauf geschrieben.“[18] Nach den Forschungen von Annette Wieviorka gibt es dafür aber keinen Beweis; „rien ne le prouve.“[19] Dazu passt auch die Einschätzung von Lionel Rochman, selbst ein Mann des kommunistischen Widerstands, in seinen Erinnerungen:

„Hätten sie Martin oder Durand geheißen, hätte ich mich mit ihrem Tod und in ihrem Martyrium identifiziert. Aber sie hießen Grzywacz und Wajsbrot und Fingercweig, und das war unaussprechlich. Ja, die Propagandisten machten ihre Sache gut, als sie die Rote Karte druckten. Ja, nach Jahren antisemitischen Einhämmerns mussten selbst die Widerstandskämpfer gute, bodenständige Franzosen sein. […] Die fromme Lüge, dass Frankreich beim Aufhängen des Roten Plakats heimlich im Schmerz vereint war, eine Lüge, die von unserem „guten nationalen Gewissen“ aufrechterhalten wurde, hat zu lange verschleiert, dass Propaganda (heute würde man sagen Desinformation) die Macht hat, aus dem Nichts eine zweite Wahrheit zu erschaffen, die nach und nach die Wahrheit verdrängt.“[20]

Selbst nach der Befreiung hörte die Verdrängung der Wahrheit nicht auf: General de Gaulle betrachtete sich als den wahren Repräsentanten des Widerstands, der für ihn vor allem die FFI (Forces françaises de l’intérieur ), die nach seinem Appell von 1940 neu aufgebaute Armee, und die compagnons de  la Libération des von ihm 1940 gegründeten Ordens der Befreiung umfasste.  Immerhin war de Gaulles Appell vom 18. Juni 1940 die Geburtsstunde des französischen Widerstands, während die Moskau-treuen Kommunisten erst nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts, also dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, den organisierten Kampf gegen die Besatzer aufnahmen. In aktuellen Würdigungen bleibt das gerne außen vor oder wird schamhaft umschrieben. Es habe da, heißt es beispielsweise in einer aktuellen Würdigung der FTP-MOI, 1940 „quelques hésitations“ seitens der KPF gegeben… Auch Missac und Mélinée Manouchian schlossen sich ja erst dann dem Widerstand an.[21] Vor allem nach dem Ausbruch des Kalten Kriegs entbrannte ein wahrhafter Krieg um die Deutungshoheit des Widerstands, „une longue bataille de mémoire“ (Guy Konopnicki) . Das Pantheon ist dafür ein bezeichnender Gradmesser: Eine ganze Reihe von fast ausschließlich gaullistischen Mitgliedern des Widerstandes wurde bisher schon ins Pantheon aufgenommen: Félix Eboué (1949), René Cassin (1987), André Malraux (1996), Pierre Brossolette, Geneviève de Gaulle-Antonioz, Germaine Tillon (2015) und Josephine Baker (2021). Erst jetzt, mit Missak Manouchian, widerfährt einem Mitglied des kommunistischen Widerstands diese Ehre.

Einen „Krieg der Erinnerung“ gab es aber auch innerhalb der KPF. Die Partei vertrat damals eine sehr patriotische Linie, zu der die Herausstellung kultureller und sprachlicher Besonderheiten nicht passte. So tat sie sich schwer mit der Anerkennung ihrer jüdischen und ausländischen Résistance-Kämpfer. Zwei Beispiele: 1946 war ein Sammelband mit Briefen von erschossenen Widerstandskämpfern erschienen, Lettres de fusillés. 1951 gab es eine der von der Partei abgesegnete Neuauflage Lettres de communistes fusillés, zu der Louis Aragon, prominenter Dichter und militanter Stalinist, das Vorwort schrieb. Die in der ersten Auflage noch enthaltenen 10 Briefe von Mitgliedern der FTP-MOI waren darin nicht mehr enthalten.[23] Nicht genug damit: 1953 wandten sich zwei ehemalige Mitglieder der FTP an Aragon wegen der Veröffentlichung von 10 Episoden aus dem Widerstand. Die erste erzählte die Geschichte von Michel Manouchian. Aragons Antwort: „Man darf nicht den Eindruck erwecken, dass der französische Widerstand einfach so, von derart vielen Ausländern gemacht wurde. Man muss ein wenig französisieren.“ [24] Die Französisierung des Vornamens reichte da offenbar nicht.

1955 dann die Kehrtwende Aragons – vielleicht aus Reue, vielleicht auch vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Entstalinisierung nach dem Tod Stalins 1953.  1955 also veröffentlichte Aragon in dem kommunistischen Parteiorgan L’Humanité (und ein Jahr später in Le Roman inachevé) das Gedicht Strophes pour se souvenir/ L’Affiche rouge, das Léo Ferré dann ganz wunderbar vertonte. [25] Anlass war -nach einem gescheiterten ersten Anlauf 1951- die Benennung einer Straße im „roten“ 20. Arrondissement von Paris nach der Gruppe Manouchian.

Aragon bezieht sich in diesem Gedicht auf den Abschiedsbrief Manouchians an seine Frau unmittelbar vor seiner Hinrichtung.[26] Die Gruppe Manouchian wird mit diesem Gedicht in den Kreis der von der KPF gefeierten Helden aufgenommen. Das Rot des Plakats ist jetzt das Rot des Kommunismus. Aragon betont in dem Gedicht die Uneigennützigkeit der Widerstandskämpfer der Gruppe: Vous n’avez réclamé la gloire ni les larmes. Nicht den Ruhm hätten sie gesucht, sondern ihr Leben für ein höheres Ideal hingegeben. Er hebt auch den Humanismus der Gruppe hervor, indem er aus dem Abschiedsbrief Missak Manouchians sinngemäß zitiert: „Ich sterbe ohne Hass auf das deutsche Volk.“  Und vor allem betont er den Patriotismus der Gruppe: „zwanzig und drei Ausländer und gleichwohl unsere Brüder“.  Sie hätten sich zu Frankreich bekannt (français de préférance) und noch im Fallen FRANKREICH geschrien, was Präsident Macron in seine anfangs zitierte Pantheonisierungsankündigung dann auch aufnahm. Aber auch das „FRANKREICH“ als letzter Ruf aller könnte eine Legende sein….  [27]

Bemerkenswert ist übrigens, worauf Annette Wieviorka mit Recht hinweist, dass in dem Lied Aragons das Wort „Jude“ oder „jüdisch“ überhaupt nicht vorkommt – obwohl doch die faschistische Propaganda gerade das hervorgehoben hat: Von den 10 auf dem roten Plakat abgebildeten Widerstandskämpfern werden ja 7 ausdrücklich als Juden herausgestellt. Nach Wieviorka wirkt in der Auslassung Aragons noch der sowjetische Antisemitismus: 1952 waren in Prag im Slansky-Prozess die Beschuldigten wegen „zionistischen Komplotts“ zum Tode verurteilt worden. Und einer von ihnen, Artur London, im Krieg führendes Mitglied der FTP-MOI, entging nur wegen seiner guten Beziehungen zur den Führern der KPF dem Tod, saß aber 1955, als Aragon sein Gedicht schrieb, immer noch in Haft… [27a]

Fresko von Popov für die Manouchian-Gruppe aus dem Jahr 2012 mit Zitaten aus dem Abschiedsbrief Manouchians an seine Frau. 20. Arrondissement, 1 Passage du Surmelin/Ecke rue Darcy

Detail des Freskos: Mitglieder der Gruppe mit rotem Heiligenschein kurz vor der Hinrichtung

Mit dem Heldenlied Aragons war die Auseinandersetzung um Manouchian und seine Gruppe allerdings noch nicht beendet. Denn es kam 1984/1985 noch zur sogenannten „Affaire Manouchian“.[28] Auslöser war der Dokumentarfilm „Des terroristes à la retraite“ von Mosco Levi Boucault über die jüdischen und ausländischen Mitglieder des kommunistischen Widerstands auf der Grundlage von Interviews mit Überlebenden. Das Ergebnis stand in erheblichem Widerspruch mit dem Geschichtsbild der PCF. Da war, angesichts der vielen von den Nazis erschossenen Widerstandskämpfer, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. War der Widerstand militärisch sinnvoll oder ging es eher darum, Einfluss auf die Politik der Résistance zu gewinnen und auf die in dieser Zeit intensiv vorbereitete Nachkriegspolitik Frankreichs? – Die von Stéphane Courtois vertretene These: „In dieser entscheidenden politischen Periode bediente sich die KPF ihres Images als der dynamischsten, heroischsten und in ihrem Patriotismus nicht zu übertreffenden Widerstandsorganisation. Um dieses Image zu unterstreichen, waren spektakuläre Aktionen inmitten der französischen Hauptstadt für die Kommunisten lebenswichtig.“[29]

Einer der interviewten ehemaligen Kämpfer, Louis Grojnowski, dazu: „Wir konnten nicht kapitulieren. Bestimmte Gruppen mussten kämpfen. In jedem Krieg opfert man Menschen.“ Zwar spät -nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts-  gekommen, waren die Kommunisten damals tatsächlich die einzigen, die in Paris den städtischen Guerillla-Kampf wagten, auch wenn sie damit die von den Besatzern als Repressalie angekündigten und unerbittlich exekutierten Geiselerschießungen in Kauf nahmen. Erste FTP-Gruppen waren allerdings schnell aufgerieben worden. Und obwohl es deutliche Hinweise gab, dass die Polizei auch der Manouchian-Gruppe auf der Spur war, wurde sie nicht von der Parteileitung aus Paris abgezogen. Annette Wieviorka schreibt dazu: „Warum sollten sie in Paris weiter kämpfen, obwohl die Führung davon ausgehen konnte, dass sie schon von der Polizei entdeckt und überwacht wurden? Warum wurden sie nicht in der Provinz in Sicherheit gebracht? Warum wurden sie nicht in die Maquis geschickt, die sich überall im Land auszubreiten begannen?  (…) Im Juni 1943 beging die Leitung des MOI oder der kommunistischen Partei den Fehler, den man als kriminell bezeichnen kann, nämlich die Kämpfer in Paris zu belassen…..“[30] Diese Position vertritt auch der Journalist Garnier-Raymond, Autor des Buches ‚L’affiche rouge‘ von 1976, der ebenfalls in dem Film zu Wort kommt: „Meiner Meinung nach hat die Leitung der FTP mit einem großen Zynismus die Manouchian-Gruppe im Stich gelassen und geopfert.“[31] Es kam daraufhin zu einer erbitterten Auseinandersetzung um die Ausstrahlung des Films vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen PS und PCF, deren Minister damals aus der Regierung austraten, und einer Umstrukturierung der politischen Landschaft Frankreichs. Die PCF beklagte eine Diffamierungskampagne, mit der „die Ehre und das Erbe der Partei“ beschmutzt  werde und versuchte, die  Ausstrahlung des Films zu verhindern. Schließlich wurde er doch, mit einer Stellungnahme der PCF vorab und einer Diskussion danach, gesendet. 13 Millionen Franzosen saßen vor den Fernsehern, fast 30% Einschaltquote![32]

Jetzt, mit der Pantheonisierung Manouchians, ist der „Krieg der Erinnerung“ zu einem guten Ende gekommen und die getrennten Erinnerungsstränge von Gaullisten und Kommunisten wurden zusammengeführt, „ein wahrhafter geschichtspolitischer Wendepunkt.“ [33]  Damit wird auch die Vorhersage Manouchians im Abschiedsbrief an seine Frau erfüllt, dass nämlich das französische Volk eines Tages das Andenken an die Gruppe würdig ehren werde.  

Ein Portrait Manouchians  des Straßenkünstlers und Malers Christian Guemy (C 215) im Gefängnis von Fresnes. Dort wurde Manouchian vor seiner Hinrichtung  gefangen gehalten. [34]

Die Reaktionen auf die Entscheidung Macrons waren denn auch ausgesprochen positiv- und das will angesichts der weit verbreiteten Kritik am Präsidenten schon etwas heißen. Kritisiert wurden höchstens der späte Zeitpunkt der als überfällig angesehenen Ehrung (z.B. Peschanski) oder die Beschränkung auf die Manouchians (z.B. Wieviorka).

Natürlich ging es Präsident Macron nicht nur um ein geschichtspolitisches Werk der Versöhnung. Die Auswahl Manuchians hat, wie andere Pantheonisierungs-Entscheidungen- einen aktuellen Bezug. Mit der Wahl werden auch zwei auf die Gegenwart bezogene gesellschaftspolitische Botschaften vermittelt, die Macron selbst deutlich herausgestellt hat. Am 7. Dezember letzten Jahres besuchte er das Pantheon zur Vorbereitung der Aufnahme der Manouchians. Seine Aufgabe sei es, so stellte er aus diesem Anlass fest, die Einheit der Nation zu bewahren.[35] Und dazu passt natürlich die Beschwörung der Einheit des antifaschistischen Widerstands, des kämpferischen Frankreichs (la France combattante), dessen bedeutendster Erinnerungsort der Mont-Valérien ist. Ein kämpferisches Frankreich wünscht sich Macron auch in der Gegenwart: Nachdem er 2020 anlässlich der Covid-Pandemie schon verkündet hatte, Frankreich befinde sich im Krieg, proklamierte er in seiner Ansprache zum neuen Jahr 2024 eine umfassende Wiederbewaffnung (réarmement): réarmement der Poltik, der Gesellschaft, vor allem der Schule, der Wirtschaft, der Moral…. Inzwischen hat die kriegerische Terminologie noch weitere Kreise gezogen: Da geht es sogar, angesichts der auch in Frankreich sinkenden Geburtenraten, um ein réarmement démographique und neuerdings, angesichts der protestierenden Bauern, um ein réarmement agricole …. Aber das aux armes citoyens! Ist den Franzosen ja vertraut.[36]

Die von Macron beschlossene Ehrung der ausländischen und jüdischen Helden des antifaschistischen Widerstands hat in einer Zeit der Xenophobie, des Antisemitismus, der Drohung eines angeblichen Bevölkerungsaustauschs und der Forderung nach einer radikalen Begrenzung der Einwanderung noch eine weitere Dimension: Sie soll ja gerade auf das große Engagement und die Opferbereitschaft von Ausländern für Frankreich und seine Freiheit hinweisen.[37] Immerhin waren von den 1006 Widerstandskämpfern und Geiseln, die während des Krieges auf dem Mont-Valérien erschossen wurden, 185 Ausländer.[38] Allerdings wird diese Botschaft, die von dieser Pantheonisierung ausgehen sollte, von weiten Teilen der französischen Bevölkerung und ihren Volksvertretern nicht gehört. Das zeigt das von einer Parlamentsmehrheit im Dezember 2023 beschlossene und von dem rechtsradikalen Rassemblement National Marine le Pens bejubelte Immigrationsgesetz. Erst durch eine Notbremse des Conseil constitutionnel, des französischen Verfassungsgerichts, wurde es wieder etwas entschärft. Und von konservativer Seite wird ausdrücklich zurückgewiesen, die Pantheonisierung Manouchians für „aktuelle politische Polemiken zu instrumentalisieren.“ [39] Der durch die letzte Pantheonisierung von Josephine Baker und jetzt die von Missak Manouchian erneut beschworene Geist der Résistance hat seine Wirkkraft offensichtlich verloren.

Denis Peschanski, Kurator der Ausstellung im Mémorial de la Shoah, hat einen sehr ausführlichen Kommentar zu dem Blog-Beitrag geschrieben, für den ich mich sehr bedanke. Ich drucke ihn nachfolgend ab:

Lieber Wolf, Bravo für diese langjährige Arbeit. Ich entdecke Ihren Blog und die Sorgfalt, mit der Sie die Themen im Detail behandeln. Ich erlaube mir einige Anmerkungen.

  1. zu den Gründen für die Verhaftung der Gruppe: Sie sollten die Chronologie präzisieren: In Moscos Dokumentarfilm von 1985 werden am Ende die KPF und Boris Holban als Verantwortliche für den Sturz genannt, weil sie sie an die Polizei ausgeliefert haben. Hätte Epstein, der zusammen mit Manouchian verhaftete Führer der Pariser FTPF, ausgesagt, wäre die gesamte Führung der PCF verhaftet worden. Eine anschließende Beschattung führte zur Verhaftung aller französischen Kader der FTPF in Paris. Schließlich schrieb Manouchian in seinem letzten Brief: „Ich vergebe allen außer dem, der uns verraten hat (Dawidowicz), und denen, die uns verkauft haben“. Die uns verraten haben? Der Ausdruck bezieht sich offensichtlich auf den französischen Staat und die Pariser Polizei. Wenn er an die KPF und/oder Holban dachte, würde das bedeuten … Vichy und der französischen Polizei vergeben, die sie verfolgt, verhaftet und gefoltert hat. Das ist natürlich lächerlich. Dann, für das Buch „Le Sang de l’étranger“, das 1989 erschien, bestand mein Beitrag vor allem darin, die drei Beschattungen, die von Januar bis November 1943 aufeinander folgten, zu recherchieren und zu analysieren. Dies reichte aus, um den Fall zu erklären, zumal Manouchian selbst bereits am 24. September 1943, also fast zwei Monate vor seiner Verhaftung, beschattet worden war, und zwar durch eine hochprofessionelle Polizei. Angesichts des Offensichtlichen wurde ein weiteres Argument vorgebracht: Man habe gewusst, dass sie bedroht waren und hätte sie in Sicherheit bringen müssen. Aber warum erst vor den Verhaftungen im November 43? Warum nicht vor der ersten Verhaftungswelle im Juli 43? Oder vor der ersten, als Krasucki im März 43 fiel? Und warum nicht vor dem Dezember 42, als zwei der drei Mitglieder der Pariser FTP-MOI-Führung verhaftet wurden? Und so weiter. Der beste Weg, nicht wegen Widerstands verhaftet zu werden, war … sich nicht an der Résistance zu beteiligen. Und das gilt für die gesamte Résistance, deren Geschichte von Verhaftungen geprägt ist.
  2. Zur Frage der Pantheonisierung. Sie schreiben, dass ich dem Präsidenten der Republik vorwerfe, dass er Manouchian nicht früher pantheonisiert hat. Das ist zutreffend, aber man muss bedenken, dass er der erste Präsident ist, der einen ausländischen Widerstandskämpfer und einen kommunistischen Widerstandskämpfer pantheonisiert hat. Wie ich bereits geschrieben habe, gab es generell eine wahre Revolution des Gedenkens: Am 18. Juni 2023 war bei der gaullistischen Gedenkfeier auf dem Mont Valérien zum ersten Mal ein Präsident auf die Lichtung herabgestiegen, auf der die Erschießungen stattfanden; und da wurden nicht nur die ausländischen und kommunistischen Widerstandskämpfer geehrt, sondern auch die Erinnerung an den gaullistischen Widerstand und an die auf der Lichtung Erschossenen zusammengeführt. Von den 185 erschossenen Ausländern trugen 92 nicht das symbolische, aber sehr wichtige Prädikat „Mort pour la France“. Emmanuel Macron beschloss, ihnen allen dieses Prädikat zuzuerkennen und forderte, die Frage für alle Erschossenen oder an allen Hinrichtungs- oder Haftorten Verstorbenen zu prüfen. Man kann ihm vorwerfen, was man will, aber sicher nicht diese Sequenz des Gedenkens.
  3. Da ich von Anfang an zum Leitungsteam des von Jean-Pierre Sakoun initiierten Komitees für die Pantheonisierung Manouchians im August 2021 gehörte, habe ich alle Etappen miterlebt. Und von Anfang an war klar, dass alle im Prozess der affiches rouges Erschossenen eine besondere Ehrung erfahren würden. A. Wieviorka hat also nicht Recht, wenn sie sagt, dass nur von Manouchian die Rede sei. Sie wusste jedoch bereits Anfang September letzten Jahres (in der Sendung „Répliques“ von Finkielkraut, France Culture, zu der wir beide eingeladen waren), dass eine Ehrung der ganzen Gruppe mit einer Gedenktafel im Pantheon stattfinden würde. Wenn Sie dorthin gehen, werden Sie sehen, dass darauf tatsächlich alle Namen der Gruppe in goldenen Buchstaben an der Wand neben der Gruft XIII stehen, in der Missak und Mélinée Manouchian ruhen. A. Wieviorka wusste das ganz genau, und im Übrigen hatte der Präsident in seiner Rede vom 18. Juni 2023 darauf hingewiesen, und die Information wurde im Bulletin Quotidien vom 27. September 2023 veröffentlicht. Es ist daher amüsant, sie am 22. Februar 2024 auf France Culture den Erfolg der doppelten Gedenkfeier (Mont Valérien und Panthéon) für sich und die Unterzeichner ihres Schreibens vom 26. November 2023 reklamiert.
  4. Sie sind so freundlich, die beiden Ausstellungen zu erwähnen, die eine im Mémorial de la Shoah über „Des étrangers dans la Résistance“, die andere im Pantheon. Die erste Ausstellung habe ich gemeinsam mit Renée Poznanski kuratiert, die zweite habe ich selbst kuratiert. Auch der Film von France 2 unter der Regie von Hugues Nancy, an dem ich mitgeschrieben habe, trägt den Titel „Missak Manouchian et ceux de l’Affiche rouge“ und stellt die Gruppe in ihrer Gesamtheit gut dar. Es ist also nicht zutrefend, dass wir nur von Missak Manouchian sprechen! Die Person und ihr Lebensweg verdienen Respekt und Interesse. Diese Erinnerungsepisode hat zu neuen Forschungen und Entdeckungen über diesen Lebensweg geführt, insbesondere über die beiden Einbürgerungsanträge und die Beziehung zwischen seinem politischen Engagement und seiner Leidenschaft für die Poesie.
  5. Schließlich zeigen Sie deutlich die Widersprüchlichkeit der Aussagen, die Aragon zugeschrieben werden. Wie kann er 1953 meinen, man dürfe nicht den Eindruck erwecken, die Résistance bestehe nur aus Ausländern, und weniger als zwei Jahre später ein Gedicht schreiben, dessen Bedeutung und Schicksal bekannt sind? Es wäre gut, die zitierten Quellen zu recherchieren. Im einen Fall handelt es sich um eine mündliche Quelle, die dreißig Jahre nach den Ereignissen in einer Zeitung wiedergegeben wird, im anderen Fall um die Realität des Schreibens und der Veröffentlichung.
  6. All dies zeigt, wie sehr Ideologie und Politik in die Erinnerungsarbeit eingreifen und leider manchmal auch in das, was der wissenschaftliche Ansatz des Historikers sein sollte. Ein aufmerksamer Blogger wie Sie sollte auch darauf achten, wie Sie es im Allgemeinen so gut machen! Ihre Liebe zu Frankreich und zu Paris hätte Sie allerdings in folgendem Punkt mehr leiten müssen: Alle diese Kämpfer teilten zwei Hauptmatrizen, die kommunistische und internationalistische Matrix und die Matrix, die sie mit Frankreich verband, dem Land, in dem die meisten von ihnen (einige wurden in Frankreich geboren und sind sogar Franzosen) zu Hause waren, aber natürlich nicht das Frankreich Pétains, sondern das Frankreich der Französischen Revolution, der Menschenrechte und der Aufklärung. Auch das ist eine Lehre für heute. Bien amicalement
    Denis Peschanski

Annette Wieviorka, Ils étaient juifs, résistants, communistes. Paris: Perrin 2018

Adam Rayski, L’affiche rouge. Herausgegeben vom Comité d‘Histoire de la Ville de Paris 2009 https://www.fondationresistance.org/documents/cnrd/Doc00128.pdf

Stephane Courtois, Denis Peschanski, Adam Rayski, L’Affiche Rouge – Immigranten und Juden in der französischen Résistance. Verlag Schwarze Risse. Berlin 1994

Emmanuelle Cart-Tanneur, Missak: Un résistant. Books on demand

Denis Peschanski, Des étrangers dans la résistance. Paris, Éditions de l’Atelier/Éditions ouvrières, 2013

Jeanne-Marie Martin, Missak Manouchian. In: dies.: Portraits de résistants. 10 vies de courage. Librio 2015, S. 52ff

Dominique Moncond’huy, Sylvain Boulouque, et al, Mélinée et Missak Manouchian, une histoire francaise: La mémoire du groupe des 23. Collection Une autre Histoire 2024

Benoît Rayski, L’affiche rouge. Denoël 2024

Le Monde hors-série, Résistants. Missak Manouchian et sa compagne Mélinée entrent au Pantheon. 2024

Eine Ausstellung im Mémorial de la Shoah

17, Rue Geoffroy l’Asnier  75004 Paris

Ab 2. Februar 2024

Öffnungszeiten:  Mo, Di, Mi, Fr, So 10-18 Uhr; Do 10- 22 Uhr; Sa geschlossen

Die Konferenz zur Eröffnung der Ausstellung am 1.2.2024 ist zugänglich auf: https://www.google.com/search?q=youtube+Memorial+de+la+Shoah+conference+Etrangers+dans+la+Resistance&oq=youtube+Memorial+de+la+Shoah+conference+Etrangers+dans+la+Resistance

Pädagogische Handreichungen zur Ausstellung: https://www.memorialdelashoah.org/wp-content/uploads/2016/05/livret-pedagogique-affiche-rouge.pdf

Eine außerordentliche Ausstellung in der Krypta des Pantheons

Vom 23. Februar bis zum 8. September 2024 gibt es, anlässlich der Pantheonisierung von Missak Manouchian und seiner Gruppe, eine Ausstellung in der Krypta des Pantheons.

 « Vivre à en mourir. Missak Manouchian et ses camarades de Résistance au Panthéon »,

Sie dokumentiert den Lebensweg von Missak Manouchian und das Engagement der Francs-Tireurs et Partisans de la Main d’Œuvre Immigrée.


Zur Zeremonie am 21. Februar

Im Vorfeld der Zeremonie am 21.2. gab es erhebliche Diskussionen um die Teilnahme von Vertretern der rechtsradikalen Parteien an der Pantheonisierung von Missak und Mélinée Manouchian. In einem Interview mit der Zeitung L’Humanité hatte Präsident Macron die Meinung vertreten, Marine Le Pen vom RN und der Parteivorsitzende Jordan Bardella täten gut daran, in Anbetracht des Kampfes der Manouchians und des Charakters der Partei der Veranstaltung fernzubleiben. Auch das Unterstützungskomittee, das seit Jahren die Pantheonisierung betrieben hat, äußerte sich in diesem Sinne. Die Rechtsradikalen gehörten nicht zum „arc républicain“. Marine le Pen und Bardella haben das entschieden zurückgewiesen. Der Präsident habe nicht das Recht zu entscheiden, welches die guten und welches die schlechten Abgeordneten der République française seien. (La Croix, 19.2.) Sie werden also am 21. dabei sein – und offenbar will/kann man es ihnen auch nicht verwehren. „Eine letzte Etappe des Prozesses der Normalisierung?“, wie Le Monde fragt. Eine „Brandmauer“ gibt in Frankreich schon seit längerem nicht (mehr)…

Le Monde, 20.2.2024

Titelseite von Libération: „La France enfin reconnaissante“ – (das endlich dankbare Frankreich) bezieht sich auf die Inschrift auf dem Portikus des Pantheon: la patrie reconnaissante. Das enfin drückt aus, dass es endlich Zeit sei für die Anerkennung des Engagements der ausländischen Widerstandskämpfer.

l’Humanité vom 21. Februar 2024

„Entre ici Manouchian“ bezieht sich auf die berühmte Rede, die André Malraux am 19. Dezember 1964 anlässlich der Pantheonisierung des Widerstandskämpfers Jean Moulin hielt: „Entre ici, Jean Moulin!“

(L’Est éclair 21.2.24)

Paris ehert Missak Manouchian und seine Mitstreiter, Fremde, Widerständler, Gestorben für Frankreich

Foto: Wolf Jöckel, Februar 2024 Rue de la Roquette, 11. Arrondissement

Foto: Wolf Jöckel im März 2024

Anmerkungen

[1] Wortlaut des Kommuniqués: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2023/06/18/ceremonie-du-18-juin-2023

[2] Missak und Mélinée Manouchian sind das vierte Paar, das ins Pantheon aufgenommen wird nach Marcellin und Sophie Berthelot (1907), Pierre und Marie Curie (1995) und Simone und Antoine Veil (2018), wobei  allerdings Pierre Curie seine Pantheonisierung nicht seiner Ehe, sondern eigenen Verdiensten zu verdanken hat.

[3] Bild aus: https://www.gouvernement.fr/partage/8708-l-appel-du-18-juin-du-general-de-gaulle

[4] Zum Mont Valérien siehe: https://www.mont-valerien.fr/informations-pratiques-et-pedagogie/les-visites/

[5] Bild aus: https://www.pariszigzag.fr/insolite/histoire-insolite-paris/missak-melinee-manouchian

[5a] Nach den neuesten Forschungen von Denis Peschanski, der auch die Ausstellung im Mémorial de la Shoah kuratierte, trat Missak Manouchian schon 1931 in die KPF ein und nicht erst, wie üblicherweise angegeben, 1934. Siehe Au fil des archives. Missak et Mélinée Manouchian entrent au Panthéon. In: Mémoire d’avenir. Le Magazine des Archives nationales. No 53, Januar-März 2024, S. 11. Dort auch, auf Seite 10, die Begründung Manouchians für seinen Antrag auf Naturalisation: „Je désire être naturalisé au plus vite pour faire mon service militaire.“

[6] Aus den Archives de la Préfecture de Police de Paris. Abgebildet in der Ausstellung Les Étrangers dans la Résistance en France im Mémorial  de la Shoah

[7] http://classes.bnf.fr/heros/arret/03_4_2.htm

[8] Courtois/Peschanski/Rayski, L’Affiche Rouge, S.264

[9] https://theatrum-belli.com/les-resistants-du-groupe-manouchian/

[10] «Vous avez hérité de la nationalité française, nous, nous l’avons méritée.» Siehe: Eve Szeftel, Missak Manouchian, apatride mais français par le sang versé. In: Libération vom 21. Februar 2022  

[11] Siehe: Léonardo Kahn, Der armenische Dichter Missak Manouchian wurde 1944 von Nazis hingerichtet. Jetzt wird er ins Panthéon aufgenommen – als erster ausländischer Widerstandskämpfer. Süddeutsche Zeitung vom 19. Juni 2023 https://www.sueddeutsche.de/kultur/missak-manouchian-pantheon-kommunist-1.5947203 Allerdings ist der dort angegebene Zeitpunkt der Verhaftung Manouchians (Februar 1944) unzutreffend.

Zur Biographie Manouchians u.a.  https://eduscol.education.fr/3736/missak-manouchian-entre-au-pantheon und Missak Manouchian — Wikipédia (wikipedia.org)

.[12] Quelle: Bundesarchiv.  Aus: https://www.radiofrance.fr/franceculture/missak-manouchian-au-pantheon-trahisons-et-ornieres-d-un-memoire-communiste-capricieuse-7848386

[13] © Association Les Amis de Franz Stock/ECPAD   https://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/das-gedenken-den-widerstand-mont-valerien  Siehe dazu: https://www.fondationresistance.org/pages/rech_doc/photographie-execution-mont-valerien-membres-groupe-manouchian_photo15.htm

[14] Bild und weitere Informationen in: https://de.wikipedia.org/wiki/Affiche_rouge

[15] Übersetzung eines Zitats aus dem Film Des „terroristes“ à la retraite von 1985. Originalzitat: https://museedelaresistanceenligne.org/media5072-Plaque-la-mmoire-des-23-membres-de-lAffiche-rouge 

Entsprechend Guillaume Perrault: „Cette médiatisation a sauvé paradoxalement le groupe Manouchian de l’oubli complet dans lequel sont tombés tant de héros.“ Aus: Quand l’affaire Manouchian passionnait la France en 1884-1985. In: Le Figaro vom 20. Juni 2023, S. 18

[16] Aus der Ausstellung Les Étrangers dans la Résistance en France im Mémorial de la Shoah, Paris

[17] Das Mémorial de la Shoah geht (Januar 2024) von 15 000 gedruckten Exemplaren und der Verbreitung in ganz Paris aus.

[18] Siehe zum Beispiel einen Text des Erziehungsministeriums zum schulischen Gebrauch: „Mais le placardage de plusieurs milliers d’exemplaires de cette affiche dans Paris occupé et la distribution de milliers de tracts qui les qualifient d’« armée du crime » a produit l’effet contraire. Loin de provoquer peurs et condamnations, elle éveille plutôt des manifestations de sympathie dans une partie de l’opinion publique.“ https://eduscol.education.fr/3736/missak-manouchian-entre-au-pantheon

Léonardo Kahn, Der armenische Dichter Missak Manouchian wurde 1944 von Nazis hingerichtet. Jetzt wird er ins Panthéon aufgenommen – als erster ausländischer Widerstandskämpfer. Süddeutsche Zeitung vom 19. Juni 2023 https://www.sueddeutsche.de/kultur/missak-manouchian-pantheon-kommunist-1.5947203

[19] Annette Wieviorka,  Ils étaient juifs, résistants, communistes. Perrin 2018, S.281

[20] Zitiert von Annette Wieviorka, Ils étaient juifs, résistants, communistes. Perrin 2018 S. 281

[21] „Les militants communistes se sont engagés dans le combat contre le nazisme uniquement après la rupture du pacte germano-soviétique de 1939 et l’invasion de l’URSS par l’Allemagne, reprenant à leur compte le discours du Parti. …  Missak Manouchian est un parfait stalinien.“  https://www.slate.fr/story/248803/tribune-missak-manouchian-entree-pantheon-non-sens-histoire-resistance-ftp-communiste Zitat aus: Dimitri Manessis und Jean Vigreux, Aves tous tes frères étrangers de la MOE au FTO-MOI. éditions Libertalia, Montreuil 2024. Siehe dazu auch: Ces révolutionaires internationalistes que la France honore. In: Le Monde vom 16.2.2024

[22] Siehe dazu: https://www.marianne.net/societe/missak-et-melinee-manouchian-enfin-au-pantheon-la-longue-bataille-de-la-reconnaissance  

[23] Guillaume Perrault, Le Figaro 20.6.2023

[24] „On ne peut pas laisser croire que la Résistance française a été faite comme ça, par autant d’étrangers. Il faut franciser un peu.“  Zitiert in: L’Affiche rouge (chanson) — Wikipédia (wikipedia.org) Zu Aragons Umgang mit Manouchian siehe auch: https://www.radiofrance.fr/franceculture/missak-manouchian-au-pantheon-trahisons-et-ornieres-d-un-memoire-communiste-capricieuse-7848386

[25] https://genius.com/Louis-aragon-strophes-pour-se-souvenir-laffiche-rouge-annotated Deutsche Übersetzung: https://www.songtexte.com/uebersetzung/leo-ferre/laffiche-rouge-deutsch-3bd6d810.html

Ferré singt L’affiche rouge: https://www.youtube.com/watch?v=Tj5XwjOuq7s

[26] https://www.mont-valerien.fr/fileadmin/user_upload/lettres/lettre_manouchian_1.jpg

https://lmsi.net/Ma-Chere-Melinee

[27] „Vive le parti communiste!“, „Vive l’Armée rouge!“ „Vive Staline!“ und „Mort à Hitler“ sollen sie (auch) gerufen haben… https://www.freitag.de/autoren/wwalkie/ein-roter-stern-stirbt-niemals Siehe auch:

„Contrairement à ce qu’écrit Louis Aragon, devenu le chantre d’un PCF cocardier, dans son poème Strophes pour se souvenir de 1955 (chanté ensuite par Léo Ferré), ils ne «criaient» donc pas tous forcément et uniquement «la France en s’abattant“.  https://www.slate.fr/story/248803/tribune-missak-manouchian-entree-pantheon-non-sens-histoire-resistance-ftp-communiste

und: https://lmsi.net/Manouchian-n-est-pas-un-heros-de-roman-national :  „c’est pour la liberté et non pour « la France » qu’ils sont morts. Et enfin que ce n’est pas sur d’improbables « valeurs de la République » ou de « la France des Lumières » qu’ils ont fondé leur goût de la liberté, leur soif d’égalité sociale et leur sens de la solidarité humaine, mais au nom d’un idéal communiste…“

[27a] Siehe: „Pourquoi faire entrer un couple au Panthéon, alors que c’était un groupe qui était visé par les nazis? Le Monde, 16. Februar 2024

und: Annette Wieviorka, Anatomie de l’Affiche Rouge. Paris: Seuil 2024

[28] Siehe: Quand L’affaire Manouchian passionnait la France en 1984-1985. Le Figaro 20.6.2023 Darauf vor allem stütze ich mich im Folgenden. Zum Thema auch: Philippe Robrieux, L’Affaire Manouchian: Vie et mort d’un héros communiste. 1986;  J.P.R., Les trois enseignements de l’Affaire Manouchian. Esprit Nr.104/105, August/September 1985, S. 76-78 

[29] Courtois/Peschanski/Rayski, L’Affiche Rouge, S.294

Entsprechend: Stéphane Courtois, Le groupe Manouchian: sacrifié ou trahi? Le Monde 2./3. Juni 1985. Zitiert von Wieviorka a.a.O., S. 275

[30] Wieviorka a.a.O., S. 272/273

[31] Entsprechend auch Adam Rayski, von 1941 bis 1949 Leiter der jüdischen Sektion der PCF, der 1985 auf die Frage, ob es eine Verantwortung der Partei für den Fall der Gruppe Manouchian gegeben habe:

„En mai 1943, devant le bilan des pertes des organisations juives, j’ai demandé le repli. le transfert de notre direction dans la zone Sud. Le Parti a refusé, qualifiant cette attitude de « capitularde ». Le PC voulait continuer à frapper dans la capitale, avec ce qui restait son unique bras séculier : les FTP-MOI. Stratégiquement, la direction, pour affirmer sa suprématie vis-à-vis de Londres et du Conseil national de la Résistance, désirait capitaliser les actions d’éclat de la MOI.“ Article paru dans la revue L’histoire, n°81 Septembre 1985. Propos recueillis par Alain Rubens. https://uneautrehistoire.blog4ever.com/1943-qui-a-trahi-manouchian

[32] Widerstandskämpfer im Ruhestand,  Frankreich1983   MI 21.2., 23:45 Uhrarte Synchronfassung, Online verfügbar von 14/02 bis 22/03

Französische Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=Uqg11c7SUik

[33] Zitat von Denis Peschanski: „un véritable tournant mémoriel“. In: Mémoire d’avenir. Le Magazine des Archives nationales No 53, Januar-März 2024, S.11

Ziel der Pantheonisierung Manouchians nach Überzeugung von Le Monde: „réconcilier la mémoire de la Résistance longtemps partagée entre gaullistes et communistes, mettre en valeur le rôle de ces derniers dans la lutte contre l’occupant nazi.“ https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/06/19/missak-manouchian-au-pantheon-des-lecons-pour-aujourd-hui_6178222_3232.html

Entsprechend Eve Szeftel und Victor Boiteau in Libération vom 16. Juni 2023. Manouchians Pantheonisation  „marque aussi une nouvelle étape dans l’histoire de la mémoire de la Seconde Guerre mondiale et de la Résistance. Celle, après des décennies de tiraillements entre les mémoires gaullistes et communistes“, sie ist, nach den Worten des Historikers Denis Peschanski, Autor eines aktuellen Buchs über Manouchian, Ausdruck einer „convergence mémorielle inédite.“

[34] Das Portrait entstand im Rahmen einer Aktion aus dem Jahr 2020. Damals wurden die Portraits von 21 ehemaligen prominenten Häftlingen im Gefängnis ausgestellt. https://www.leparisien.fr/val-de-marne-94/fresnes-les-portraits-de-c215-colorent-les-murs-de-la-prison-12-02-2020-8258448.php  

Anlässlich der Pantheonisierung von Missak Manouchian und seiner Gruppe hat C 215 im Gefängnis von Fresnes Portraits der Männer des affiche rouge und weiterer Personen von FTP- MOI angefertigt. Siehe l’Humanité vom 20.2.2024 https://www.humanite.fr/politique/c215/manouchian-au-pantheon-lhommage-de-lartiste-c215-a-la-prison-de-fresnes

[35] https://www.lemonde.fr/politique/article/2023/12/08/face-aux-tensions-emmanuel-macron-veut-tenir-l-unite-du-pays-et-promet-un-rendez-vous-avec-la-nation-en-janvier_6204710_823448.html

[36] Siehe dazu z.B.  https://www.ouest-france.fr/politique/mais-pourquoi-emmanuel-macron-veut-tout-rearmer-95f65530-af99-11ee-82ae-73e88db45bf9

https://www.francetvinfo.fr/politique/emmanuel-macron/rearmement-demographique-emmanuel-macron-essaye-de-parler-a-l-electorat-d-extreme-droite-estime-la-porte-parole-d-osez-le-feminisme_6309345.html

Siehe: Stéphane Foucart, Le réarmement chimique de l’agriculture. In: Le Monde 4./5. Februar 2024: „Le surgissement et la diffusion éclair de certains mots, qui sculptent tout à coup le débat public, a quelque chose de fascinant. Ainsi du vocabulaire martial subitement apparu le 31 décembre 2023 dans la parole présidentielle et, depuis, inlassablement commenté, répercuté, repris, répété, et surtout raccommodé jusqu’à l’indignation par les membres du gouvernement: il faut se réarmer, il faut tout réarmer. L’armement et les armes sont devenus en quelques semaines la métrique de toute chose.“

[37] Siehe: https://www.liberation.fr/politique/pantheonisation-de-missak-et-melinee-manouchian-nous-sommes-collectivement-les-heritiers-de-la-resistance-

https://www.humanite.fr/culture-et-savoir/missak-manouchian/pourquoi-missak-manouchian-doit-entrer-au-pantheon-782738

https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/06/19/missak-manouchian-au-pantheon-des-lecons-pour-aujourd-hui_6178222_3232.html

[38] Denis Peschanski in: https://www.francetvinfo.fr/societe/debats/pantheon/probable-entree-de-missak-manouchian-au-pantheon-c-est-la-reconnaissance-de-cette-composante-si-importante-de-la-resistance-francaise-explique-un-historien_5893147.html

[39] „Il est légitime d’honorer le souvenir de Manouchian. Il est inconvenant d’instrumentaliser sa mémoire pour le faire servir aux polémiques politiques du présent“ Guillaume Perrault in Le Figaro vom 20. Juni 2023

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Das Museum für Einwanderungsgeschichte in Paris: Die neue Dauerausstellung

Dieses Bild kennt wohl fast jeder, der in Frankreich zur Schule gegangen ist: Ludwig XIV. im Krönungsornat: Der Sonnenkönig, der Frankreich 52 Jahre, länger als jeder andere, regierte, in dessen Glanz sich die „Grande Nation“ bis heute noch gerne sonnt; mit Napoleon und de Gaulle der bekannteste Franzose. Franzose? Was denn sonst? Da kann es doch nicht den geringsten Zweifel geben. Oder vielleicht doch? „Verrückt, alle diese Ausländer, die die Geschichte Frankreichs gemacht haben.“ Ludwig XIV, ein Ausländer?! Das kann doch nicht wahr sein! Aber immerhin: „Mutter spanisch, Großmutter österreichisch“. Die Botschaft: Selbst der Sonnenkönig hatte einen Migrationshintergrund! [1]

Natürlich ist das eine Provokation und soll es auch sein.. Denn es handelt sich um das Werbeplakat für die neue Dauerausstellung des Musée national de l’histoire de l’immigration in Paris, die nach dreijähriger Unterbrechung im Juni 2023 eröffnet wurde. Es will ein spannendes modernes „musée pour tout le monde“ (Museum für alle) sein: Immerhin sei die Immigration integrativer Bestandteil der französischen Geschichte und immerhin sei, wie die Ausstellungsmacher betonen, jeder 3. Franzose Einwanderer oder Kind bzw. Enkelkind von Einwanderern.[1a] Besonders junge Menschen fühlen sich angezogen, die auf der Suche nach mehr Wissen über ihre Migrationsgeschichte sind. Und dies an einem Ort, der selbst schon Geschichte geschrieben hat, da das Gebäude zur Kolonialausstellung 1931 errichtet wurde.

Allerdings betritt der Besucher den monumentalen Art-déco-Bau nicht mehr über den großen von Löwen flankierten Eingang wie früher. Jetzt nähert man sich bescheiden von der Gartenseite auf einem kleinen Weg, vorbei an erläuternden Tafeln zur Geschichte des Palais de la Porte dorée und einem Schwimmer:

Er verweist auf die mörderische Fluchtroute über das Mittelmeer.

Angelangt an den Reliefs der Außenfassaden unter den Kolonaden, gibt es Erstaunliches zu sehen. Ganz ohne Scham werden die angeeigneten Rohstoffe aus den Kolonien präsentiert, die ausgebeuteten Menschen werden rassistisch oder idealisiert dargestellt, die indigenen Frauen barbusig, was uns heute unangenehm berührt.

Fast 100 Jahre liegen zwischen diesen herrschaftlichen Darstellungen einer Kolonialmacht und dem neuen innovativen Konzept der 2023 eröffneten Dauerausstellung. Sie macht mit motivierenden pädagogischen und didaktischen Mitteln das Leben und Leiden von Migranten erfahrbar, die oft aus diesen ehemaligen Kolonien Frankreichs kamen und kommen.

Portugiesische Einwanderer am gare d’Austerlitz 1956

Im Treppenaufgang wird der Besucher von assoziativ an der Wand aufgereihten dokumentarischen Bildern und Stichpunkten empfangen wie : papiers / famille / accueil / frontière /attente / séparation / asile / refuge / hospitalité / passage / langage / fuir / danger /partir / avenir / horizon, die alle einzeln zum Nachdenken anregen. Im Treppenabgang sind Sätze, aus verschiedenen kleinen Schuhen geformt, an die Wand geklebt. Einer heißt „où aller?

In der Ausstellung werden aber auch große Erfolge von Einwanderern (z.B. Fußballspieler Zidane) herausgestellt.

Denn zur Konzeption des Museums gehört es, die positiven Seiten der Migration zu betonen. Dies ist gerade in einer Zeit bedeutsam, in der im politischen Diskurs die Xenophobie Konjunktur hat und in der viele Einwanderer Diskriminierung erfahren. [1b] Bezeichnend dafür ist das im Dezember 2023 beschlossene neue Einwanderungsgesetz. Es sieht derart massive Einschränkungen der Migration vor, dass sogar der Rassemblement National Marine Le Pens darin seine Forderungen berücksichtigt sah und ihm zustimmte. [2]

Zu der -im demonstrativen Gegensatz zum politischen Umfeld- positiven Sicht auf die Migration in der neuen Dauerausstellung passt die Herausstellung der Einwanderung von Polen, die nach dem 1. WK in Folge des Männermangels sehr zahlreich nach Frankreich zogen, um in den Minen zu arbeiten, ebenso der Polinnen, die mit ihnen kamen und sich in Haushalten oder Fabriken verdingten. Auch die Migranten aus Italien, Portugal, Spanien, Osteuropa oder Armenien werden gewürdigt: Angesichts der bevorstehenden Pantheonisierung der Widerstandskämpfer Missak und Mélinée Manouchian (mehr dazu im nächsten Blog-Beitrag) sind die Flucht von Armeniern vor dem Völkermord und ihre Aufnahme in Frankreich derzeit ja besonders im Blickpunkt. Eine aktuelle Sonderausstellung gilt der asiatischen Zuwanderung. Dazu gehörten auch die vielen Chinesen, die im Ersten Weltkrieg nach Frankreich geholt wurden, um die Männer an der Front zu ersetzen.[3]

Historisch beginnt die Ausstellung mit dem Jahr 1685, das eine doppelte Bedeutung hat: Es ist das Jahr des Edikts von Fontainebleau Ludwigs XIV., in dem die von Heinrich IV. im Edikt von Nantes verfügte Religionsfreiheit in Frankreich zurückgenommen wurde. Damals waren es also Franzosen, die ihr Land verlasssen mussten, Migranten waren. Und 1885 ist das Jahr des Code noir, der gesetzlichen Grundlage für die Sklaverei in den französischen Besitzungen: Ein Hinweis auf die lange Geschichte von Diskriminierung. Und dies ist gerade ein Merkmal der neuen Dauerausstellung: Hatte sie bisher ihren Schwerpunkt auf die Geschichte der Einwanderung aus Europa seit dem 19. Jahrhundert gelegt, so bezieht sie jetzt die nach Überzeugung der Ausstellungsmacher fundamentale koloniale Dimension der Einwanderung nach Frankreich ein. [3a]

Die Sklaverei in den Kolonien unter dem Ancien régime wird unter anderem illustriert mit dem Portrait eines jungen Sklaven, das Hyacinthe Rigaud, bekannt vor allem durch das anfangs abgebildete Portrait Ludwigs XIV.,  um 1710/1720 malte.

Der aus Afrika verschleppte junge Mann könnte ein Prinz sein, trüge er nicht die eiserne Schelle um den Hals. [4] Es ist ein Domestik in einem vornehmen Pariser Haushalt, wo man gerne farbige junge Mädchen und Jungen hielt – mit einem Statut zwischen Objekt, Haustier (animal de compagnie) und lebendem Schmuckstück, wie es auf der beigefügten Informationstafel heißt.

Thematisiert wird auch die vorübergehende Abschaffung der Sklaverei im Geiste der Französischen Revolution, ihre Wiedereinführung unter Napoleon und schließlich ihre endgültige Beseitigung 1848.

Alphonse Garreau, Allegorie der Abschaffung der Sklaverei in der Kolonie La Réunion am 20. Dezember 1848  (um 1849)

Dann das Thema Glaubensflüchtlinge. Die Vertreibung der protestantischen Hugenotten aus dem katholischen Frankreich und ihre Neuansiedlung wird anhand einer Karte gezeigt und mit Dokumenten belegt. Die große Bedeutung der Hugenotten für Deutschland, insbesondere für Preußen, ist legendär. Ein Beispiel für gelungene Integration, die von den Ausstellern hervorgehoben wird. Leider keine Erwähnung findet die Vertreibung der Waldenser, einer kleineren Protestantengruppe aus dem Lubéron und Piemont, die sich z.B. im hessischen Raum ansiedelten. In dieser Zeit boten protestantische deutsche Fürsten den Verfolgten Zuflucht.[5]

Trugen die französischen Hugenotten erheblich zur wirtschaftlichen Dynamik in Deutschland bei, so gilt das umgekehrt auch für die deutschen Weinhändler, die Ende des 18. Jahrhunderts nach Frankreich kamen und vor allem das internationale Renommee des Champagners wesentlich beförderten. Zahlreiche bedeutende Champagner-Häuser tragen seitdem deutsche Namen, so das Haus Heidsieck, das 1785 von dem aus Westfalen stammenden Florenz-Ludwig/Florens-Louis Heidsieck gegründet wurde.[6] Die positive Rolle der Migration, Leitidee der neuen Dauerausstellung, wird so historisch untermauert.

Lié-Louis Périn-Salbreux, Portrait de Madame Walbaum-Heidsieck, 1817

Im 19. Jahrhundert suchten viele deutsche Intellektuelle in Paris ein neues Betätigungsfeld, da die Meinungsfreiheit in der Heimat eingeschränkt war. Hier sind Heinrich Heine und Ludwig Börne zu nennen. Leider bleibt diese Migration ebenso unerwähnt wie die der deutschen Dienstmädchen und hessischen Straßenkehrer in Paris, die allerdings wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten kamen. [7]

Für das Schicksal deutscher Exilanten, die vor dem Naziregime nach Frankreich flohen, steht die Schreibmaschine des Sozialdemokraten Heinrich Kraft.

Der floh unter dem Druck der Nazis 1933 zunächst in das Saargebiet, 1935 nach Frankreich. Nach dem Kriegsausbruch 1939 wurde er als „Angehöriger einer feindlichen Macht“ interniert. Da ging es ihm so wie auch den anderen Flüchtlingen aus Deutschland: „Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein- oder zumindest zukünftige Staatsbürger; aber bei Kriegsausbruch wurden wir trotzdem als ‚boches‘ interniert“, schrieb Hanna Arendt. [8]

Nach seiner Freilassung 1940 engagierte sich Heinrich Kraft mit seinen Kindern und seinem französischen Schwiegersohn in der Résistance. 1943 wurde er von der französischen Polizei verhaftet, an die Gestapo ausgeliefert, gefoltert und umgebracht.

Anderen gelang mit Hilfe des amerikanischen Generalkonsuls Varian Fry die Flucht über die Pyrenäen oder, wie Anna Seghers oder dem Maler Moîse Kisling, über den Hafen von Marseille.

Moîse Kisling, Der Hafen von Marseille, um 1940

Auf einer interaktiven Karte zu Herkunftsländern von Migranten werden Stephane Hessel als résistant und die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld mit Bildern und kurzen Biografien vorgestellt.

So viel zur deutsch-französischen Migration in dem Kontext der Ausstellung.

Wichtiges und bis heute belastendes Thema für Frankreich ist dann natürlich das ausführlich behandelte Algerien mit dem erbärmlichen Leben der algerischen Arbeiter und Familien der Nachkriegszeit in den “bidonvilles“ …

Bidonville von Nanterre. © Photographie Monique Hervo, Bibliothèque de documentation internationale contemporaine, MHC

… ihrer Unterdrückung im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung…

  Nach dem Massaker vom 17. auf den 18. Oktober 1961: Quai de Conti, 6. November 1961                     © Jean Texier / L’Humanité

…. bis hin zu ihrer Integration in die französische Arbeiterbewegung und die französische Gesellschaft.

Um die geht es auch bei den „sans-papiers“, deren Schicksale und Kampf um Gleichstellung dargestellt sind – ein gerade besonders aktuelles Thema angesichts der vielen illegalen Beschäftigten auf den Olympiabaustellen [9] und dem neuen restriktiven französischen Einwanderungsgesetz (loi d’immigration).

Das Thema Diskriminierung wird durch Umfragen und Statistiken anschaulich.

Hier gibt es zum Thema Vorurteile gegen Roms (Die Roms sind Diebe) einen zum Hören und zum Nachdenken anregenden Diskussionsbeitrag.

Am Ende der Ausstellung kommen in kurzen Video-Sequenzen jugendliche Migranten der 2. bzw. 3. Generation zu Wort und berichten aus ihren Alltagserfahrungen.

 Diese Zeugnisse, auch über Benachteiligung und Unrecht, sind sehr berührend.

Die Geschichte der Migration ist, das will diese Ausstellung deutlich machen, auch eine Geschichte der Diskriminierung. Und die schlug manchmal sogar in blanke Gewalt aus der Bevölkerung oder seitens des Staates um, wie das Massaker an italienischen Salinenarbeitern in Aigues-Mortes 1893 oder die Polizeigewalt gegen algerische Demonstranten 1961 zeigen.[10]

„Frankreich erscheint“, wie Claus Leggewie in seiner Ausstellungskritik schreibt, „hier in seiner ganzen Ambivalenz, als Hort des Universalismus wie als Treibhaus schlimmster Fremden- und Menschenfeindlichkeit. … ’Manque de bras!‘ (Unterbeschäftigung) lautete der Hilferuf seit den 1880er Jahren. Die französische Sonderstellung besteht darin, dass im Gesamtverlauf der Industrialisierung kontinuierliche Importe von Arbeitskraft willkommen waren, gegen die dann in Phasen der Rezession und vor der Reinheitsfantasie der „Français de souche“ regelmäßig Aversionen aufkamen. Die Stilisierung zum Ursprungsland der Menschenrechte, das großzügig Asyl und mit dem Jus soli allen auf französischem Boden Geborenen die Staatsangehörigkeit bietet, kontrastiert stets mit drastischen Praktiken der Ausbürgerung und Diskriminierung.“ [11]

Aber insgesamt wurden vor allem die Migrantenströme des 19. und 20. Jahrhunderts aus Europa gut aufgenommen und allmählich zu einem integralen und bereichernden Bestandteil der französischen Bevölkerung. Mit der massiven Migration der letzten Jahrzehnte vor allem aus den ehemaligen Kolonien ist das anders. Und da steht der Diskriminierung auf der einen Seite teilweise auf der anderen Seite eine Ablehnung von Integration und eine Herausbildung von Parallelgesellschaften entgegen. Das näher zu betrachten würde jedoch die positive Darstellungsintention der Ausstellung in Frage stellen, die sich als Gegengewicht zur gängigen Kritik an Migranten und Migration versteht. Dass entsprechende Reaktionen da nicht ausbleiben, liegt auf der Hand: Der „roman national“ werde durch ein „multikulturelles Märchen“ ersetzt. Die Ausstellung sei eine Provokation: einseitig, polemisch, wissenschaftlich unhaltbar – auch wenn der Vorsitzende des für die Ausstellung verantwortlichen wissenschaftlichen Beirats, Patrick Boucheron, Historiker am hochangesehenen Collège de France ist. [12]

Die Vision eines gelungenen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Kulturen veranschaulicht eine Installation des chinesischen Künstlers Chen Zen, die in einer aktuellen Sonderausstellung über Migrationserfahrungen von 10 chinesischen Künstlern präsentiert wird: [13] ein großer runder Tisch, um den herum ganz viele unterschiedliche Stühle gruppiert sind.

Die Installation kann auch als Antwort auf manche Kritiker der Ausstellung verstanden werden: Die Ahnen der Franzosen sind nicht nur, wie der frühere Präsident Sarkozy proklamierte, die Gallier. Und zu dem sogenannten „roman national“ Frankreichs haben viele Menschen aus anderen Ländern und Kulturen beigetragen und ihn so bereichert. Gut also, dass der Tisch in der Mitte erweitert wurde, um für alle Stühle Platz zu schaffen….

Das Museum bietet vielfältige interessante Zugangsmöglichkeiten, bessonders für junge Besucher.

Es gibt ein „studio de musique“ mit 6 playlists zum Anklicken und gemütlichen Sitzgelegenheiten zum Hören. Sitzen können sogar ganze Gruppen auch im „petit amphi“ und dort Filme sehen.

Dieser Raum ist nach Anmeldung auch reservierbar. Eine große Zahl an selbst aktivierbaren Bildschirmen erlaubt es, bestimme Themen zu vertiefen wie z.B. das „droit du sol“, das in Frankreich (wenn auch nach dem neuen Einwanderungsgesetz nur noch mit Einschränkungen) gilt im Gegensatz zum „droit du sang“ in Deutschland.

Wer will, kann sich im Vorfeld über die umfangreiche Ausstellung insgesamt informieren um einen Gesamteindruck zu gewinnen. Es bietet sich aber auch an, bestimmte Schwerpunkte herauszusuchen, um sie genauer zu betrachten.

Von der Ausstellung im ersten Stock lässt sich in die zentrale Halle in der Mitte des Gebäudes blicken. Dieses Forum wirkt mit seinen den französischen Kolonialismus verherrlichenden Fresken sehr exotisch und durch seine Größe wie ein Tempel. In der Außenhalle davor befindet sich ein kleines Café-Restaurant, das zur Pause einlädt – auch draußen unter der sonnigen Terrasse direkt neben der kolonialen Fassade, die auf dieser Seite eher Flora und Fauna zum Inhalt hat, wie zum Beispiel ein grimmiges Krokodil. Im Sommer sind auf der unteren großen Terrasse sogar Tische und Stühle aufgestellt und es findet dort die Bewirtung statt. Der Zugang dorthin sowie in das Gebäude ist frei und die Räume offen für alle unabhängig vom Ausstellungsbesuch.  Also jeder ist eingeladen zu kommen und sich ein Bild von der Pracht des Baus machen und von dem zentralen Forum und den beiden kolonialen Salons, die kostenlos zu sehen sind.

Neben einem Rundgang die Ausstellung oder unabhängig davon lohnt auch ein Besuch des Aquariums im Kellergeschoss – auch ein Relikt aus der Zeit der Kolonialausstellung und ein Muss für alle kids.

Besonders beliebt bei ihnen ist dort die Möglichkeit einer interaktiven virtuellen Begegnung mit Walen. (Une plongée interactive avec les baleines)

Aber auch der Lac Daumesnil im Bois de Vincennes direkt gegenüber ist eine Attraktion. Hier kann man spazieren gehen, ein Ruderboot mieten, auf der Insel den Aussichtstempel oder das Gartenrestaurant besuchen oder auch einfach nur Picknick am See machen.

Der Lac Domesnil mit dem Tempel. Im Hintergrund der Affenfelsen des Zoos.

Vielleicht hat man sogar Glück und die große Pagode am See, die auch noch aus der Zeit der Kolonialausstellung stammt, ist zugänglich.

Auf jeden Fall eine interessante und erholsame Tages-Alternative zum Eiffelturm-Tourismus- gerade auch für und mit Kindern und Jugendlichen.

Text und Bilder, soweit nicht anders angegeben, von Frauke und Wolf Jöckel (Dezember 2023)

Praktische Informationen

www.histoire-immigration.fr

Adresse : 293, Av. Daumesnil 75012 Paris

Anreise : Métro 8 bis Porte Dorée

Öffnungszeiten : Di-Fr 10-17.30h, Sa-So 10-19h, Mo geschlossen

Tel. 0033 (0) 153595860

Eintrittspreise : 10 € expo / 14€ expo + aquarium

Katalog :  „Une histoire de l’immigration en 100 objets“, éd. Martinière, 26 €

Kostenlos erhältlich sind auch verschiedene informative Broschüren:

  • Images des colonies au Palais de la Porte dorée
  • Traces de l’histoire coloniale dans le 12e arrondissement de Paris
  • Tour savoir sur l’histoire de l’immigration. livret enfant 8-12 ans
  • Bienvenue au musée. Livret de visite pour les personnes en apprentissage du français


Anmerkungen:

[1] https://www.histoire-immigration.fr/  

Zu dem Werbeplakat siehe: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/louis-xiv-etranger-l-etonnante-campagne-de-publicite-du-musee-de-l-histoire-de-l-immigration-20230614 und https://rmc.bfmtv.com/actualites/societe/louis-xiv-l-etranger-le-musee-de-l-histoire-de-l-immigration-et-fait-polemique_AV-202306160427.html

Zur neuen Dauerausstellung aus deutscher Sicht siehe: Claus Leggewie, Eingewanderte wie wir. Ein grunderneuertes Museum in Paris entprovinzialisiert die Geschichte von Flucht und Migrationsbewegung – und könnte auch der länglichen deutschen Debatte über ein solches Projekt Auftrieb geben. Frankfurter Rundschau 15.09.2023, Seite 24 und Jörg Häntzschel, Wie wird man Franzose? Im ehemaligen Pariser Kolonialmuseum setzt sich Frankreich in einer epochalen Ausstellung mit seiner Geschichte als Einwanderungsland auseinander.  Süddeutsche Zeitung 18.8.2023

[1a] Zitiert in: https://www.lepoint.fr/societe/le-musee-de-l-immigration-rouvre-pour-raconter-une-histoire-commune-11-06-2023-2523866_23.php

[1b] Zur Diskriminierung siehe die aktuelle Studie des INSEE: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793302?sommaire=6793391&q=discriminations

[2] Das Gesetz sah ursprünglich vor, „die Einwanderung zu begrenzen und die Integration zu verbessern“. (contrôler l’immigration, améliorer l’intégration). Für eine parlamentarische Mehrheit war aber die Zustimmung der konservativen Opposition (LR) erforderlich, die hier weitgehend Positionen des rechtsradikalen RN übernahm. Laut Leitartikel von Le Monde vom 20.12.2023 ein poltischer und moralischer Dammbruch und eine „ideologischer Sieg“ von Marine Le Pen- auch insofern als eine Abschottungs-Ideologie über wirtschaftliche Vernunft gesiegt hat. https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/12/20/loi-sur-l-immigration-une-rupture-politique-et-morale_6206843_3232.html und https://www.latribune.fr/economie/france/loi-immigration-de-nombreux-economistes-vent-debout-986412.html s.a. La Croix vom 20.12.2023: Loi immigration : une réforme inédite par son ampleur restrictive; Libération 19.12.2023: La trahison de Macron; Cécile Alduy, sémiologue : « Le discours de LR sur l’immigration est un copier-coller presque complet du RN » Le Monde 28. Mai 2023

[3] Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/08/01/chinatown-in-paris-3-13-und-20-arrondissement/

[3a] « Le parcours précédent, très marqué notamment par le travail de Gérard Noiriel, était centré sur l’histoire de l’immigration européenne, qu’il faisait démarrer au XIXe siècle, explique Camille Schmoll, géographe à l’EHESS et membre du comité scientifique. La dimension coloniale dans toute la question migratoire est pourtant fondamentale, même si on ne peut pas limiter l’histoire de l’immigration à celle-ci. .https://www.lequotidiendelart.com/articles/23989-le-mus%C3%A9e-national-de-l-histoire-de-l-immigration-tente-de-faire-sa-mue.html

[4] Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung a.a.O.

[5] Siehe dazu die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2018/12/02/von-lyon-nach-dornholzhausen-die-waldenser-eine-franzoesisch-italienisch-deutsche-fluechtlingsgeschichte-teil-1-lyon-luberon-piemont/ und https://paris-blog.org/2018/12/07/von-lyon-nach-dornholzhausen-die-waldenser-eine-franzoesisch-italienisch-deutsche-fluechtlingsgeschichte-teil-2-die-waldenser-in-hessen-homburg/

[6] Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2021/02/13/reims-der-champagner-und-die-deutschen-die-ungekronte-konigin-von-reims-ein-gastbeitrag-von-pierre-sommet/

[7] Zu diesem Thema wird demnächst ein Beitrag auf diesem Blog erscheinen

[8] Zitiert von Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung vom 19./20. August 2023

[9] siehe https://www.lemonde.fr/sport/article/2022/12/05/paris-2024-des-travailleurs-sans-papiers-sur-les-chantiers-olympiques_6153068_3242.html

[10] Zu dem Pogrom von Aiges Mortes siehe: https://www.histoire-immigration.fr/programmation/l-univercite/le-massacre-des-italiens-aigues-mortes-17-aout-1893  Zu der Niederschlagung der Algerier-Demonstration 1961 siehe: https://paris-blog.org/2022/03/02/nach-60-jahren-noch-immer-eine-offene-wunde-die-erinnerung-an-die-niederschlagung-der-demonstrationen-vom-17-oktober-1961-ici-on-noie-les-algeriens-und-vom-8-februar-1962-charonne/ und  https://www.histoire-immigration.fr/integration-et-xenophobie/le-17-octobre-1961-a-paris-une-demonstration-algerienne-un-massacre-colonial

[11] Claus Leggewie, Eingewanderte wie wir. Ein grunderneuertes Museum in Paris entprovinzialisiert die Geschichte von Flucht und Migrationsbewegung – und könnte auch der länglichen deutschen Debatte über ein solches Projekt Auftrieb geben. Frankfurter Rundschau 15.9.2023 https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/geschichte-der-immigration-eingewanderte-wie-wir-92520036.html

[12] Eugénie Bastié, Louis XIV ‚étranger‘: on a visité l’exposition polémique du Musée de l’histoire de l’immigration. Le Figaro vom 14.6.2023 und Luc-Antoine Lenoir, «Louis XIV étranger»: au musée national de l’histoire de l’Immigration, un parcours inexact et biaisé.  Le Figaro Histoire vom 12.8.2023 https://www.lefigaro.fr/histoire/louis-xiv-etranger-au-musee-national-de-l-histoire-de-l-immigration-un-parcours-inexact-et-biaise-20230813

[13] Schon Heinrich Heine hatte im 19. Jahrhundert -damals bezogen auf Franzosen und Deutsche- die Vision, dass es einmal möglich sein werde, „allgleich am selben Tisch“ zu sitzen. Siehe: https://paris-blog.org/2018/07/10/das-grabmal-ludwig-boernes-auf-dem-pere-lachaise-in-paris-eine-hommage-an-den-vorkaempfer-der-deutsch-franzoesischen-verstaendigung/

Weitere Beiträge zum Palais de la Porte Dorée und zum französischen Kolonialismus

Der Schatz von Notre-Dame de Paris

Die Vorbereitungen zur Wiedereröffnung von Notre-Dame am 8. Dezember 2024 laufen auf vollen Touren.  Notre-Dame soll dann in neuem Glanz erstrahlen. Dies gilt auch für den Schatz der Kirche. Der hat zwar -ebenso wenig wie die Sakristei, in der die meisten Stücke aufbewahrt waren- unter dem Brand gelitten, aber die Zeit der Rekonstruktion von Notre-Dame wurde und wird noch genutzt, um auch die Sakristei zu renovieren und die Neuaufstellung des Domschatzes vorzubereiten.

Alle Bilder dieses Beitrags, soweit nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel

Dies ist/war eine gute Gelegenheit, den Schatz von Notre-Dame 2024 in einer Ausstellung im Louvre (vom 18. Oktober 2023 bis zum 29. Januar) zu präsentieren.

Allerdings existiert das, was den Reichtum dieses Schatzes einmal ausmachte, was sich dank der Bedeutung der Kirche im Mittelalter und in der Neuzeit angesammelt hatte, heute nicht mehr. Manches fiel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Religionskriegen zum Opfer, im Siebenjährigen Krieg wurden kostbare Stücke eingeschmolzen: Kanonen statt Kreuze…  1792 machten die Revolutionäre Notre-Dame zu einem Tempel der Vernunft und plünderten den Schatz: Alle Reliquien und wertvollen Kunstschätze aus Edelmetall gingen verloren. Die Orgel überstand allerdings die revolutionären Wirren, weil der Organist geistesgegenwärtig die Marseillaise und andere Revolutionslieder anstimmte…

Danach wurde der Domschatz unter Napoleon und den nach 1815 wieder eingesetzten Bourbonen neu konstituiert, aber im Zuge der Julirevolution von 1830 erneut verwüstet und geplündert, und dies auch noch doppelt: zunächst im Juli 1830 und dann noch einmal im Februar 1831.  

Eine Zeichnung von Viollet-le-Duc von der Plünderung am 14. Februar 1831

Dann war es der Architekt Viollet-le-Duc, der mit der Rekonstruktion von Notre-Dame als Inbegriff einer gotischen Kirche auch den Domschatz im mittelalterlichen Geist wieder auferstehen ließ. Die durch Victor Hugos leidenschaftliches Plädoyer für die Gotik im Allgemeinen und Notre-Dame im Besonderen wesentlich beförderte Rekonstruktion der Kirche begann 1845 mit dem Bau einer für den Schatz bestimmten, von Viollet-le-Duc entworfenen großen neogotischen Sakristei.

Sie ersetzte die neoklassische Sakristei, die der königliche Architekt Jacques-Germain Soufflot, der Erbauer des Pantheons, errichtet hatte. Diesen doch sehr respektablen, dem  Zeitgeschmack des späten 18. Jahrhunderts entsprechenden Bau weniger als 100 Jahre später schon wieder abzureißen, zeigt die Entschlossenheit, an Notre-Dame das Exempel einer „reinen Gotik“ zu statuieren.

Die Sakristei Soufflots

Die Sakristei diente gewissermaßen als Lehr-und Meisterstück für die Bauleute, die danach an der Restaurierung der Kathedrale arbeiteten.[1] Und zu Viollet-le-Ducs Konzeption von Notre-Dame als eines idealtypischen gotischen Gesamtkunstwerks gehörte dann auch der Domschatz, der nach seinen an mittelalterlichen Vorbildern angelehnten Entwürfen wesentlich bereichert, ja geradezu neu konstituiert wurde. Diese neogotischen Arbeiten bilden denn auch den Schwerpunkt der Ausstellung

Wertvolle mittelalterliche Schätze wie etwa in Conques wird man also in der Ausstellung und auch später in der renovierten Sakristei nicht finden. Die Kuratoren haben aber versucht, den früheren -aber nicht mehr existierenden- Reichtum des Domschatzes etwas erfahrbar und anschaulich zu machen.

Hier zum Beispiel der Ausschnitt aus dem Testament von Ermintrudis, einer merovingischen Adligen, über eine Schenkung an die Vorgängerkirche von Notre-Dame. Es handelt sich um eine im 7. Jahrhundert angefertigte Kopie auf Papyrus der ursprünglichen Urkunde aus dem 6. Jahrhundert.

In dieser am 28. Juli 775 in Düren ausgefertigten Urkunde Karls des Großen wird zum ersten Mal überliefert, dass die Kirche unter anderem der Maria (Notre-Dame) geweiht ist.

Aus einem mittelalterlichen Gebetsbuch der Domherren von Notre-Dame

Der Reichtum eines mittelalterlichen Kirchenschatzes beruhte vor allem auf Reliquien. Und da befand sich Notre-Dame in heftiger Konkurrenz: vor allem mit der Sainte Chapelle und Saint Germain-des-Près. Ein bedeutender Prestigezuwachs gelang im 9. Jahrhundert. Damals wurden Reliquien des Heiligen Marcel, eines der ersten Bischöfe von Paris, in die Obhut von Notre-Dame gegeben, um sie vor den Einfällen der Normannen in Sicherheit zu bringen.

Da Marcel nicht den Märtyrertod erlitten hatte, bezog man sich bei seiner Heiligsprechung auf eine Legende, nach der er Paris vor einem gefräßigen Ungeheuer gerettet habe. Das ist denn auch auf dieser kleinen Statue am Fuß des Heiligen zu erkennen.[2] Von den Reliquien ist allerdings nichts erhalten.

Mittelalterliche Handschrift mit einer Seite über den Drachentöter Marcel[3]

Dieser Bischofsstab trägt den Beinamen Notre-Dame, weil er aus einem Bischofsgrab der Kathedrale stammen soll. Das ist aber nicht erwiesen. Ebenso unsicher ist, seit wann er zum Bestand der Kunstsammlung der Bibliothèque Nationale gehört. Seiner Schönheit tut das aber keinen Abbruch…

In der Zeit des Barock erhielt Notre-Dame einen neuen Altar und dem Zeitgeist entsprechende liturgische Geräte. Dazu gehörte auch eine monumentale Monstranz des Pariser Goldschmieds Claude Ballin. Die Monstranz war 1.62 Meter hoch und bestand aus 50 Kilogramm reinen Silbers.

Hier eine Abbildung aus einem Evangeliar der Kathedrale (Liber evangeliorum ad usum Ecclesiae metropolitanae Parisiensis).

Die Monstranz war so groß und schwer, dass sie für Prozessionen nicht verwendet werden konnte, vor allem, weil sie nicht durch das Hauptportal der Kathedrale passte. Der königliche Architekt Jacques-Germain Soufflot, der Erbauer des Pantheons, erhielt daher den Auftrag, die Kirche dem neuen Geschmack und den neuen Bedürfnissen anzupassen. Dazu gehörte neben dem Bau der neoklassischen Sakristei die Vergrößerung des mittleren Hauptportals, dem der Figurenschmuck des Tympanons zum Opfer fiel. Unterder Leitung von Viollet-le-Duc erhielt das Hauptportal dann wieder seine mittelalterliche Größe und eine der Gotik nachempfundene Ausgestaltung.

Nach den Verheerungen, die die Französische Revolution für den Domschatz mit sich brachte, kam es unter Kaiser Napoleon zu einem Neuanfang. Napoleon inszenierte 1804 seine Kaiserkrönung (sacre) und die seiner Frau gerade in Notre-Dame von Paris.  Und dafür benötigte er auch eine entsprechende Ausstattung:

So wurden ein Kreuz und Leuchter, etwa 100 Jahre alt, extra für diesen Anlass erworben. Und es wurde das erforderliche liturgische Gerät angeschafft, auch wenn die Kirche von Napoleon nur instrumentalisiert wurde: Er ist es ja, der Josephine die Krone aufsetzt, wie Jacques-Louis David das in seinem berühmten Krönungsbild festgehalten hat. Und er ist es auch, der sich dann selbst die Krone aufsetzt.

Nach der feierlichen Zeremonie erhält Notre-Dame napoleonische Devotionalien wie die Krone Josephines oder den kaiserlichen Mantel zur Aufbewahrung. Außerdem nach Karl dem Großen benannte Insignien: Krone und Hand der Gerechtigkeit.

Die Hand der Gerechtigkeit (main de justice) war die Nachbildung eines in der Basilika von Saint- Denis, der Grabkirche der Bourbonen, aufbewahrten Herrschaftszeichens, das dem revolutionären Wüten zum Opfer gefallen war. Der Hofgoldschmied Napoleons, Martin-Guillaume Biennais, fertigte davon eine Nachbildung, die er mit einem kostbaren Ring am Handgelenk versah: Darin verarbeitete er Edelsteine und Kameen aus einem Reliquiar, das 1401 der Abtei von Saint-Denis geschenkt worden war. Das diente dazu, Napoleons Herrschaft in einen historischen Kontext zu stellen und ihr eine überzeitliche Legitimation zu verleihen. Die für die Krönung Napoleons angefertigte Krone ist dagegen eine völlig Neuschöpfung Biennais‘, die aber auch dem gleichen Zweck diente: Dazu integrierte der Goldschmied vierzig Kameen aus antiker, byzantinischer und mittelalterlicher Zeit in die Krone. Und schließlich gab man diesen Herrschaftszeichen den Beinamen „honneurs de Charlemagne“- bezog sie also auf Karl den Großen, als dessen Nachfolger Napoleon sich ja sah. Nach der Krönung wurden auch Hand der Gerechtigkeit und Krone Teil des Schatzes von Notre- Dame, die damit gewissermaßen die Nachfolge der bourbonischen Grablege von Saint-Denis antrat. 

Das hinderte Napoleon aber nicht daran, auch die bourbonische Lilie als Herrschaftssymbol zu übernehmen: Dies wohl nicht nur aus Treue gegenüber dem zerstörten Vorbild, sondern wohl auch ein Beitrag zu der von Napoleon mit allen Mitteln angestrebten dynastischen Legitimation: Denn einerseits grenzte er sich zwar von dem verhassten vorrevolutionären System ab, stellte sich aber andererseits eben auch in die monarchische Tradition Frankreichs.

Unter den 1815 wieder eingesetzten Bourbonen wurde der Bestand des Domschatzes einerseits reduziert, anderseits auch erweitert. Reduziert insofern, als alle Objekte im Zusammenhang mit der Krönung Napoleons ausgelagert oder sogar vernichtet wurden. Anderseits gab es unter den Bourbonen auch Zuwachs für den Schatz von Notre-Dame.

  © Musée du Louvre, Guillaume Benoit_BD

Dazu gehörte eine monumentale Maria mit Kind aus getriebenem Gold. [4] Angefertigt wurde sie von dem Goldschmied Jean-Baptiste Odiot, einem erbitterten Rivalen des napoleonischen „Hofgoldschmieds“ Biennais, und seinem Sohn Jean-Nicolas.  Die Statue war bestimmt für die große jährliche Marienprozession vom 15. August, die Ludwig XVIII.  nach seiner Einsetzung als französischer König nach der Niederlage Napoleons eingeführt hatte. Dabei bezog er sich auf Ludwig XIII.,  der den Tag von Mariä Himmelfahrt zum Feiertag bestimmt hatte, nachdem ihm endlich der lang ersehnte Nachfolger geschenkt worden war. Von 1806 bis 1813 war der 15. August sogar Nationalfeiertag, allerdings nicht zu Ehren Marias, sondern als „Saint-Napoléon“ zu Ehren des französischen Kaisers, der an diesem Tag geboren wurde.  1831 warfen die Aufständischen die Statue  aus dem Fenster. Sie wurde beschädigt, danach aber restauriert. Heutzutage wird sie wieder bei der jährlichen Pariser Marienprozession vom 15. August mitgeführt.  

Es war dann vor allem Viollet-le-Duc, der den Schatz wesentlich erweiterte und in seinem Sinne prägte. Es war ihm wichtig, dass die neuen Stücke sich in sein Konzept eines gotischen Gesamtkunstwerks einfügten. Viollet-le-Duc ließ sich dabei von der gotischen Kunst des 12. und 13. Jahrhunderts inspirieren: Er fertigte sehr präzise Zeichnungen an, die vor allem von „seinen“ Goldschmieden Placide Poussielgue-Rusand  und Jean-Alexandre Chartier ausgeführt wurden.

Hier einige Beispiele:

Jean- Alexandre Chertier (nach Eugène Viollet-le-Duc), Friedenskuss. Um 1867

Entwurf von Viollet-le-Duc für einen Behälter für Heilige Öle[5]

Jean-Alexandre Chertier, Behälter für die Heiligen Öle in Form einer Taube

Placide Poussielgue-Rusand, Monstranz nach einem Entwurf von Eugène Viollet-le-Duc (1867) Ausschnitt

Viollet-Le-Duc, Entwurf eines Leuchters für die Osterkerze. Placide Poussielgue-Rusand fertigte nach diesem Entwurf 1869 einen Osterleuchter aus vergolddeter Bronze an. Er steht während der Louvre-Ausstellung an deren Eingang – und auch am Anfang dieses Beitrags.

Jean-Alexandre Chertier (nach Eugène Viollet-le-Duc), Büste des Saint Louis. Um 1857

Dass Viollet-le-Duc auch eine Büste Ludwigs IX., (Ludwig der Heilige 1214-1270), anfertigen ließ, hat seinen Grund darin, dass Ludwig die bedeutendste Reliquie von Notre-Dame erworben hatte, nämlich die Dornenkrone, die Christus am Tag seiner Kreuzigung getragen haben soll. Die Mutter des zum Christentum übergetretenen römischen Kaisers Konstantin soll sie im 4. Jahrhundert am Ort der Kreuzigung entdeckt haben.[6]  Bis ins 13. Jahrhundert wurde die Dornenkrone in Konstantinopel aufbewahrt.  Wegen Geldmangels suchten die byzantinischen Kaiser aber solvente Käufer. Zunächst war es das reiche Venedig, das den Zuschlag erhielt, wurde aber von dem französischen Königshaus überboten. Um die Venetianer auszustechen, bot Ludwig nicht weniger als die Hälfte des jährlichen Budgets des Königreichs auf,[7] womit er immerhin ganz erheblich das Prestige des französischen Königtums – und natürlich auch sein eigenes erhöhte: 27 Jahre nach seinem Tod wurde Ludwig heiliggesprochen.

Ob es sich tatsächlich um die Dornenkrone Christi handelt, ist übrigens eine Frage, die damals nicht gestellt wurde. Die Echtheit galt durch entsprechende Zertifikate als verbürgt und durch den horrenden Preis, der dafür verlangt und gezahlt wurde, bestätigt.

Aufbewahrungsort für die 1239 in einer feierlichen Prozession nach Paris gebrachten Dornenkrone und weitere von ihm erworbene Leidenswerkzeuge Christi ließ Ludwig die Sainte-Chapelle bauen. 1791, während der Französischen Revolution, ordnete Ludwig XVI. die Überführung der Passions-Reliquien in die Abtei von Saint-Denis an, weil er sie dort für sicherer aufgehoben hielt. Zwei Jahre später, rechtzeitig vor der Plünderung der Abtei,  wurden sie der Bibliothèque nationale übergeben und seit 1804 im Zeichen des drei Jahre vorher von Napoleon abgeschlossenen Konkordats mit dem Vatikan der Kathedrale von Notre-Dame. Seitdem sind sie der kostbarste Teil des Kirchenschatzes. [8]

Die Dornenkrone mit einer Umhüllung aus Kristallglas und Goldfäden (Ende 19. Jahrhundert)

Selbstverständlich entwarf Viollet-le-Duc auch und gerade für die Passions-Reliquien kostbare Reliquiare im neogotischen Stil.

Hier zwei Ausschnitte des Reliquiars für einen Nagel und ein Holzstück des Kreuzes Jesu. Nach einem Entwurf Viollet-le-Ducs angefertigt von Placide Poussielgue-Rusand. [9]

Für die Dornenkrone entwarf Eugène Viollet-le-Duc dieses Reliquiar: [10]

Viollet-Le-Duc Eugène-Emmanuel (1814-1879). Paris, musée d’Orsay. RF3992.

Reliquiar für die Dornenkrone von Placide Poussielgue-Rusand nach dem Entwurf von Eugène Viollet-le-Duc (1862)[11]

Ludwig der Heilige mit der Dornenkrone: Detail des Reliquiars

Auf Beschluss der für die Inneneinrichtung von Notre-Dame zuständigen Diöcese soll in der nach dem Brand restaurierten Kathedrale die Dornenkrone mit Nagel und Kreuzsplitter in einem neuen Reliquiar in der zentralen Kapelle des Chorumgangs aufbewahrt werden. [12]


Anmerkungen:

[1] Siehe: Le trésor de Notre-Dame de Paris. Des origines à Viollet-le-Duc. Connaissance des arts. Hors-série. Paris 2023, S. 47

[2] Bild aus:  http://des-pierres-et-des-papillons.over-blog.com/2023/12/le-tresor-de-notre-dame-au-louvre.html

[3] https://www.sortiraparis.com/de/was-in-paris-zu-besuchen/ausstellung-museum/articles/284317-der-schatz-von-notre-dame-de-paris-die-ausstellung-uber-die-kathedrale-im-louvre-museum-unsere-fotos

[4] Bild aus: https://www.france-catholique.fr/splendeur-de-notre-dame-au-louvre.html

[5] Bilder des Ölbehälters aus https://fr.wikipedia.org/wiki/Chr%C3%A9mier_en_forme_de_colombe

[6] Zur Geschichte der Dornenkrone siehe das Interview mit der Mittelalter-Spezialistin Valérie Toureille https://www.lepoint.fr/histoire/notre-dame-cash-pouvoir-et-foi-l-etonnante-histoire-de-la-couronne-du-christ-25-04-2019-2309529_1615.php#11  

[7] Renaud de Villelongue, Les reliques de la Passion et la chapelle du Saint-Sépulcre. In: Notre-Dame de Paris. Sous la direction du Cardinal André Vingt-Trois. Strasbourg 2012, S. 255-259

[8]Bild aus:  Le Soir 16.4.2019

[9] Oberes Bild: https://notre-dame-de-paris.culture.gouv.fr/fr/viollet-le-duc-et-les-chefs-doeuvre-dorfevrerie-du-tresor-de-notre-dam   Unteres Bild: Wolf Jöckel

[10]  https://presse.louvre.fr/le-tresor-de-notre-dame/  Siehe auch: https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/reliquaire-de-la-sainte-couronne-depines-58099

[11] https://www.louvre.fr/en-ce-moment/evenements-activites/le-reliquaire-de-la-sainte-couronne-d-epines-de-viollet-le-duc

[12] https://fr.aleteia.org/2023/06/23/notre-dame-de-paris-un-nouveau-reliquaire-pour-la-couronne-depines/

Weitere Beiträge zu Notre-Dame auf diesem Blog:

Gruß zum neuen Jahr

Weihnachtsgebäck von unseren Enkelinnen L. und A. mit Eiffelturm und Friedensengel

Dort ist Ende letzten Jahres der 200. Beitrag erschienen – über den Wiederaufbau von Notre-Dame: Ein beeindruckendes französisches „Wir schaffen das!“ und ein Symbol der Zuversicht.

  Und für das nächste Blog-Jahr gibt es Projekte und Pläne genug:

  • Der Schatz von Notre-Dame, von den Anfängen bis Viollet-le-Duc
  • Hittorff contra Haussmann: Die place de l’Étoile
  • Paris mit Enkeln: Der Louvre
  • Die Zisterzienser-Abtei von Pontigny, die internationalen Begegnungen (décades) und Heinrich Mann
  • Das Museum für Einwanderungsgeschichte in Paris im Palais de la Porte Dorée: Die neue Dauerausstellung
  • Der Pionier der Pariser Street-art: Gérard Zlotykamien
  • Heinrich Heine und Ludwig Börne, Handwerker, Hausmädchen und hessische Straßenkehrer: Paris als Zentrum deutscher Migration im 19. Jahrhundert
  • Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf
  • Die alte/neue Bibliothèque Nationale im Herzen von Paris
  • Gare du Nord: Hittorffs Triumphbau des Fortschritts
  • Auf den Spuren von Gustave Courbet in Ornans, wo er geboren und schließlich auch beerdigt wurde
  • Aufstieg und Fall des Nicolas Fouquet: Schloss und Park von Vaux-le-Vicomte
  • …..
  • ……
  • …..

Ich hoffe, dass für alle etwas Interessantes dabei sein wird…