Nach 2021 und 2022 gibt es auch in diesem Jahr wieder eine Ausstellung in der ehemaligen Pariser Handelsbörse.
Außerordentlich ist diese Ausstellung gleich dreifach:
Sie findet statt in einem grandiosen Rund- und Kuppelbau, zunächst ein Getreidelager, dann eine Handelsbörse, gewissermaßen ein Pantheon, das -ganz in der Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts- den Göttern des Kapitalismus und Imperialismus gewidmet war.
Der inzwischen denkmalgeschützte Bau, der neben dem Eiffelturm der französische Beitrag zur gro0en Weltausstellung von 1889 war, wurde in den letzten Jahren von dem japanischen Architekten Tadao Ando aufwändig saniert und zu einem wunderbaren Ausstellungsgebäude umgestaltet. Und das in Nachbarschaft zum Centre Pompidou mitten in Paris.[1]
Blick von der Brasserie Halle aux grains im obersten Stockwerk über das Dach (canopé) von Les Halles auf die Fassade des Centre Pompidou Foto: Wolf Jöckel
Außerordentlich ist auch der Hausherr, der von der Stadt Paris das Gebäude auf 50 Jahre gepachtet hat, um dort Teile seiner immensen Kunstsammlung zu präsentieren. Es ist der französische Multimilliardär Pinault. Der gebietet, wie sein Intimfeind Bernard Arnault (LVHM), über ein Imperium der Luxusindustrie, und er befindet sich auch auf dem Gebiet der Sammlung und Präsentation von Kunst in einem erbitterten Wettstreit mit Arnault. Während dieser in Frank Gehrys ultramoderner Fondation Louis Vuitton am Rande von Paris eher die klassische Moderne präsentiert, präsentiert nun Pinault in einem im Kern klassischen Bau zeitgenössische Kunst.
Höchst zeitgemäß -und gleichzeitig auch außerordentlich- ist schließlich das Thema der Ausstellung, das -wie man liest- von Pinault selbst festgelegt wurde. Es geht dabei um den Klimawandel und um drohende Katastrophen; um zukünftige, aber auch zurückliegende Stürme und die von ihnen verursachten und noch nicht verheilten Wunden wie Tschernobyl und der Vietnam-Krieg… Der aktuelle Krieg in der Ukraine, auch wenn er nicht direkt thematisiert wird, verleiht der Ausstellung noch zusätzliche Brisanz und Aktualität.
Ausschnitt aus dem großen Gemälde Texas Louise (1971) von Frank Bowling, das die Ausstellung eröffnet. Alle Fotos der Auisstellung -mit Ausnahme der schwarzen Fahne von Edith Dekynth- von F. und W. Jöckel
Der nachfolgende Beitrag ist kein Ausstellungsführer. Die Bilder und kurzen Texte sollen lediglich einige persönliche Eindrücke vermitteln. Wichtige Teile der Ausstellung wie die Videoinstallation „Tschnernobyl“ und ein Acht-Minuten-Video Hicham Berradas „von irritierender Schönheit“ (Der Spiegel [2] ) sind nicht berücksichtigt, weil einzelne Fotos ihnen kaum gerecht werden können.
Die große Rotunde, das Zentrum des Baus, bietet den angemessenen Raum für das wohl spektakulärste Werk der Ausstellung: Eine Installation scheinbar wild aufeinandergetürmter gebrochener Eichenbaumstämme und -zweige, die zum Teil am Boden liegen, zum Teil von drei Holzgerüsten gestützt werden.
In dem Gewirr der Stämme, Äste und Gerüste sind Kunstobjekte eingebaut.
Madonna, Deutschland, 14. Jahrhundert
Römische Marmorbüste einer Venus, 1. Jahrhundert nach Christus
Ganz offensichtlich geht es dabei um Verfall, Gewalt, Zerstörung.
Die Installation ist ein Werk des vietnamesisch-dänischen Künstlers Danh Vo. Seine Familie floh mit einem selbstgebauten Boot vor dem Krieg und seinen Folgen aus Vietnam, sie gehörte also zu den sogenannten boat-people. Gerettet wurde die Familie von dem Schiff einer dänischen Reederei- deshalb die dänische Staatsbürgerschaft. Gewalt und Zerstörung gehören damit zu den elementaren Erfahrungen und Themen des Künstlers, der in Kopenhagen und an der Frankfurter Städelschule studierte und inzwischen in Stechlin bei Berlin auf einem großen Bauernhof sein Atelier hat.
Unverkennbar ist auch Danh Vos Auseinandersetzung mit dem Christentum, was auch an diesem Jesus-Torso deutlich wird. Der ist in das Prokrustus-Bett einer Carnation- Milchkiste gezwängt- wobei sich die Assoziation zu In-carnation, also Menschwerdung, aufdrängt. Eine der jungen Kunstführer/innen, die durch die Räume gehen und gerne Informationen zu den Ausstellungsstücken geben, erläuterte uns Hintergründe von Danh Vos Verhältnis zum Christentum: Es habe in seiner Jugend für ihn eine große Rolle gespielt. Das zeigt auch der von Danh Vos Vater in Schönschrift wiedergegebene und an einem Holzgerüst befestigte Brief eines katholischen Priesters, der wegen seiner Missionstätigkeit 1861 zum Tode verurteilt wurde.
Opfer sind auch die Marien- und Christusfiguren in der Installation – so auch der am Holzgerüst befestigte zerstückelte Kruzifix auf dem nachfolgenden Bild.. Aber Danh Vo sei auch selbst zu einem Opfer kirchlicher Gewalt geworden, als er aufgrund seiner Homosexualität ausgegrenzt worden sei.
Dies alles wird präsentiert in einem Raum, in dem der industrielle Fortschritt und der weltumspannende Handel gefeiert werden…. .
…. ebenso wie die (angeblichen) Segnungen des Kolonialismus…
Hier -auf dem großen Wandgemälde unterhalb der Glaskuppel- werden die frisch gefällten Baumstämme im Dienst des Fortschritts zugeschnitten, in der Rotunde sind sie Ausdrucks von Zerstörung und Verfall…
Es gibt aber nicht nur Verfall und Zerstörung in Danh Vos Installation, sondern auch die Kapuzinerkresse -mit lateinischem Namen Tropaeolum- , die im Laufe der Ausstellung das verfallende Holz überwuchern soll und nach der die Installation benannt ist.
Die Tauben auf der Balustrade gehören übrigens zu den sogenannten in-situ- Ausstellungsstücken, die dort schon seit Eröffnung des Gebäudes sitzen…
Vielleicht wird sogar einmal der Blick auf die imposante gläserne Kuppel von der Kapuzinerkresse überwuchert sein. Diese Kuppel ist ein technisches Meisterwerk, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Mitarbeit des deutsch-französischen Architekten Hittorff gebaut wurde und Ausdruck des damals noch ungebrochenen Fortschrittsglaubens ist.
Und dann gibt es die Fotos von Blumen, die Danh Vo im Blumenladen unter seiner Berliner Wohnung gekauft hat. Dass diese Fotos mit grauen Holzleisten eingerahmt sind, erscheint zunächst nicht weiter bemerkenswert. Aber es ist Holz aus einem amerikanischen Wald, den Craig McNamara bewirtschaftet. Und der ist der Sohn des früheren amerikanischen Secretary of defense und „Architekten des Vietnam-Krieges“ Robert McNamara (Begleitheft). Danh Vo ist inzwischen mit der Familie freundschaftlich verbunden, und die Holzrähmchen lassen sich, so Le Monde, als Beginn einer symbolischen Wiedergutmachung verstehen für die Verwüstungen, die die Amerikaner in Vietnam angerichtet haben.[3] „Ein anderer Weg, im Auge des Zyklons, bleibt noch möglich“ – heißt es dazu in dem Begleitheft der Ausstellung.
In dem Umgang der Rotunde, zwischen der alten Umfassungsmauer und dem neuen Betonring von Tadao Ando, hat die belgische Künstlerin Edith Dekyndt in den alten Schaukästen für die Weltausstellung verschiedene Objekte ausgestellt, die an den Kolonialismus und seinen Zerfall erinnern wie dieses von Ratten angefressene Tuch aus Indien:
Gezeigt wird auch ihr Video Ombre indigène aus dem Jahr 2014: Eine im Wind flatternde Fahne aus schwarzen Haaren. Dekynth hatte die damals auf einem Felsen von Martinique aufgestellt, wo 1830 ein Schiff mit Sklaven untergegangen war.
Die Fahne mit den schwarzen Haaren ist inzwischen im Iran zu einem Symbol für den Kampf von Frauen für ihre Freiheit geworden.[4]
Plakat in der rue Rollin im 5. Arrondissement
In einer der oberen Galerien ist die Algenlandschaft von Anicka Yi ausgestellt, in der mechanische Insekten herumschwirren und -surren… Vielleicht auch ein Hinweis auf Möglichkeiten des (Über-) lebens für eine immer weiter anwachsende Weltbevölkerung?
Lucas Arruda, Aus der Serie Deserto-Modelo: Ein kleinformatiges gewaltiges Landschafts-Chaos- Vor oder nach dem Sturm?
Filigrane Objekte von Daniel Steegman Mangrané veranschaulichen „die Fragilität unseres Daseins.“ (Der Spiegel)
An den Wänden Bilder der Serie „Coronation of Sesostris“ von Cy Twombly.
Die Barke des Pharaos auf dem Weg ins Jenseits –
…. und damit zu neuem Leben….
Man darf darin aber wohl auch -im Kontext dieser Ausstellung- eine Arche Noah sehen….
Zum Schluss dieses Berichts noch ein Blick in den eindrucksvollen Raum, der von einem weiteren aus Vietnam stammenden Künstler, Thu Van Tran, gestaltet wurde.
Die Wände des Raumes sind -in dunklen Farben- von Spuren der Gewalt gezeichnet.
Im Gegensatz dazu die leuchtenden Farben des großen Wandgemäldes Les Couleurs du Gris (hier Ausschnitte). Aber es sind die Farben von Chemikalien wie Agent Orange, mit denen die amerikanische Luftwaffe den vietnamesischen Wald bombardierte. Ein makabrer Regenbogen des Todes.
Aber „die Schönheit der Stürme der Apokalypse“, von der die Zeitung Le Monde in ihrer Ausstellungskritik schreibt, gehört zu den verstörenden Eindrücken des Besuchs dieser Ausstellung.
„Vor dem Sturm“ ist der Titel der Ausstellung. Aber viele Ausstellungsstücke -wie auch die große Installation in der Rotunde- zeigen eher einen Zustand nach dem Sturm oder das davor und das danach bleiben in der Schwebe, im Ungewissen. Und auch wenn die Stürme vergangenen sind, so sind sie doch gleichzeitig auch die Vorboten von neuen und vielleicht noch gewaltigeren…
[2] Vor dem Sturm. Eine Ausstellung in Paris widmet sich dem Klimawandel auf besondere wie verstörende Weise. Der Spiegel 9/2023 vom 25.2.2023, S. 102
[3] Emmanuelle Lequeux, la beauté des tempêtes de l’apocalypse. À la Bourse de commerce de Paris, „Avant l’orage“ raconte un monde où le dérèglement est devenu la norme. In Le Monde, 14. Februar 2023, S.21
Seit dem 15. Oktober 2022 ist im Pariser Rathaus, dem Hôtel de ville, eine Ausstellung über art urbain zu sehen, die aufgrund der großen Nachfrage noch bis Ende März verlängert wurde. Der nachfolgende Beitrag soll einen Eindruck von dieser Ausstellung vermitteln und zu ihrem Besuch anregen. Und in jedem Fall handelt es sich um einen schönen Überblick über die Geschichte und die Breite der Pariser Street-Art/art urbain…
Foto: Wolf Jöckel
Mit dem Oberbegriff der art urbain werden die eher anarchistische Graffiti- Produktion und die inzwischen eher arrivierte street-art zusammengefasst. Ziel der Ausstellung ist es, einen Überblick über 60 Jahre Straßenkunst in Paris zu geben, „einem der wichtigsten Schauplätze dieser künstlerischen Bewegung“´, wie es in dem Faltblatt zur Ausstellung heißt. Man wird in der Ausstellung manchen „alten Bekannten“ begegnen, Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken wesentlich dazu beigetragen haben, die Stadt zu bereichern und denen man immer wieder begegnet. Es gibt aber auch viel Neues zu entdecken: Insgesamt eine sehr kompakte, übersichtlich und abwechslungsreich gestaltete Ausstellung!
Hier einige Beispiele aus dem historisch angelegten Parcours:
Die Ausstellung beginnt mit Vorläufern der art urbain wie dem 1940 in Paris geborenen Gérard Zlotykamien, der 1963 als erster Künstler überhaupt begann, im öffentlichen Raum zu arbeiten.
Hier sieht man ihn beim -natürlich illegalen- Sprayen 1984 in der Rue Condorcet in Paris. Bekannt wurde er durch seine Strichfiguren, die sogenannten Éphémères (die Vergänglichen/vom baldigen Verschwinden Bedrohten).
Inspiriert wurden diese Figuren durch die eingebrannten Schatten der Menschen nach dem Atombomenabwurf auf Hiroshima und durch die Shoah. In der Ausstellung wird einer der Éphémères aus dem Jahr 1978 gezeigt.
Die 1980-er Jahre war dann die große Zeit der Schablonenmalerei (pochoir): Vorbereitete gezeichnete und dann zurechtgeschnittene Schablonen werden auf dem ausgewählten Untergrund befestigt. Die auf den Schablonen ausgesparten Flächen werden dann mit einer Farbe oder auch mehreren eingesprüht, die den Untergrund entsprechend färben. Diese Technik kann vor Ort mit großer Schnelligkeit angewendet werden: Gerade bei den meist illegalen Aktionen ist das ein erheblicher Vorteil. Außerdem eröffnet die Verwendung von Schablosen einen beträchtlichen Variationsspielraum: Die Farben können verändert, die Schablonen unterschiedlich kombiniert werden. Paris wurde in den 1980-er Jahren ein Zentrum der Schablonenmalerei: Künstler wie Miss Tic, Mosko, Jeff Aérosol, Jérôme Mesnager und viele andere haben das Stadtbild mit ihren Arbeiten bereichert.
Dies ist ein Selbstportrait von Miss Tic (1985), begleitet von einem programmatischen Satz mit einem für sie typischen Wortspiel (art mur – Mauerkunst- und armour -Rüstung, aber auch amour – Liebe): Ich wappne mich mit Mauerkunst, um Herzensworte an die Wände zu sprühen. Vergleicht man in dem beigefügten Text die mehrfach verwendeten Buchstaben, kann man sehr gut die Verwendung der Schablonentechnik erkennen.
Am 22. Mai 2022 ist Miss Tic gestorben, aber ihre Werke sind inzwischen Bestandteil des Pariser Stadtbildes. Sie werden jetzt auch nicht mehr, wie zum Teil noch in den 1980-er Jahren, als Sachbeschädigung gewertet mit entsprechenden juristischen Folgen, sondern eher gehegt und gepflegt wie dieses mit Glas geschützte Bild in der rue de la forge royal im 11. Arrondissement von Paris.
Foto: Wolf Jöckel
Viele der Pariser pochoristes sind inzwischen arrivierte Künstler, deren Werke in Galerien ausgestellt werden und hohe Preise erzielen. Das gilt z.B. für Jérôme Mesnager.
Bonhomme blanc 1987 (Ausschnitt)
Zwei seiner in einer ausgelassenen Stunde geborene weiße Männer sind im Pariser Rathaus zu sehen: Die sind nicht mehr auf Wände gesprüht, sondern auf handliche und transportable Untergründe. Und der Fonds d’Art Contemporain der Stadt Paris hat sie in seine Sammlung aufgenommen.
Die 1980-er Jahre sind auch die Blütezeit der Graffiti. Voraussetzung für die Graffiti wie auch für die Schablonenmalerei sind die Farbdosen, mit denen die Farbe (peinture aérosol) versprüht wird.
Im Französischen heißt das bombarder – und manchmal schienen früher und scheinen manchmal auch heute noch die graffeurs diese Bezeichnung allzu wörtlich zu nehmen. In Paris und Umgebung waren es besonders oft über und über besprühte Lastwagen, Eisenbahn- und Metro- Züge, die die Verbreitung der jeweiligen Tags/Signaturen garantieren sollten.
Ein Wagen von Marktbeschickern im 11. Arrondissement. Die tags werden nicht mehr entfernt, weil sie sonst sofort wieder neu „dekoriert“ würden. (Fotos: Wolf Jöckel, Februar 2023)
Hier wurde direkt mit Sprühdosen, aber auch mit einer Schablone „gearbeitet“.
Besonders Aufsehen-erregend war eine Aktion, der in der Ausstellung sogar ein eigner Abschnitt gewidmet ist: Am 1. Mai 1991 „bombardierten“ drei graffeurs Wände und Statuen der Station Louvre-Rivoli, der schönsten Metro-Station von Paris, wie die Zeitschrift Télérama damals schrieb. Mehrdeutiger Titel ihres Berichts: „Paris sous les bombes“…
Brian Lucas ancien vandale de la station Louvre. [1]
Einer der „Vandalen“ war der damals 19-jährige Brian Lucas (Pseudonym Oeno), der dafür eine Gefängnisstrafe von eineinhalb Monaten absitzen musste. Inzwischen allerdings gehört Oeno -wie die Schablonenmaler/innen der ersten Stunde- zu den anerkannten und arrivierten Personen der Kunstszene[2]: Street Art und Graffiti sind unter dem Dach der art urbain friedlichvereint.
Als Reminiszenz an die wilden Graffiti-Zeiten und Kunstobjekt wird in der Ausstellung ein Metro-Schild von Nasty präsentiert:
Der wurde schon mit einem Arte-Film gewürdigt, und eine Internet Galerie bietet seine Werke für Preise zwischen 180 und 5998 Euro an (Stand Februar 2023)[3]
Auf seinem zum Verkauf angeboten Metro-Plan bezieht sich Nasty mit der ironischen Frage „can you catch me?“ auf das frühere Katz- und Maus-Spiel mit den Verfolgern der graffeurs…[4]
Diese Zeiten gehören wohl eher der Vergangenheit an: Die Tags sind zum Objekt von Kunstliebhabern und Sammlern geworden:
Vues macroscopiques de tags parisiens. Photographie von Nicolas Gzeley (Ausschnitt)
Es ist ein Vorteil der Ausstellung, auf begrenzten Raum einen Überblick über die Pariser Street-Art/Graffiti-Szene zu geben: Einige weitere Beispiele:
Fotos: Wolf Jöckel
Die Geschöpfe von Kraken, dem „Docteur Octopus du street art“[5], gehören zum Pariser Stadtbild. Hier zum Beispiel einer seiner typischen Oktopusse mit den in sich verschlungenen Tentakeln am Boulevard de Belleville.
Zwei seiner Oktopusse hat er auf die Wände der Ausstellungsräume gezeichnet.
C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten französischen Street-Art-Vertreter. Ihm sind auch schon zwei Beiträge auf diesem Blog gewidmet.[6] Vor allem ist C 215 Portraitist. Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte. Mittels eines beigefügten QR-Codes konnte man an Ort und Stelle Näheres über das Schicksal der jeweiligen Person erfahren.
Zu dieser Aktion gehörte auch ein Portrait von Simone Veil an der Metro-Station Saint-Paul, das im Hôtel de Ville ausgestellt ist. Fotos: Wolf Jöckel
Ein ganz außergewöhnlicher Vertreter der Street-art ist der Portugiese Alexandre Farte, alias Vhils. Er ritzt seine Motive, vor allem Portraits, in weiß verputzte Hauswände. Auf diesem Blog ist er uns schon am Gartenhaus der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles begegnet, aber auch in Paris, natürlich im 13. Arrondissement, war er schon aktiv.
Erst aus dem Abstand ist zu erkennen, was da jeweils mit Hammer und Meißel entstanden ist.[7]
Fotos: Wolf Jöckel
In der Pariser Ausstellung ist er auch vertreten. Allerdings konnte er da ja kaum die Wände des Rathauses entsprechend bearbeiten. Als Alternative nutzte er zusammengepresste Kartons:
Wenn man mit etwas Abstand genau hinsieht, erkennt man das auf diesem Untergrund entstandene Gesicht eines alten Mannes….
Es gibt allerdings auch in Paris ein in den Putz gemeißeltes Wandbild von VHILS: Natürlich im 13. Arrondissement, der der rue du château des rentiers:
Vielleicht ein Portrait von Leonard Cohen?
Ein alter Bekannter der Pariser Street-Art-Szene ist Clet Abraham mit seinen verfremdeten Straßenschildern.
Foto: Wolf Jöckel
Bemerkenswert ist, dass sie -hier eines im 11. Arrondissement- nach meiner Beobachtung doch längere Zeit von der Pariser Straßenverwaltung oder Polizei geduldet werden. Aber ein Verkehrsteilnehmer hätte bei einer Missachtung des Durchfahrtsverbots sich sicherlich kaum mit Erfolg auf diese Version des Schildes berufen können….
Hier handelt es sich um ein vom Rost angefressenes und wohl ausrangiertes Schild, das Clet Abraham dann zu einem Kunstobjekt transformiert hat. Und dies mit einer eindeutigen und angesichts der aktuellen Debatten um Panzerlieferungen an die Ukraine brisanten politischen Botschaft.
Am bekanntesten von allen Street-Art-Künstlern der Stadt ist sicherlich der Invader , der deshalb auch in der Ausstellung entsprechend gewürdigt wird.
Auf einem großen Pariser Stadtplan sind alle seine Werke markiert und mit Nummern versehen. Die über 1000 Pariser Invaders haben die Stadt gewissermaßen in ihren Besitz genommen.
Man hat also gute Chancen, beim Bummeln durch die Stadt auf Spuren des Invaders zu stoßen. Und sie sind auch immer unterschiedlich und oft angepasst an den jeweiligen Ort wie dieser schöne Hinweis auf den nahe gelegenen Gare de Lyon, auf dem die Züge in den warmen Süden abfahren. Entdeckt und aufgenommen habe ich diesen Invader im März 2023: Es gibt also nach so vielen Jahren Paris immer noch/wieder Neues!
Das Mosaikbild aus der rue de Montreuil im 11. Arrondissement, das das Ankleben eines Invaders zeigt, dient als Motiv für das Ausstellungsplakat.
Foto: Wolf Jöckel
Alle bisher angeführten Werke der Pariser art urbain sind, soweit sie nicht direkt für Galeriezwecke entstanden sind, in den Straßen der Stadt auf Augenhöhe angebracht – oft, wie bei dem Invader, kurz oberhalb des Erdgeschosses, um sie vor Vandalismus zu schützen – oder auch vor Souvenirjägern….
Die Street-Art-Szene ist aber nicht nur in diesem Bereich sichtbar, sondern auch darunter und darüber. Schon in den 1980-er Jahren war der Pariser Untergrund ein beliebter Ort für Sprayer.
Diesen Raum haben Jerôme Mesnager und der im Untergrund besonders aktive Alexandre Stolypine, alias Psychoze, ausgestaltet.[8]
Vor allem aber geht es inzwischen hoch hinaus mit der Street Art. Großen Street-Art-Wandbildern begegnet man in Paris sehr oft, vor allem natürlich dort, wo es Flächen gibt, die dazu einladen. Das gilt besonders für das 13. Arrondissement mit seinen Neubauten entlang der Hochbahntrasse der Metro-Linie 6 und den Hochhäusern im sogenannten Chinesenviertel. In der Ausstellung werden mit entsprechenden Erläuterungen versehene Fotos einiger besonders markanter Wandbilder gezeigt.
Eines der ersten großen Wandbilder in Paris stammt von dem Amerikaner Keith Haring. Es schmückt seit 1987 einen Turm im Kinderkrankenhaus Necker in Paris. Auf der Gondel eines Krans postiert malte Haring in drei Tagen ein großes farbiges und zum Ort passendes Fresko auf den Beton.
Foto: Wolf Jöckel
Die großformatigen Wandbilder entlang des Boulevard Vincent Auriol, der sich von der Seine bis zur Place d’Italie hinzieht, gehören inzwischen zu den Attraktionen der Stadt. Mit Recht hat man von einer open-air-Kunstgalerie gesprochen, die auch noch ständig weiterentwickelt wird.
Dieses im Hôtel de Ville ausgestellte Plakat zeigt eine Marianne des amerikanischen Künstlers Shepard Fairey. Bei dem originalen Wandbild im 13. Arrondissement handelt es sich um das größte existierende Marianne-Bild: Ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.
Naheliegend also, dass ein Abzug des Bildes an der Wand eines Arbeitszimmers von Präsident Marcron im Elysée-Palast hängt.
Foto: Wolf Jöckel
Auf dem originalen Gemälde weint die Marianne allerdings eine Träne: Überrest einer Aktion von Aktivisten, die auf den Widerspruch zwischen Ideal und Realität der französischen Republik aufmerksam machen wollten.
Zu den bekanntesten großformatigen Wandbilder von Paris gehört auch Seths gamin de Paris/Kind von Paris im 13. Arrondissement. Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt,
Ecke Boulevard Vincent Auriol/rue Jeanne d’Art Foto: Wolf Jöckel
Für Seth, der im banlieue von Paris aufgewachsen ist, repräsentiert der kleine Junge die Kindheit in den großen Metropolen der Welt. Er habe in seiner Jugend die Farben vermisst, aber sie in seiner Lektüre, seinen Spielen und seinen Phantasiereisen gesucht. Der Junge blicke auf die andere Seite der Mauer und Licht und Farbe strahlten auf die umliegenden Gebäude aus. „Das ist die Macht der Phantasie, die das verändert, was uns umgibt.“[9]
In der Ausstellung wird nicht nur ein Photo des Wandgemäldes gezeigt, sondern auch eine leuchtende, gläserne Version des kleinen Jungens. Und es wird hingewiesen auf ein neues Wandbild in der rue Buot, ebenfalls im 13. Arrondissement, das Seth aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine hergestellt hat.
Sicherllich wird „die Macht der Phantasie“ nicht ausreichen, um diesen Krieg zu beenden, aber sicherlich ist sie auch hier unabdingbar….
Die deutsch-französische Gesellschaft (DFG) Duisburg e.V. hat ein ganz entzückendes deutsch-französisches Gemeinschaftswerk herausgegeben. Ein bunter Fächer französischer Redewendungen wird in einem kleinen Büchlein höchst informativ und unterhaltsam präsentiert: Für alle frankophilen bzw. germanophilen Menschen ein großer Genuss und Gewinn.
Das Buch hat seine Grundlage in der Rubrik „expression de la semaine“ (Ausdruck der Woche) im Newsletter der DFG Duisburg. Dort haben Waltraud Schleser und Pierre Sommet regelmäßig französische Redewendungen erläutert- Schleser auf deutsch, Sommet auf französisch.
Das Büchlein, das daraus nun entstanden ist, hat zwei seitenverkehrte Teile: Je nachdem, wie man es dreht, beginnt es mit dem deutschen oder französischen Abschnitt, dreht man es um und stellt es auf den Kopf, ist der andere Abschnitt an der Reihe. Erläutert werden zwar französische Redewendungen, aber natürlich geht es dabei immer auch um die deutschen Entsprechungen: Das eröffnet interessante Einblicke in die jeweiligen Kulturen.
Nachfolgend zwei Appetithäppchen, ein deutsches und ein französisches. Und zum Abschluss das Vorwort des Büchleins, das hier als Nachwort fungiert…
Viel Spaß beim Lesen/agréable lecture!
Wolf Jöckel
Illustrationen von Cornelius Rinne
Waltraut Schleser: Leben wie Gott in Frankreich- –vivre comme un coq en pâte
Als coq en pâte wurde im 17. Jahrhundert der schönste Hahn auf dem Bauernhof bezeichnet, mit dem sein Besitzer landwirtschaftliche Wettbewerbe gewinnen wollte. Der Hahn wurde mit einem Teig (pâte) bestrichen, der die Federn zum Glänzen brachte. Außerdem wurde er bevorzugt behandelt und besonders aufgepäppelt.
Man fühlt sich wie Gott in Frankreich, wenn man einen coq en pâte auf dem Teller hat.
Die Redewendung hat jedoch nichts mit dieser kulinarischen Köstlichkeit zu tun. Für uns Deutsche bedient Leben wie Gott in Frankreich die positiven Clichés, die wir mit unserem Nachbarland verbinden. Die französische Gastronomie hat einen exzellenten Ruf, französische Weine ebenso. Die Essensabfolge vom Aperitif bis zum Digestif ist ins Weltkulturerbe eingegangen. Dazu kommt noch die Vorstellung von Sonne, Urlaub, schöner Landschaft und Nichtstun.
Leben wie Gott in Frankreich setzt man in Deutschland gleich mit dem savoir-vivre der Franzosen. Vorsicht! Hierbei handelt es sich um einen faux-ami. Die richtige Übersetzung wäre art de vivre. Savoir-vivre umfasst im Französischen das Wissen, wie man sich zu benehmen hat, das Lernen von Anstand und guten Manieren, also eher harte Arbeit als farniente.
Pierre Sommet: Le violon d’Ingres – das Steckenpferd
L’artiste peintre Jean-Dominique Ingres ( 1780-1867 ) doit sa célébrité, principalement, à ses nus féminins (La Grande Odalisque, Le Bain Turc) et à ses portraits.
Grande Odalisque/die große Odaliske, 1814 (Louvre)
Le musée Ingres-Bourdelle, installé dans l’ancien palais épiscopal de Montauban, la ville natale du Prix de Rome 1801, abrite une riche collection d’œuvres de ce peintre, qui était aussi considéré comme le meilleur dessinateur de son temps.
Joseph Ingres, son père, lui aussi artiste peintre, eut la judicieuse idée d’envoyer son fils talentueux, dès l’âge de onze ans, à l‘Académie Royale de Toulouse, où il reçut des leçons de peinture et de violon. Toute sa vie, à ses heures perdues, Ingres s’est adonné à son passe-temps favori, le violon. Ingres avait, pour ainsi dire, plusieurs cordes à son arc. En guise de cordes, des cordes de violon, en guise d’arc, un archet. Et il fut même deuxième violon à l’orchestre du Capitole de Toulouse.
Cette passion du peintre pour la musique se retrouve dans l’expression avoir un violon d‘Ingres pour désigner un hobby pouvant aller de la chasse aux moulins à café anciens ou autres trouvailles sur les marchés aux puces à l’apprentissage du déchiffrage des hiéroglyphes.
Vocabulaire :
judicieuse idée – kluge Idee / à ses heures perdues – in seiner Freizeit / s’adonner à un passe-temps – sich einer Freizeitbeschäftigung widmen / avoir plusieurs cordes à son arc – mehrere Eisen im Feuer haben / en guise de – als / archet – Geigenbogen / apprentissage – das Erlernen
Bon à savoir : avoir un dada – ein Steckenpferd/Hobby haben
Nachwort von Dr. Claudia Kleinert, 2. Vorsitzende der Deutsch-Französischen Gesellschaft Duisburg e.V.
Redewendungen sagen viel über den kulturellen Hintergrund und den Umgang mit der Sprache eines Landes aus. So groß die Unterschiede dabei auch sein mögen, schließt das Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aber keineswegs aus. Redewendungen nehmen immer Bezug auf Erlebtes und Alltägliches, damit sich auch jede und jeder im jeweiligen kulturellen und sprachlichen Kontext wiederfinden kann. Darin liegt auch begründet, dass uns der Ursprung vieler Redewendungen heute nicht mehr geläufig ist, da die Bezugswelt lange zurück liegt.
„Ne pas y aller par quatre chemins“ bezieht sich ursprünglich auf die Zeit der Kutschen und Pferde, als man möglichst schnell von A nach B wollte und dabei regelmäßig an den Wegkreuzungen zwischen vier Richtungen wählen musste. Oder es finden sich Bezüge zu (alten) Essgewohnheiten und Menüfolgen, wie bei „entre la poire et le fromage“. Überhaupt beziehen sich sehr viele französische Redewendungen auf das Essen, sehr viel mehr als bei uns, was die Bedeutung des Essens in Frankreich widerspiegelt. Auch die Wandlung des Sprachgebrauchs spielt eine Rolle. Hat der „Blitz“ früher nur für den Schrecken gestanden, den der Blitzeinschlag hervorruft, wandelte sich der Sprachgebrauch dahingehend, dass der Blitz auf Emotionen übertragen wurde, so dass „wie vom Blitz getroffen“ oder „Liebe auf den ersten Blick“ ihre Bedeutung bekamen, der „coup de foudre“ auch die treffen kann, die ein umwerfend schönes Kleid sieht. Die Bilder in beiden Sprachen sind oft sehr unterschiedlich, aber die Methode der Darstellung ist auffallend ähnlich. Manchmal unterscheidet sich die Bewertung einer Situation grundsätzlich. „Offen und ehrlich“ zu sein – bei uns eine Tugend – wird in Frankreich oft als zu direkt und daher unhöflich empfunden, man fällt sozusagen „mit der Tür ins Haus“ und droht einiges Porzellan zu zerschlagen.
Ausgewählt wurden auch heute noch verwendete Redensarten. Das Format des Wendebuches erlaubt es, das Buch von vorne nach hinten oder von hinten nach vorn zu lesen. Zum leichteren Verständnis sind den französischen Texten Vokabelhilfen nachgestellt.
Der Titel des Buches – Potpourri/Pot-Pourri wurde bewusst gewählt, stehen diese beiden Worte doch für einen Topf, der wohlriechende Pflanzenteile enthält und Wohlbefinden verbreiten soll. So wie in der Musik die Zitate bekannter Melodien zusammengestellt ein Potpourri ergeben, so bietet dieser keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Pot-Pourri eine Fülle von Düften, die langsam aufgesogen werden wollen und nachhaltigen Genuss offerieren: neue Vokabeln, sprachliche Besonderheiten und Gegenüberstellungen, zunächst vielleicht seltsam anmutende Formulierungen und viele geschichtliche Hintergründe.
Herausgeber des Buches sind die Deutsch-Französische Gesellschaft Duisburg e.V. (DFG), ihre Vorsitzende, Waltraud Schleser, und Pierre Sommet, ehemaliger Fachbereichsleiter für Fremdsprachen an der VHS Krefeld. Die aus dem Verkauf dieses Buches erzielten Einnahmen gehen an die DFG Duisburg, die damit weitere Aktivitäten planen und die deutsch-französische Freundschaft so weiter befördern kann –eine Herzensangelegenheit der Autorin und des Autors.
Marlis Franke, die Autorin des nachfolgenden Beitrags, war bis zu ihrer Pensionierung Fachbereichsleiterin für neuere Sprachen an der Carl-Schurz-Schule, einem Gymnasium in Frankfurt/Main mit einem Schwerpunkt im Fach Französisch. Sie hat zunächst als Lehrerin und dann als Mitglied der Schulleitung im Rahmen von Austauschfahrten viele Jahre lang Oradour-sur-Glane besucht, und daraus hat sich eine enge Beziehung, ja Freundschaft mit Robert Hébras entwickelt.[1] Als Marlis Franke 2013 in Frankfurt als Chevalier de l’ordre des palmes académiques ausgezeichnet wurde, waren Robert Hébras und seine Frau Christiane auch dabei.[2] Insofern bin ich meiner ehemaligen Kollegin besonders dankbar für diesen persönlichen Nachruf auf einen Menschen, dessen Schicksal in ganz außerordentlicher Weise die Wunden der deutsch-französischen Vergangenheit verkörpert und der trotzdem oder gerade deshalb sich mit großer Leidenschaft für das Werk der Versöhnung und Verständigung engagiert hat. Robert Hébras konnte am Ende seines Lebens gewiss sein, dass dieses Anliegen, das ihm so sehr am Herzen lag, verwirklicht wurde. Er musste aber auch noch miterleben, dass dies nicht galt für den Wunsch, den er 2005 in der Aula der Carl-Schurz-Schule im Gespräch mit Schüler*innen äußerte: „Ich wünsche mir für euch, eure Kinder, Enkel und Urenkel, dass es nie wieder Krieg gibt“…..[3]
Wolf Jöckel
Am 11. Februar 2023 ist im Alter von 97 Jahren Robert Hébras, ein langjähriger Freund unserer Schule, verstorben. Er hat über zwei Jahrzehnte Generationen von Schüler*innen an der Carl-Schurz-Schule geprägt.
Robert Hébras mit seiner Enkelin Agathe, die die Erinnerungsarbeit ihres Großvaters fortsetzt.[4]
Robert Hébras wurde im Südwesten Frankreichs geboren. Er wuchs auf in Oradour-sur-Glane, einem kleinen Dorf mit rund 700 Einwohnern. Es war ein friedlicher Ort mit Geschäften, Cafés, einer Schule und einer Kirche.
Dieser Ort wurde am 10. Juni 1944 von Einheiten der SS- Panzerdivision Das Reich zerstört und die gesamte Bevölkerung grausam ermordet. Warum die SS-Division „Das Reich“ gerade hier dieses Massaker verübte, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Ernst zu nehmende Résistance-Aktivitäten gab es in dem Ort nicht.
Kinderwagen im Altarraum der Kirche, in der auch 207 Kinder starben.[5]
Die SS-Leute kamen an einem Samstagmorgen. Die Männer wurden in Scheuen zusammengetrieben und dort erschossen oder verbrannt. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche zusammengepfercht und die setzten die SS-Männer dann in Brand. 642 Menschen wurden so ermordet.
Robert Hébras hat diesen Tag nur überlebt, weil er es schaffte, sich trotz schwerer Verletzungen tot zu stellen. Der damals 19jährige verlor innerhalb weniger Stunden seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten, seine Heimat, eigentlich seine ganze Welt.
Nachdem er dem Massaker entkommen war, wurde er heimlich gesund gepflegt, und er schloss sich der Résistance an, um gegen Hitler-Deutschland zu kämpfen. Nach dem Krieg hat er jahrelang sehr wenig über das gesprochen, was passiert war, und es ist auch verständlich, dass er Deutschland und den Deutschen sehr ablehnend gegenübertrat.
Am Ende der 60er Jahre wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Diesem Kanzler war die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit besonders wichtig. Ihm war es ein Herzensanliegen, mit den Menschen zu reden, die besonders unter Hitler-Deutschland gelitten hatten und um Vergebung zu bitten. Und so wurde auch Robert Hébras 1985 nach Deutschland eingeladen.
Robert Hébras ist dieser Einladung nach einigem Abwägen gefolgt, und sie hat sein Leben verändert. Der gelernte Kfz-Mechaniker und Betreiber einer Renault-Werkstatt hatte bis zu diesem Zeitpunkt sämtlichen Kontakt mit deutschen Kunden verweigert.
In Deutschland erkannte er, dass die einzige Art und Weise, die Wiederkehr solcher Dramen zu vermeiden, darin besteht, dass alle – Deutsche, Franzosen, aber auch die Menschen aller anderen Nationen – sich anschauen, was passieren kann, wenn man Hass, Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit zulässt und nicht miteinander redet.
Anschauen sollte man noch heute das „village martyre“, dessen verkohlte Ruinen, die inzwischen vom Verfall bedroht sind, als Mahnmal erhalten blieben.
An diesem Auto in der Garage Desourteaux wurde am 10. Juni 1944 vermutlich noch gearbeitet. Es sollte nie fertiggestellt werden.[6]
Durch diese Ruinenstadt hat Robert von 2002 bis 2020 unsere Schülergruppen geführt, die zum Austauschs nach Niort gekommen waren. Anschließend stand er ihnen noch im großen Saal des Centre de la mémoire für Fragen zur Verfügung. Die Gespräche mit Robert waren sehr emotional und für die Kinder sehr prägend. Viel Übersetzungshilfen waren nicht nötig – die Kinder verstanden den überaus charismatischen Großvater auch so. In dem Tagebuch, das sie während des Austauschs führten, nahm Oradour immer den größten Raum ein. Viele machten Selfies mit Robert, umarmten ihn, schmiegten sich an ihn…
Robert hat häufig die Führungen mit unseren CSS-Klassen damit begonnen, dass er unseren Schüler*innen sagte, was für ein Glück sie hätten, fast mit Selbstverständlichkeit einen Schüleraustausch zu machen. Zu seiner Zeit und bis in die 1960er Jahre wäre dies unmöglich gewesen. Welche Familie hätte denn einen Deutschen aufgenommen oder gar das eigene Kind nach Deutschland geschickt? Deutschland war ein weit entferntes Land und durch die Kriege fehlten in vielen Familien ein Vater, ein Onkel oder ein Bruder. Der Wert des Schüleraustauschs stand nach den Gesprächen mit Robert nie im Zweifel.
Den Austausch mit Niort habe ich 1991 begonnen. Erst 10 Jahre später begann ich dann die Fahrt nach Oradour als Programmpunkt in den zehntägigen Austausch einzubauen. Ich erfuhr damals, dass die 4e- Klassen unserer Partnerschule im Rahmen des Unterrichts histoire-géo regelmäßig nach Oradour fuhren. Mein Vorschlag, diese Fahrt auch unseren Siebtklässlern anzubieten, stieß zunächst auf Unverständnis im französischen Kollegium. Das könne man den deutschen Kindern doch nicht zumuten!
Niemals haben sich die Schüler*innen schuldig gefühlt für das, was inzwischen zwei Generationen vor ihnen passiert war. Genau das war Roberts große Stärke. Er wusste sehr genau das, was passiert war, als ein Versagen der Menschheit herauszustellen. Sein Ziel war es, Menschen zusammenzubringen und durch das Gedenken zum Denken anzuregen. Alle, die dabei waren, haben das gemerkt.
Robert Hébras inmitten von Schüler*innen der Carl-Schurz-Schule in Oradour. Links (mit Umhängetasche) seine Frau, rechts (mit gestreiftem Pullover) Marlis Franke
Die CSS lag ihm besonders am Herzen. Im Jahr 2005 verbrachten Robert und seine Frau Christiane mehrere Tage in Frankfurt. In der großen Aula der CSS sprach er als Zeitzeuge des Massakers vom 10. Juni 1944 vor 700 Schüler*innen. Einen Tag später war er Ehrengast bei unserer Aufführung der Oper Carmen im Rahmen einer französischen Woche in Frankfurt. Mehrfach ist er zu uns an die Schule gekommen, und auch jenseits der 90 hat er, als unsere Schüler*innen in Frankreich waren, die große Mühe auf sich genommen, die Führung durch seinen zerstörten Ort selbst durchzuführen. Bei unseren letzten Austauschen reichten die Kräfte leider nicht mehr.
Robert Hébras ist am Samstag, den 11.02.2023 gestorben. Auch wenn jüngere Schüler*innen ihn nicht mehr kannten, begann der darauffolgende Montag in der CSS mit einer Durchsage und einer Schweigeminute. Die Fachschaft Französisch plant eine Umbenennung der großen Aula in „salle Robert Hébras“ zur Erinnerung an diese Schlüsselfigur der deutsch-französischen Freundschaft.
Ich persönlich habe mit Robert einen lieben Freund verloren, den ich sehr vermisse. Zweimal hat er mich und meine Familie in unserem Ferienhaus in der Bretagne besucht. Wir verbrachten jeweils eine Woche zusammen und machten schöne Ausflüge, lachten viel mit ihm und seiner Frau Christiane. Zu seinem 90. Geburtstag wurde ich eingeladen, anschließend haben wir uns nur telefonisch ausgetauscht, der Tod seiner Frau vor drei Jahren hat ihn sehr bedrückt. Er war bis zum Schluss von erstaunlicher geistiger Klarheit.
[1] Anlässlich seines Besuchs in Frankfurt 2015 sagte Robert Hebras in einem Interview: J’ai d’ailleurs des amis en Allemagne, notamment Marlis Franke, enseignante à la Carl-Schurz-Schule de Francfort, qui a initié un programme de visite d’Oradour il a une dizaine d’années pour ses élèves et avec laquelle il nous arrive mon épouse et moi de passer des vacances dans sa maison de Bretagne. Interview Robert Hebras | lepetitjournal.com
Wer an der Metro-Station Arts et Métiers (3. Arrondissement) die U-Bahnlinie 3 oder 11verlässt, kann auf der Fassade des Wohnhauses in der Rue Turbigo mit der Hausnummer 57 einen kolossalen Steinengel mit weit sich ausbreitenden Flügeln entdecken, der sich über drei Stockwerke in die Höhe erstreckt.
Bild: Ulrich Schläger
Geradezu augenfällig ist die Ähnlichkeit seines Kopfes und seines gewellten Haars mit den berühmten Karyatiden der Korenhalle des Erechtheions in Athen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Engel und den Karyatiden ist das plissierte Gewand, das bei den Karyatiden allerdings nur ein Bein bedeckt. Die Karyatiden übten nämlich eine Doppelfunktion als Wächterin und tragendes Element aus. Die Standbeine haben jeweils ihre menschliche Kontur verloren und sich, aufgelöst in langestreckte Plissees, in stilisierte Baustämme verwandelt.
Foto: Wikipedia
Anders als die Karyatiden im antiken Griechenland, die einer Säule gleich die Last eines Gebälks mit ihrem Kopf tragen, stützt dieser Engel auch mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln den Balkon darüber.
In der linken Hand hält er einen Myrrhe-Zweig, in seiner Rechten eine schlauchförmige Geldbörse. Der Geldstrumpf (englisch „wallet purse“, „miser“) war seit dem späten 18. Jh. weit verbreitet. Es sind lange, schmale Beutel mit Zugbandverschluss oder Verschlussring. Eine zweite Form, heute meist fälschlich als „Geldkatze“ bezeichnet, war bis in die 60er Jahre des 19. Jh. außerordentlich beliebt. Sie besteht aus zwei gegeneinander gesetzten, schlauchförmigen Beuteln mit Eingriffsschlitz in der Mitte.
Diese bourses à deux coulants oder sogenannte Louis-Börsen kamen in der Restaurationszeit auf und waren reich verziert. Sie wurden auch bourses d’avare (englisch „miser’s purse“) genannt.
Welche Bedeutung haben diese Attribute? Worauf verweisen die Accessoires (Quasten, Bommeln, Trotteln, Perlen-Halskette, Bänder) des Engels? Ist die Skulptur eine Allegorie, eine Personifikation? Und wenn ja, für was?
Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir einen Blick auf die Baugeschichte und die städtische Entwicklung des Bezirks werfen, in dem sich dieses Haus befindet. Überdies sollten wir uns kurz mit der Kulturgeschichte der Myrrhe und der Bedeutung des Geldbeutels in der darstellenden Kunst beschäftigen.
Die Baugeschichte des Quartiers
Im Zweiten Kaiserreich Napoleons III. wurde die französische Hauptstadt durch die grands travaux haussmanniens, die großen Arbeiten unter der Regie des Präfekten Georges-Eugène Haussmann, von 1853 bis 1870 radikal umgestaltet und modernisiert. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde die Rue Réaumur bis zur Rue Turbigo an der heutigen Métro-Station Arts et Métiers verlängert.
Die Rue de Turbigo verdankt ihren Namen dem Sieg der verbündeten Italiener und Franzosen über die österreichische Armee bei einer Schlacht am 3. Juni 1859 bei dem lombardischen Ort Turbigo. Sie war keine Straße mit Häusern der Aristokratie, wie im nahe gelegenen Marais, an der Place des Victoires oder der Place Vendôme, sondern mit ihren repräsentativen Mietshäusern Wohnort der aufstrebenden Bourgeoisie, die im Zweiten Kaiserreich zunehmend an Einfluss gewann. Deren Auswüchse attackierte Émile Zola in seinem Roman La Curée (die Beute) scharf, insbesondere diejenigen, die nach der Devise des Enrichissez-vous! (dt. „Bereichert euch!“) verfuhren und den Staat und die Stadt Paris als ihre Beute betrachteten.
Unter den ersten Mietern befanden sich Stoffhändler, Miedermacher, Schneider, Hutmacher und andere Modeproduzenten. Produktion und Handel mit Textilen bestimmten die Gegend um die Rue Turbigo. Im unweit gelegenen Quartier du Sentier etablierten sich schon unter Ludwig XIV. Posamenten- und Dekorations-Manufakturen, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweite Blüte erlebten. Die in diesem Pariser Bezirk produzierten Pompons, Troddeln, Fransen und Bänder fanden sich an Frauenkleidern, Militäruniformen, an Accessoires oder waren Teil der Dekoration pompöser Wohnräume.
Die Bedeutung der Myrrhe
Bild: Ulrich Schläger
Die Myrrhe ist ein Baum mit kleinen Blättern und auch der Name des zu einem Harz eingetrockneten Sekretsafts dieses Baumes. Für die alten Ägypter hatte die Myrrhe eine doppelte Bedeutung, sie war ein Mittel, um sich zu wappnen und Unheil abzuwehren und war bedeutsam für den Übergang zur Unsterblichkeit. Deshalb war sie fester Bestandteil der Einbalsamierung von Mumien. Ein mit Myrrhe gewürzter Wein wurde auch Jesus bei der Kreuzigung gereicht, zum einen als Narkotikum, zum anderen aber auch, um den Übergang ins Jenseits zu erleichtern.
Die Myrrhe war auch eine der Gaben der Heiligen Drei Könige. Sie schenkten Gold, Weihrauch und Myrrhe. Gold ist ein Symbol des Reichtums. Es wird Königen als Tribut dargebracht und steht für Körperlichkeit und irdische Welt. Weihrauch dagegen wird den Göttern dargebracht und gilt als Symbol für die Göttlichkeit Christi. Myrrhe aber ist ein Symbol der Heilung, der Magie und der Fähigkeit, die Elemente zu beherrschen. Die Myrrhe galt als ein universelles Allheilmittel für Körper und Seele. Gold, Weihrauch und Myrrhe stehen hier für die drei Welten Körper, Geist und Seele.
In der griechischen Mythologie war Smyrna (Myrrha) die Tochter des Priesters und Königs Kinyras von Zypern. Smyrna ist das griechische Wort für Myrrhe. Smyrna verliebte sich durch einen Zauber Aphrodites in ihren Vater und verführte ihn zwölf Nächte lang. Die Liebesnächte blieben nicht ohne Folgen: Smyrna wurde schwanger. Als der König erkannte, wer ihn verführt hatte, wollte er sein Kind töten. Verfolgt von ihrem Vater flüchtete Smyrna und bat die Götter, sie unsichtbar werden zu lassen. So wurde sie in einen Baum verwandelt und ihre Tränen wurden zum Myrrhenharz. Aber nach neun Monaten brach der Baum auf und ihr Kind Adonis wurde geboren. Die Königstochter Smyrna (Myrrha) erscheint hier als Ausdruck der Großen Göttin, die vom Himmel (Vater) befruchtet wird und dadurch Schönheit (Adonis) gebiert. In dieser Geschichte spiegelt sich unter anderem der magische Schutzaspekt der Pflanze wider.
Die Kostbarkeit der Myrrhe ist auch der Grund, der Braut an ihrem Hochzeitstag einen Myrrhe-Zweig zu schenken. Er steht für langes Leben, Erfolg und Glück, die man der Braut damit wünscht.
Wenn wir also die mythologischen, kulturellen und historischen Aspekte der Myrrhe betrachten, so können wir in ihr die folgende Symbolik erkennen: Die Myrrhe steht für eine Transformation, aber sie dient auch der Abwehr gegen Unheil (insbesondere in der Verbindung mit dem „Schutz“-Engel). Sie ist ein Heilmittel und sie steht für Erfolg (zusammen mit der Geldbörse) und Glück.
Die Bedeutung des Geldbeutels
Bild: Ulrich Schläger
Schon in der Antike galt der Geldbeutel als Symbol des Handels und war deshalb dem Gott der Kaufleute, Merkur resp. Hermes, als Attribut beigegeben. Ein gefüllter Geldbeutel signalisierte Reichtum, Wohlstand, Macht und Einfluss. Die Geldbörse spiegelt zudem Moden und persönlichen Geschmack wider. Bommeln, Troddel, Quasten, Fransen oder Pailletten an den Börsen der Damen entsprachen dem Hang zum aufwändigen Dekor im Second Empire, dem Zweiten Kaiserreich. Ein schönes Beispiel dafür ist die nachfolgend abgebildete bourse d’avare, die bei Druot versteigert wurde.
Die Entwurfsgeschichte des Engels
Die Skulptur geht auf einen Entwurf von Emile-Auguste Delange, Student an der Ecole des Beaux-Arts et Architecture, zurück, der zusammen mit Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch und Jean-Edme-Victor Pertuisot 1851 an einem von Professor Guillaume Abel Blouel initiierten Wettbewerb für ein Leuchtturm-Projekt teilnahm.
Publikation der Leuchtturmentwürfe durch César Daly. Der dritte Leuchtturm von links ist von Emile-Auguste Delange entworfen.
Projets de phares, concours à l’Ecole des Beaux-Arts, Décembre 1851 (Architects Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch, Auguste-Émile Delange, Jean-Edme-Victor Pertuisot). Extrait de la Revue générale de l’architecture et des travaux publics, 1852, pl.9.
Delanges Entwurf zeigt einen riesigen Engel, der über die Leuchtturmlaterne hinausragt und einen Myrrhezweig in der Hand hält. Die Schutzfunktion, die ein Leuchtturm schon an sich für die Schiffe hat, wird unterstrichen durch die Figur eines Schutzengels mit dem Myrrhezweig in der Hand.
César Daly publizierte 1852 Delanges Entwurf zusammen mit den Leuchtturm-Zeichnungen der anderen drei Studenten in der von ihm herausgegeben renommierten Fachzeitschrift Revue Générale de l’Architecture et Travaux. Auf welche Weise Eugène Démangeat, der Architekt des Wohnhauses Nr. 57 an der Rue Turbigo an Delanges „Engel“ gekommen ist, wissen wir nicht. Unzweifelhaft ist aber, dass der Engel an diesem Haus eindeutig auf Delanges Entwurf zurückgeht.
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Die Figur des Engels verweist kunstgeschichtlich auf die Karyatiden als tragendes, dekoratives Bauelement und zugleich auf seine Aufgabe als Wächter. Seine Symbolik muss im Kontext seines lokalen, sozialen und kulturellen Umfeldes gesehen werden. Das griechische Profil des Engels und seine Renaissance-Frisur und seine Quasten und Pompons passten zum eklektischen Stil des Zweiten Kaiserreichs. Die Geld-Börse mit ihren langen Quasten, die Troddel-artigen Ohranhänger, das Band um das plissierte Gewand sowie die Perlenkette des Engels spiegelten zeitgenössischen Geschmack wider und können, losgelöst von Delanges Entwurf, als Reminiszenz an das Gewerbe des Viertel verstanden werden.Überdies fügte sich der Engel ein in die strengen Haussmannschen Vorschriften, die jedes Element verbaten, das stärker aus der Fassade des Gebäudes herausragte.
Trotz allem Hintersinn, den wir in dem Engel sehen können, ist er vor allem Dekor. Er ist hier nicht mehr in seiner transzendentalen Rolle als Mittler zwischen Mensch und Gott dargestellt, auch nicht primär als Schutzengel, sondern ist nur noch Symbol für Glück, Erfolg, Wohlstand und vielleicht auch Schönheit. Eine Allegorie auf die Nächstenliebe, die einige in dieser Figur zu erkennen glauben, erscheint mir allerdings sehr unwahrscheinlich. Wir befinden uns hier immerhin in einer Straße, die im Rahmen der Transformation der Stadt angelegt wurde, die- wie andere Straßen dieser Zeit auch- Objekt groß angelegter Immobilien-Spekulation war, was aufgrund höherer Mieten eine Vertreibung der ärmeren Schichten zur Folge hatte.
Im kurzen Dokumentarfilm von Agnes Varda über Pariser Karyatiden aus dem Jahr 1984 zitiert die Autorin angesichts des Engels in der Rue de Turbigo die erste Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht Reversibilité.
Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse,
La honte, les remords, les sanglots, les ennuis,
Et les vagues terreurs de ces affreuses nuits
Qui compriment le coeur comme un papier qu’on froisse?
Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse?
Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Qual,
Scham, Reue, Schluchzen, Ärger,
Und die vagen Schrecken dieser schrecklichen Nächte,
Die das Herz zusammenziehen wie ein zerknittertes Papier?
Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Angst?
Literatur:
Ich bin natürlich nicht der Einzige, der von dem großen Engel fasziniert ist. Deshalb möchte ich an dieser Stelle besonders einen Aufsatz von Rosemary Flannery nennen, der 2012 publiziert wurde und vom dem ich einige Anregungen erhielt:
Rosemary Flannery, Der Engel der Rue Turbigo. France Today Editors – October 16, 2012. Abdruck aus: Rosemary Flannery, An Architectural Tour Through the History of Paris. The Little Bookroom 2012.
Weitere Quellen/Literatur zum Engel in der rue Turbigo:
Eigentlich war dieser Demonstrationsbericht nicht geplant. Vor ein paar Tagen gab es ja schon eine Bilderstrecke zu der Rentendemonstration vom 31.1. Die gestrige Demonstration nahm aber, soweit ich das mitbekommen habe, einen ganz anderen Verlauf: Zunächst eine friedliche, teilweise geradezu fröhliche Demonstration mit Luftballons und Musik; dann ein Ausbruch von Gewalt, der mich völlig unvorbereitet traf und den ich aus nächster Nähe miterleben musste; und schließlich die Fortsetzung der Demonstration mit friedlichen Mitteln und die routinierten Aufräumungsarbeiten.
Da kann ich dann doch nicht widerstehen, einige meiner Fotos nachfolgend zusammenzustellen.
Vorspiel: Ein massives Polizeiaufgebot
Diesmal verlief die Demonstrationsroute auf dem „klassischen“ Parcours, dem boulevard Voltaire zwischen place de la République und place de la Nation. Auffällig war die massive Konzentration von Polizeikräften in den Nachbarstraßen.
… hier mit einem typischen Werk des Straßenkünstlers Fred le Chevalier…
Aber auch auf dem boulevard Voltaire waren massive Polizeikräfte aufgeboten: Die Erfahrung mit der gewaltsamen Maidemonstration 2022 auf dem selben Parcours haben dabei sicherlich eine Rolle gespielt.
Hier sind Polizisten auf dem boulevard Voltaire vor „unserer“ Versicherung positiert, die vorsorglich die eisernen Rolläden heruntergelassen hat.
Auch die Bankfilialen auf dem Boulevard Voltaire haben sich vorbereitet und sind besonders bewacht.
Eine friedliche Demonstration, fast wie Karneval
Als ich schließlich an dem martialischen Polizeiaufgebot vorbei zum Demonstrationszug vorgestoßen war, war ich beeindruckt von dem friedlichen Strom der Demonstranten.
Demonstrationsteilnehmer vor dem Rathaus des 11. Arrondissements, place Voltaire/Léon Blum
„Eine andere Welt ist möglich“
Ein Angebot: zwei Lithographien gegen zwei Jahre weniger Arbeit…
Pariser Museen: wir haben keine Minute zu verlieren. Das Personal des Louvre hatte schon mit einer spektakulären Aktion vor dem Revolutionsbild von Delacroix auf sich aufmerksam gemacht, wie das nachfolgende Bild zeigt, das uns eine Pariser Freundin geschickt hat.
Länger arbeiten: Nein!!
Auch diesmal war wieder das Théâtre du Soleil dabei: Mit einer Justitia mit Waage und Schwert und sogar einem klassischen Zitat.
„Lourde est la profération coléreuse des citoyens. Il faut payer le prix de la malédition populaire“.
„Gewaltig ist die lautwerdende Wut der Bürger.
Euch wird der Fluch des Volkes treffen“
Die Rente vor der Arthrose!
Dass die Rente mit 64 den direkten Übergang vom Arbeitsleben in Krankheit (Asthma, Rheuma, Krebs etc) und Tod bedeuten würde, gehört wohl zum Allgemeingut der Rentendemonstrationen.
Bis 67 unterrichten? Die Antwort: statt yes we can! : yes, we canne! (canne ist das französische Wort für Stock)
Die Fabrik, ein Schritt zum Grab. Und passend daneben das Stundenglas….
Es ist besser, in Rente zu gehen, wenn man noch lebt!
Metro- Arbeit- Grab: Eine Abwandlung des klassischen Slogans: Metro- Boulot- dodo (Schlaf) . Als älterer Herr, der seit einigen Jahren sein -natürlich nicht schon mit 64 Jahren begonnenes- Rentnerdasein in vollen Zügen genießt, fühlt man sich da schon fast fehl am Platz…..
Am Ziel der Demonstration, der place de la République, wartet man schon an der Statue von Dalou auf den Demonstrationszug. Im Hintergrund die Säulen eines Durchgangs durch die ehemalige Zollmauer, die Paris bis zur Französischen Revolution umgab.
Der Ausbruch der Gewalt – aber nicht aus ganz heiterem Himmel…
Dass es bei der Demonstration zu einem Ausbruch von Gewalt kommen könnte, kam für mich überraschend, aber doch nicht aus heiterem Himmel. Immerhin hatten wir ja die Scherbenhaufen im boulevard Voltaire nach der Maidemonstration von 2022 gesehen. Ein Warnzeichen war auch der massive Polizeiansatz, den es nach meiner Beobachtung bei der Demonstration vom 31. Januar in diesem Ausmaß überhaupt nicht gegeben hatte. Er konnte darauf hindeuten, dass die Polizei Informationen über die Beteiligung gewaltbereiter Gruppen an der Demonstration hatte.
Und dann gab es diesmal -wie auch schon am 31. Januar- im Vorfeld, am Rande und innerhalb der noch friedlichen Demonstration zahlreiche Hinweise auf potentielle Gewalt.
Darman (gemeint ist damit sicherlich der Innenminister Darmanin) auf den Scheiterhaufen. Boulevard Voltaire
So auch die brennenden oder umstürzenden Polizeiautos an Wänden des Viertels:
Parole auf dem Sockel der Juli-Säule: Gemeint ist damit der in den Demonstrationszügen gerne mit Ludwig XIV. verglichene Präsident Macron
Ein unmissverständliches Wortspiel: Borne ist die französische Ministerpräsidentin…
Ein blutunterlaufener Macron: Sie sollen nur kommen!
Ein Aufruf zur Zerstörung
Der Kopf Macrons auf einem zur Pike umfunktionierten Mast. Das erinnert an die während der Französischen Revolution aufgespießten Köpfe von Adligen…. Da fielen mir auch schon die vielen schwarzen Mützen und Kappen in meiner Umgebung auf.
In der Nähe stieg Rauch auf, was nicht Gutes verhieß.
Dann zerbarsten auch schon die ersten -nicht verrammelten- Fensterscheiben
Der „schwarze Block“ hatte die Demonstration übernommen….
Abfallbehälterr wurden angezündet und ein unvorsichtiger Weise noch im boulevard geparkter Kleinwegen unter lautstarken Anfeuerungsrufen umgestürzt. Es gab auch Pfiffe, aber ob es sich dabei um Missfallenskundgebungen handelte, konnte ich nicht feststellen.
Ich wunderte mich etwas, warum es so lange dauerte, bis die doch so stark mobilisierte Polizei eingriff.
Aber schließlich dann doch. Und es gab nun auch plötzlich schwarze Schilder, die ich vorher nicht gesehen hatte: Die Straße wird nicht zurückweichen
Glascontainer wurden umgestürzt und die Flaschen als Munition gegen die anrückende Polizei, aber auch gegen friedliche Demonstranten eingesetzt. Die Polizei antwortete mit Tränengas…
Ein netter Mensch reichte mir ein Fläschen für die Augen – vielleicht war es sogar einer vom schwarzen Block, der etwas Mitleid mit dem älteren Herrn hatte, der da unfreiwillig in ihre Mitte geraten war….
Ich war jedenfalls heilfroh, dass ich mich schließlich aus dem Gewühl und den wild umherfliegenden Glasflaschen befreien konnte.
Blick von unserer sicheren Terrasse aus….
Nachlese
Die Demonstration ging dann aber offenbar noch weiter und auf der Place de la République fand die vorgesehene Abschlusskundgebung statt. Ich habe aber darauf verzichtet, dort hinzugehen.
Einen Blick auf den benachbarten boulevard Voltaire habe ich dann aber doch geworfen.
„Das Volk hungert nach Revolte“
Die Demonstration geht weiter….
Es gibt zu viele Ziele auf diesem Weg
Eine zerstörte Bushaltestelle
..Direkt nach den letzten Demonstranten rücken schon die Reinigungskolonnen an.
Und nebenan sitzen auch schon wieder die Leute in den Bars und profitieren von der happy hour mit den herabgesetzten Preisen.
In den Abendnachrichten von France 2 TV wird nach dem Aufmacher, einem ausführlichen Bericht über das Rugby-Spiel zwischen Frankreich und Irland (der ersten französischen Niederlage seit längerer Zeit!), auch über die Demonstrationen gegen die Rentenreform berichtet. Der Gewaltausbruch wird gewissermaßen in einem Nebensatz erwähnt: Eine ganz normale Demonstration eben…
Gegen die von Präsident Macron und Ministerpräsidentin Elisabeth Borne geplante Rentenreform fanden am 31. 2. 2023 erneut in ganz Frankreich Demonstrationen statt, die von allen großen Gewerkschaften unterstützt wurden. Laut TV France 2 handelte es sich sogar um die größten Demonstrationen seit 1995. Nach Schätzungen der Préfecture de Police nahmen 87.000 Menschen an der Pariser Demonstration teil, nach Angaben der Gewerkschaft CGT waren es 500.000. Kernpunkt der geplanten Reform ist die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre. Präsident Macron hatte in seinem Programm für die Präsidentschaftswahl ein Eintrittsalter von 65 Jahren vorgesehen. Die 64 waren eine Konzession an Skeptiker in den eigenen Reihen und bei den konservativen Republikanern, deren Unterstützung er benötigt, um in der Assemblée Nationale eine Mehrheit für das Reformgesetz zu erreichen. Diese Altersgrenze ist, so kürzlich die Ministerpräsidentin, jetzt nicht mehr verhandelbar.
Ich möchte hier nicht auf die Geschichte und Beweggründe der französischen Rentenreform eingehen und auch nicht auf die heftigen Auseinandersetzungen, die dazu geführt wurden und werden. Nachfolgend sollen lediglich – unkommentiert- einige Eindrücke von der Pariser Demonstration vermittelt werden. Alle Fotos der Demonstration von Wolf Jöckel
Karikatur in Le Monde vom 31.1.2023
Banderole am Hôtel de Ville: Das Rathaus hat aus Solidarität mit der Streikbewegung am 31. 1. geschlossen
Das Personal „unseres“ Schwimmbads im 11. Arrondissement beteiligt sich an der Demonstration: Schon oft standen wir hier vor dieser Informationstafel und verschlossenen Türen…
Straßenreinigung und Polizei stehen bereit.
4000 Polizisten waren allein in Paris im Einsatz.
Die Demonstration verlief aber diesmal – anders als die Maidemonstration 2022– weitgehend friedlich: Der vorsorgliche Schutz wäre also nicht notwendig gewesen.
Glücklicherweise wurde die zeitnah an einem Haus an der Metro-Station Philippe Auguste (11. Arrondissement) angebrachte Aufforderung zur Gewalt nicht befolgt.
Auf dem Weg zur Demonstration
Beginn der Demonstration war an der Place d’Italie. Diesmal wurde nicht die „klassische“ Demonstrationsroute mit den republikanischen Fixpunkten place de la République, place de la Bastille und place de la Nation gewählt, sondern eine Route im Süden von Paris zwischen der place d’Italie und der place Vauban
An der place d’Italie sieht man noch Reste des Schucks für das chinesische Neujahrsfest. Das chinesische Viertel im 13. Arrondissement befindet sich ganz in der Nähe
Fassade des Rathauses des 13. Arrondissements an der place d’Italie
Stadtverordnete des Arrondissements mit Zeichen ihrer Würde
Das Théâtre du Soleil ist auch dabei
Die Adressaten der Demonstration: vor allem Präsident Macron und Ministerpräsidentin Elisabeth Borne
Wenn du uns die 64 aufdrückst, bescheren wir dir einen neuen Mai 68….
Tod den Schweinen…
Gebt uns eine anständige Rente oder wir schlagen Euch die Zähne ein…
Rente mit 64: zwei Jahre Gefängnis für alle: Für FO (die Gewerkschaft Force Ouvrière): Nein!
Blick auf den Demonstrationszug: Im Hintergrund die Kuppel des Pantheons
Es lebe die Commune!
Die Lebenszeit ist unbezahlbar! (zorniger Lehrer!)
Im Vollzeit-Streik
1995 haben wir gewonnen; 2019/2020 haben wir nach 64 Streiktagen gewonnen; 2023 werden wir gewinnen
Titelseite Libération vom 31.1.2023: Ganz Gallien leistet Widerstand
Statt der „potion magique“, des Zaubertranks von Asterix und Obelix, gibt es hier die „potion manif“, den Demonstrationstrunk.
Das Thema Rentenreform beherrscht ja schon seit Jahren die politische Debatte in Frankreich und sie gab wiederholt Anlass zu Demonstrationen und Streiks. Zur Demonstration in Paris am 6.2. 2020, dem damaligen 9. Aktionstag, gibt es eine Bilderserie mit Aufklebern, mit denen die Fenster der Mac Donald-Filiale an der place Voltaire im 11. Arrondissement beklebt wurden. Sie vermitteln einen anschaulichen Eindruck von den damaligen Forderungen:
Weniger als 14 Tag nach der Rentendemonstration vom 31.1. gab es in Paris eiine erneute große Demonstration, die teils den Charakter eines Straßenfestes hatte, dann aber auch von Ausbrüchen massiver Gewalt geprägt war, die ich -unfreiwillig- aus nächster Nähe miterleben musste….
Das Schloss von Versailles: Es sind vor allem der Spiegelsaal und die „Grands Appartements“ des Sonnenkönigs im ersten Stockwerk des U-förmigen Hauptgebäudes, des Corps de Logis, die das bevorzugte Ziel der Schloss-Besucher sind. Es gibt aber daneben noch viele andere lohnende Orte in dem Schloss. Einer davon ist der große Saal der Hoquetons, der früheren Palastwache, der im Nordflügel des Hauptgebäudes, unterhalb der Räume Ludwigs XIV. liegt.[1]
Aus zwei Gründen empfiehlt es sich, dem Saal Hoquetons einen Besuch abzustatten: Wegen des außergewöhnlichen Raums und wegen seiner ebenso außergewöhnlichen Ausstellungsstücke.
Zunächst zum Raum:
Bestimmt war er für die Palastgarde, zu deren Uniform eine lederne Weste gehörte, nach der die Gardisten benannt wurden. Sie waren zur Zeit Ludwigs XIV. für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Sicherheit im Schloss zuständig. Dies erklärt, dass der Saal direkt unterhalb der „grands appartements“ des Königs und neben der zu ihnen hinaufführenden Großen Gesandtentreppe (escalier des Ambassadeurs) gelegen war. Und beide, die (heute nicht mehr existierende [2]) Treppe und der Saal der Hoquetons, wurden von niemandem Geringerem als dem ersten Hofmaler des Sonnenkönigs (Premier Peintre du Roi) Le Brun ausgestaltet.[3]
Der Funktion und Bedeutung des Ortes entsprechend malte er den Raum mit goldenen Waffen und Trophäen aus.
Ein Elefant, Symbol königlicher Macht, ist auch dabei.[4]
Und das Sonnensymbol darf natürlich auch nicht fehlen:
Und es gibt auch Statuen in trompe l’oeil – Technik wie dieser Herkules
Die Fontänen des Labyrinths
In diesem geradezu festlichen Rahmen sind seit 2022 die noch erhaltenen und restaurierten Fontänen des zu Zeiten Ludwigs XIV, im Schlosspark gelegenen, aber nicht mehr erhaltenen Labyrinths dauerhaft ausgestellt, nachdem sie zuvor in einer Sonderausstellung präsentiert worden waren:
Dies ist der offizielle Plan und Führer des Labyrinths aus dem Jahr 1777 von Charles Perrault und Isaac de Benserade. Dort ist auf einer Seite jeweils ein Brunnen abgebildet, auf der dazu gehörigen anderen wird in einem Vierzeiler seine Botschaft zusammengefasst (Benserade).[5] In der Einleitung des Führers werden die Neuartigkeit der Anlage und die große Anzahl und Vielfalt der Brunnen hervorgehoben. Man bezeichne sie als Labyrinth wegen der Vielzahl kleiner Alleen, die so angelegt seien, dass es fast unmöglich sei, sich nicht darin zu verirren: Allerdings auf angenehme Weise. Denn es gäbe es keinen Umweg, der nicht den Blick auf gleich mehrere Brunnen eröffne und neue Überraschungen böte.[6] Dass es eine solche illustrierte Monographie des Labyrinths gab, ist ein Beleg für seine Bedeutung und Einzigartigkeit.
Das Labyrinth lag neben der Orangerie, in direkter Nachbarschaft des Schlosses, war also für die höfische Gesellschaft leicht zu erreichen. Konzipiert wurde es von André le Nôtre, dem von Ludwig XIV. hochgeschätzten und sogar in den Adelsstand erhobenen Hofgärtner. Le Nôtre schuf mit dem Labyrinth von Versailles einen ganz neuen Labyrinth-Typus. Im Gegensatz zur jahrtausendjährigen Tradition hatte das Labyrinth von Versailles kein Zentrum. Der Besucher wird weder bewusst in die Irre geführt und auch nicht auf einen langen, vielleicht ermüdenden Weg, bis er endlich das ersehnte Ziel erreicht hat. Frustration und Langeweile sind ausgeschlossen. Vielmehr eröffnet das Labyrinth von Versailles die Möglichkeit von Spaziergängen mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten, angenehmen und überraschenden Ausblicken und Ausgängen.
In der zeitgenössischen deutschen Version des Labyrinth-Führers liest sich das so:
„Es ist zur gnüge bekannt was massen Franckreich/ und insonderheit der Königliche Hoff in erfindung so mancherley Ergetzlichkeiten/ andere weit übertrifft. (…) Unter diesen allen ist der Königliche Lust-hoff zu Versailles und in selbigen das Labyrinth oder Irr-garten am berühmtesten und preißwürdigsten. (…) Obben genannter Irr-garten ist in einem Walde derart künstlich und lustig angelegt/ daß selbst Dedalus sich darob würde verwundert haben müssen. Die hin und wieder lauffenden Irr-wege/ so von beyden seiten mit grünen und künstlich beschnittenen Hecken besetzet und umgeben sind/ fallen nie verdrießlich/gleich wie in andern Irr-gärten gemeiniglich geschicht; denn man findet keinen eintzigen Kehr- oder verschlossenen weg/ welcher nicht alle augenblicke verschiedene Wasser-künste und Brunnen anweise/ deren jeder absonderlich in Gestalt und Wirckungen auffs künstlichste die sinn- und lehrreichste Fabulen Aesopi ausbildet.“[7]
Insgesamt gab es in dem Labyrinth 39 Brunnen mit über 300 Tierfiguren und am Eingang die Statuen von Äsop und Amor: Die hielt in ihrer Hand einen Faden, um damit die Besucher gewissermaßen zu leiten. Nötig war das allerdings aufgrund der Anlage des Labyrinths eher nicht und es bildete sich auch bald ein empfohlener Parcours heraus.
Die Statue von Äsop ist erhalten und in dem Saal ausgestellt.
Entsprechend der Überlieferung ist Äsop kleinwüchsig, bucklig und hässlich dargestellt – im völligen Gegensatz zum antiken Schönheitsideal – das auf der anderen Seite des Saales zu bewundern ist.
Es handelt sich um eine Marmorstatue der Amphitrite, einer für ihre Schönheit bekannten und deshalb auch Aphrodite Pelagia genannten Meeresgottheit. Die Statue stammt aus dem luxuriösen appartement des Bains des Sonnenkönigs – wo heute die Räume der Töchter Ludwigs XV. liegen. Die schöne Amphitrite ist passend eingerahmt von zwei Rad-schlagenden Pfauen, die zwar ihre Köpfe verloren haben, deren Federn aber noch Reste der ursprünglichen Bemalung aufweisen.
Die Pfauen gehören zu den etwa 330 Tierfiguren, die zu Zeiten Ludwigs XIV. zur Ausstattung des Labyrinths und seiner 39 Fontänen gehörten. Sie wurden von verschiedenen Künstlern hergestellt, die darin wetteiferten, sie möglichst lebendig und naturgetreu darzustellen. Als Vorbilder konnten dabei Tiere der ebenfalls im Schlosspark gelegenen Menagerie dienen. Nur noch 37 dieser aus Blei gegossenen und bemalten Tierfiguren sind, oft auch nur in verstümmelter Form, erhalten: 1778 wurde das Labyrinth ersetzt durch den Bosquet de la Reine, der keinerlei Spuren des alten Labyrinths enthält. Seine Unterhaltung war offenbar zu aufwändig und sein Unterhaltungswert wurde wohl auch nicht mehr so sehr geschätzt, dass es einen erheblichen Aufwand gerechtfertigt hätte.
Wie es schon in dem zeitgenössischen deutschen Führer durch das Labyrinth zu lesen war, illustrierten die Fontänen meistens Fabeln von Äsop. Und dabei geht es vor allem um Neid, Dummheit, Bosheit, Streit und Kampf. Hier einige Beispiele:
Da gibt es den aggressiven Hahn der Fabel von den sich ständig streitenden Hühnern und dem ausgegrenzten Rebhuhn, auf dem alle herumhacken. (Fontäne 2).
Da ist der gierige Affe, der wegen seiner „tausend Sprünge“ (Benserade) zum König gewählt wird, sich dann aber vom Fuchs in eine Falle locken lässt. (Fontäne 23)
Hier die zwei auf Ziegenböcken reitenden Affen vom großen Kampf der Landtiere und der Vögel (Fontäne 12)
Und hier der undankbare Wolf von der Fabel Der Wolf und der Kranich (Brunnen 21)….
… und der Fuchs , der mit List den Hahn fangen und dann fressen will, aber von ihm überlistet wird. (Fontäne 3)
Die Fontäne 6 schließlich ist eine Illustration der Fabel vom Adler und dem Fuchs.
Das Nest mit sechs kleinen Adlern ist auf einem Baumstumpf postiert, an den ein Fuchs Feuer legt: Der Adler hatte sich der kleinen Füchse bemächtigt, aus Rache wird der Fuchs die vom brennenden Nest herunterfallenden Adler-Jungen fressen. Dazu der Vierzeiler:
Compères et voisins assez mal assortis / À la tentation tous deux ils succombèrent:/ Car l’aigle du renard enleva les petits/Et le renard mangea les aiglons qui tombèrent.
In einer einfachen Sprache wird hier ein Hobbes’scher Naturzustand illustriert.[8]
Gewalt und Aggressivität sind in den Fontänen des Labyrinths und in den sie erläuternden Vierzeilern Benserades allgegenwärtig. Und während die anderen Bosquets und Fontänen des Parks von der Sonne beschienen sind, lag das Labyrinth im Schatten. Schon 1668 bemerkte ein Besucher, die Hecken seien so eng, dicht und hoch, dass die Sonne nicht hindurchdringe. Auch dies gehört zu der Einzigartigkeit des Labyrinths.
Ganz anders die wohlgeordnete Menagerie im Park von Versailles, wo die verschiedenen Tiere -wenn auch, soweit notwendig, voneinander getrennt- friedlich mit- bzw. nebeneinander lebten.
Vom zentralen Oktogon aus konnte der König seinen Besuchern ein gesellschaftliches Modell präsentieren, in dem durch die Unterordnung unter die königliche Autorität Kampf und Chaos überwunden sind. Insofern hat man das Labyrinth als eine „anti-Ménagerie“ bezeichnet.[9] Beide, Labyrinth und Menagerie, gehören zusammen und demonstrieren die Macht des Sonnenkönigs, die im Schloss und im Park von Versailles gefeiert wird.
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[2] Unter Ludwig XV. musste die Treppe den neu eingerichteten Räumen für die Töchter des Königs weichen. Eine Nachbildung gibt es in Schloss Herrenchiemsee – ebenso wie eine Nachbildung des Spiegelsaals von Versailles.
Noch vor der Verlegung seines Hofes nach Versailles im Jahr 1682 richtete Ludwig XIV. zwei unterschiedliche Sammlungen von Tieren im Park des Schlosses ein: Die von tausenden exotischen und heimischen Tieren bevölkerte Ménagerie royale und das mit 333 Tierplastiken bestückte Labyrinth (bosquet du Labyrinthe). Beide entstanden 1663, entworfen von dem Architekten Louis Le Vau (Menagerie) und dem Gartenarchitekten André le Nôtre, die zu dem Dreigestirn der Schöpfer von Versailles gehören. So unterschiedlich und auch räumlich getrennt beide Anlagen sind, sie sind doch aufeinander bezogen: Die Menagerie als geordneter Kosmos friedlich zusammenlebender Tiere, das Labyrinth als Ort des Kampfes, also gewissermaßen als Anti-Menagerie. Sie sind damit Ausdruck der die widerstreitenden Elemente bändigenden und die gesellschaftliche Ordnung garantierenden absoluten Macht, die der junge König nach dem Tod des Kardinals Mazarin für sich beanspruchte. Als Manifestation der Macht des Sonnenkönigs sind sie damit zentraler Bestandteil von Schloss und Park von Versailles. Beide Anlagen existieren heute nicht mehr. Die Menagerie wurde in der Französischen Revolution zerstört, das Labyrinth 1778 durch einen englischen Garten zu Ehren von Königin Marie Antoinette ersetzt (bosquet de la reine). Es gibt aber Zeichnungen, Gemälde und zeitgenössische Berichte, die eine genaue Kenntnis der damaligen Anlagen ermöglichen. Und 2021/2022 wurde im Schloss von Versailles die Ausstellung Les Animaux du roi präsentiert, in der Menagerie und Labyrinth entsprechend vertreten waren. Diese Ausstellung war Anlass und Anregung für diesen Bericht.
Die Ménagerie royale: Die Zurschaustellung königlicher Macht
Die Menagerie Ludwigs XIV. im Schlosspark von Versailles war die erste barocke Anlage ihrer Art, und sie war Vorbild späterer höfischer Tierhaltungen: So für die Menagerie des Schlosses von Chantilly, das einer Nebenlinie der königlichen Bourbonen gehörte[1], und für die Anlage von Schönbrunn bei Wien. Diese ist die einzige erhaltene Menagerie ihrer Art und gilt, 1752 eröffnet, als ältester heute noch bestehender Zoo der Welt.
Erfunden hat Ludwig XIV. die Einrichtung einer Menagerie nicht. Schon im 13. Jahrhundert besaß Friedrich II. von Hohenstauffen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, an seinem süditalienischen Hof eine umfangreiche Menagerie, die größte des Mittelalters. Die seltenen Tiere, die von arabischen und äthiopischen Wärtern versorgt wurden, dienten der Prunkentfaltung des Kaisers: Seine exotische Sammlung von Löwen und Leoparden, Straußen und Fasanen, Kamelen und Affen beeindruckte mächtige Fürsten und reiche Städte. An vielen europäischen Fürstenhöfen gab es Menagerien. Oftmals wurden die dort gehaltenen Raubtiere wie zu Zeiten der Römer aufeinander gehetzt, um die höfische Gesellschaft zu unterhalten. Im königlichen Schloss von Vincennes gab es eine solche Menagerie mit einer angegliederten Arena, die ausschließlich für Tierkämpfe bestimmt war. 1663 wurde dort für Maria Theresia von Spanien, die junge Gemahlin Ludwigs XIV., und den dänischen Königssohn ein Kampf zwischen einem heimischen und einem exotischen Raubtier präsentiert. Es war das gleiche Jahr, in dem das Labyrinth und die Menagerie von Versailles als programmatische Bauwerke des Absolutismus entstanden: Die kämpfenden Tiere, die dort -im Labyrinth- gezeigt wurden, waren gemalt oder aus Blei, die lebenden Tiere aber gehörten friedfertigen Spezies an, die in aller Muße von der Hofgesellschaft bewundert werden konnten. Peter Sahlins, auf den ich mich in den nachfolgenden Passagen im Wesentlichen beziehe, hat darin einen Paradigmenwechsel gesehen, der in den von Norbert Elias beschriebenen „Prozess der Zivilisation“ vom Mittelalter zur Neuzeit einzuordnen ist. In diesem zivilisatorischen Prozess spielte die höfische Gesellschaft mit ihren festen Regeln, wie sie gerade am Hof Ludwigs XIV. bis ins Detail festgeschrieben waren, eine wesentliche Rolle. So trug der absolute Staat nach seinem Selbstverständnis dazu bei, psychische Strukturen und gesellschaftliche Verhältnisse zu domestizieren und zu einem friedlichen Ausgleich zu bringen und damit den Naturzustand des Menschen zu überwinden, der im Hobbes’schen Verständnis von dem Wolfscharakter des Menschen (homo homini lupus) bestimmt war. Die Menagerie von Versailles demonstriere, so Sahlins, im friedlichen Neben- und Miteinander der ausgestellten Tiere diesen absolutistischen Anspruch.
Le Vau hat die Anlage als ein symmetrisches Rondell angelegt, in dessen Mitte ein Pavillon mit Kuppeldach stand. Die Gehege waren fächerförmig um einen Platz herum angeordnet und konnten von dem Salon im ersten Stock des Zentralbaus eingesehen werden. Vielleicht könnte man den Bau insofern als eine Vorform des Panoptikums ansehen, wo die in der Mitte eines architektonischen Ensembles postierte Autorität das gesamte umliegende Geschehen im Blick hatte: So in Ledoux‘ klassizistischer Saline von Arc et Senans oder in den entsprechenden Gefängnisbauten des 19. Jahrhunderts wie dem Roquette-Gefängnis in Paris.[2]
Pierre Aveline, die höfische Menagerie im Schlosspark von Versailles zur Zeit Ludwigs XIV. (1689)[3]
Die Bedeutung der Anlage wird auch durch ihre Positionierung im Schlosspark unterstrichen. Sie lag am Ende des südlichen Seitenarms des Großen Kanals, genau gegenüber dem Grand Trianon, dem privaten Rückzugsort des Sonnenkönigs.
Auf diesem Plan von 1746 ist die Menagerie rot eingerahmt.[4]
So konnte sich Ludwig XIV. bequem -zum Beispiel mit einer der auf dem Kanal stationierten Gondeln- vom Trianon zur Menagerie bringen lassen.
Von Ludwig XIV. im achteckigen Salon der Menagerie zum Souper eingeladen zu werden, war ein ganz besonderes Privileg, das der König nur ausgewählten Gästen zu Teil werden ließ. Das gehörte zu der „machine de gloire“ (Sahlins), um Angehörige des Hofs und auswärtige Würdenträger zu beeindrucken.
Dabei war es durchaus möglich, dass in der Menagerie gehaltene Tiere auf der königlichen Tafel landeten. Denn zu der Menagerie gehörten auch Nutztiere, die für solche Zwecke bestimmt waren wie Hühner, Enten, Truthähne und Elstern. In diesem Nutzteil der Menagerie wurden aber auch Säugetiere für die königliche Tafel vorgehalten wie persische Ziegen, Wildschweine oder Hirsche. Den Großteil der Menagerie beanspruchten allerdings Vögel, die zum Betrachten und Bewundern bestimmt waren.
Das waren zum Beispiel farbenprächtige Pfaue und Fasane, Strauße und Kasuare, dazu Singvögel, Eulen, Adler und viele Arten von Wasservögeln, wie zum Beispiel die Flamingos….[6]
Pieter Boel, Étude d’un flamant rose. Photo: Wolf Jöckel
…. oder Pelikane
Die Pelikane der Menagerie. Im Hintergrund Gänse und Pfaue und der achteckige zentrale Pavillon mit dem umlaufenden Balkon.[7] Foto: Wolf Jöckel
Eine besondere Attraktion der Menagerie waren die Kraniche: Da vor allem der königliche Kronenkranich, der von Boel und vielen anderen Malern nach ihm portraitiert wurde und als „königlicher Vogel“ galt. [7a]
Boel Pieter (1622/1625-1674). Paris, musée du Louvre.
Die unangefochtenen Stars der Tiersammlung waren „die eleganten und verführerischen Jungfernkraniche“ (Sahlins).
Auf dieser Studie von Pieter Boel, einem von Ludwig XIV. sehr geschätzten Tiermaler, sind sie zusammen mit einer Trappe in einer geradezu höfischen Szene abgebildet.[8] In ihrem 1669 veröffentlichten, dem König gewidmeten Bericht „La promenade de Versailles“, der ersten publizierten Gesamtdarstellung von Schloss und Park, hebt Mlle de Scudéry ausdrücklich die Jungfernkraniche wegen ihrer Grazie und Schönheit, „acause de leur bonne grace & de leur beauté“, hervor.[9]
Auch die Anatomen der von Ludwig XIV. gegründeten Akademie der Wissenschaften konnten nicht umhin, vor der Beschreibung ihrer wissenschaftlichen Arbeit an einigen Exemplaren der Menagerie die Demoiselles de Numidie (Jungfernkraniche) zu rühmen. Mit ihren Gesten, ihren Sprüngen, ihrer Art zu schreiten und sich zu bewegen schienen sie den Tanz von „bohémiennes“ (Zigeunerinnen) nachzuahmen. Wenn man sich ihnen nähere, fingen sie an zu tanzen und zu singen – nicht wie andere Tiere, damit man ihnen etwas zu essen hinwerfe, sondern um von den Betrachtern bewundert zu werden.[10] Der zeitgenössische Vergleich der Jungfernkraniche mit Zigeunerinnen ist dabei keineswegs pejorativ. Ganz im Gegenteil: Er ist Teil einer philosophischen Tradition, in der Tiere als Modelle für Tugenden und zivilisiertes Benehmen angesehen wurden, die Bewunderung und Nachahmung verdienten. Während Descartes und seine Adepten in den Tieren von Automatismen gesteuerte Lebewesen sahen, war am Hof von Versailles eine genau entgegengesetzte Denkrichtung bestimmend. Dort wurden den Tieren durchaus Gefühl, Intelligenz, Lernfähigkeit, ja zum Teil sogar Sprache und eine -wenn auch nicht unsterbliche- Seele zugebilligt. Die Menagerie ist nach Sahlins in diesem Zusammenhang zu sehen.[11]
Der Salon des Oktogons
Mlle de Skudéry beschreibt in ihrer „Promenade de Versailles“ das achtseitige große Cabinet im ersten Stockwerk des Zentralbaus der Menagerie, von dessen Umgang aus vergoldetem Gusseisen man einen Blick auf die umliegenden Gehege habe, „remplies de toutes sortes d’oiseaux et d’animaux rares.“ Gemälde der Tiere befänden sich im Cabinet/Salon, als wolle man damit auf das vorbereiten, was man sehen werde, oder um das in Erinnerung zu behalten, was man gesehen habe.[12] Ursprünglich waren in dem Salon 61 Tierbilder von Nicasius Bernaerts ausgestellt, von denen allerdings nur noch 22 erhalten sind.
Der 1620 geborene Bernaerts stammte aus Antwerpen, machte aber zwischen 1660 und seinem Tod im Jahr 1678 in Paris Karriere. Er war Mitglied der königlichen Akademie für Malerei und Skulptur und erhielt prestigeträchtige Aufträge -u.a. für die Schlösser Vaux-le-Vicomte, die Tuilerien und Versailles. Dass der französische Hofmaler Le Brun mit Bernaerts und Pieter Boel zwei ausgewiesene holländische Tiermaler rekrutierte, war kein Zufall: Antwerpen und Amsterdam waren Umschlagplätze des Handels der Ostindischen Kompanie (VOC), wozu auch der Import exotischer Tiere gehörte. Schon 1601 brachte beispielsweise ein Handelsschiff der VOC einen ersten Kasuar nach Amsterdam. Diese vor allem in Indonesien und Neuguinea verbreiteten und bis dahin in Europa unbekannten Tiere waren natürlich wie die anderen exotischen Neuankömmlinge beliebte Motive der Malerei. Pieter Boel malte einen Kasuar -zusammen mit einem weißen Raben- zwischen 1650 und 1675- vielleicht also schon einige Zeit, bevor 1671 der erste „französische“ Kasuar in Versailles eintraf. Es war ein Bild, das wie andere der beiden holländisch-französischen Maler, dann auch als Vorlage für die Herstellung eines Wandteppichs diente.[13]
Als die Menagerie von Versailles gegründet wurde, gab es also in Holland – anders als in Frankreich- schon längst eine Tradition der Tiermalerei. Und es waren Bernaerts und Boel, die nun auch an ihrem neuen Wirkungskreis eine solche Tradition begründeten. Denn das colbertistische Frankreich hatte keine Probleme mit dem „Import“ ausländischen know-hows, wenn es um Versailles ging. Andere Beispiele sind die Glas- und Luxusmöbelproduktion und … die Bekämpfung der notorischen Rattenplage im königlichen Schloss.[14]
Zur bildlichen Ausstattung des Salons der Menagerie gehörten 7 von Bernaerts gemalte Friese, die jeweils einer der sieben Abteilungen des Geheges zugeordnet waren.
Hier ein Bild des Hühnerhofs, wobei deutlich ist, dass selbst die zum Verzehr bestimmten Tiere auch ästhetischen Ansprüchen genügen sollten.[15] Dazu kamen Einzelportraits von Tieren wie dem effektvoll aufgeplusterten Strauß, der sich dann auch auf einem von der Manufacture royal de Beauvais hergestellten Wandteppich wiederfindet.. [16]
Bemerkenswert ist hier übrigens die Bildunterschrift auf dem Rahmen: Ecole française. Nicasius Bernaerts ist hier gewissermaßen schon als Franzose eingemeindet….
Dazu kamen Abbildungen weiterer Tiere, die Bernaerts bald nach dem Bau der Menagerie malte und für die vermutlich die ersten ihrer Bewohner als Modell dienten wie der Damhirsch (Cerf de Gange) oder das Stachelschwein.[17]
Vermutlich war die bildliche Ausstattung des Salons zunächst nur eine einfache Repräsentation der Pensionäre des Menagerie, so wie es Madeleine de Scudéry in ihrem Bericht beschreibt. Aber sie passte auch zu der symbolischen Botschaft der Anlage: Die Tiere werden fast ausnahmslos im friedlichen Zusammenleben oder in ruhender, den Betrachter interessiert ansehender Form präsentiert. Die Menagerie stellt sich damit als Idealbild harmonischen Zusammenlebens dar. Ein paradiesischer Zustand war das allerdings keinen Falls: Die Tiere waren ja streng voneinander getrennt, teilweise zum Verzehr bestimmt und nicht zuletzt auch durch das Stutzen von Flügeln in ihrer Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt… Ein „miroir idéal“[18] war die Menagerie also höchstens im absolutistischen Sinne.
Die Elefanten von Versailles
Natürlich war die Menagerie auch und vor allem dazu bestimmt, den Ruhm des Sonnenkönigs zu mehren. Vögel, auch wenn sie noch so selten waren wie der Kasuar, genügten diesem Anspruch nur bedingt. Das wohl imposanteste Tier, das die Macht eines Herrschers am eindrucksvollsten verkörpern konnte, war der Elefant, bekannt vor allem aufgrund seiner legendären Rolle im Heer Hannibals, kaum aber aus eigener Anschauung. Im europäischen Mittelalter gab es nur drei Elefanten in Europa: Aboul Abbas, der Elefant, den der Kalif Harun-al-Raschid Karl dem Großen geschenkt hatte, der Elefant in der Menagerie Friedrichs II. von Hohenstauffen, ein Geschenk des Sultans al-Kamil[19], und schließlich der Elefant, den der französische König Ludwig IX, der Heilige, vom 7. Kreuzzug mitbrachte und dem englischen König schenkte.
Friedrich II. nutzte seinen Elefanten auch für Triumphzüge.
Gerade im monarchistischen Selbstverständnis hatte der Elefant eine eminente Bedeutung als Symbol königlicher Macht, aber auch der Weisheit. Das illustriert die Darstellung des Elefanten in der Galerie François I im Schloss von Fontainebleau. [19a]
Aus dieser Übersicht wird deutlich, dass der Elefant als ein äußerst prestigeträchtiges diplomatisches Geschenk dienen konnte: Es unterstrich gleichermaßen die Bedeutung des Schenkenden wie die Wertschätzung und Bedeutung des Beschenkten. Allein der Transport eines Elefanten nach Europa war eine logistische Meisterleitung des Schenkenden, ebenso wie dann auch seine angemessene Unterhaltung durch den Beschenkten.
Es war der König von Portugal, der Ludwig XIV. einen Elefanten für die neue Menagerie von Versailles schenkte. Die Könige von Portugal hatten schon vorher mehrere asiatische Elefanten verschenkt (zum Beispiel dem Papst, dem spanischen König und dem Habsburger Kaiser), dieser allerdings stammte aus Afrika, war also – auch wenn es sich um ein Jungtier von vier Jahren handelte- ein besonders imposantes Exemplar. Man weiß nicht, wie dieser Elefant nach Versailles gelangt ist, aber wie aufwändig das gewesen sein muss, kann man aus den Informationen schließen, die es von dem Transport des afrikanischen Elefanten gibt, den die Seeleute von Dieppe 1591 dem französischen König Heinrich IV. schenkten.[20] Für diesen Zweck musste beispielsweise eines der üblichen Schiffe erst umgebaut werden, weil die Höhe der Decks auch für einen jungen Elefanten nicht ausreichte. Und für eine Fahrt nach Europa von etwa 30 Tagen mussten etwa 450 kg Nahrung (Heu, Äste mit Blättern) und 2400 bis 4200 Liter Süßwasser mitgeführt werden, insgesamt 10 – 12 Kubikmeter Ladung. Dazu mussten die Reisebedingungen besonders an die Bedürfnisse des Elefanten angepasst sein, damit er auch in guter Verfassung seinen Bestimmungsort erreichte. Dies gelang auch. Aber da damals in Frankreich Bürgerkrieg herrschte, schenkte Henri Quatre den Elefanten dem englischen Königshaus, das das Tier in der königlichen Menagerie im Tower von London der staunenden Öffentlichkeit präsentierte. Vermutlich hat er dort aber nicht lange überlebt: Denn man glaubte in London, einen Elefanten ausreichend zu füttern, wenn man ihm Wein zu trinken gäbe.[21] Auch der Elefant von Versailles erhielt Wein zu trinken -jeden Tag 12 Liter- aber er bekam auch 80 Pfund Brot und weitere Nahrung. So verbrachte er immerhin 13 Jahre in der Menagerie und erfreute und erstaunte in dieser Zeit die Besucher. Im Allgemeinen sei er, so der Tenor der zeitgenössischen Berichte, sehr umgänglich gewesen, habe aber auch einige Besucher verletzt, die sich über ihn lustig gemacht hätten. Ein junger Mann, der ihm nur zum Schein etwas Futter hingeworfen habe, sei von ihm umgeworfen worden. Ein Maler, der das offene Maul des Elefanten habe malen wollen, der aber an den dafür verwendeten Früchten gespart habe, sei von vom Elefanten so mit Wasser bespritzt worden, dass das Bild unbrauchbar geworden sei- was sicherlich auch als Bestätigung für die am Hof von Versailles übliche Wertschätzung von Tieren kolportiert wurde.[22]
Ein besonderer Anziehungspunkt war der Elefant auch für die Maler des Königs. So fertigte Pieter Boel eine Reihe von sehr eindrucksvollen Zeichnungen an.
Nach dem Tod wurde der Elefant aufwändig seziert, eine Prozedur, der sogar der Sonnenkönig selbst die Ehre gab. Als er dazu kam, fragte er nach dem Anatom, dessen Anwesenheit er vermisste. Der kam dann aber -entsprechend aussehend- aus dem Bauch des Elefanten, wo er gerade am Werk war.
Das Skelett des Elefanten befindet sich heute im Pariser Musée national d’Histoire naturelle. Die Stoßzähne sind allerdings nicht original, weil 2013 ein Stoßzahn bei einem Einbruch in das Museum abgesägt und gestohlen worden war.
Hier zwei Füße des Versailler Kongo- Elefanten und der Schatten seines Brustkorbs. Foto: Wolf Jöckel
Zu Zeiten Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. gab es dann noch einmal einen Elefanten in der Menagerie von Versailles: Es war ein Geschenk des französischen Gouverneurs im indischen Chandernagor/Chandannagar an den König, um auf diese Weise das Interesse des Hofes für die kommerziellen Interessen der Compagnie française des Indes orientales zu befördern. Der Transport des Elefanten von Ostindien an seinen Bestimmungsort war auch hier ein höchst anspruchsvolles logistisches Unternehmen. Am 12. Februar 1772 wurde der Elefant auf ein Schiff der Handelskompanie verladen. Mit Zwischenstationen in Pondichéry, in Mauritius und La Réunion erreichte er nach 10 Monaten und der Umfahrung Afrikas am 14. Dezember 1772 den französischen Atlantikhafen Loriot. Nach einer Pause ging es am 21. Juli 1773 zu Fuß weiter in das etwa 500 Kilometer entfernte Versailles, das am 19. August des Jahres erreicht wurde: Insgesamt also eine Reise von 18 Monaten! 9 Jahre lebte der indische Elefant, der den Namen Shanti erhielt, in der Menagerie und war dort die große Attraktion. Sehr ruhig und gelehrig streichelte er mit seinem Rüssel Besucher, die ihm Blätter zum Fressen brachten. Wenn er aus seinem Unterstand ins Freie gelassen wurde, reagierte er mit freudigem Trompeten, mit anderen heftigen Trompetenstößen reklamierte er eine Fütterung, die sich verspätet hatte. Natürlich diente auch für ihn der Wein als Nahrung. Shanti soll sogar in der Lage gewesen sein, mit seinem Rüssel eine Weinflasche zu öffnen. So war er Liebling des Hofes, bis er bei einem Ausbruch aus seinem Gehege im Grand Canal ertrank. Die Haut des Elefanten wurde allerdings konserviert und 1805 von Napoleon der Universität von Pavia geschenkt- ein bescheidener Ausgleich für die Plünderung italienischer Kunstschätze. Der Präparator des dortigen Naturkundemuseums stellte mit der Haut eine Dermoplastik her, die für die Ausstellung Les Animaux du Roi nach Versailles ausgeliehen wurde und dort bewundert werden konnte.
Foto: Wolf Jöckel (Ausstellung Versailles)
Der Kampf der Tiere: Das Labyrinth als Gegenstück zur Menagerie
Sahlins hat das Labyrinth von Versailles als eine Art „Gegen-Menagerie“ bezeichnet. Denn während in der Menagerie das friedliche Neben- und Miteinander der dort versammelten Tiere präsentiert wurde, ist das Labyrinth von Terror und Gewalt zwischen den Tieren bestimmt. Entworfen von dem königlichen Gartenarchitekten Le Nôtre war das Labyrinth in den ersten Jahren nach seiner Entstehung ein traditioneller Ort höfisch-galanter Festivitäten im Zeichen der Liebe. Zwischen 1672 und 1674 wurde das Labyrinth dann an das hydraulische System des Parks angeschlossen und von etwa zwanzig Künstlern mit einem Bildprogramm der Äsop-Fabeln bestückt. 39 Fabeln wurden durch Brunnen und 333 Tierplastiken aus farbig gefasstem Blei symbolisiert.
Offizieller Plan und Führer des Labyrinths aus dem Jahr 1777 von Charles Perrault und Isaac de Benserade. Dort ist auf einer Seite jeweils ein Brunnen abgebildet, auf der dazu gehörigen anderen wird in einem Vierzeiler von Benserade seine Botschaft zusammengefasst.[24]
Das Bildprogramm hat verschiedene Dimensionen: Es werden Tugenden wie Bescheidenheit propagiert wie im Brunnen 16. Dort beklagt sich der Pfau, warum er nicht so gut singen kann wie die Nachtigall. Die Antwort der befragten Göttin: „Crois-tu que dans ce monde on puisse tout avoir?“ – glaubst du denn, dass man in dieser Welt alles haben kann? Mit dem Brunnen 31 wird der Absolutismus gefeiert. Thema ist da die Schlange, die zwar sieben Köpfe hat, aber der anderen mit nur einem Kopf unterlegen ist. Die Botschaft ist eindeutig: „Un chef est absolu, plusieurs ne le sont pas.“
Vor allem geht es in den Stationen des Labyrinths um Neid, Bosheit, Streit und Kampf. Da gab es den Brunnen 21 zur Fabel vom Wolf und dem Kranich: Der Kranich hatte dem Wolf einen Knochen, an dem der sich verschluckt hatte, aus dem Hals gezogen. Den versprochenen Dank erhält er aber nicht – er solle froh sein, nicht gefressen zu werden.[25]
Das Thema der Gewalt und Aggressivität ist in dem Labyrinth omnipräsent: In aller Deutlichkeit am Brunnen 6, der die Fabel vom Adler und dem Fuchs illustriert.[26]
Das Nest mit sechs kleinen Adlern ist auf einem Baumstumpf postiert, an den ein Fuchs Feuer legt: Der Adler hatte sich der kleinen Füchse bemächtigt, aus Rache wird der Fuchs die vom brennenden Nest herunterfallenden Adler-Jungen fressen. Dazu der Vierzeiler:
Compères et voisins assez mal assortis,/ À la tentation tous deux ils succombèrent:/ Car l’aigle du renard enleva les petits/Et le renard mangea les aiglons qui tombèrent.
In einer einfachen Sprache wird hier ein Hobbes’scher Naturzustand illustriert (Sahlins).[27]
Auch bei dem bedeutendsten Brunnen des Labyrinths (Nummer 12) geht es um Kampf und zusätzlich um Verrat. Thema ist der Kampf zwischen Landtieren und Vögeln: „guerre des deux costez sanglante & meurtière“. Die auf einem Felsen versammelten Vierfüßler versuchen mit ihren Wasserfontänen die an der Kuppel eines halbrunden Pavillons befestigten Vögel zu treffen. [28]
Im Halbkreis darum gibt es weitere wasserspeiende Tiere wie dieser Ziegenbock, auf dem ein Affe reitet.[29]
Bilder der Ausstellung von Wolf Jöckel
Auch der heulende Wolf gehört ebenso wie der kampfeslustige und rachsüchtige gallische Hahn zu den im Halbrund postierten wasserspeienden Landtieren.
Die etwa 50 aufsteigenden Fontänen formten sich im Inneren des Pavillons zu einem beeindruckenden Gewölbe. Die Fledermaus allerdings, die auf Seiten der Landtiere kämpft, wird zur Strafe von Licht und Sonne ausgeschlossen.
Die Darstellung der animalischen, wölfischen Natur des Menschen im Labyrinth wurde in der Versailler Ausstellung „Les animaux du roi“ noch durch Bilder des Tiermalers Jean Baptiste Oudry illustriert, die Mitte des 18. Jahrhunderts vom königlichen Hof bestellt worden waren. Es sind Darstellungen von Fabeln de La Fontaines.
Hier die beiden Ziegen, die um den Vorrang kämpfen, zuerst den Bach überqueren zu dürfen und die dann beide von der Brücke stürzen.
Und dies ist die Illustration der berühmten Fabel vom Wolf und dem Schaf. Es steht starr vor Schreck da und ist dem Zähne-fletschenden Wolf hilflos ausgeliefert. Die Botschaft: „La raison du plus fort est toujours la meilleure.“ (Der Stärkere hat immer Recht).
Das Labyrinth ist aber nicht nur eine Welt des Kampfes, des Kriegszustandes, sondern auch des Schattens. Die Wege des Labyrinths waren von so hohen Hecken eingefasst, dass die Sonnenstrahlen nicht eindringen konnten. Schon 1668 wurde dies in einem zeitgenössischen Bericht festgestellt: „l’épaisseur des arbres empêche que le soleil ne se fasse sentir“.[30] – ganz anders als sonst im Park, in dem die Sonne, das Symbol des Königs, die Fontänen und Wäldchen beschien.
Die einem zeitgenössischen Labyrinth-Führer entnommene Abbildung des Brunnens 31 mit seiner Illustration der Fabel über die Schlange mit den sieben Köpfen bereitet die Besucher in aller Deutlichkeit auf einen Ort vor, wo die Sonne nicht scheint.[31]
Menagerie und Labyrinth gehören damit, gerade in ihrer Gegensätzlichkeit, zusammen. [32] Seit 1674 war es üblich, bei einem Rundgang durch den Park von Versailles zunächst das Labyrinth zu besuchen und zum Abschluss die Menagerie. Im Schatten des Labyrinths herrschte der Krieg aller gegen alle, der bellum omnium contra omnes, und es wird in vielfachen Variationen die Wolfsnatur des Menschen präsentiert. Hier weht der Geist Hobbes‘ und des Absolutismus. Die Menagerie dagegen ist das Modell einer Welt der Harmonie, der gezügelten Leidenschaften, der Schönheit. Die Zivilisation hat gesiegt und mit ihr und durch ihn der Sonnenkönig. Sein Ruhm erstrahlt auf dem Weg von Dunkel des Labyrinths ins Licht der Menagerie umso heller.
Thema des nachfolgenden Blog-Beitrag ist der Saal der Hoquetons im Schloss von Versailles, wo jetzt die noch erhaltenen Tierfiguren des Labyrinths dauerhaft zu sehen sind.
[6] Das Bild aus dem musée des Beaux-Arts in Limoges gehörte zu der Versailler Ausstellung,
[7] Pieter Boel (Zeichnung) und Gérard Scotin (Gravure), Vue latérale de la Ménagerie de Versailles. Siehe dazu: Ausstellungskatalog S. 74. Ausstellungsfoto.
[12] Madeleine de Scudéry, a.a.O., S. 94/95. Dieser Abschnitt ist vor allem auf folgenden Text gestützt: Vincent Delieuvin, Nicasius Bernaerts, Portraitist des animaux de Versailles. In: Ausstellungskatalog, S. 20-27
[13] Zu dem Kasuar von Boel und weiteren Abbildungen des Vogels siehe den Ausstellungskatalog S. 108/109 und S. 94
Zur Rattenplage, zu deren Bekämpfung „ein deutscher Jude“ engagiert wurde, siehe das entsprechende Kapitel bei William Ritchey Newton, Hinter den Fassaden von Versailles. Mätressen, Flöhe und Intrigen am Hof des Sonnenkönigs. Berlin: Ullstein 2010 (Die Ratten von Versailles, S. 178f)
[22] Zu den Elefanten von Versailles: Philippe Candegabe und Edoardo Razetti, Les deux éléphants de Versailles. In: Ausstellungskatalog, S. 50-54; Außerdem Ausstellungskatalog S. 84-88
Noch bis zum 15. Januar 2023 präsentiert das musée d’Orsay in Paris eine große Rosa Bonheur-Ausstellung aus Anlass ihres 200. Geburtstages. Rosa Bonheur war eine international gefeierte Tiermalerin, ja sogar die erfolgreichste Malerin des 19. Jahrhunderts. Trotzdem geriet sie nur wenige Jahre nach ihrem Tod 1899 weitgehend in Vergessenheit, weil neue künstlerische Strömungen und Themen über sie und ihr Werk hinwegfegten. Zu ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren trug sicherlich bei, dass sie als „eine Ikone der weiblichen Emanzipation“ des 19. Jahrhunderts[1] einer aktuellen gesellschaftlichen Strömung entspricht und auch entsprechend vereinnahmt wurde und wird. Die jetzige Ausstellung ermöglicht es, sich anhand von etwa 200 Arbeiten (Gemälde, Grafiken, Plastiken, Fotografien) ein Bild von ihrem Werk zu machen und sie als außerordentliche Künstlerin zu entdecken und zu würdigen.
Ich möchte in dem nachfolgenden Beitrag zunächst vier Portraits vorstellen, die Rosa Bonheur in verschiedenen Phasen ihres Lebens zeigen, danach einige ihrer in der Ausstellung präsentierten Werke, die ich ausgewählt habe, weil sie entscheidende Etappen ihres Lebens markieren, für ihr Werk besonders charakteristisch und bedeutsam sind oder auch einfach nur aus persönlicher Vorliebe.
Auguste François Bonheur, Portrait de Rosa Bonheur 1848[2] Foto: Wolf Jöckel
Dies ist das erste von Rosa Bonheur existierende Portrait, gemalt von ihrem Bruder Auguste François. Schon hier fällt die Entschlossenheit in ihrem Blick auf. Und die Tiere im Hintergrund weisen darauf hin, dass Rosa Bonheur auch Skulpturen von Tieren herstellte- ein besonders geeignetes Mittel, um Proportionen und Anatomie genau zu erfassen.
David d’Angers: Medaillon von Rosa Bonheur, 1854[3]
David d’Angers, vor allem bekannt durch die Skulpturen im Giebelfeld des Pantheons, hat insgesamt etwa 550 Medaillons angefertigt, dazu etwa 100 Büsten. Sein Ziel war es, aus der Menge seiner Zeitgenossen diejenigen auszuwählen, die es wert seien, nach dem Tod weiterzuleben und sie auf diese Weise unsterblich zu machen.[4] Er schuf damit gewissermaßen ein eigenes Pantheon, zu dem auch mehrere Deutsche gehörten, die er bei Studienreisen nach Deutschland und auch in Paris kennengelernt hatte wie Goethe und Ludwig Börne.[5] Und zu den „großen Männern“ seines Pantheons gehörten auch mehrere Frauen -anders als damals noch in der „Ehrenhalle für die großen Männer“: Den Frauenanteil von 10 % bei David d’Angers hat das Pantheon allerdings bis heute noch nicht erreicht…[6] Als David d’Angers das Medaillon Rosa Bonheurs anfertigte, war sie gerade 32 alt und schon eine arrivierte Künstlerin: Ihr monumentales Gemälde Le Marché aux chevaux (Der Pferdemarkt) hatte ihr internationale Anerkennung und Bewunderung eingebracht – und eben auch die außerordentliche Würdigung durch David d’Angers.
Édouard-Louis Dubufe, Portrait von Rosa Bonheur 1857 [7]
Etwas handfestere Motive als David d’Angers hatte der geschäftstüchtige Berater und Kunsthändler Ernest Gambart, als er ein Portrait der von ihm vermarkteten Künstlerin in Auftrag gab. Während ihre großen Werke damals schon überwiegend im Ausland ausgestellt und verbreitet wurden, wurde das Portrait Dubufes in Paris ausgestellt, diente also auch der Präsenz Rosa Bonheurs in Frankreich. Der von Gambart ausgewählte Portraitist war niemand Geringerer als Édouard-Louis Dubufe, ein Modemaler des Zweiten Kaiserreichs und Hofmaler Napoleons III. Dubufe malte Rosa Bonheur mit feierlicher schwarzer Robe und Spitzenkragen, den konzentrierten Blick in die Weite gerichtet, wie ein Feldherr vor einer entscheidenden Schlacht, in der Hand einen Zeichenstift und eine Mappe mit Zeichenblock. Damit wird ihre Bedeutung als Zeichnerin hervorgehoben, und das mit Bedacht. Denn die Zeichnung repräsentierte, wie Leïla Jarbouai, Kuratorin des musée d’Orsay erläutert, die Arbeit und die Wissenschaft, zu der Frauen damals keinen Zugang hatten.
Rosa Bonheur bestand aber darauf, ihr Portrait selbst zu ergänzen und daraus -in zweifacher Hinsicht- ein Doppelportrait zu machen: Ihr Arm mit dem Zeichenstift liegt auf einem von ihr selbst gemalten Cantal-Rind, dem Tier also, mit dessen Bild sie 1848 eine Goldmedaille auf dem Salon erhalten hatte. Und die Rinder hatten es Rosa Bonheur angetan- anders als die Männer: Was das männliche Geschlecht angeht, schrieb sie einmal in einem Brief, „so liebe ich nur die Stiere, die ich male“.[8]
Das gemeinsame Werk von Rosa Bonheur und Dubufe lässt erkennen, wie die Künstlerin sich sah und wie sie gesehen werden wollte: als selbstbewusste, ambitionierte Frau in enger Verbindung mit den Tieren, denen ihr gesamtes Lebenswerk gewidmet war.[9]
Die große Popularität Bonheurs spiegelt sich auch in dieser Parodie, die der Karikaturist Cham von Dubufes Portrait anfertigte. Cham betont die enge Beziehung zwischen Rosa Bonheur und den Tieren: Mensch und Tier, hier ein ziemlich wildes Rind mit eindrucksvollen Hörnern, blicken in die gleiche Richtung. Und Cham spielt mit der lautlichen Nähe von du bœuf und Dubufe und der – allerdings nicht expliziten- doppelten Autorenschaft des Bildes: „Mademoiselle Rosa Bonheur mit Du Buffe … gemalt von du bœuf … Nein mit du bœuf gemalt von Du Buffe.“[10]
Anna Elizabeth Klumpke, Rosa Bonheur in ihrem Atelier in Thoméry
Dieses Portrait entstand 1898, also kurz vor Rosa Bonheurs Tod.[11] Die Malerin, Anna Elizabeth Klumpke, war in diesem Jahr aus Amerika nach Frankreich gekommen, um ein Portrait der von ihr verehrten Rosa Bonheur anzufertigen. Sie blieb als „le dernier bonheur de Rosa“, als „Rosas letztes Glück“,[12] über deren Tod hinaus als Erbin und Nachlassverwalterin im Château de By bei Fontainebleau, wo Bonheur inmitten ihrer Tiere und der Natur seit 1860 lebte und arbeitete.
Klumpke hat Rosa Bonheur als Malerin in Ihrem Atelier portraitiert, in der Hand hält sie wohl eine Zeichnung als Vorlage für das entstehende Ölgemälde auf der Staffelei.
Foto: Wolf Jöckel (Ausschnitt)
Offensichtlich handelt es sich um das unvollendete Ölgemälde „Pferde in Freiheit“ oder auch „Wilde Pferde auf der Flucht vor einem Feuer“. Neben den Rindern waren Pferde ja auch die Tiere, die Bonheur ganz besonders gerne und mit besonderer Meisterschaft malte, wie ihr berühmtestes Bild, der weiter unten vorgestellte Pferdemarkt eindrucksvoll beweist.
Ausgewählte Werke
Zwei Kaninchen, 1840, Musée des Beaux Arts, Bordeaux[13]
Seit Rosa Bonheur 13 Jahre alt war, erhielt sie von ihrem Vater, dem Maler Raimond Bonheur, Unterricht im Zeichnen und Malen. Zum ersten Mal nahm sie, 19 Jahre alt, am Salon von 1841 teil und machte mit dem Bild der zwei Kaninchen auf sich aufmerksam. Marie Bonin, Autorin einer Biographie über Rosa Bonheur: „Sie war so begabt, dass man sie mit einem Mann verglich. Sie malte so gut wie ein Mann, sagte man damals“.[14] Dass eine junge Frau schon so früh über eine solche virtuose Maltechnik verfügte, wie sie in diesem Bild erkennbar ist, war damals in der Tat völlig außergewöhnlich. Das Motiv des Bildes, zwei Karotten mümmelnde Stall-Kaninchen, und das begrenzte Format (54 x 65 cm) entsprachen allerdings noch dem, was die Zeitgenossen von einer malenden Frau erwarteten.
Nach ihrem Erfolg beim Salon von 1848 erhielt Rosa Bonheur den ehrenvollen Staatsauftrag für ein neues Gemälde, das für das Museum von Lyon vorgesehen war. Rosa Bonheur reiste dafür extra ins Nivernais, um die Landschaft, die Tiere und die Arbeit der Bauern zu studieren. Zurück in ihrem Atelier malte sie dann das Bild, dessen Dimensionen allein schon außergewöhnlich sind: 1,33 mal 2,60 Meter. Bilder solchen Ausmaßes waren damals eher für Historienbilder oder Portraits reserviert. Rosa Bonheur stellte aber die gängige Hierarchie infrage: Sie bewies mit diesem monumentalen Bild, dass auch Tiere, Natur und bäuerliche Arbeit ihre Würde haben; vor allem offensichtlich die Tiere: Denn die nehmen die Mitte des Gemäldes ein: Es sind insgesamt jeweils sechs Ochsen, die vor den Pflug gespannt sind. Und die sind so detailgenau wiedergegeben, dass man sie sogar verschiedenen Rassen zuordnen kann: Es sind vor allem Charolais-Nivernais-Ochsen, aber auch Morvondelle- und Fémeline-Ochsen, die heute ausgestorben sind: Ein eindrucksvolles Beispiel für eine Diversität, die der Standardisierung und Rentabilisierung in der Landwirtschaft zum Opfer gefallen ist.[15] Die Tiere werden gezeigt beim Pflügen des herbstlichen Ackerbodens, dessen Tiefe und Schwere eindrucksvoll gestaltet sind. Man spürt geradezu das langsame Vorankommen und die ungeheure Kraft und Anstrengung, die zum Umpflügen dieses Bodens erforderlich sind. Und im Mittelpunkt des Bildes und seiner beiden sich kreuzenden Diagonalen: Das Auge des Charolais-Nivernais-Rindes und der schmerzliche Blick, den es den Betrachtern zuwirft. Die Menschen spielen dagegen- wie meist bei Rosa Bonheur- nur eine untergeordnete Rolle.[16]
Labourage nivernais (Ausschnitt). Foto: Wolf Jöckel
Dem Bild wurde ein triumphaler Erfolg zuteil, so dass es -entgegen der ursprünglichen Planung- in Paris verblieb: Im musée du Luxembourg, dem damaligen „Pantheon der größten zeitgenössischen Künstler“[17] wurde es ausgestellt, eine außerordentliche Auszeichnung für die 27 Jahre junge Malerin.
Le Marché aux chevaux/ Der Pferdemarkt 1852 /1855
Nach dem großen Erfolg der Labourage nivernais erhielt Rosa Bonheur einen neuen Staatsauftrag- jetzt von dem nach dem Staatsstreich von 1851 zum Kaiser Napoleon III. ausgerufenen Louis Bonaparte. Rosa Bonheur legte dafür Studien für zwei Themen vor: Heuernte in der Auvergne (fenaison en Auvergne) und le marché aux chevaux de Paris. Der Staat entschied sich für die Heuernte, nicht nur weil Rosa Bonheur damals schon eine ausgewiesene Malerin von Rindern war, die bei der Heuernte wieder eine zentrale Rolle spielten, sondern auch deshalb, weil der Staat daran interessiert war, den neuen Kaiser als einen Förderer bäuerlichen Lebens herauszustellen.
Rosa Bonheur ließ aber ihr Pferdemarkt-Projekt nicht fallen, sondern führte es gewissermaßen auf eigenes Risiko mit großer Energie weiter. Auch hier betrieb sie lange Vorstudien, die sie in unzähligen Zeichnungen festhielt: Pferde in verschiedenen Bewegungsformen und anatomischen Details, einzelne Personen und Gruppen.
Ein rittlings sitzender Mann. Vorbereitende Zeichnung für den „Pferdemarkt“. Um 1853 (Foto: Wolf Jöckel, Ausschnitt).
Studien von Pferdefüßen. 1850-53 (Foto: Wolf Jöckel)
Dazu kamen auch Entwürfe der gesamten Komposition. Eine (Entwurfs-) Zeichnung in den Dimensionen des späteren Gemäldes wurde erst 2020 zusammengerollt auf dem Speicher des Schlosses von By entdeckt und wird jetzt zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert: Keine ins Detail gehende, sondern eine etwas abstrakte Zeichnung, bei der es nach den Worten von Leïla Jarbouai um Dynamik und Bewegung geht.[18]
Ausschnitt. Foto: Wolf Jöckel
Zur Vorbereitung besuchte Rosa Bonheur auch den Pferdemarkt auf dem Boulevard de l’Hôpital in Paris, nicht weit entfernt vom Krankenhaus La Salpétrière. Um dort als Frau nicht Aufsehen zu erregen und um besser arbeiten zu können, erhielt sie von der Polizeipräfektur die offizielle Genehmigung, bei diesen Besuchen Männerkleidung tragen zu dürfen.
18 Monate arbeitete sie an dem Bild. Die endgültige Version maß 5 mal 2,4 Meter: Eine an sich banale Szene, die aber von ihr fast wie ein Schlachtengemälde konzipiert ist:
Die im Kreis herumgeführten Pferde lassen sich kaum bändigen, sie erscheinen „en rébellion“ (Sandra Buratti-Hasan). Auch hier beherrschen die Tiere die Szene, die Menschen sind nur Nebenfiguren in einer großartigen Choreographie. Rosa Bonheur selbst bezeichnete das Gemälde als ihren eigenen „Parthenon-Fries“.[19]
1853 wurde das noch nicht ganz vollendete Bild auf dem Salon in Paris und 1855 auf der Weltausstellung präsentiert. Der Klassiker Vernet und der Romantiker Delacroix erkannten es als Meisterwerk, die Kunstkritik zog Vergleiche zu Géricault und Courbet.
Der Pferdemarkt, Detail (Foto: Wolf Jöckel)
Der Kunstpädagoge des Metropolitan Museums Wayne Thiebaud sieht in dem Gemälde denn auch nicht nur klassische und realistische, sondern auch romantische und impressionistische Elemente.[20]
Der Pferdemarkt, Detail. Im Hintergrund die Kuppel der Salpétrière- Kapelle (Foto: Wolf Jöckel)
Aber trotzdem fand sich zunächst kein Käufer: Rosa Bonheurs Geburtsstadt Bordeaux, der sie das inzwischen fertiggestellte Gemälde für 12 000 Franc anbot, griff nicht zu. Dafür Ernest Gambart, ihr Kunsthändler, der es ein Jahr später für 40 000 Franc erwarb und mit dem Vertrieb der Werke Bonheurs zum Millionär wurde. Er ließ mehrere kleinere Kopien und jede Menge Grafiken des Bildes anfertigen und bediente damit eine immer größere Nachfrage. Rosa Bonheur: „Die Engländer rissen sich um die Grafiken, die man von meinen Bildern machte; die Amerikaner stritten sich um meine Bilder“.[21] In der Tat fand Rosa Bonheur besondere Resonanz im angelsächsischen Raum. Gambart organisierte für sie und das Bild 1856 eine Tournee durch England und Schottland, wo sie gefeiert wurden. Le Marché aux chevaux/The Horse Fair war das erste Bild einer noch lebenden Künstlerin/eines noch lebenden Künstlers, das in der National Gallery in London ausgestellt wurde. Sogar Queen Victoria gab ihr die Ehre und empfing sie. Gekauft wurde das Gemälde von einem amerikanischen Sammler, schließlich von dem Eisenbahn-Magnaten Cornelius Vanderbilt II, der es 1887 dem Metropolitan Museum of Art in New York schenkte, wo es noch heute einen Ehrenplatz einnimmt.
Für die französische Retrospektive wurde dieses Gemälde nicht ausgeliehen, aber zu sehen ist immerhin die -oben abgebildete- um die Hälfte verkleinerte Version. Sie wurde gemeinsam von Rosa Bonheur und ihrer Lebensgefährtin Nathalie Micas, die auch Malerin war, angefertigt und zu Thomas Landseer nach England geschickt, um als Vorlage für die Herstellung einer Grafik zu dienen. Thomas Landseer war Bruder des berühmten Tiermalers Edwin Landseer und er trug mit seinen viel reproduzierten und verbreiteten Grafiken sehr zur Popularisierung der Arbeiten seines jüngeren Bruders und auch Rosa Bonheurs bei. Heute in das Bild in der Londoner National Gallery ausgestellt.
Von ihrer Reise nach England und Schottland brachte Rosa Bonheur eine ganze Reihe Zeichnungen mit, die sie anschließend als Vorlage für Gemälde verwendete.
So entstand auch dieses eindrucksvolle Gemälde: Changement de pâturage (Weidewechsel) Hamburger Kunsthalle 64 x 100 cm[22]
Drei Schäfer überqueren mit ihrem Boot ein Gewässer, auf dem Weg zu einem neuen Weideplatz für die Schafherde. Es sind schottische Blackface-Schafe, eine Rasse, die Rosa Bonheur besonders bewunderte. Die Szene ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet, die wollige Struktur des Schafsfells ist mit großer Meisterschaft wiedergegeben, manche Tiere sind geradezu portraitiert. Das Bild strahlt eine große Ruhe aus, Mensch und Tier sind in Harmonie vereint.
Rosa Bonheur konnte in Schottland beobachten, wie Herden auf dem Weg zum Falkirk Tryst, einem der größten Viehmärkte Europas, von Insel zu Insel gerudert wurden.[23] Ihre Bestimmung war also letztendlich das Schlachthaus. Aber das ist ein anderes Kapitel….
Auf ihrer Reise beobachtete Rosa Bonheur auch, wie Highland-Rinder den See von Ballachulish überqueren.
Rosa Bonheur, Bœufs traversant un lac à Ballachulish 1867-1873 124 x 223 cm[24]
Zehn Jahre nach ihrem Aufenthalt in Schottland fertigte Rosa Bonheur diese große Zeichnung an, die eigentlich Grundlage für ein nachfolgendes Gemälde sein sollte, das sie als Fortsetzung des Pferdemarktes betrachtete. Sie beließ es aber schließlich bei der Zeichnung, die sie 1873 ihrem Kunsthändler Ernest Gambart mit den Worten schickte, sie habe dort all das umgesetzt, was ihr möglich sei.[25]
Detail. Foto: Wolf Jöckel
Detail. Foto: Wolf Jöckel
Rosa Bonheur, El Cid- Tête de lion 1879. 95 x 76 cm. Madrid, Museo Nacional del Prado[26]
Der Titel dieses Löwenportraits, El Cid, stammt aus dem Arabischen und bedeutet „Herr“. Und dass es sich hier um einen Herrn bzw. Herrscher, ja den König der Tiere handelt, ist unverkennbar. Um den Löwenkopf gibt es nur ein wenig Himmel und etwas unbestimmte Landschaft. Alles ist auf ihn konzentriert, vor allem auf die Augen, die den Betrachter ruhig, konzentriert und fast von oben herab anblicken. Den Augen maß Rosa Bonheur in ihren Tierbildern besondere Bedeutung beimaß:
„Ich fühlte mich nur inmitten der Tiere wohl, ich studierte mit großer Leidenschaft ihre Verhaltensweisen. Eine Sache, die ich mit besonderem Interesse beobachtete, war der Ausdruck in ihren Blicken: Ist das Auge nicht bei allen lebenden Kreaturen der Spiegel der Seele; kann man nicht da die Wünsche und Gefühle der Lebewesen ablesen, denen die Natur keine andere Mittel gegeben hat, ihre Gedanken auszudrücken?“[27]
Bemerkenswert ist auch hier -wie in allen Tierbildern Rosa Bonheurs- die Präzision der Darstellung. Nie hat sie improvisiert, sondern immer nach der Natur gemalt. Solange sie in Paris lebte, besuchte sie oft den Zoo, und konnte die Löwen dort beobachten. Als sie sich im Schloss von By niederließ, schuf sie dort einen wahren Tierpark, ihre Arche Noah im Wald von Fontainebleau. Dazu gehörten Rehe, Schafe, Wildschweine, Pferde und eben auch Löwen wie ihre Löwin Fatma, von denen sie sich inspirieren ließ.
Rosa Bonheur Barbaro après la chasse/Barbaro nach der Jagd 1858, 96,5 mal 130,2 cm Philadelphia Museum of Art
Ganz anders als der herrschaftliche Löwe ist dieser Hund dargestellt, dessen Name auf die Wand geschrieben ist. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein armer Hund. Er ist hier nicht der Jäger, der das Wild zu Tode hetzt und zerreißt, sondern Rosa Bonheur malt ihn, wie er von der Jagd erschöpft dasitzt, so eng angekettet, dass er sich noch nicht einmal hinlegen oder den armseligen Knochen am Boden erreichen kann: Ein Bild des Elends. Der Jagdhund ist hier als Opfer dargestellt (Leïla Jarbouai). Besonders eindrucksvoll ist auch hier der Blick: Ein unendlich trauriger, Mitleid-heischender Blick auf seinen Herrn, aber auch auf die Betrachter des Gemäldes, die Rosa Bonheur damit auf die Notwendigkeit des Tierschutzes aufmerksam macht. Sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der 1845 gegründeten SPA (Société protectrice des animaux) und illustrierte die 1888 veröffentlichten Lettres d’un chien errant von Louis Moynier, in denen die Misshandlung von Arbeitstieren angeprangert und die Notwendigkeit ihres Schutzes propagiert werden.[28] Im Bild des stolzen Löwenherrschers Cid wie in dem des armseligen Jagdhundes Barbaro geht es, wie in all ihren Tierbildern darum, die Tiere in ihrer Würde zu zeigen oder ihnen die verlorene Würde zurückzugeben.[29]
Rosa Bonheur. L’aigle blessé, der verletzte Adler, (um) 1870, 147,6 mal 114,6, Los Angeles, LACMA[30]
Mit diesem Bild hat es seine besondere Bewandtnis: Der Adler gehörte nicht zu den von Rosa Bonheur bevorzugten Tieren. Ihn zu malen, war schon etwas Besonderes, und dann noch einen im vollen Flug -vielleicht durch einen Schuss- verletzten Adler! Die Vermutung liegt aber nahe, dass das im deutschen-französischen Krieg 1870/71 entstandene Bild sich auf die Niederlage Napoleons III. bezieht, es hier also nur vordergründig um einen verletzten Adler, sondern vielmehr um das verletzte Frankreich, um „nos désastres“ (Rosa Bonheur) geht.[31]
Rosa Bonheur hatte enge Beziehungen zur kaiserlichen Familie im benachbarten Fontainebleau. Der Thronfolger kam gerne ins Schloss von By mit den vielen Tieren, und Kaiserin Eugénie war höchstpersönlich nach Thoméry gekommen, um Rosa Bonheur mit der Ehrenlegion auszuzeichnen.
Während des Krieges öffnete sie das Schloss bzw. den Park für militärische Übungen und ließ für die Armen des Ortes Suppe verteilen. Insofern ist das Bild ein Spiegel des patriotischen Engagements Rosa Bonheurs und ihrer Trauer über die französische Niederlage.[32]
Zu befürchten hatte Rosa Bonheurs durch den Krieg allerdings nichts, denn der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm, der einen Teil der Truppen kommandierte, die Paris belagerten, „hatte Bonheur und ihren Wohnsitz aufgrund ihrer Bekanntheit unter Schutz gestellt.“[33] Das mag vielleicht erstaunlich erscheinen, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass der anglophile Friedrich Wilhelm mit Victoria, der kunstliebenden ältesten Tochter der Queen Victoria, verheiratet war. Und die hatte ja sogar Rosa Bonheur in London in Privataudienz empfangen. Insofern konnte und musste Friedrich Wilhelm der Schutz der in England so populären Künstlerin ein besonderes Anliegen sein. Friedrich Wilhelm bat sogar Rosa Bonheur, ihn in ihrem Schloss zu empfangen. Die patriotische Malerin entzog sich dem aber, indem sie in den Wald von Fontainebleau auswich.[34]
Rosa Bonheurs amerikanischer Traum
Die letzten 10 Jahre des Lebens von Rosa Bonheur waren bestimmt von dem amerikanischen Traum. Anstoß dazu war die Wild West Show von William F. Cody, genannt Buffalo Bill. Diese Show wurde 1889 nach großen Erfolgen in England sieben Monate lang als Begleitprogramm der Weltausstellung in Neuilly bei Paris präsentiert. Zur Eröffnungsveranstaltung kamen etwa 10 000 Besucher und auch der französische Präsident Carnot. Zur Show gehörten etwa 100 amerikanische Ureinwohner, vor allem Sioux- Indianer, 48 Cowboys, 20 Bisons und Mustangs, 190 Ponies…. Rosa Bonheur verbrachte viele Tage mit der Truppe: Ihr Interesse galt -natürlich- den Tieren, aber auch den „Peaux-Rouges“, den „Rothäuten“: „Ich konnte mir“, so berichtete sie Anna Klumpke, „nach Belieben ihre Zelte ansehen; ich habe an ihrem Alltagsleben teilgenommen; ich habe, so gut ich konnte, mit den Kriegern, ihren Frauen und Kindern gesprochen; Ich habe ihre Bisons, ihre Pferde und Waffen gezeichnet, die mich besonders interessiert haben.“[35]
Die damals fast ausgerotteten Bisons hatten es Rosa Bonheur besonders angetan. So entstand dieses Ölgemälde, bei dem sie die Bisons in ihrer heimischen Umgebung darstellte, die sie allerdings nur aus Berichten und der Literatur kannte: In Amerika ist sie nie gewesen.
Rosa Bonheur, lors du Wild West Show, en compagnie de Buffalo Bill et de chefs Indiens dont celui qui porte le costume de Sioux qu’elle a reçu en cadeau et qu’elle a peint.
Ici lors de l’exposItion universelle de 1889
Auf diesem Foto sieht man Rosa Bonheur inmitten einiger Mitglieder von Cody’s Truppe. Ganz links im Bild der Häuptling Inyan Mató (Rocky Bear), daneben William F. Cody (Buffalo Bill), zweiter von rechts ist Häuptling Ógle Lúta (Red Shirt).[37]
Ihrer Liebe zu den Büffeln zum Trotz malte Rosa Bonheur -selten genug bei ihr- ein Portrait Buffalo Bill’s – des legendären Cowboys und Büffel-Jägers. Gleichwohl schloss sie Freundschaft mit ihm: Cody besuchte Rosa Bonheur sogar in Thoméry und brachte ihr als Gastgeschenk Accessoires der Indianer mit. Und er beeindruckte Rosa Bonheur, weil er innerhalb von wenigen Stunden drei Wildpferde, die ihr von amerikanischen Verehrern geschenkt worden waren, mit dem Lasso einfing und zähmte.[38] Buffalo Bill, ein Meister des Marketings, nutzte das von Rosa Bonheur angefertigte Portrait weidlich , um für seine Show zu werben.
Auf diesem Plakat sieht man in der Mitte Rosa Bonheur, wie sie Buffalo Bill malt: Die Kunst verleiht dem Ruhm Dauer.[39] Da ist links der alte, abgehalfterte Napoleon abgebildet, dessen Weg „von der Seine … nach Waterloo“ führt, rechts der kraftstrotzende Napoleon der Moderne, dessen -nur siegreiche- Schlachten die Shows in aller Welt sind.[40]
Rosa Bonheur portraitierte aber auch die beiden Häuptlinge der Show als Reiter in festlicher Kleidung und in ihrer heimatlichen Umgebung- einer ebenso festlichen Landschaft gesprenkelt mit blau blühenden Hyazinthen.
Die Wild West Show Buffalo Bills war eine höchst ambivalente Veranstaltung. Sie reiht sich ein in eine ganze Reihe von „menschlichen Zoos“, die in dieser Zeit in Europa präsentiert wurden bis hin zur Vorführung angeblicher Menschenfresser aus der Südsee noch in den 1930-er Jahren.[41] In diesem Sinne spielten auch die Indianer der Show eine Rolle als blutdürstige Wilde, die von Helden wie Buffalo Bill, angeblichen Vertretern einer auf einer höheren Zivilisationsstufe stehenden Rasse, besiegt werden. Auf der anderen Seite aber diente der „Wilde Westen“ der Show in den Klassengesellschaften Europas und in einer Phase entfesselter kapitalistischer Industrialisierungsprozesse auch als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Freiheit.[42] Und die Indianer wurden im Rousseau’schen Sinne als Vertreter eines besseren, ursprünglichen Stadiums der Zivilisation gesehen. Dies war auch die Sicht Rosa Bonheurs. Nach einem Essen mit den beiden Indianerhäuptlingen der Show sagte sie: „Das sind wahre Männer. … Es sind würdige, ernsthafte Männer… Wie sind die heutigen Männer von der Zivilisation degeneriert im Vergleich zu diesen edlen Exemplaren …“ Ähnlich wie Karl May in Deutschland bewunderte sie die Fähigkeit der amerikanischen Ureinwohner, die Natur zu verstehen und im Einklang mit ihr zu leben. Und daraus folgte konsequent auch die Kritik am Kolonialismus der weißen Eroberer: Sie habe „eine wahre Leidenschaft für diese unglückliche Rasse“, und sie beklage, dass diese von den weißen Eroberern zum Untergang bestimmt sei- so wie ja auch die hemmungslos getöteten Bisons.
Das Bild der beiden durch die Prärie reitenden Indianerhäuptlinge ist insofern auch als politische Botschaft zu verstehen: Es ist als ein Plädoyer für das von der amerikanischen Regierung und der Siedlerbewegung infrage gestellte Recht der amerikanischen Ureinwohner auf ihr Land zu verstehen.
Der Wald von Fontainebleau
Rosa Bonheur hat immer in Kontakt mit der Natur gelebt und sich von ihr inspirieren lassen. Das waren vor allem Tiere, aber auch Landschaften, denn ihr war daran gelegen, ihre Tierszenen in eine möglichst naturgetreue Umgebung einzufügen. Seit sie sich 1860 im Schloss von By am Rand des Waldes von Fontainebleau niederließ, beschäftigte sie sich, wie sie ihrer Lebensgefährtin und Biographin Anna Klumpke erläuterte, ständig und leidenschaftlich mit dem Wald, seiner „faune gracieuse“, aber auch seinen Kiefern, Eichen, Buchen und Birken. Jeden Morgen streifte sie in Begleitung ihrer Lieblingshunde mit Zeichenblock und Farbkasten hoch zu Ross oder im Wagen durch den Wald. Nie versäumte sie es, an der Mare aux Fées anzuhalten, wo sie es liebte, eine Zigarre zu rauchen.
Die Mare aux fées, der Feenteich im Wald von Fontainebleau, ist ein malerischer Ort, der zahlreiche Maler, Zeichner und Fotographen inspiriert hat. Sein Name bezieht sich auf Mythen und Legenden, die in der Zeit der Industrialisierung und der Ausbreitung der Städte ihren besonderen Reiz hatten.
Hier ein Aquarell des Feenteichs. Kein Medium erlaubt es besser als das Aquarell, das Rosa Bonheur perfekt beherrschte, die Vibration des Lichts und die unmerkliche Bewegung der Luft im Laub der majestätischen Bäume wiederzugeben.[44]
Les Charbonniers (Die Köhler) 1880-1890 49,5 x 64,3 cm Foto: Wolf Jöckel (Ausschnitt)[45]
Bei ihren regelmäßigen Ausflügen in den Wald von Fontainebleau konnte Rosa Bonheur auch die Köhler bei der Herstellung von Holzkohle beobachten. War ein Kohlemeiler einmal angezündet, musste das Feuer ständig beobachtet werden, so dass die Köhler bis zur Fertigstellung der Holzkohle ständig in selbstgebauten Hütten wohnten. Noch heute erinnert die „Route des Charbonniers“ an die Präsenz der Köhler im Wald von Fontainebleau.
Rosa Bonheur hat diese Szene mit Zeichenkohle und weißem Kalk gezeichnet. Auf diese Weise gelingt es ihr, die rauchgeschwängerte Arbeit der Köhler eindrucksvoll festzuhalten. Beide halten einen langen Stock, wahrscheinlich einen Rechen, mit dem sie die rauchende Holzkohle aus dem abgebauten Meiler zum Auskühlen auf dem Boden verteilen.[46]
Vor allem waren es die Tiere, die Rosa Bonheur im Wald von Fontainebleau anzogen und die sie zeichnete und malte: Wildschweine, Füchse, Rehe und Hirsche, wie den als Titelbild dieses Beitrags und als Ausstellungsplakat verwendeten „König des Waldes“.
Rosa Bonheur, Le Roi de la forêt (Der König des Waldes)244,8 x 175cm)
Rosa Bonheur malte dieses Bild 1878. Es zeigt einen majestätischen Hirsch, wie er aus dem Wald kommend an einer Lichtung anhält, Aug in Aug mit dem Betrachter des Bildes. Nach einer unwahrscheinlichen, aber mehrfach von Nahestehenden berichteten Geschichte soll der 10-Ender auch zu den Tieren im Park des Schlosses von By gehört haben. Bei dem unerwünschten Besuch des Kronprinzen Friedrich-Wilhelm am Ende des deutsch-französischen Krieges soll sich der „cerf prussophobe“, der preußenfeindliche Hirsch, aufgebäumt und das Gefolge des Prinzen mit französischem Dreck beschmutzt haben. Balsam auf die dem Nationalstolz zugefügten Wunden.[47]
Vergessen und wiederentdeckt
Bald nach ihrem Tod geriet Rosa Bonheur „in Vergessenheit“ und ihr Werk fiel „in Ungnade“. [48] Das zeichnete sich schon bei der großen Versteigerung von 1900 in Paris ab, die gut 1 Million Francs erbrachte- angesichts der versteigerten 1910 Werke Rosa Bonheurs und ihrer ebenfalls versteigerten Kunstsammlung ein recht bescheidenes Ergebnis – zumal wenn man bedenkt, dass gerade erst 13 Jahre vorher Cornelius Vanderbild II allein den „Pferdemarkt“ für 400 000 Dollar gekauft hatte. Aber dann begann der unaufhaltsame Aufstieg der Avant-garde und einhergehend damit die Verdammung der traditionellen „Kanaille des Erfolgs“, die nach den Worten der Gebrüder Goncourt die damnatio memoriae verdient habe. Die realistische Malweise wurde „von dem Siegeszug des Impressionismus als Bildsprache der Moderne überlagert“. Rosa Bonheurs Werk galt nun als überholt, traditionell, ja kitschig. Dazu kam, dass Rosa Bonheur als Hofmalerin des Zweiten Kaiserreichs Napoleons III. und dann der neureichen Bourgeoisie der Dritten Republik abgestempelt war. Nicht minder schlimm: Sie galt den Gebrüdern Goncourt sogar als jüdische Opportunistin (!), die Paris den Rücken gekehrt habe, um in England und Amerika reich zu werden.[49] Wahr ist daran allerdings, dass Rosa Bonheur seit ihrer Installation in Schloss von By nicht mehr im Pariser Salon ausgestellt hatte. Ihre bedeutenden Werke wurden direkt von ihrem Kunsthändler Gambart aufgekauft und im Ausland ausgestellt. Den „König des Waldes“ beispielsweise präsentierte Gambart zunächst in seinem Heimatland Belgien und dann in England, wo das Gemälde mithilfe massenhaft vertriebener Drucke ähnlich populär gemacht wurde wie zuvor der Pferdemarkt. Ende des Jahrhunderts schrieb ein französischer Kunstkritiker, Rosa Bonheur sei in Frankreich „gestern berühmt“ gewesen, und ein anderer, sie sei eine Frau, die dabei sei, von den (französischen) Zeitgenossen vergessen zu werden. Dazu trug nicht zuletzt auch bei, dass das zu ihrer Zeit äußerst populäre Genre der Tiermalerei zu einem Randbereich der Malerei und des Kunstmarkts wurde.
Die „neue Zeit“ ging über Rosa Bonheurs Werk hinweg: Von dem durch die industrielle Revolution genährten Fortschrittsglauben ist bei ihr nichts zu spüren. In ihren Bildern gibt es keine rauchenden Schornsteine oder dampfenden Eisenbahnen. Eher eine nostalgische Tendenz zur Idealisierung des ländlichen Lebens, wie sie vor allem, aber nicht nur, in Frühwerken zu erkennen ist:
Rosa Bonheur, La Famille heureuse (Die glückliche Familie), um 1840
Wenn Rosa Bonheur also heute als „femme d’avant-garde“ (Fémelat) gefeiert wird, dann eher wegen ihrer unkonventionellen Lebensweise und weniger als Malerin. Und in der Tat steht vielfach immer noch bei der Beschäftigung mit Rosa Bonheur nicht das Werk im Vordergrund, sondern ihre Person.[50]
Und insofern stimmt es auch nicht ganz, dass Rosa Bonheur schon bald nach ihrem Tod völlig „in Vergessenheit“ geriet. Für ihre Person galt das nämlich eher nicht. Denn schon um das Jahr 1900 setzte „in der frühen Homosexuellenbewegung“ eine „lesbische Rezeption Bonheurs ein.“ Sie wurde „als lesbisch angesehen – „man könnte auch sagen vereinnahmt, auch wenn die Quellenlage und vor allem auch Bonheurs eigene Aussagen das nicht eindeutig hergeben. Für Magnus Hirschfeld zum Beispiel („Die Homosexualität des Mannes und des Weibes“, 1914) war Bonheur eine „virile Transvestitin“ (S. 660), an deren Werk man erkennen könne, „wie die der homosexuellen Frau eigentümliche virile Wesenskomponente“ Bonheur „Kraft und Energie“ für ihre künstlerische Ausdrucksweise verliehen habe (S. 508).[51]
Kein Wunder also, dass Feministinnen und Queer-Denker/innen Rosa Bonheur für sich entdeckt haben und reklamieren. Das treibt zum Teil bizarre sprachliche Blüten, wie in dem nachfolgenden Zitat aus der homepage des Liverpooler National Museum. Um das offenbar anstößige „she“ für Rosa Bonheur zu vermeiden, wird für sie die dritte Person Plural verwendet. Das liest sich dann so:
In their relationships, Bonheur referred to themselves as ‘the husband’ and assumed the traditionally male role of ‘breadwinner’. It is clear that they understood their relationships with their consecutive, long-term partners (Nathalie Micas and Anna Klumpke) to be a form of matrimony. Bonheur is sometimes cited as ‘the first lesbian artist’. Today, Bonheur may have identified as a lesbian. Bonheur was also someone who defied gender conventions for the time and saw themselves as occupying a masculine role, so it is also possible that Bonheur may have understood themselves to be trans, non-binary, or genderqueer.[52]
Aber es gibt auch noch einen anderen Aspekt, der eine neue Sicht auf Rosa Bonheur eröffnet: Ihre Tierportraits können nämlich heute vor dem Hintergrund der Umweltkrise und Naturzerstörung neu interpretiert werden. Valérie Bienvenue schreibt dazu im Ausstellungskatalog:
„Die Individualität der von Bonheur gemalten Tiergesichter zu erkennen, ist ein mutiger und essentieller Akt. Sich bewusst mit unseren eigenen Augen darin zu versenken bedeutet, ein anhaltendes Ungleichgewicht wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Der beklagenswerte Zustand unseres Planeten und unsere Beziehung zu anderen Lebewesen zeigen, dass es mit der menschlichen Sonderstellung zu Ende geht. Es ist Zeit den „anderen“ zu wahrzunehmen, wer auch immer es sei. Das ist unvermeidlich. Die genaue Betrachtung der Tierportraits der Künstlerin bieten eine einzigartige Möglichkeit, unser Bewusstsein und unser Verhalten in Richtung einer gemeinsamen besseren Zukunft zu erheben.“[53]
Auf der Umschlagseite des Ausstellungskatalogs wird dieser Gedanke noch einmal herausgestellt: Mehr als jemals im 21. Jahrhundert ermögliche uns die Betrachtung der Kunst Rosa Bonheurs „eine neue Begegnung mit dem Leben“ und könne uns dabei helfen, die Welt lebenswerter zu machen
Unter welchem Blickwinkel auch immer man Rosa Bonheur und ihre Werke betrachtet: Die große Retrospektive im musée d’Orsay bietet eine hervorragende Möglichkeit, die bedeutendste Tiermalerin des 19. Jahrhunderts zu entdecken und zu betrachten, was sie uns vielleicht auch heute noch -oder wieder- zu sagen hat.
Verwendete Literatur
Gérard-Georges Lemaire/Jean-Claude Amiel: Rosa Bonheur. In: dies., Künstler und ihre Häuser. München 2004, S. 86-93
Rosa Bonheur, paroles d’artiste. Lyon 2020
Alina Christin Meiwes, Die Tiermalerin Rosa Bonheur. Künstlerische Strategien und kunsthistorische Einordnung im Kontext der Vermittlung. Baden-Baden 2020 (Diss. Uni Paderborn 2018)
[15] Armelle Fémelat, Rosa Bonheur. Paris 2022, S. 40. Siehe auch die Erläuterung des Gemäldes im von Musée d’Orsay herausgegebenen Faltblatt zur Ausstellung.
[34] Es gehört zu den tragischen Momenten der deutschen Geschichte, dass Kronprinz Friedrich Wilhelm, der 1888 als Friedrich III. deutscher Kaiser wurde, nach nur 99 Tagen seinem Krebsleiden erlag. Hätte der anglophile und (gemäßigt) liberale Friedrich, ein Gegner Bismarcks, länger regieren können, wäre vielleicht die deutsche -und europäische- Geschichte anders verlaufen. Seine Witwe Victoria, auch Kaiserin Friedrich genannt, träumte von einem besseren Deutschland, verließ das Berlin Wilhelms II. und zog sich auf ihren Witwensitz in Königstein im Taunus zurück, wo sie sich als Liebhaberin und Förderin der Künste hervortat. Siehe: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ausstellung-in-kronberg-kaiserin-friedrich-und-kunst-18403178.html
[35] Anna Klumpke, Rosa Bonheur, sa vie, son œuvre. Paris 1908, S. 36. Zit. im Ausstellungskatalog, S. 226
[39]L’art perpétue la renommée : Rosa Bonheur peignant Buffalo Bill 1889 Buffalo Bill Center of the West, Cody. Abbildung auch im Ausstellungskatalog S. 230
[41] Siehe dazu den Blog-Beitrag: Die Kolonialausstellung von 1931 (Teil 2): Der „menschliche Zoo“ im Jardin d’acclimatation und der Tausch von „teutonischen Krokodilen“ und „Menschenfressern“ zwischen Paris und Frankfurt https://paris-blog.org/2017/06/01/die-kolonialausstellung-von-1931-teil-2-der-menschliche-zoo-im-jardin-dacclimatisation-und-der-tausch-von-teutonischen-krokodilen-und-men-sche/ Unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen die Indianer, auch die beiden Häuptlinge, für die Show engagiert wurden, konnte ich nicht herausfinden. Bei früheren Shows in Amerika hatte Cody sogar den berühmten Häuptling Sitting Bull als Stargast gewinnen können. Allerdings unter Vorspiegelung falscher Tatsachen: „William Cody war es gelungen, auch berühmte indianische Häuptlinge wie den einst gefürchteten Sitting Bull als Mitwirkende zu engagieren. 1885 nahm dieser in der Wild-West-Show von Buffalo Bill in den USA und in Kanada als Statist teil. Ihm war dabei wegen mangelnder Englischkenntnisse und Vorspiegelung falscher Tatsachen nicht bewusst, dass es sich lediglich um eine Show handelte. Vielmehr glaubte er, auf diesem Wege (er hielt Ansprachen in Lakota) über die Verbrechen der Weißen an den Indianern aufklären zu können, und erhoffte sich davon ein Umdenken. Die Teilnahme an Buffalo Bills Europatournee lehnte er 1887 ab.“ Justina Schreiber, „Buffalo Bill’s Wild West Show“ in München. 25.9.2016https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/land-und-leute/buffalo-bill-in-muenchen-schreiber100.html
[49] Jutta Ströter-Bender im Vorwort zu Meiwes, Die Tiermalerin Rosa Bonheur, S. VII und Annie-Paule Quinsac, La réception de Rosa Bonheur depuis les années 1970. In: Ausstellungskatalog Roa Bonheur, S.72
[50] Annie-Paule Quinsac, La réception de Rosa Bonheur depuis les années 1970. In: Ausstellungskatalog Rosa Bonheur, S. 68