Marlis Franke, die Autorin des nachfolgenden Beitrags, war bis zu ihrer Pensionierung Fachbereichsleiterin für neuere Sprachen an der Carl-Schurz-Schule, einem Gymnasium in Frankfurt/Main mit einem Schwerpunkt im Fach Französisch. Sie hat zunächst als Lehrerin und dann als Mitglied der Schulleitung im Rahmen von Austauschfahrten viele Jahre lang Oradour-sur-Glane besucht, und daraus hat sich eine enge Beziehung, ja Freundschaft mit Robert Hébras entwickelt.[1] Als Marlis Franke 2013 in Frankfurt als Chevalier de l’ordre des palmes académiques ausgezeichnet wurde, waren Robert Hébras und seine Frau Christiane auch dabei.[2] Insofern bin ich meiner ehemaligen Kollegin besonders dankbar für diesen persönlichen Nachruf auf einen Menschen, dessen Schicksal in ganz außerordentlicher Weise die Wunden der deutsch-französischen Vergangenheit verkörpert und der trotzdem oder gerade deshalb sich mit großer Leidenschaft für das Werk der Versöhnung und Verständigung engagiert hat. Robert Hébras konnte am Ende seines Lebens gewiss sein, dass dieses Anliegen, das ihm so sehr am Herzen lag, verwirklicht wurde. Er musste aber auch noch miterleben, dass dies nicht galt für den Wunsch, den er 2005 in der Aula der Carl-Schurz-Schule im Gespräch mit Schüler*innen äußerte: „Ich wünsche mir für euch, eure Kinder, Enkel und Urenkel, dass es nie wieder Krieg gibt“…..[3]
Wolf Jöckel
Am 11. Februar 2023 ist im Alter von 97 Jahren Robert Hébras, ein langjähriger Freund unserer Schule, verstorben. Er hat über zwei Jahrzehnte Generationen von Schüler*innen an der Carl-Schurz-Schule geprägt.

Robert Hébras mit seiner Enkelin Agathe, die die Erinnerungsarbeit ihres Großvaters fortsetzt.[4]
Robert Hébras wurde im Südwesten Frankreichs geboren. Er wuchs auf in Oradour-sur-Glane, einem kleinen Dorf mit rund 700 Einwohnern. Es war ein friedlicher Ort mit Geschäften, Cafés, einer Schule und einer Kirche.
Dieser Ort wurde am 10. Juni 1944 von Einheiten der SS- Panzerdivision Das Reich zerstört und die gesamte Bevölkerung grausam ermordet. Warum die SS-Division „Das Reich“ gerade hier dieses Massaker verübte, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Ernst zu nehmende Résistance-Aktivitäten gab es in dem Ort nicht.

Kinderwagen im Altarraum der Kirche, in der auch 207 Kinder starben.[5]
Die SS-Leute kamen an einem Samstagmorgen. Die Männer wurden in Scheuen zusammengetrieben und dort erschossen oder verbrannt. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche zusammengepfercht und die setzten die SS-Männer dann in Brand. 642 Menschen wurden so ermordet.
Robert Hébras hat diesen Tag nur überlebt, weil er es schaffte, sich trotz schwerer Verletzungen tot zu stellen. Der damals 19jährige verlor innerhalb weniger Stunden seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten, seine Heimat, eigentlich seine ganze Welt.
Nachdem er dem Massaker entkommen war, wurde er heimlich gesund gepflegt, und er schloss sich der Résistance an, um gegen Hitler-Deutschland zu kämpfen. Nach dem Krieg hat er jahrelang sehr wenig über das gesprochen, was passiert war, und es ist auch verständlich, dass er Deutschland und den Deutschen sehr ablehnend gegenübertrat.
Am Ende der 60er Jahre wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Diesem Kanzler war die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit besonders wichtig. Ihm war es ein Herzensanliegen, mit den Menschen zu reden, die besonders unter Hitler-Deutschland gelitten hatten und um Vergebung zu bitten. Und so wurde auch Robert Hébras 1985 nach Deutschland eingeladen.
Robert Hébras ist dieser Einladung nach einigem Abwägen gefolgt, und sie hat sein Leben verändert. Der gelernte Kfz-Mechaniker und Betreiber einer Renault-Werkstatt hatte bis zu diesem Zeitpunkt sämtlichen Kontakt mit deutschen Kunden verweigert.
In Deutschland erkannte er, dass die einzige Art und Weise, die Wiederkehr solcher Dramen zu vermeiden, darin besteht, dass alle – Deutsche, Franzosen, aber auch die Menschen aller anderen Nationen – sich anschauen, was passieren kann, wenn man Hass, Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit zulässt und nicht miteinander redet.
Anschauen sollte man noch heute das „village martyre“, dessen verkohlte Ruinen, die inzwischen vom Verfall bedroht sind, als Mahnmal erhalten blieben.

An diesem Auto in der Garage Desourteaux wurde am 10. Juni 1944 vermutlich noch gearbeitet. Es sollte nie fertiggestellt werden.[6]
Durch diese Ruinenstadt hat Robert von 2002 bis 2020 unsere Schülergruppen geführt, die zum Austauschs nach Niort gekommen waren. Anschließend stand er ihnen noch im großen Saal des Centre de la mémoire für Fragen zur Verfügung. Die Gespräche mit Robert waren sehr emotional und für die Kinder sehr prägend. Viel Übersetzungshilfen waren nicht nötig – die Kinder verstanden den überaus charismatischen Großvater auch so. In dem Tagebuch, das sie während des Austauschs führten, nahm Oradour immer den größten Raum ein. Viele machten Selfies mit Robert, umarmten ihn, schmiegten sich an ihn…
Robert hat häufig die Führungen mit unseren CSS-Klassen damit begonnen, dass er unseren Schüler*innen sagte, was für ein Glück sie hätten, fast mit Selbstverständlichkeit einen Schüleraustausch zu machen. Zu seiner Zeit und bis in die 1960er Jahre wäre dies unmöglich gewesen. Welche Familie hätte denn einen Deutschen aufgenommen oder gar das eigene Kind nach Deutschland geschickt? Deutschland war ein weit entferntes Land und durch die Kriege fehlten in vielen Familien ein Vater, ein Onkel oder ein Bruder. Der Wert des Schüleraustauschs stand nach den Gesprächen mit Robert nie im Zweifel.
Den Austausch mit Niort habe ich 1991 begonnen. Erst 10 Jahre später begann ich dann die Fahrt nach Oradour als Programmpunkt in den zehntägigen Austausch einzubauen. Ich erfuhr damals, dass die 4e- Klassen unserer Partnerschule im Rahmen des Unterrichts histoire-géo regelmäßig nach Oradour fuhren. Mein Vorschlag, diese Fahrt auch unseren Siebtklässlern anzubieten, stieß zunächst auf Unverständnis im französischen Kollegium. Das könne man den deutschen Kindern doch nicht zumuten!
Niemals haben sich die Schüler*innen schuldig gefühlt für das, was inzwischen zwei Generationen vor ihnen passiert war. Genau das war Roberts große Stärke. Er wusste sehr genau das, was passiert war, als ein Versagen der Menschheit herauszustellen. Sein Ziel war es, Menschen zusammenzubringen und durch das Gedenken zum Denken anzuregen. Alle, die dabei waren, haben das gemerkt.

Robert Hébras inmitten von Schüler*innen der Carl-Schurz-Schule in Oradour. Links (mit Umhängetasche) seine Frau, rechts (mit gestreiftem Pullover) Marlis Franke
Die CSS lag ihm besonders am Herzen. Im Jahr 2005 verbrachten Robert und seine Frau Christiane mehrere Tage in Frankfurt. In der großen Aula der CSS sprach er als Zeitzeuge des Massakers vom 10. Juni 1944 vor 700 Schüler*innen. Einen Tag später war er Ehrengast bei unserer Aufführung der Oper Carmen im Rahmen einer französischen Woche in Frankfurt. Mehrfach ist er zu uns an die Schule gekommen, und auch jenseits der 90 hat er, als unsere Schüler*innen in Frankreich waren, die große Mühe auf sich genommen, die Führung durch seinen zerstörten Ort selbst durchzuführen. Bei unseren letzten Austauschen reichten die Kräfte leider nicht mehr.
Robert Hébras ist am Samstag, den 11.02.2023 gestorben. Auch wenn jüngere Schüler*innen ihn nicht mehr kannten, begann der darauffolgende Montag in der CSS mit einer Durchsage und einer Schweigeminute. Die Fachschaft Französisch plant eine Umbenennung der großen Aula in „salle Robert Hébras“ zur Erinnerung an diese Schlüsselfigur der deutsch-französischen Freundschaft.
Ich persönlich habe mit Robert einen lieben Freund verloren, den ich sehr vermisse. Zweimal hat er mich und meine Familie in unserem Ferienhaus in der Bretagne besucht. Wir verbrachten jeweils eine Woche zusammen und machten schöne Ausflüge, lachten viel mit ihm und seiner Frau Christiane. Zu seinem 90. Geburtstag wurde ich eingeladen, anschließend haben wir uns nur telefonisch ausgetauscht, der Tod seiner Frau vor drei Jahren hat ihn sehr bedrückt. Er war bis zum Schluss von erstaunlicher geistiger Klarheit.
[1] Anlässlich seines Besuchs in Frankfurt 2015 sagte Robert Hebras in einem Interview: J’ai d’ailleurs des amis en Allemagne, notamment Marlis Franke, enseignante à la Carl-Schurz-Schule de Francfort, qui a initié un programme de visite d’Oradour il a une dizaine d’années pour ses élèves et avec laquelle il nous arrive mon épouse et moi de passer des vacances dans sa maison de Bretagne. Interview Robert Hebras | lepetitjournal.com
Alle Anmerkungen zu diesem Text von Wolf Jöckel
[2] https://lepetitjournal.com/francfort/communaute/recompense-les-palmes-academiques-pour-marlis-franke-de-la-carl-schurz-schule-de-francfort-77673
[3] Cornelia von Wrangel, Monsieur Hebras und die Überwindung des Hasses. In: FAZ vom 19.6.2005
[4] https://www.memoiresdeguerre.com/2023/02/robert-hebras-le-dernier-survivant-du-massacre-d-oradour-sur-glane-est-decede.html
[5] https://www.spiegel.de/fotostrecke/ss-massaker-im-zweiten-weltkrieg-oradour-sur-glane-fotostrecke-115450.html Die mit ihren Schulkindern in der Kirche verbrannte Grundschullehrerin Denise Bardet hat ein bewegendes Tagebuch hinterlassen: Das Tagebuch der Denise Bardet: Gewidmet dem 60. Jahrestag der Zerstörung der französischen Gemeinde Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944 Paperback. Herausgegeben von Gerhard Leo 2004. Zu Denise Bardet siehe auch: https://paris-blog.org/2019/03/01/das-hotel-lutetia-2-geschichten-und-geschichte/
[6] https://www.spiegel.de/fotostrecke/ss-massaker-im-zweiten-weltkrieg-oradour-sur-glane-fotostrecke-115450.html
Eine erschuetternde Seite unseres deutsch-franzoesiscvhen Geschichtsbuches.
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Mich hat der Nachruf von Marlis Franke sehr angesprochen; gerade weil er in einfachen Worten und kurzen Sätzen geschrieben ist, gewinnt er an Ausdruckskraft und Aufrichtigkeit.
Das wiederum entspricht dem, was inhaltlich an Tatsachen und menschlicher Haltung mitgeteilt wird.
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Ja, das wäre schön.
Vielleicht kannst du Marlis auch meinen Kommentar weiterleiten,.
Liebe Grüße
Susanne
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Schon geschehen! lG Wolf
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Lieber Wolf, liebe Marlis,
ich möchte dir, liebe Marlis, für diesen tollen einfühlsamen Text bedanken.
Und dir, lieber Wolf, weil ich nun seit Jahren deinen Blog verfolge, der mir so viele interessante, spannende und unbekannte Dinge über Paris und Frankreich zeigt.
Und weil ich fast zwei Jahre an der Carl-Schurz-Schule war und euch beide in so toller Erinnerung habe, ging mir der Nachruf vielleicht noch näher…
Herzliche Grüße
Susanne Weyrich
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Vielen Dank, liebe Susanne, für diesen Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Und vielleicht sehen wir uns ja wieder, wenn die Aula der CSS in Salle Robert Hébras umgetauft wird. Liebe Grüße Wolf
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