Paris ist eine Stadt, die schon immer Zuwanderer angezogen hat: Es waren Franzosen vom Land, die wegen der Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in die Stadt kamen- so wie die Auvergnats, die sich in der Nähe der Bastille niedergelassen haben und die mit ihren Kneipen und Tanzsälen in der Rue de Lappe das kulturelle Leben von Paris bereicherten; es waren Einwanderer aus Europa, wie die deutschen Handwerker, die im 18. Jahrhundert in den Tischlerwerkstätten des Faubourg Saint- Antoine gearbeitet haben, so dass damals in dem Viertel ebenso deutsch wie französisch gesprochen wurde, und es sind Menschen aus anderen Kontinenten, vor allem aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs, die in Paris das Bild bestimmter Stadtviertel prägen: Chinesen und Vietnamesen das 13. Arrondissement und Belleville, Inder/Tamilen das Viertel von La Chapelle und die Afrikaner das Viertel von Goutte d’Or im 18. Arrondissement.
Eine im Stadtbild besonders auffällige Gruppe von Einwanderern sind natürlich Nordafrikaner und vor allem Schwarzafrikaner, weil es sich um eine „immigration visible“ handelt, also eine Gruppe von Menschen, deren Status als Einwanderer schon an der Hautfarbe erkennbar ist. Wie sichtbar und auffällig diese Einwanderergruppe ist, hängt allerdings von den Erfahrungen und Sehgewohnheiten ab, vor allem aber auch von dem Stadtviertel, in dem man sich befindet. Im noblen 16. Arrondissement im Pariser Westen wird man kaum auf einen Menschen mit schwarzafrikanischem „Migrationshintergrund“ stoßen; in unserem gemischten Stadtteil –dem Faubourg Saint Antoine- kann man Menschen mit schwarzer Hautfarbe in kleineren Seitenstraßen treffen, die wir aber nur selten betreten, vor allem dann, wenn wir dort mal für kurze Zeit unser Auto abstellen. Aber man trifft sie auch gegenüber im Jardin Titon, wo die meist schwarzen Tagesmütter zusammen schwatzen, während die weißen Kinder im Kinderwagen dösen oder sich auf dem Spielplatz amüsieren.
Ganz anders ist es in dem Stadtviertel Goutte d’Or bzw. Château Rouge im nordöstlich gelegenen 18. Arrondissement.
Hier ist man -nach einer kurzen Fahrt mit der Métro- sozusagen mitten in Afrika. Steigt man an der Métro-Station Château-Rouge aus und geht in die Rue Poulet oder Rue Dejean hinein, kann man sich bisweilen vorkommen wie wir vor vielen Jahren in Tanzania, als wir fast die einzigen „wasungus“, (Weiße) weit und breit waren. Im November 2013 besuchte ich zum ersten Mal das Viertel mit zwei aus Mali stammenden Franzosen, die in dem Viertel wohnen. Als ich am Ausgang der Métro auf sie wartete, betrachtete ich mit einigem Erstaunen die Menschen, die die Treppe passierten. Wäre nicht im Hintergrund der „Fournil de Paris“ gewesen, konnte man sich durchaus fühlen wie in einer afrikanischen Großstadt. Einige Zeit zählte ich – bis 200- die hinauf- oder heruntergehenden Menschen: Es waren darunter gerade einmal 24, die keine schwarze Hautfarbe hatten- und unter diesen 24 waren sicherlich auch noch mehrere Maghrebiens, also Nordafrikaner. In der Tat: Klein-Afrika in Paris.
Nach Auffassung unserer ortskundigen Begleiter, die ich darauf ansprach, gibt es geradezu eine unsichtbare Mauer, die ihrer Meinung nach das petit Mali, wie sie es nannten, umgibt- sogar mit (wenn auch unsichtbaren) checkpoints wie hier an der Métro Château Rouge: Es seien fast nur Afrikaner, die von dort aus ins afrikanische Viertel gingen – in eine für andere Pariser und erst recht für Auswärtige fremde und eher Unsicherheit, ja Ängste erzeugende Welt.
Dass man hier in einer anderen Welt ist, wird auch deutlich, wenn man am Ausgang der Métro einen kleinen Werbezettel in die Hand gedrückt bekommt, wie man ihn auch oft unter den Scheibenwischern der Autos befestigt findet – natürlich vor allem in „Klein-Afrika“, aber auch in Belleville oder in unserem Faubourg St. Antoine. Da bietet der „Maitre Charles“, „le plus grand Marabout de Paris“ seine Dienste an: Kein Fall sei hoffnungslos. „Ich habe immer eine Lösung“. „J’ai toujours une solution“. Professeur Ali, ein „grand voyant medium compétant“ garantiert den Erfolg seiner „travaux occultes“, Monsieur Momo sogar innerhalb von 72 Stunden. Bezahlung jeweils nur nach Ergebnis, und bei Maître Yamba ist die erste consultation kostenlos.
Besonders beeindruckend fand ich die Selbstdarstellung von Monsieur Ba, dem „grand voyant medium guerrisseur“, der mit seinen 30 Jahren Berufserfahrung und einer über Generationen „de père en fils“ reichenden Tradition 100% Erfolg in allen Bereichen garantiert. Aufgrund seiner Wundertaten sei sein Name in der ganzen Welt bekannt. [1] Ob es sich um politische, wirtschaftliche, sportliche, juristische oder gesundheitliche Probleme handele: Er könne sie alle lösen; und natürlich auch die sofortige Rückkehr einer geliebten Person bewirken und die Wiederkehr einer verlorenen Zuneigung: „Ihr Partner wird vor Ihren Füßen liegen.“ Noch eindrucksvoller beschreibt der „professeur Moro“ auf einem ebenfalls verteilten Waschzettel seine Erfolge: Er kümmere sich darum, wenn ein Partner mit einem anderen durchgegangen sei. Mit seiner Hilfe werde er wiederkommen. „Er wird hinter Ihnen herlaufen wie ein Hund hinter seinem Herrn.“ Wenn das nichts ist!
Die unsichtbare, aber deutliche Abgrenzung des petite Afrique hat sicherlich ganz vielfältige Ursachen. Natürlich gibt es in dem Viertel Kriminalität –bei dem Spaziergang mit den Ortskundigen haben wir eine kleine Verfolgungsjagd der dort demonstrativ postierten Polizisten miterlebt, die offenbar hinter einem Dieb oder Schwarzhändler her waren. Denn die vor allem gibt es um die Métro-Station Château-Rouge herum, obwohl diese Konkurrenz von den „offiziellen“ Händlern des Viertels angeprangert wird und obwohl die dort aufgefahrene Polizei sie immer wieder verjagt. Seit September 2012 ist das „petite Afrique“ sogar „Zone de sécurité prioritaire“ (ZSP), also eine von der Polizei besonders intensiv beobachtete und kontrollierte Sicherheitszone.[2] Die Einrichtung solcher Zonen hat dann im Allgemeinen die Konsequenz, dass die Kriminalität dort zurückgeht und sich eher in andere weniger überwachte Bereiche verlagert. Man muss also in klein-Afrika nicht um seine Wertgegenstände fürchten, wenn man sich entsprechend vorsieht, wozu es in einer Großstadt in Paris ja generell Anlass gibt. Immerhin wird man in der Métro ausdrücklich in vielen Sprachen zur Vorsicht aufgefordert und die großen Pariser Museen sind geradezu ein Eldorado für bandenmäßig organisierte jugendliche Taschendiebe. Im Vergleich dazu ist das Goutte d’Or vermutlich ein relativ sicherer Ort. Aber der Ruf des Viertels ist offenbar miserabel, woran vor allem rechte Politiker einen wesentlichen Anteil haben[3]: Da gibt es die berüchtigte „bruit et odeur“-Rede Jaques Chiracs aus dem Jahr 1991: Chirac war damals Bürgermeister von Paris und Vorsitzender der RPR, der Vorgängerpartei der heutigen UMP. Nach einem Rundgang durch das Viertel stellte er in einer Rede vor Anhängern ein hart arbeitendes französisches Arbeiterpaar einer aus Afrika eingewanderten Familie gegenüber, bestehend aus einem Familienvater, drei oder vier Frauen und etwa zwei Dutzend Kindern. Der Mann arbeite « natürlich » nicht, die Familie erhalte aber ein Mehrfaches des Verdienstes der französischen Arbeiterfamilie an Sozialleistungen. Und dazu komme dann noch der Lärm und Geruch –bzw eher: Gestank, was den braven französischen Mitbürger zur Weißglut bringe, und das sei nur allzu verständlich.[4]
Und natürlich setzte die extreme Rechte noch einen drauf mit ihrer Kampagne gegen Gebete von Moslems im öffentlichen Raum. Marine Le Pen, inzwischen Vorsitzende des rechtsradikalen Front National, prangerte in einer Rede im Dezember 2010 an, ganze Straßenzüge und Stadtviertel würden regelmäßig von betenden Moslems in Beschlag genommen. Hier herrsche nicht mehr das Recht des Staates, sondern das islamische Recht. Das sei eine occupation, eine Besatzung. Und dies unangeachtet dessen, dass es keine Panzer und Soldaten gäbe : « Es ist gleichwohl eine Besatzung » [5] Le Pen sprach zwar allgemein von «occupation », aber dieser Begriff ist natürlich vor allem bezogen auf die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, mit der damit das öffentliche Gebet von Moslems auf eine Stufe gestellt wurde. Und deren Bekämpfung wurde so implizit zu einem notwendigen und ehrenhaften Akt der Résistance erklärt. Dass Le Pen später ergänzte, mit dem Begriff « occupation » könne auch die der Engländer im 100-jährigen Krieg gemeint sein, verschärfte die Hetze nur noch : Denn damit stellte Le Pen sich in eine Reihe mit Jeanne d’Arc, der Nationalheiligen, die jedes Jahr am 1. Mai an ihrem Denkmal auf der Place des Pyramides in Paris vom Front National gefeiert wird.
Wenn Marine le Pen die öffentlichen Gebete von Moslems anprangerte, dann war damit –was Paris betrifft- vor allem die rue Myrha im Goutte d’Or angesprochen.
In der Tat wurde seinerzeit dort Freitag mittags die Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt und gebetet. Das wurde von den Rechten als Provokation und Angriff auf das geheiligte französische Prinzip der laïcité, der strikten Trennung von Kirche und Staat, angesehen. In Wirklichkeit aber war es Ausdruck einer Notsituation, weil die beiden kleinen Moscheen des Viertels dem Andrang der vielen Gläubigen nicht gewachsen waren. Eine dieser Moscheen war die Khaled Ibn al Walid- Moschee in der Rue Myrha, so dass mit Zustimmung des zuständigen sozialistischen Bürgermeisters des 18. Arrondissements am Freitag die Straße vor der Moschee für den Gottesdienst genutzt werden durfte.
Um dem ein Ende zu machen, wurde den Moslems von dem damaligen rechten Innenminister Guéant eine stillgelegte Feuerwehr-Kaserne als Gebetsraum zur Verfügung gestellt und die Nutzung der Straße verboten. Aber dies ist natürlich auch keine befriedigende Lösung. Um die bemühten sich während vieler Jahre der Pariser Bürgermeister Delanoë und der Rektor der großen Moschee von Paris, Dalil Boubakeur.
Am 28. November 2013 wurde dann endlich in der Rue Stephanson im Goutte d’Or- Viertel das Institut des Cultures d’Islam (ICI) eingeweiht.
Dieses von der Stadt Paris getragene Institut soll eine kulturelle Brücke zur Welt des Islams sein- « un lieu dédié à la création et la diffusion des cultures contemporaines en lien avec le monde muselman » (Prospekt zur Eröffnung des Zentrums). Beispielsweise gab es 2015 eine sehr eindrucksvolle Ausstellung von Künstlern des Nahen Ostens, in denen das Nebeneinander von Krieg und Frieden zum Thema gemacht wurde:
Neben Kunstausstellungen gibt es auch Musik, Filme, Sprach- und Malkurse, Führungen durch das Viertel und – nicht zuletzt : einen großzügigen Gebetsraum, der das ganze 1. Stockwerk einnimmt. In der Tat handelt es sich hier um eine –für das laizistische Frankreich- gewagte Verbindung von Gebet und Kunst, wie Le Monde am 29.11.2013 schrieb. Und dass die überregionale Zeitung Le Monde, die immerhin über keinen Pariser Lokalteil verfügt, der Eröffnung des ICI einen großen Artikel widmete, zeigt, welche Bedeutung und Problematik dieses Ereignis hatte und hat, und zwar nicht nur in Bezug auf die fremdenfeindliche Propaganda des Front National. Auch auf der Linken, also der aktuellen politischen Mehrheit in Frankreich, stehen sich ja zwei grundlegend verschiedene Positionen gegenüber, was den Umgang mit Einwanderern angeht : Auf der einen Seite die Vertreter einer Anerkennung ethnischer, kultureller und religiöser Minderheiten, also gewisssermaßen die multikulturelle Fraktion, auf der anderen Seite die Vertreter einer « unteilbaren Republik », deren Sorge die Entwicklung eines « comminutarisme » ist, also der Herausbildung abgeschotteter gesellschaftlicher Räume.
Der Umgang des Staates mit den Muslimen ist insofern ein besonders sensibler Gegenstand. Denn natürlich dürfen nach dem Gesetz von 1905, der Grundlage des französischen Laizismus, weder Staat –noch entsprechend auch die Stadt Paris- Glaubensgemeinschaften subventionieren. Aber andererseits müssen Staat und Stadt auch daran interessiert sein, dass den gläubigen Moslems angemessene Gebetsräume zur Verfügung stehen, um die vom Front National angeprangerten öffentlichen Gebete zu vermeiden. Und Staat und Stadt müssen natürlich auch daran interessiert sein, dass in den Moscheen keine islamistischen Fanatiker das Wort haben. Und so hat man im ICI eine in vieler Hinsicht vorbildliche Lösung gefunden : Der dortige Gebetsraum wurde vom ICI an eine Gesellschaft verkauft, die auch für die Große Moschee von Paris (GMP) verantwortlich ist. Und die GMP verfügt nicht nur –aufgrund ihrer engen Beziehungen zu Algerien- über die erforderlichen Geldmittel, sondern sie steht auch für einen toleranten, weltoffenen Islam, der sich ohne Probleme in das republikanische Selbstverständnis Frankreichs einfügt.
Zur Geschichte von Goutte d’Or
Dass das Viertel von Château Rouge und Goutte d’Or heute das klein- Afrika in Paris genannt werden kann, ist ein Ergebnis der Migration seit dem 2. Weltkrieg. Noch zu Beginn des 19. Jahrhundert wurde hier –wie ja auch im benachbarten Monmartre- Wein angebaut, der im Mittelalter einen hervorragenden Ruf hatte und sogar an der königlichen Tafel serviert worden sein soll. Unter der Herrschaft Ludwigs des Heiligen, also im 13. Jahrhundert, wurden von einer Jury die besten Weine ausgezeichnet: Den ersten Preis erhielten die Weine aus Zypern, den zweiten die aus Malaga und den dritten zu gleichen Teile der Malvasier, der Wein aus Alicante und der aus diesem Viertel, das davon ja auch noch seinen schönen Namen erhalten hat : goutte d’Or, Goldtropfen. Ab den 1840er Jahren – es war die Zeit der Industrialisierung und des enrichissez-vous des frühkapitalistischen « Bürgerkönigs » Louis Philippe- wurde im Goutte d’Or Industrie angesiedelt : Beispielsweise die Maschinenfabrik des François Cavé, der dort die damals größte französische Dampfmaschine baute und auch das Dampfschiff « Courrier », das Calais und Dover mit der damals sensationellen Geschwindigkeit von 13 Knoten verband.[6] Und vor allem wurden im Goutte d’Or der Frühindustrialisierung Eisenbahnen gebaut : Nach der in Le Creusot konstruierten « La Gironde » entstand als zweite französische Lokomotive hier « La Gauloise », ebenfalls bestimmt für die Strecke zwischen Paris und Versailles, dem französischen Pendant der deutschen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. Und mit der Industrie kamen die Spekulanten und errichteten kleine Häuser und Hôtels mit billigen Zimmern, die an Migranten vermietet wurden, die in den Fabriken des Viertels arbeiteten : Menschen aus den ländlichen Gebieten Frankreichs, dann aus europäischen Nachbarländern wie Belgien oder Deutschland. Wenn man mit offenen Augen durch das Viertel geht, entdeckt man an einigen Stellen noch einige der zwei-bis drei-stöckigen Häuser aus dieser Zeit. Besonders schön erhalten ist noch die Villa Poissonnière zwischen der Rue Polonceau Nr. 41 und der Rue de la Goutte d’Or Nr.42, die allerdings nur mit viel Glück zugänglich ist, wenn man einen Bewohner des abgesperrten Arreals findet, der es einem gestattet, einen Blick in die Villa zu werden:
Ein schmaler gepflasterter Weg mit kleinen, meist sympathisch verwilderten Vorgärtchen und schönen Häusern rechts und links, deren Fassaden eher nicht nahelegen, dass es sich hier um Spekulationsobjekte aus den 1840-er Jahren handelt.
Leider ist die Villa aber –wie ja auch viele der schönsten Höfe im Faubourg St.Antoine- inzwischen « bobo-isiert », also von der neuen Elite des Informationszeitalters und Künstlern bewohnt und nur mit einem Code zugänglich. Aber vielleicht hat man ja das Glück und ein freundliches Mitglied der Eigentümergemeinschaft öffnet gerade eine Tür und gestattet dem neugieren Besucher einen Blick in dieses kleine und an dieser Stelle völlig unerwartete spezifische Bio- und Soziotop : Dazu passt tatsächlich der Titel von David Brooke’s einschlägigem Buch über die « Bobos in paradise ».
Dass das Goutte d’Or im 19. Jahrhundert aber insgesamt alles andere als paradiesisch war, zeigt in aller Deutlichkeit Emile Zolas Roman mit dem bezeichnenden Titel „l’Assommoir“ – auf deutsch: „Der Totschläger“, der in diesem Viertel spielende 7. Band der „Rougon-Macquart“- Romanreihe.[7] Im Vorwort zu diesem Roman schreibt Zola:
„Ich habe den verhängnisvollen Verfall einer Arbeiterfamilie in dem verpesteten Innern unserer Vorstädte schildern wollen. Am Ende der Trunksucht und des Müßigganges steht eine Erschlaffung der Familienbande, ein Versinken im Schmutz, ein fortschreitendes Abnehmen jeder ehrenwerten Empfindung und schließlich als Lösung die Schande und der Tod.“
Vor dem Ersten Weltkrieg kamen dann polnische und russischen Juden, die wegen der Pogrome ihre Heimat verlassen hatten, in das Viertel. Sie arbeiteten vor allem in Textilbetrieben : Eine Tradition, die inzwischen vor allem von Westafrikanern -und zwar immer Männern!- weitergeführt wird.
Sie fertigen die festlichen, farbenfrohen Kleider an, die besonders an Wochenenden von den aus Schwarzafrika stammenden Frauen getragen werden.
Die Stoffe allerdings kommen nur zum Teil (noch) aus Afrika, die billigen dagegen überwiegend aus China und die besonders kostbaren, die Bazins, aus … Österreich ! Die beliebten Batik-Stoffe (die Wax) sind übrigens auf dem Weg über Indonesien nach Afrika gekommen ! Dort haben nämlich die Niederländer Söldner angeworben für ihre Kolonie in Südostasien. Und diese Menschen fanden so viel Gefallen an den dort gebräuchlichen Batiken, dass sie sie nach Afrika mitbrachten, wo sie dann auch heimisch wurden, und dann natürlich auch nach klein-Afrika in Paris.
Die ersten Afrikaner kamen schon nach dem Ersten Weltkrieg. Aber eigentlich müsste man sagen : Sie blieben. Denn es waren demobilisierte Soldaten, die sogenannten « tirailleurs sénégalais », die für Frankreich gekämpft hatten und zum Teil –wie ja auch viele der angeworbenen chinesischen Arbeiter aus den Munitionsfabriken- nicht mehr in ihre Heimat zurückkehrten.[9] Zum afrikanischen Viertel wurde das Goutte d’Or aber erst seit dem zweiten Weltkrieg, als zunächst Algerier kamen, die sich vor allem im Süden des Viertels rund um das Kaufhaus Tati niederließen ; und dann in den 1960-er Jahren, als die ehemaligen französischen Kolonien unabhängig wurden und junge Männer aus Mali, Sénégal, Mauretanien – später dann auch aus dem Congo, Kamerun und der Côte d’Ivoire- kamen und in dem damals ziemlich heruntergekommenen Viertel noch erschwinglichen Wohnraum und landsmannschaftliche Vertrautheit und Solidarität fanden. Nach einigen Jahren kamen dann auch die Familien nach, so dass heute der Bezirk des Château Rouge das afrikanische Zentrum von Paris ist.
Ein Spaziergang durch das « petite Afrique » von Paris
Natürlich führen viele Wege durch das afrikanische Viertel von Paris. Man kann einfach hinein gehen und sich etwas treiben lassen, was durchaus lohnend ist. Aber vielleicht wird man auch dem nachfolgenden Vorschlag folgen. Ein guter Zeitpunkt für einen Spaziergang ist der Nachmittag, weil dann aufgrund des Marktes das Viertel besonders belebt ist. Und das gilt besonders für den Mittwoch und den Samstag, wenn auch der große nordafrikanische Markt unter der Hochbahn zwischen den Stationen Barbès Rochechouart und La Chapelle abgehalten wird.
Ein guter Ausgangspunkt für den Spaziergang ist die Métro-Station Château Rouge, wo es sich lohnt, ein wenig die Menschen zu beobachten, die dort hineingehen oder herauskommen. Zu Marktzeiten gibt es auf dem Platz davor meist auch „fliegende Händler“, wenn sie nicht gerade von der Polizei verjagt wurden.
Wenn man dann in die Rue Poulet hineingeht und weiter in die rue Doudauville, stellt man schnell fest, dass sich hier überwiegend kleinere Geschäfte angesiedelt haben, die sich an eine afrikanische Kundschaft wenden und im Allgemeinen auch noch von Afrikanern betrieben werden – allerdings sind auch hier die Chinesen auf dem Vormarsch: einige der etwas größeren Lebensmittelgeschäfte des Viertels gehören inzwischen Chinesen, die sich aber voll und ganz auf die Bedürfnisse der afrikanischen Kunden eingestellt haben.
Die Kunden sind übrigens nicht nur die afrikanischen Bewohner des Viertels. Gerade an Wochenenden kommen offenbar aus ganz Paris, aber auch aus dem Umland und –wie uns gesagt wurde- sogar aus ganz Frankreich und Belgien Menschen mit afrikanischer Herkunft hierher, um die gewohnten Produkte einzukaufen und gleichzeitig auch Freunde und Verwandte zu treffen. Und auch afrikanische Restaurants decken sich hier in den entsprechenden großen Mengen mit den aus Afrika importierten Produkten ein.
Ein Beutel mit Hirse aus Mali
In der Querstraße, der Rue Léon Nr. 35, befindet sich auch das lavoir moderne parisien, eine ehemalige Wäscherei von 1870 wie die, in der Gervaise, die Heldin von Zolas „L’Assommoir“, ihre Wäsche wusch:
„Die Waschanstalt lag in der Mitte der Straße an einer Stelle, wo das Pflaster bergan zu gehen anfing. Über einem niedrigen Gebäude zeigten drei ungeheure Wasserbehälter von starkem Zink ihre grauen Rundungen, während dahinter in einem zweiten, sehr hohen Stockwerk sich der Trockenraum erhob, von allen Seiten durch Jalousien aus schmalen Holzplättchen geschlossen, zwischen denen die Luft freien Spielraum hatte, und durch deren Öffnungen man auf Messingdrähten trocknende Wäsche sah. Der enge Schlot der Maschine stieß mit regelmäßigem Ächzen den Dampf aus. Gervaise schritt durch die Eingangstür, ohne die Röcke hochzunehmen wie eine Frau, die es gewöhnt ist, durch Wasserlachen zu gehen. Der Zugang war durch große Bütten von Fleckwasser fast versperrt. Sie kannte die Besitzerin der Waschanstalt, eine kleine zarte Frau mit kranken Augen, die in einem Kabinett mit Glasscheiben saß; vor sich hatte sie Stücke Seife, auf den Regalen stand Waschblau und kohlensaure Soda in Paketen. Im Vorbeigehen forderte sie von ihr ihren Waschschlegel und ihre Bürste, die sie ihr bei der letzten Wäsche zum Aufbewahren gegeben hatte. Nachdem sie ihre Nummer genommen, trat sie in die Waschanstalt. Es war ein ungeheurer Schuppen mit niedriger Decke, deren sichtbares Gebälk auf gußeisernen Säulen ruhte; große helle Fenster erleuchteten den Raum. Das bleiche Tageslicht drang frei durch den heißen Dunst, der wie ein milchweißer Nebel in der Luft hing. Aus verschiedenen Ecken stiegen Dämpfe auf, die sich ausbreiteten und die Enden des Schuppens in bläuliche Schleier hüllten. Eine schwere, mit Seifendünsten geschwängerte Feuchtigkeit tropfte hernieder, die bald von stärkeren Strömen von Fleckwasserdämpfen verschlungen wurde. Längs der Vorrichtungen zum Schlagen der Wäsche, die an beiden Seiten des Mittelganges hinliefen, standen Reihen von Frauen, deren Arme bis zu den Schultern entblößt waren; die Hälse waren nackt, und die verkürzten Röcke ließen farbige Strümpfe und grobe Schnürschuhe sehen. Sie hieben kräftig auf die Wäsche ein, lachten und beugten sich vor, um sich in dem Lärm ein Wort zuzurufen; unmäßig beschmutzt, schlampig und durchnäßt wie von einem Sturzregen, Arme, Gesicht und Busen gerötet und dampfend, beugten sie sich auf den Grund ihrer Wäschezuber nieder. Um sie herum und unter ihnen flutete ein fortwährender Strom, die Eimer heißen Wassers, die herbeigebracht und auf einmal geleert wurden, die geöffneten Kaltwasserhähne, aus denen das Wasser herabfloß, der mit Seifenschaum vermischte Schmutz, der unter den Waschschlegeln hervorquoll, das Abtropfwasser der gespülten Wäsche, und endlich die Pfützen, in denen sie umherpatschten, das alles floß in kleinen Bächen über den abschüssigen steinernen Fußboden dahin. Inmitten all dieses Schreiens, der regelmäßig ertönenden Schläge, des murmelnden Regengeräusches und dieses Sturmgeheuls, das von der niedrigen feuchten Decke erstickt wurde, schien die in einen weißen Tau gehüllte Dampfmaschine zur Rechten, die ohne Unterlaß keuchte und stöhnte, mit dem tanzenden Beben ihres Schwungrades, den ungeheuren Lärm zu beherrschen.“ [10]
Seit 1953 ist das Lavoir ein Theater, in dem aber noch etwas vom Ambiente des alten Waschhauses spürbar ist.[11]
Aber es ist auch – wie beziehungsreich- ein „Stützpunkt“ und „Trainingslager“ der feministischen Gruppe „Femen“, die im letzten Jahr in Paris durch eine „oben-ohne-Aktion“ in Notre Dame großes Aufsehen erregt hat. Und provokativ war auch eine Demonstration halbnackter Femen-Aktivistinnen gegen islamischen Fundamentalismus gerade in diesem Viertel.[12]
Geht man die Rue Léon weiter, so kommt man am ICI Léon vorbei, dem ursprünglichen Ort des Institut des Cultures d’Islam. Man kann dort im Innenhof einen Tee trinken und manchmal gibt es dort auch ein Wandgemälde zu bewundern – 2017/2018 beispielsweise anlässlich einer Ausstellung „von der Kalligraphie zur Street-Art“ die Arbeit eines marokkanischen Künstlers.
Danach geht es weiter zur rue Myrha, in die man links einbiegt: Hier befindet sich die schon erwähnte Moschee und ein kurioses Geflügelgeschäft, die Ferme Parisienne: Ein alteingesessenes Geschäft „de père en fils“ – inzwischen aber fest in schwarzafrikanischer Hand. Zwar werden auch Eier verkauft, aber vor allem lebendes Geflügel – nach Aussagen eines Ortskundigen das einzige Geschäft dieser Art in Paris. Zu erklären sei das mit der Fortdauer traditioneller Religionen und Riten, zu denen auch das Opfern von Hühnern bzw. Hähnen gehören könne – deshalb vielleicht auch die vielen Hähne, die dort gehalten werden. In mancher Hinsicht kann man offenbar hier leben, als hätte man sein heimatliches Dorf nicht verlassen und dazu gehört auch das Fortleben einer „conception magique du monde.“[13]
Manche der Hühner wandern vielleicht ja auch in die Kochtöpfe des benachbarten senegalesischen Restaurants (Koyaka Kitchen, rue Myrha 38), das sehr empfehlenswert sein soll – allerdings habe ich bisher nur das schöne Mosaik über dem Eingang bewundert. Da hat sich dann auch gleich der Street-Artist A 2 (Anarchie, Amour), der im Goutte d’Or an vielen Hauswänden seine Spuren hinterlassen hat. Er gehört nicht zu meinen Street-Art-Favoriten, weil sein Repertoire doch etwas eingeschränkt ist. Hier hat er sich aber doch mit der Gestaltung seiner typischen zwei „Zutaten“ A und Herz recht schön angepasst.
Es lohnt sich übrigens, bei dem Rundgang manchmal auch einen Blick auf die meist sehr heruntergekommenen Fassaden zu werfen, die ab und zu durch Street-Art Künstler wie Mosko etwas Farbe erhalten, wie hier – ebenfalls in der rue Myrha.
Ein Zeichen für die Lebendigkeit des Viertels sind auch zahlreiche brachliegende Grundstücke. Die werden zum Teil als provisorische Nachbarschaftsgärten genutzt, wie hier von einer „coopérative alimentaire„…
oder sogar als Ausstellungfläche für Kunstprojekte. Die Ähnlichkeit mit den Kreationen des Italieners Penone, die im letzten Jahr den Park von Versailles schmückten, sind hier ganz auffällig. Dass der entwurzelte Baum im Goutte d‘Or nicht die Penone’sche Eleganz und Schwerelosigkeit aufweist, passt sehr gut in die ganz andere Umgebung: Wir sind eben nicht am Brunnen des Apollo im Schlosspark von Versailles, sondern auf einem Abrissgrundstück in einem Sanierungsgebiet im Pariser klein-Afrika. Vielleicht ist es ja sogar ein afrikanischer Baobab, der hier –auf den Kopf gestellt- eine vorübergehende Bleibe gefunden hat.
Inzwischen (April 2019) sieht es dort allerdings ganz anders aus: Es entsteht ein in jeder Hinsicht modernes Gebäude – der Gegensatz zu dem „alten“ Goutte d’Or könnte nicht größer sein.
Vielleicht lässt sich die Fassade aber als Versuch interpretieren, den Bruch mit dem orientalischen Goutte d’Or nicht allzu brutal erscheinen zu lassen.
Nun geht es weiter bis zur Rue Stephanson mit dem neuen ICI in der Nummer 56 und danach zur Kirche St. Bernard. Sie wurde nach der 1860 vorgenommenen Angliederung des Goutte d’Or an Paris gebaut, um dem sehr bescheidenen neuen Stadtteil ein monumentales Zentrum zu geben. Interessant ist bei der Kirche weniger die –allerdings durchaus beeindruckende- neu-/spät-gotische Architektur, sondern die Rolle, die St.Bernard für das Viertel spielte und noch spielt.
Einige Berühmtheit erlangte sie 1996, als sie von über 200 „sans papiers“, also Einwanderern ohne offiziellen juristischen Status, besetzt wurde. Mit dieser Kirchenbesetzung und einem Hungerstreik wollten sie auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen: Teilweise lebten und leben diese sans papiers schon seit Jahren mit ihren Familien in Frankreich, haben dort auch Arbeit –vor allem als Bauarbeiter und im Bereich der Zeitarbeit- und die Kinder gehen in die staatlichen Schulen, aber ihr Status öffnet der Ausbeutung Tür und Tor und sie sind immer von Ausweisung bedroht. In den letzten Jahren erhielten zwar jährlich –unter der Präsidentschaft Sarkozys und Hollandes- etwa 30 000 sans papiers pro Jahr einen offiziellen Status, aber unter dem Druck des Front National war der bisherige Innenminister und jetzige Ministerpräsident Manuel Valls bemüht, den Rechtsradikalen durch eine ziemlich rigide Politik im Umgang mit den „Illegalen“ keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten, wie sich gerade wieder kürzlich gezeigt hat, als Leonarda, ein junges „illegales“ Mädchen, von der Polizei während einer Klassenfahrt aus einem Schulbus geholt wurde, um mit ihrer Familie ausgewiesen zu werden. Das wurde von vielen –auch dem damaligen Bildungsminister- als Angriff auf den geschützten Raum der republikanischen Schule angesehen und löste heftige Reaktionen aus, die Präsident Hollande zu einem partiellen und sehr umstrittenen Einlenken veranlassten.[14] Entsprechend war es auch 1996, als ein Großaufgebot der Polizei gewaltsam in die Kirche St. Bernard eindrang und die Aktion der sans papiers mit massivem Einsatz beendete. Das konnte auch der Priester der Gemeinde, der père Coindé, nicht verhindern, der sich schützend vor die sans papiers in seiner Kirche stellte und sich mit ihrem Anliegen solidarisierte- ebenso wie übrigens auch die Ethnologin und Widerstandskämpferin Germaine Tillon, die 2015 ins Pantheon aufgenommen wurde. [15] Aber bis heute ist die Kirche St. Bernard ein Zufluchtsort für Menschen in Not, ob das nun sans papiers oder SDFs, also Obdachlose, oder Flüchtlinge wie die von Lampedusa sind. Und dies ganz unabhängig von ihrer Hautfarbe oder ihrem Glauben.[16]
Am Rande des Markts zwischen La Chapelle und Barbès-Rochechouart verteilte übrigens bei einem meiner Spaziergänge durch das Viertel ein junger Mann eine ziemlich umfangreiche Broschüre zum Thema „sans papiers“- Es werden darin sehr konkrete Informationen gegeben, wie man sich gegen drohende Ausweisungen organisieren und schützen kann und welche Maßnahmen im Fall einer Verhaftung möglich und aussichtsreich sind. Die Broschüre entstand 2009 und wurde 2012 auf den aktuellen Stand gebracht: Das Thema steht nach wie vor auf der Tagesordnung- gerade in diesem Viertel der Stadt.
Wie sehr die Ereignisse von 1996 auf viele Franzosen traumatisierend gewirkt haben und wie sehr das Flüchtlingsthema gerade im Goutte d’Or auf bedrückende Weise aktuell ist, zeigte sich besonders wieder 2015. Zwischen den Métro-Stationen Barbès-Rochechouart und La Chapelle hatte sich nämlich ein „jungle“, eine Zeltstadt von afrikanischen Flüchtlingen, angesiedelt.
Als wir im Frühjahr 2015 abends einmal mit Freunden aus Frankfurt dort entlanggegangen sind, waren wir ziemlich entsetzt über die Zustände. Eng gedrängt stand ein Zelt am anderen und außer einem Pissoir waren keinerlei sanitäre Einrichtungen zu sehen. In der Ausgabe von Le Monde vom 30.Mai 2015 wurde angekündigt, dass der „jungle de La Chapelle“ evakuiert werden soll, dass allerdings allen dort hausenden Flüchtlingen humanere Wohnmöglichkeiten angeboten werden sollen.[17]
Bei der Räumung ging es dann aber wohl doch ziemlich „musclé“ zu, wie man das auf Französisch gerne nennt, und die versprochenen menschenwürdigen Alternativen standen dann offenbar doch nicht für alle bereit. Das hat dann Assoziationen an die Ereignisse von 1996 geweckt: „A gauche chacun se souvient de ce jour de juin 1996 où, à quelques rue de là, les forces de l’ordre avaient ouvert à l hache les porte de l’église Saint-Bernard dans laquelle s’étaient réfugiés des sans-papiers.“ (Le Monde 11.6.15)
Und die ehemalige grüne Wohnungsbauministerin Cécile Duflot schrieb in einem offenen Brief an den Präsidenten:
„Toute la gauche a en mémoire les tristes événements de 1996, quand la droite au pouvoir n’hésitait pas à pourchasser les migrants jusque dans les églises. Nous ne pensions pas alors que le désarroi et la colère qu’ils nous faisaient ressortir, nous les ressentirions un jour sous un gouvernement de gauche.“ [18]
Anfang Juli 2015 bin ich dann zufällig auf eine Demonstration der Flüchtlinge des „jungle“ von La Chapelle gestoßen – eine nachdrückliche Erinnerung daran, dass es hier um eine Herausforderung geht, der Europa ganz und gar nicht gewachsen ist – und für Frankreich, das Land der Menschenrechte, gilt dies leider in ganz besonderem Maße.
Ergänzung 2017/2018: Ein besonderes aktuelles Problem sind übrigens die etwa 60 Flüchtlingskinder aus Marokko, die seit 2017 in den Straßen des Barbès vagabundieren. Le Monde hat ihnen in der Ausgabe vom 18. Mai 2018 aus aktuellem Anlass einen zweiseitigen Artikel gewidmet: Diese Jugendlichen, oft zwischen 10 und 13 Jahre alt, sind Opfer und Täter zugleich: Opfer, weil sie, angesichts der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat und oft angelockt von prahlerischen Heilsversprechungen von in Europa reüssierten Landsleuten, meist unsägliche Leiden auf sich genommen haben, um ins gelobte Land zu kommen, dann aber erfahren müssen, dass dort keineswegs Milch und Honig fließen. Viele sind/werden dann drogenabhängig, verweigern sich allen Hilfsangeboten, die es in Paris seit 2017 immerhin gibt und -damit werden die Opfer dann zu Tätern- zeichnen sich durch ein sehr hohes Potential an Gewalt aus, die sie untereinander und -meist im Dienst krimineller Gruppierungen- gegenüber der Außenwelt ausüben- , : Körperverletzungen, Diebstahl, Raub, Einbrüche. Le Monde zitiert eine Bewohnerin des Viertel, die sich davor fürchtet, den Gruppen dieser UMAs, wie sie in Deutschland genannt werden (Unbegleitete Minderjährige Ausländer) zu begegnen und die deshalb die Rue de Jessaint, wo sie sich vor allem aufhalten, nach Möglichkeit meidet. Und der Staat, von Bürgermeisterin Hidalgo um Hilfe gerufen, hält sich vornehm zurück… (18a)
Das machen wir also vorsichtshalber auch und biegen in die Rue Polonceau ein. Dort sollte man auf der rechten Seite die Erinnerungstafel für Louise Michel beachten. Bei den beiden Spaziergängen, die ich mit afrikanischen Führern durch das Viertel machte, gingen wir zwar an diesem Haus vorbei, ohne dass aber auf diese Erinnerungstafel hingewiesen wurde. Dabei hat Louise Michel gerade in diesem Einwandererviertel eine besondere Würdigung verdient. Denn während ihrer Verbannung in die französische Kolonie Neu-Caledonien entdeckte sie die Kultur von deren Ureinwohnern, den Kanaks, lehrte sie die französische Sprache, trat –auch nach ihrer Rückkehr nach Frankreich- für ihre Rechte ein und warb –damals noch ganz außergewöhnlich- für die Anerkennung ihrer Kultur.[19]
An mehreren Stellen im Goutte d’Or gibt es übrigens jetzt kleine Tafeln mit dem Namen von Louise Michel und der Jahreszahl 2022 – deren Bedeutung mir allerdings nicht klar ist. Die Tafeln stammen von dem im Goutte d’Or sehr aktiven Street-Art-Künstler A 2 (Amour/Anarchie) und erweitern damit sein ansonsten ja eher begrenztes künstlerisches Repertoire.
Gleich nebenan gibt es eine afrikanische Apotheke mit vielen Naturprodukten gegen alle möglichen Krankheiten, aber auch Naturkosmetik und Amulette zum Schutz gegen böse Blicke oder andere Widrigkeiten des Lebens und der Welt.
Da kann man durchaus auch mal hineingehen – die „Apotheker“ sind freundliche Menschen und vielleicht erläutern sie dem interessierten Besucher etwas die Herkunft und Wirkungsweise ihrer Produkte.
Auf der linken Seite der Rue Polonceau sollte man dann –durch das vergitterte Eingangstor- wenigstens einen Blick in die Villa Polonceau werfen und – dafür braucht man keinen Code- in die rue Erckmann-Chatrian reingehen. Bevor sie auf die rue Richomme trifft, kann man auf der linken Seite das schöne Multi-Kulti-Wandbild von Thoma Vouille bewundern, das wunderbar in dieses Viertel passt: Die gelben Matous freuen sich mit Recht darüber, wie Marianne die Immigranten aller Hautfarben an ihren Busen drückt.
Übrigens findet man den Monsieur Chat –so der offizielle Name des gelben Katers- auch noch sonst öfters im Viertel, zum Beispiel an der Ecke der rue Doudeauville und der rue Léon mit der Hand der Fatima als Glücksbringer für das Viertel….
… oder am Künstlerhaus in der Rue Cavé: Da ist er sogar wie meistens mit seinen Flügeln zu bewundern.
Für Street-Art-Freunde ist das Goutte d’Or überhaupt ein Eldorado. Auch in dieser Hinsicht gilt hier das Motto: „Open your eyes“. (19a)
Am Künstlerhaus gibt es auch ein Gruppenbild mit multikulturellen Charakterköpfen des Viertels.
An der Ecke der Rue Polonceau und der Rue des Poissonniers befand sich lange die Ruine der zweiten Moschee dieses Viertels. Hier war eine weitere Dependence des ICI – auch wieder mit einem Gebetsraum- geplant, die speziell dem schwarzafrikanischen Islam gewidmet sein sollte. Die Einweihung war für 2015 geplant und auch schon groß angekündigt. Aber inzwischen sind die Pläne ad acta gelegt, Offenbar waren die Kosten für die Stadt zu groß und die Kommune wollte sich wohl auch nicht noch einmal dem Vorwurf aussetzen, mittels eines Kulturzentrum indirekt einen muslimischen Gebetsraum mitzufinanzieren.[20]
Inzwischen gibt es auf dem ehemaligen Baugelände ein paar Tische und Stühle und Spielgelegenheiten für Kinder – alles sehr ärmlich und wenig einladend.
Vor dem ursprünglichen Bauplatz der neuen Moschee steht (bzw. stand zumindest bei meinen Besuchen im Viertel immer) ein Stuhl mit einem Gefäß von Kola-Nüssen, an dem man nicht vorbeigehen sollte, ohne eine davon – gegen eine kleine Spende- zu nehmen und zu probieren. Die Kola-Nuss spielt in der traditionellen Kultur Westafrikas eine große Rolle : Nicht nur wegen der zahlreichen gesundheitlichen Wirkungen, die ihr zugeschrieben werden u.a. als Antidepressivum und Aphrodisiacum. Darüber hinaus hat sie aber auch eine symbolische Bedeutung : Sie wird oft bei feierlichen Anlässen gegessen, z.B. besiegelt sie die Verständigung oder Versöhnung zwischen zwei Parteien. Aber sie ist auch Ausdruck des Willkommens für Gäste und für die Freundschaft.[21] Was für ein schöner Empfang im petite Afrique von Paris !
Und manchmal trifft man dort auch einen Afrikaner mit einem nach Tuareg-Art um den Kopf geschlungenen Schal und einem mannshohen Stab: Eine in dem Viertel präsente und respektierte Autoritätsperson, die Konflikte schlichtet und den Zusammenhalt der Einwohner sichert.
Am, Anfang der Rue des Poissoniers sieht man übrigens auch ein Mosaik des Invaders- die grüne Farbe darf man wohl als Bezug zur islamischen Prägung des Viertels verstehen.
Der Name der Rue des Poissonniers erinnert übrigens daran, dass früher die Wagen aus Calais, die Paris mit frischem Fisch versorgt haben, hier auf ihrem Weg zu den großen Markthallen im Zentrum der Stadt hindurch gefahren sind. Aber das ist- wie vieles in diesem Viertel- nur noch eine Reminiszenz.
Auf dem Weg durch die Rue des Poissoniers sollte man unbedingt einen Blick in das schöne, aufwändig verzierte ehemalige Kino des Viertels werfen, das « Barbès palace » dessen Decor dem früheren Namen alle Ehre macht. Inzwischen dient es als Verkaufshalle für billige Schuhe.
Ein besonderes Erlebnis ist dann der afrikanische Straßenmarkt in der Rue Dejean, vor allem nachmittags und an Wochenenden, wenn er besonders belebt ist. Da sollte man sich etwas Zeit nehmen, sich das Treiben in Ruhe anzusehen und vielleicht etwas Obst oder Fisch zu kaufen, der hier sehr frisch und gut sein soll. Es müssen ja nicht unbedingt die ausgestellten Kalbsköpfe oder Schweinefüße sein.
Eine große Rolle in der afrikanischen Küche spielt offenbar Maniok, den man in den kleinen Lebensmittelläden oder auf dem Markt kaufen kann;
auch als eine Art Paste schon (zum Teil?) zubereitet und in Palmblätter eingewickelt. Wie man daraus allerdings ein schmackhaftes Gericht machen kann, habe ich nicht genau verstanden. Mein Versuch, die weiße Maniokmasse aus den Palmblättern in Butter leicht anzubraten, war jedenfalls nicht allzu überzeugend.
Wenig überzeugend sind auch manche Waren, die von fliegenden Händlerinnen am Straßenrand angeboten werden, zum Beispiel diese geräucherten Fische- natürlich aus Afrika, wie mir die Verkäuferin versicherte.
Jetzt ist man auch direkt wieder bei der Métro Château Rouge. Wenn man aber noch gerne etwas im petite Afrique bleiben will, kann man die Rue des Poissoniers ein Stück weiter bis zur Rue Labat gehen. Dort gibt es in Nr. 3 das afrikanische Restaurant Taif, das ein Einheimischer empfohlen hat. Die Namen der auf der Speisekarte aufgeführten Gerichte sind mir allerdings völlig unverständlich. Also auf gut Glück versuchen oder fragen. Wenn man danach wieder den Boulevard Barbès hinunter geht bis zur Métro Château Rouge oder einen kurzen Abstecher auf die andere Seite des Boulevards in die Fortsetzung der Rue Dejean, wird man eine Vielzahl von Perücken- und Manikürläden finden.
Die Perückenläden gehören meistens Indern bzw. Pakistani – deshalb auch die Werbung für Perücken mit echtem indischen Haar. Und die Manikürlädchen, in denen Afrikanerinnen sich für das Wochenende schick machen lassen, werden im Allgemeinen von Chinesen betrieben, zumindest sind die dort arbeitenden Maniküristinnen –so heißen sie wohl- fast immer Chinesinnen – bzw. selten auch einmal ein junger Mann. Es ist interessant, ihnen durch die Schaufenster etwas bei der Arbeit zuzusehen, was offenbar akzeptiert wird. Beim Fotografieren hatte ich dann aber doch etwas Bedenken, zumal vor den Türen meistens die männlichen Begleiter der schwarzafrikanischen Kundinnen herumstehen und warten, bis sie ihre herausgeputzten Damen wieder in Empfang nehmen können.
Ein Zeitungsartikel in Le Monde vom 23./24. März 2014 ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen der Manikürläden: Anlass des Berichts ist ein bisher einzigartiger Streik von 5 chinesischen Maniküristinnen, dem sich auch zwei schwarzafrikanische Frisösinnen anschlossen. Beschäftigt waren sie in dem Schönheitssalon eines Schwarzafrikaners aus der Elfenbeinküste, der seine „Angestellten“ „schwarz“ arbeiten ließ, was diese akzeptierten: Sie waren nämlich als Touristinnen eingereist, hatten also keine Arbeitserlaubnis, und die Alternative wäre entweder die Arbeit in illegalen chinesischen Textilbetrieben gewesen oder die Prostitution als „marcheuse“ im chinesischen Viertel von Belleville. Als nun aber der Chef des Betriebs abrupt die Bezahlung einstellte, begannen die fünf Chinesinnen –zum völligen Unverständnis vieler ihrer Landsleute („C’est comme ça que ça marche“)- einen Streik, der von der einflussreichen Gewerkschaft CGT unterstützt wird. Die hatte sich ja schon öfters für Arbeitskräfte „sans papiers“ engagiert. Dabei geht es vor allem –der Chef ist inzwischen spurlos verschwunden- um eine Aufenthaltsberechtigung und Arbeitserlaubnis. Da die Maniküristinnen einer regelmäßigen Arbeit nachgehen und auf keine öffentliche Unterstützung angewiesen sind, wäre das im Prinzip auch erreichbar: Nur hatten sie als Illegale nie eine Verdienstbescheinigung bekommen…. Jetzt hoffen sie aber, mit Unterstützung der CGT eine Regularisierung ihres Status zu erreichen. Der betreffende Schönheitssalon liegt zwar im Boulevard Strasbourg, also nicht im Goutte d’Or, aber die Gewerkschaft geht davon aus, dass die dortigen Zustände kein Einzelfall sind und hofft, dass das Beispiel, sich gegen ausbeuterische Verhältnisse zu wehren, Schule machen werde. Man muss jedenfalls davon ausgehen, dass die von außen so bunt und exotisch erscheinende Welt von Klein-Afrika auch ihre sehr dunklen Seiten hat.[22]
Eine Möglichkeit, den Rundgang noch etwas zu erweitern, besteht darin, den Boulevard Barbès bis zur Métro Barbès Rochechouart weiterzugehen: mittwochs und samstags ist dort –unter der Hochbahn- ein vielbesuchter Wochenmarkt und ein Treffpunkt der Maghrebiens.
Und dann gibt es dort das legendäre Kaufhaus Tati (2 au 28 boulevard Rochechouart, 2 au 44 boulevard Barbès). Das Kaufhaus wurde 1948 von dem aus Tunesien stammenden Jule Ouaki gegründet, der es nach dem Namen seiner Mutter Tita benannte. Weil dieser Name aber schon urheberrechtlich geschützt war, stellte er die Vokale um, und so wurde „Tati“ daraus.
Ouaki führte großformatige Preisschilder und die Selbstbedienung für seine preisgünstigen Textilien ein. So reduzierte er die Schwellenangst seiner Kundschaft, die die Waren problemlos – und auch ohne Französisch-Kenntnisse- anfassen, anprobieren und kaufen konnte. Die einzelnen Abteilungen sind voneinander abgetrennt und haben den Charakter von Spiegelkabinetten: Eine spezifische Mischung von Zimmeratmosphäre und Weite. Und –wie man/frau sieht- nach wie vor unschlagbare Preise. Also eine echte Alternative zu den Edelkaufhäusern der Grands Boulevards! Für Georg Stefan Troller ist das Tati der „goldene Graal“ der Immigranten „von Tanger und Togo und von Timbuktu“. Hier „schieben sie sich vorüber in ihren farbenfrohen Ttachten, starren auf die (ausschließlich weißen) Mannequinpuppen, die Schlüpfer und die BHs und Unterkleider und Pullis und Jeans und Stöckelschuhe, die eben für sie Paris repräsentieren und die westliche Kultur (obschon wahrscheinlich in Bangalore hergestellt oder in Beijing)…. 5 Millionen Strumpfhosen verkauft Tati im Jahr, 3,5 Millionen Höschen, 1 Million Lippenstifte und 20000 Hochzeitskleider (zehn Prozent des gesamten französischen Marktes, heißt es).“ [23]
Das Goutte d’Or ist eine eigene Welt. Aber wie lange noch? Der südliche Teil wird wohl seine nordafrikanische Eigenheit behalten, weil die dortigen Händler auch Eigentümer der Läden und Häuser sind, so dass man sie dort nicht so leicht vertreiben kann. Das ist noch –wie Belleville- eine der „poches de résistence“ in Paris. Um die Metro-Station Barbès-Rochechuoard herum sind Veränderungen allerdings unverkennbar und die Existenz des Tati, des „temple de l’habillement à bas prix“ steht auf dem Spiel.
„Tati. Die niedrigsten Preise“ . Blick von der Metro-Station Barbès – Rochechouard
Am 12. März 2017 schreibt der Parisien:
„Un quartier en pleine mutation Avec la renaissance du cinéma le Louxor, l’installation de la célèbre librairie de la rive gauche Gibert-Joseph, l’ouverture de la brasserie Le Barbès, le carrefour tente de rompre avec ses vendeurs de cigarettes de contrefaçon, et les différents trafics qui lui collent à la peau. Et, même si rien n’est réglé, comme en témoignent les groupes de « sauvette » qui, pour certains, se sont contentés de changer de trottoir, où les marchés aux voleurs et de la misère qui perdurent, la brasserie ne désemplit pas, et le Louxor, qui a surgi de ses cendres après trois années de travaux pharaoniques, commence à se faire une réputation.
Au milieu de cette grande métamorphose, Tati, qui domine les lieux depuis 1948, a voulu, lui aussi, s’adapter. Pionnier du discount textile, qui a quitté il y a une dizaine d’années le giron de la famille Ouaki pour celui du groupe Eram, le vaisseau amiral du boulevard Barbès a sérieusement dépoussiéré ses rayons, tout en continuant à pratiquer les prix bas qui ont fait son succès.“
Werbeplakat im RER-Bahnhof Cité Universitaire April 2018
Aber geholfen hat dieser Versuch einer Modernisierung und „Entstaubung“ offenbar nicht. Vom Tod ihres Gründers Jules Ouaki 1982 hat sich die Ladenkette offenbar nicht erholt und in den letzten Jahren nur Defizite erwirtschaftet. 2017 wurde das Unternehmen dann erneut verkauft und schon „das Ende eines Mythos“ verkündet. Aber der Käufer hat einen Großteil der bisherigen Läden -und den Namen- übernommen und will einen neuen Anlauf zur Modernisierung unternehmen., der auch im Straßenbild sichtbar ist. Da kann man nur – auch im Sinne der Beschäftigen und der Käufer- hoffen und wünschen, dass diese Anstrengungen Erfolg haben. (23a)
Noch deutlicher sind die Veränderungen weiter nördlich rund um die Rue Myrha, „où la population est mjoritairement africaine et financièrement fragile“. Dort gibt es „de terribles opérations de logements sociaux“: Alte baufällige Häuser werden abgerissen, die aus Schwarzafrika stammenden Bewohner umgesiedelt, und wenn dann die neuen Sozialbauten fertig sind, ziehen dort meist nicht mehr die ursprünglichen Bewohner ein, sondern eine „bourgeoisie blanche, instruite et bien plus aisée.“ (Erich Hazan in Le Monde 31.1.14). Insofern ist auch dieses Viertel Teil eines Prozesses des „embourgeoisement“ der Stadt Paris, die im Grunde schon mit der Kahlschlagsanierung des Baron Haussman begonnen hat und sich in den letzten Jahren verschärft fortsetzt. Einige sanierte Straßenzüge wie die zwischen Square Léon und dem Bd de la Chapelle gelegene Passage Boris Vian mit ihren eher unpariserischen Arkaden und den noblen Afro-Modeboutiquen scheinen Erich Hazans These zu bestätigen, dass das Goutte d’Or immer mehr seinen ursprünglichen spezifischen Charakter verliert.
Der langjährige (ehemalige) Pariser Bürgermeister Delanoë sieht das natürlich ganz anders.[24] Die –inzwischen sehr behutsamen und auch aufwändigen- Sanierungen seien unvermeidlich und der Anteil von Immigranten im 18., 19. und 20. Arrondissement –also dann erst Recht im Goutte d’Or- sei immer noch höher als in dem im nördlichen banlieue gelegenen Département La Seine-Saint-Denis, das nicht nur das ärmste Département von ganz Frankreich ist[25], sondern gerne auch als Beispiel für eine besonders von Immigration geprägte Problemzone genannt wird. Und trotz des schleichenden Prozesses des embourgeoisement erreicht der Prozentsatz der Armen in Goutte d’Or immer noch fast 50% – in Paris insgesamt beträgt er etwa 14%.[26] Dafür sind die Wohnungspreise auch die niedrigsten in Paris: Der Durchschnittspreis pro Quadratmeter liegt bei „nur“ 6000 Euro, in feineren Vierteln sind es über 12 000 Euro![27]
Eine stärkere soziale Durchmischung, deren Fehlen (oder Verlust) in manchen Vororten von Paris ja ein Dauerproblem ist, kann immerhin auch eine Chance sein. Allerdings haben die beiden Soziologen Monique Pinçon-Charlot und Michel Pinçon, die sich intensiv mit dem Goutte d’Or beschäftigt haben, 2019 in einem Interview mit Le Monde festgestellt, dass zwar inzwischen junge Familien mit guten Gehältern sich in dem Viertel niederlassen. Es gebe also zunehmend ein räumliches Nebeneinander, aber -wie die Villa Poissonières eindrucksvoll demonstriert- kein Miteinander: „La population blanche va à l’école privée, la population noire à l’école publique.“ (28) Aber das ist eine andere Geschichte und dazu mehr an anderer Stelle. (29)
Wie auch immer: Das Goutte d’Or ist eine kleine eigene Welt für sich, die zu erkunden ich nur empfehlen kann!
Pour en savoir plus:
ICI: Öffnungszeiten Di bis Do 10-21 Uhr, Freitag 16-21 Uhr, Samstag 10-20 Uhr und Sonntag 12-19 Uhr. Es gibt dort auch Angebote für Spaziergänge ins Quartier: Daten und Reservierungen über www.ici.paris.fr (Château Rouge, Petite Afrique à Paris, L’Islam à la Goutte d’or und andere)
http://www.bastina.fr/voyage.php?voyage=petit-mali-a-chateau-rouge-a-paris ( ebenfalls Angebote für Spaziergänge durch das Viertel)
http://www.fgo-barbara.fr/infos-pratiques (Centre Musical Fleury Goutte d’Or – Barbara: Dort gibt es u.a. auch afrikanische Musik)
Barbès l’africaine des années 70 à nos jours. Hrsg. von der Association Salle Saint-Bruno. Paris 2011
Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot: La Goutte d’Or, terre de tous les exodes. In: Paris. Quinze promenades sociologique. Petite Bibliothèque Payot. Paris 2013, S. 247ff
Ergänzung 2023:
Derzeit läuft in französischen Kinos der Film „Goutte d’Or“. Hauptperson ist ein 35-jähriger junger Mann, der sich als „voyant“ ausgibt und, weil er damit sehr phantasievoll umgeht, viel Erfolg hat – bis eine Gruppe von entwurzelten Jugendlichen aus Nordafrika das Viertel unsicher macht und auch ihn an den Rand bringt…. Sehr empfehlenswert!
Anmerkungen:
[1] . „Son nom a fait le tour du monde grâce aux miracles de ses travaux. Il aide à resoudre les problèmes quels que soient la difficulté”.
[2] Siehe Le Parisien, 15.1.2014: Marché Dejean: haro sur les vendeurs à la sauvette
[3] Aber leider nicht nur rechte: Wenn François Hollande (Le Monde, 22.12.13) in einer Rede –ausgerechnet!- vor dem CRIF, dem Verband der französischen jüdischen Gemeinden, „scherzhaft“ mitteilt, sein Innenminister sei „sein et sauf“ aus Algerien zurückgekehrt und das sei schon viel („C’est déjà beaucoup“), dann trägt das sicherlich nicht dazu bei, die Offenheit gegenüber den aus Afrika stammenden Menschen in Frankreich und dem „petite Afrique“ in Paris zu fördern.
[4] http://fr.wikipedia.org/wiki/Le_bruit_et_l%27odeur_(discours_de_Jacques_Chirac): « avec un père de famille, trois ou quatre épouses, et une vingtaine de gosses, et qui gagne 50 000 francs de prestations sociales sans naturellement travailler! »
[5] « Maintenant, il y a dix ou quinze endroits où, de manière régulière, un certain nombre de personnes viennent pour accaparer les territoires. C’est une occupation de pans du territoire, des quartiers dans lesquels la loi religieuse s’applique, c’est une occupation. Certes y a pas de blindés, y a pas de soldats, mais c’est une occupation tout de même. » http://www.lemonde.fr/politique/article/2010/12/11/marine-le-pen-compare-les-prieres-de-rue-des-musulmans-a-une-occupation_1452359_823448.html
[6] Heute erinnert nur noch ein Straßenname an diese industrielle Vergangenheit des Viertels
[7] Der Romantitel bezeichnet übrigens eine frühere Kneipe in der rue des Islettes Nr. 12, wo auch Gervaise, die Heldin des Romans, wohnte.
[8] http://gutenberg.spiegel.de/buch/5933/2
[9] siehe Blog-Beitrag : Chinatown in Paris. Der –im Allgemeinen unfreiwillige- Einsatz der schwarafrikanischen tiralleurs wurde übrigens lange Zeit in Frankreich kaum gewürdigt. Erst anlässlich des in Frankreich äußerst intensiv begangenen 100. Jahrestags des Kriegsbeginns scheint sich das etwas zu ändern.
[10] http://gutenberg.spiegel.de/buch/5933/3 Eine weitere Beschreibung der Wäscherei gibt es auch in den Carnets d’enquêtes par Emile Zola. La Goutte d’Or 1875 Bei der von Zola an anderer Stelle genau beschriebenen Dampfmaschine könnte es sich übrigens um ein von Cavé in Frankreich eingeführtes Modell handeln.
[11] http://www.theatreonline.com/Theatre/Lavoir-Moderne-Parisien/56
[12] http://www.huffingtonpost.fr/2012/09/18/femen-ouvrent-centre-entrainement-nouveau-feminisme-goutte-or-paris_n_1893413.html
Kürzlich wurden bei einer Theaterveranstaltung im lavoir moderne zwei Zuschauer durch Messerstiche von einem Mann verletzt, der es aber offenbar auf die Femen-Aktivistin Inna Shevchenko abgesehen hatte. http://www.liberation.fr/societe/2014/03/29/paris-deux-spectateurs-du-lavoir-moderne-blesses-au-couteau_991332. Inzwischen gibt es aber an dem Theater keinerlei Hinweise mehr auf die Femen-Aktivistinnen. Und auch die grelle Bemalung der Fassade hat einer grauen Tristesse Platz gemacht- und einer über die ganze obere Fassade reichenden Aufforderung an die Kultusministerin, das Überleben des Theaters zu sichern.
[13] Barbès l’africaine, S.65
[14] Siehe http://www.lemonde.fr/politique/article/2013/10/21/je-pense-qu-il-est-bon-que-je-cloture-cette-sequence-a-estime-le-president_3499913_823448.html
[15] Siehe La Vie 1997 und http://www.dixhuitinfo.com/societe/article/23-aout-1996-les-sans-papiers
[16] Der Platz vor der Kirche wurde übrigens 2012 umbenannt in square « Saint Bernard – Saïd Bouziri“ – zu Ehren eines engagierten Kämpfers für die Rechte von Einwanderern.
[17] http://www.lemonde.fr/societe/article/2015/05/29/comment-sortir-de-la-jungle-parisienne_4643064_3224.html
[18] „Notre politique des migrations est un Waterloo moral“ . Le Monde, 11.6.2015 Insgesamt wurden im Winter 2015/2016 21 „campements“ von Flüchtlingen in Paris aufgelöst, ohne dass ihnen aber dafür menschenwürdige alternative Unterkünfte angeboten werden konnten – Dies wäre Aufgabe des Staates, der allerdings gegenüber Flüchtlingen eine Abschreckungspolitik betreibt. Das führt dazu, dass Asylbewerber monatelang sich selbst -und Hilfsorganisationen- überlassen sind und auf der Straße leben. Anfang Juni 2016 hat nun die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, angekündigt, zusammen mit Hilfsorganisationen ein „camp humanitaire“ in Paris einzurichten für die etwa 60 Asylbewerber, die täglich nach Paris kommen – eine für französische Verhältnisse äußerst mutige, ja kühne Entscheidung…. (s. Le Monde,2.6.2016)
(18a) Dans les pas des enfants migrants de Maroc. Und: Face à ces mineurs, isolés, polytoxicomanes et violents, Paris en appelle à l’Etat. In: Le Monde, 18. Mai 2018, S. 10 und 11
Anne Hidalgo am 16. Mai 2018 auf Twitter: „Il faut sortir de l’impasse. J’appelle l’Etat à assumer ses missions et à mettre à l’abri ces réfugiés vivant à Paris dans des conditions chaque jour plus indignes.“ (Cnews 17. Mai 2018). Dies bezieht sich auf die Situation der Flüchtlinge in Paris insgesamt, aber vor allem natürlich auf die sogenannten UMAs.
s.a. https://www.lesinrocks.com/2018/04/03/actualite/que-faire-face-au-phenomene-des-enfants-des-rues-qui-prend-de-lampleur-paris-111065211/:
„Depuis un an et demi, le quartier de la Goutte-d’Or, connu de longue date pour cumuler les handicaps : pauvreté, habitat dégradé, trafics en tout genre, est confronté à un nouveau problème qui, semble-t-il, a fait franchir un palier inédit dans les difficultés que rencontrent les habitants. Des groupes de très jeunes garçons, de 14 à 17 ans, totalement „ingérables” selon le terme repris par la plupart des médias, se sont installés dans les rues et les squares du quartier et font régner la peur.“
[19] Zu Louise Michel in der Pars.:iser Commune siehe Bericht 15: 140 Jahre Commune. Über die Zeit Michels in Neu-Kaledonien gibt es einen Film von 2010: http://www.commeaucinema.com/film/louise-michel-la-rebelle-drame,124629 . Und in der aktuellen Kanak-Ausstellung im Musée Branly wird die Rolle von Louise Michel für die Würdigung der Kanak-Kultur ausdrücklich hervorgehoben.
(19a) Siehe den Blog-Beitrag „Open your eyes“ über die Street-Art in Paris und die weiteren Beiträge zu diesem Thema (ua. zu Mosko und M. Chat) https://wordpress.com/post/paris-blog.org/8875
[20] http://www.paris-normandie.fr/breves/l-essentiel/paris-la-construction-de-la-2e-partie-de-l-institut-des-cultures-d-islam-abandonnee-CI3956675#.V0s65PmLTIU
[21] http://fr.wikipedia.org/wiki/Noix_de_kola
[22] A Paris, la révolte inédite de Chinoises sans papiers. Les cinq employees d’une onglerie du quartier “afro” de Paris sont soutenues par la CGT. Le Monde 23./24. Mars 2014, S. 9 Vorher hatte schon Libération über die Aktion berichtet: http://www.liberation.fr/societe/2014/02/26/sans-salaire-les-sans-papiers-du-salon-de-beaute-se-rebellent_983032
[23] Georg Stefan Troller, Paris geheim, S. 281
(23a) http://www.leparisien.fr/paris-75018/paris-tati-a-barbes-la-fin-d-un-mythe-12-03-2017-6755826.php#xtor=EREC-1481423604-[NL75]—${_id_connect_hash}@1
[24] Paris est riche de sa diversité retrouvée. Le Monde vom 5.2.14 und http://bertranddelanoe.net/
[25] Le Figaro, 25.9.13
[27] http://www.notaires.paris-idf.fr/outil/immobilier/carte-des-prix
(28) „Dans la capitale, les inégalités s’aggravent de manière abyssale“. Le Monde 30. Januar 2019, Beilage villes de demain, S. 3
(29) Siehe den Blog-Beitrag über „Frankreich- Spitzenreiter der schulischen Ungleichheit“: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/4630
Weitere „verwandte“ Blog-Beiträge:
Das multikulturelle, aufsässige und kreative Belleville: Modell oder Mythos?
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Vielen lieben Dank für diesen Artikel mit Tiefgang. Wenn es nur mehr davon geben würde. Ich werde den beschriebenen Rundgang sicherlich gemeinsam mit meiner Frau gehen. Sie sucht gerade genau die beschriebenen (schwarz-)afrikanischen Geschäfte.
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Vielen Dank für das nette feed-back und einen interessanten Spaziergang durch das „afrikanische Paris“! W.J.
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Ein fantastischer Artikel, für den ich mich sehr herzlich bedanke! Ich werde im November 2018 für eine Weile dort wohnen und arbeiten (fotografieren).
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Freut mich! Vielleicht können wir dann mal zusammen einen Spaziergang durch das Viertel machen! Das fände ich sehr schön. W.J.
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