Fährt oder bummelt man in diesen Herbsttagen des Jahres 2019 durch die Straßen von Paris, dann sind die auf Hauswände geklebten weißen Plakate nicht zu übersehen, auf denen mit großen schwarzen Buchstaben die Morde an Frauen angeprangert werden. So bei uns in der Nähe in der rue Saint Sébastien.

Das Wort féminicide bezeichnet nach dem Wörterbuch „Le Petit Robert“ den Mord an einer Frau oder einem Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Aufgenommen wurde es in dieses Wörterbuch im Jahr 2015, während die Akademie française sich noch ziert – was allerdings bei dieser sehr männerlastigen und konservativen Institution nicht anders zu erwarten ist. [1] Allerdings tun sich auch deutsch-französische Wörterbücher schwer mit dem Wort: Leo musste passen:
„Leider konnten wir zu Ihrem Suchbegriff féminicides keine Übersetzung finden“,
und linguee teilte kurz und bündig mit: „Keine Ergebnisse für féminicides. Bei Pons wurde ich dann aber fündig: féminicide = Frauenmord.“.[2]

103. Mord an Frauen. Eine Unbekannte, 76 Jahre, mit der Axt erschlagen. Rue Picpus, 12. Arrondissement
In Frankreich ist das Wort in den Medien allpräsent und es wird in der aktuellen Plakatierungsaktion ganz selbstverständlich immer wieder verwendet. Dabei werden teilweise auch die Namen der Opfer genannt, wie sie umgebracht wurden und um den wievielten Frauenmord des Jahres es sich handelt.

Monique, mit Schlägen des Gewehrs getötet von ihrem Mann, 104. Mord an Frauen Boulevard Ménilmontant, 11. Arrondissement
Und bei uns in der Ecke in der Rue de la folie Regnault (ebenfalls 11. Arrondissement):

25.10.2019 Shaïna, 15 Jahre, wurde von ihrem Typ erschlagen und verbrannt. Der 125. Mord an Frauen

2.11.2019 Eine Frau von 88 Jahren, von ihrem Mann durch eine Kugel in den Kopf getötet, Der 128. Frauenmord. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement
Auch das Ausmaß der Frauenmorde wird plakatiert wie in der Passage de Ménilmontant im 11. Arrondissement:

Der Männlichkeitswahn tötet alle 48 Stunden

In Frankreich ein Frauenmord alle zwei Tage (Foto von Sonia Branca, aufgenommen Nähe Bastille)
Dieses Plakat gibt es auch auf englisch – hier allerdings in etwas ramponierter Form:

Rue Bouvier, 11. Arrondissement
Die traurige Bilanz des Jahres 2019:

2019: 149 Morde an Frauen. Den Zeiger nicht auf 0 stellen Gymnase Japy, 11. Arrondissement. Aufgenommen im Januar 2020
und noch einmal Berges de la Seine, rive gauche

Die hier angegebenen Zahlen stammen von dem Kollektiv „Feminicides“, das seit 2016 eine Zählung von Frauen vornimmt, die von ihrem (ehemaligen) Partner umgebracht worden sind. Allerdings sind diese Zahlen nicht unumstritten: Le Monde (17. Januar 2020) spricht sogar von einer „bataille des chiffres“. Das hängt damit zusammen, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, eine entsprechende Zuordnung vorzunehmen: Beispielsweise, wenn der entsprechende Mann die Tat leugnet und es (noch) keine Verurteilung gibt, so dass -juristisch exakt- die Unschuldsvermutung gilt. Oder was ist -um ein von Le Monde angeführtes Beispiel zu nennen- mit einem alten Mann, der zunächst seine kranke Frau umbringt. um ihr Leiden zu beenden, und dann sich? Ist das auch ein féminicide im Sinne einer „violonce conjugale“?
Aber unabhängig von solchen Zuordnungsproblemen: Einigkeit besteht darin, dass die Zusammenstellung und Addition von féminicides hilfreich ist, das Bewusstsein für die Problematik häuslicher Gewalt zu schaffen und damit möglichst dazu beizutragen, dass die Zahlen in Zukunft abnehmen…
Und Einigkeit besteht natürlich auch darin, dass jeder Frauenmord einer zu viel ist: „pas une de plus“! Ein Plakat mit der entsprechenden italienischen Parole gibt es auch. Zum Beispiel in der Rue du chemin vert (11. Arrondissement).

Oft beziehen sich die Collagen auch auf die Motive von Frauenmorden. Häufig können es Männer nicht ertragen, wenn ihre Frau sich von ihnen trennt.

Sie verlässt ihn, er tötet sie Rue Étienne Dolet, 20. Arrondissement
Le Monde berichtet in ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 vom Leidensweg einer Frau, deren Mann, mit dem sie 20 Jahre lang verheiratet war, die Trennung nicht ertragen konnte. Ihr Partner drohte ihr mehrfach an, ihr das Gesicht zu verätzen, damit sie nicht mehr für andere Männer attraktiv sei. Er werde das tun, auch wenn er dann 15 Jahre ins Gefängnis müsse. Die Bedrohungen nahmen an Brutalität zu, der Mann kommt einmal für kurze Zeit in Haft und ihm wird der Kontakt mit seiner früheren Frau untersagt. Aber die Bedrohungen gehen weiter, auch die Kinder, die bei der Mutter leben, werden bedroht. Er werde den 4-jährigen Jungen vom Balkon werfen. Mehrfache Anzeigen, mehrfache dringende Eingaben des Rechtsanwalts bei der Justiz bleiben ergebnislos, bis dann der Mann seine Drohung wahr macht und das Gesicht der Frau mit Salzsäure entstellt….

Papa hat Mama getötet Rue des Partants, 20. Arrondissement
Seit September 2019 gibt es diese Anschläge in Paris. Bei den hier abgebildeten handelt es sich um eine völlig zufällige Zusammenstellung, meist in unserer näheren Umgebung fotografiert. Dabei wird aber deutlich, dass es sich um eine ganz spektakuläre Aktion handelt – denn sie ist ja nicht auf unser Viertel beschränkt, sondern in ganz Paris verbreitet. Gewidmet sind sie „den ermordeten Frauen“.
Rue de la Roquette, 11. Arrondissement


Unseren ermordeten Schwestern Rue de la Bidassoa im 20. Arrondissement
Hier hat die Gruppe nous toutes neben dem Straßenschild und über der Collage ein Plakat mit einem alternativen Straßenschild angeklebt, das einer der ermordeten Frauen gewidmet ist:

Rue Chloé, 33 Jahre, am 27. April 2019 von ihrem Ex getötet
Auf der Basis der Juli-Säule in der Mitte der place de la Bastille befindet sich folgende Aufschrift:

Aux femmes assassinées, la patrie indifférente (den ermordeten Frauen, das gleichgültige Vatgerland) – eine Anspielung auf die Widmung des Pantheons: aux grands hommes- la patrie reconnaissante (den großen Männern, das dankbare Vaterland).[3]
Diese Collage passt gut zu der Juli-Säule- denn es geht ja um ermordete Frauen- und die Juli-Säule ist den Opfern der „trois glorieuses“ der Juli-Revolution von 1930 gewidmet, die hier sogar bestattet sind.
Initiatorin der Plakataktion ist Marguerite Stern, eine junge Künstlerin, die dafür engagierte Frauen gewann.[4]

Begonnen hatte sie damit in Marseille, wo sie wohnt, dann aber auch in Paris Mitstreiterinnen gefunden.

Vorbereitungstreffen von Pariser Aktivistinnen im September 2019
Dort startete die Aktion am 30. August und eine Woche später waren schon 250 Collagen geklebt.[5] Heute sind es sicherlich tausende…
Die Aktivistinnen, die diese Plakate bzw. Collagen an die Wände klebten, hatten allerdings ein Problem, das Vertretern der Street-Art nur allzu bekannt ist: Das „wilde“ Plakatieren stört nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern ist auch ein Eingriff in das Privateigentum. Es handelt sich also um eine Ordnungswidrigkeit, die entsprechend geahndet werden kann – und wie beim Invader oder Monsieur Chat auch geahndet wurde.
Dazu veröffentlichte die Zeitung Le Parisien am 7. September 2019 einen Artikel:
Paris : 400 euros pour avoir collé des affiches contre les féminicides
6 militante Feministinnen seien in flagranti beim Plakatieren von städtischen Angestellten beobachtet worden. Man habe ihre Personalien erhoben und ein Bußgeld von insgesamt 400 Euro verhängt.[6]
Die Frauen hatten ein Plakat angeklebt mit der Aufschrift Morde an Frauen: Das große Thema der Legislaturperiode.

Die Pariser Stadtverwaltung rechtfertigte das Vorgehen ihrer Beschäftigten: Man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie eine Entscheidung träfen zwischen verschiedenen Arten wilder Plakatierung. Allerdings hatte die Pariser Bürgermeisterin am 28. August noch höchstpersönlich eine Veranstaltung auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus organisiert, in der sie die Morde an Frauen verurteilt und die Regierung zum höchst überfälligen Handeln aufgefordert hatte.[7]

Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, am Rednerpult vor dem Rathaus

Dazu waren die Namen der Opfer an der Fassade des Rathauses befestigt worden.
94 Frauen sind seit Beginn des Jahres 2019 unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners gestorben
Die Verhängung von Bußgeldern für das Ankleben von Collagen passte dazu natürlich überhaupt nicht. Aber inzwischen scheint sich die Stadtverwaltung dieses eher peinlichen Widerspruchs bewusst geworden zu sein. Dazu haben sicherlich auch Anstöße aus den eigenen Reihen beigetragen, wie etwa ein Beschluss des Stadtrats des 20. Arrondissements: Die Plakatierungs-Aktion liege, so heißt es da, im allgemeinen Interesse und solle deshalb von der Pariser Stadtverwaltung nicht nur geduldet werden.[8] Das scheint inzwischen auch so gehandhabt zu werden. Jedenfalls habe ich von weiteren städtischen oder polizeilichen Interventionen in dieser Sache nichts mehr gehört oder gelesen
Weitere Aktionen
Neben diesen Collagen gab und gibt es in diesem Jahr aber noch weitere Aktionen gegen Frauenmorde. Besonders spektakulär die der militanten Frauengruppe Femen, bekannt durch ihre barbusigen Auftritte – hier eine im Innenhof des Palais Royal in Paris im Mai 2019…[9]

…. und eine weitere am 5. Oktober 2019 auf dem Friedhof von Monparnasse[10]:

Ich habe ihn verlassen, er hat mich getötet; ich wollte nicht sterben; nicht noch eine mehr

Wir alle sind Kämpferinnen. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement
Am 19. Oktober 2019 veranstalteten Frauengruppen fünf sogenannte die-ins auf Pariser Plätzen:

Frauen legten sich auf den Boden, um den Tod von Frauen zu veranschaulichen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. (Courrier Picard, 19.10.2019)

Wir sind alle Heldinnen (Foto Sonia Branca)
Auch der Invader, bekannt durch seine an Hauswänden befestigten Mosaike[11], engagierte sich: Er verbreitete einen Aufruf:

„Ob Prinzession, Kriegerin oder Tänzerin, alle zwei Tage stirbt in Frankreich eine Frau unter den Schlägen ihres Partners oder ex-Partners. Heute, am 3. September 2019 -3/9/2019- verbreiten wir die Telefonnummer, die Menschenleben retten kann. Ob Opfer oder Zeuge, die 3919 hört Sie und hilft Ihnen, auf häusliche Gewalt zu reagieren“.[12]
Illustriert war der Aufruf mit einer Zusammenstellung von 9 Frauenmosaiken des Invaders, darunter diesem in der rue du roi doré im Marais.
Frauenmorde in Frankreich: Ein Versagen der Behörden und der Justiz?
Das Thema der Frauenmorde/féminicides ist in den französischen Medien sehr präsent. Ein wesentlicher Grund dafür ist die hohe Zahl der entsprechenden Gewalttaten. 2017 haben 219 000 französische Frauen angegeben, Opfer physischer und/oder sexueller Gewalt gewesen zu sein. Mehr als 12 000 Fälle von Todesdrohungen seien von der Polizei registriert worden. 2018 seien, wie die Zeitung Le Temps berichtete, 121 Frauen in Frankreich unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners umgekommen. Der Figaro gibt für 2018 die Zahl von 107 an.[13] Wie auch immer: Ganz deutlich ist, dass die Zahl der ermordeten Frauen in diesem Jahr deutlich ansteigt: Die Ende Oktober 2019 umgebrachte 15-jährige Shaïna war ja, wie auf einem einer anfänglich gezeigten Collage zu lesen war, schon der 124. Frauenmord dieses Jahres.
Gemäß der europäischen Statistikbehörde Eurostat liegt Frankreich, was die absolute Zahl der Frauenmorde angeht, damit auf einem Spitzenplatz, weit vor Rumänien, Großbritannien und Italien. Den traurigen europäischen Rekord halte aber, wie tv 5 berichtete, Deutschland! Bezogen auf die Bevölkerungszahl sieht das Bild allerdings etwas anders aus: Da liegt Rumänien weit an der Spitze und Deutschland im „Mittelfeld“, allerdings noch vor Frankreich.[14]
Bei der Frage nach den Ursachen des hohen Ausmaßes häuslicher Gewalt wird in Frankreich immer wieder das Verhalten der zuständigen öffentlichen Instanzen infrage gestellt. Im Figaro wird beispielsweise eine in diesem Bereich tätige Soziologin zitiert, die von einer von ihr betreuten Frau berichtet: „Sie hat fünfmal Anzeige erhoben, aber die Todesdrohungen sind alltäglich. Ihr ehemaliger Partner ist gefährlich. Ich ermutige sie, eine sechstes Mal Anzeige zu erheben, aber sie hat nicht das Gefühl dadurch besser geschützt zu werden.“[15]

Häusliche Gewalt. Trägheit der Polizei. Widerstand der Justiz. Daran sind sie gestorben. Rue Bouvier, 11. Arrondissement
Dazu eine aktuelle Meldung aus Le Monde vom 14.11. 2019. Unter der Überschrift FEMINICIDE wird von einer Frau im Département Bas-Rhin berichtet, die von ihrem Partner erstochen wurde. Die Tochter des Opfers, die Augenzeugin des Verbrechens gewesen sei, habe den Vorwurf erhoben, die Polizei habe viel zu lange gebraucht, um am Tatort einzutreffen. „Niemand“, so wird die Frau zitiert, „hat uns helfen wollen.“ Ihre Mutter habe schon die zuständigen Stellen informiert (main courante) und Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet – offensichtlich vergeblich…. Jetzt sei die für die Polizei zuständige Aufsichtsbehörde mit dem Fall befasst.

Und dazu ein aktuelles Plakat in der Rue Chaligny im 11. Arrondissement: Jean-Pierre schlug Valérie mit der Faust. Sie wurde mit dem Tode bedroht, beschimpft, an den Haaren gezogen. Beschwerden wurden von der Polizei zurückgewiesen, die Justiz hat nie Strafen verhängt. Aber ich werde es auch 15 Jahre danach nie vergessen. Papa leugnet seine Gewalttaten. Aber ich schreie sie heraus auf den Mauern, weil Mutter sterben musste.
Insofern soll die nachfolgende Inschrift – er schlägt dich, man glaubt dir- (gefunden in der rue de Charonne im 11. Arrondissement) sicherlich bittere Ironie ausdrücken:

Heftig diskutiert wird in Frankreich die Frage, inwieweit die Justiz und das Strafrecht dem Problem gewachsen sind. Da stehen sich zwei Positionen gegenüber: Einmal die Auffassung, dass das juristische Arsenal ausreichend sei, es allerdings Probleme bei seiner konsequenten Anwendung gäbe[16]. Anderseits gibt es auch die Forderung, den féminicide als eigenständigen Tatbestand in das Strafrecht aufzunehmen, um der Besonderheit der Gewalt gegen Frauen besser gerecht werden zu können, so wie das schon in mehrern Staaten Mittel- und Südamerikas (beginnend mit Costa Rica 2007) der Fall sei. [17]
Es ist allerdings in Frankreich wohl allgemein anerkannt, dass die Polizei sich oft schwer tut, Frauen zu schützen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind (18); und ebemso, dass die Justiz oft –zu oft- unfähig ist, potentielle Mörder daran zu hindern, zur Tat zu schreiten. In ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 veröffentlichte Le Monde eine zweiseitige Recherche zum Thema:
Féminicides: une justice trop souvent en échec face aux aggresseurs
Frauenmorde: eine Justiz, die allzu oft angesichts von Tätern versagt

Frauenorde: Die Justiz als Komplize Rue de la Roquette, 11. Arrondissement
Sicherlich ist es sehr zugespitzt und polemisch, die Justiz als Komplizen der Frauenmorde zu qualifizieren. Aber die von einem 12-köpfigen (!) Journalist/inn/enteam in Le Monde veröffentlichten Fälle sind schon erschreckend: Da hat man den Eindruck, dass manchmal alle Anzeigen, alle auch rechtsanwaltlichen Interventionen, nichts nützen, und die Justiz erst dann nachhaltig tätig wird, wenn das lange angekündigte Verbrechen schließlich geschehen ist.

Ehren wir die Toten und schützen die Lebenden. Ausgang Métro-Station Jaurès (Foto Sonia Branca)
Die Justizministerin Nicole Belloubet hat am 15. November anlässlich eines Kolloquiums über die Herausforderungen der Justiz anlässlich häuslicher Gewalt selbst eingeräumt, dass die Justiz bei manchen der 1500 Gewalttaten an Frauen in den letzten zehn Jahren versagt habe. Anlass war ein Bericht der „inspection générale de la justice“, die 88 Fälle von Opfern häuslicher Gewalt in den Jahren 2015 und 2016 genau untersuchte. Dabei wurde festgestellt, dass in 65% der Fällen die Opfer sich vorher an die Polizei gewandt hatten. Aber nur in 18% dieser Anzeigen seien an die Justiz weitergereicht worden. Fälle, die dann aber 80% niedergeschlagen habe. Der Generalstaatsanwalt beim obersten französischen Berufungsgericht, François Molins, stellte denn auch selbstkritisch fest, es gebe Anlass über „tout dysfonctinnement“ nachzudenken und sich zu fragen, inwieweit bestimmte gängige juristische Praktiken (wie z.B. Mediation) im Bereich häuslicher Gewalt angemessen seien.[19]
Die Rolle des Staates

Morde an Frauen: Reformen bevor man tot ist Impasse de Mont Louis, 11. Arrondisssement[20]
Angesichts der großen Resonanz, die die häusliche Gewalt in der französischen Öffentlichkeit hat, nahm der Staat dieses Thema auf. Anfang September 2019 initiierte die Regierung ein „Grenelle des violences conjugales“ (Grenelle der häuslichen Gewalt). Der Begriff Grenelle bezieht sich auf die Rue Grenelle in Paris, Sitz des französischen Arbeitsministeriums. Dort trafen sich 1968 Vertreter der Regierung und der Gewerkschaften und schlossen die Grenelle-Vereinbarungen, die wesentliche soziale Verbesserungen beinhalteten und die sozialen Auseinandersetzungen des französischen Mai 68 beendeten. Seitdem wird der Begriff „Grenelle“ für Beratungen und Vereinbarungen grundlegender Bedeutung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen verwendet. So gab es 2007 ein „Grenelle de l’environnement“, bei dem es um die französischen Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels ging. Wenn jetzt von der Regierung ein „Grenelle der häuslichen Gewalt“ ausgerufen wurde, einen bis zum 25. November 2019, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, geplanten Beratungs- und Entscheidungsprozess, dann zeigt das, wie hoch dieses Thema gehandelt wird.

Avenue Diderot, 12. Arrondissement
Die Idee eines solchen Grenelles wurde vor allem von Marlène Schiappa entwickelt, der für die Gleichheit zwischen Männern und Frauen zuständigen Staatssekretärin. Der Begriff Grenelle stehe für oberste nationale Dringlichkeit und für einen Epochenwandel. Das Thema der häuslichen Gewalt solle zu einer großen nationalen Angelegenheit und zu einem „marqueur“, einem prägenden Merkmal der Präsidentschaft Macrons gemacht werden.[21]
Gleich zu Beginn des Grenelle, an dem verschiedene staatliche und gesellschaftliche Institutionen und auch Betroffene teilnahmen, kündigte Premierminister Edouard Philippe höchstpersönlich eine Reihe von Maßnahmen an. Dazu gehörten:
- 1000 neue Wohnplätze für gefährdete Frauen sollen ab 1.1.2020 zur Verfügung gestellt werden
- Ein System der Geolocalisation solle geschaffen werden, das sofort alarmiert, wenn ein vom Gericht verhängtes Annäherungsverbot nicht befolgt wird
- Die Polizei solle besser geschult werden, das Ausmaß der von häuslicher Gewalt bedrohten Frauen zu beurteilen
- Es sollen bei allen französischen Gerichten auf häusliche Gewalt spezialisierte Staatsanwaltschaften eingerichet und die entsprechenden Verfahren beschleunigt werden
- Die Möglichkeit für Opfer häuslicher Gewalt, schon im Krankenhaus Anzeige zu erstatten, solle verbreitert werden
- Ebenso so es auch leichter möglich sein, einem häusliche Gewalt ausübenden Elternteil das Erziehungsrecht zu entziehen.[22]
Die Regierung spricht da natürlich von „starken Maßnahmen“. Dass die Aktivistinnen der Frauenbewegung da eher skeptisch sind, zumal es sich eher um schon längst angekündigte oder überfällige Maßnahmen handele, (23) zeigt die nachfolgende Collage.

Macron redet, die Frauenmorde gehen weiter
Es wird also weiter öffentlicher Druck ausgeübt. Die nächste Demonstration ist schon für den 23. November angekündigt:
Samedi 23 novembre, #NousToutes vous donne RDV à Paris pour dire Stop aux violences sexistes et sexuelles.


Am 23.11. gehört die Straße uns allen Ras le viol (Vergewaltigung)!- ein Wortspiel mit ras de bol! (Die Schnauze voll)
Im November 2018 gab es schon einmal eine solche Demonstration gegen häusliche Gewalt, zu der auch die Gewerkschaft CGT aufgerufen hatte.

Wir (Männer) alle mit Ihnen (den Frauen) allen Ich kämpfe für meine zukünftige Tochter
Allerdings war diese Demonstration damals kaum wahrgenommen worden, weil gleichzeitig die Gelbwesten sich auf den Champs Elysées Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und damit die Bilder und Schlagzeilen beherrschten.[24]
Ob es diesmal anders sein wird, ist (leider) nicht garantiert.

rue de la forge royale, 11ème (Mai 2022)
„Nachwort“ aus der rue Bouvier im 11. Arrondissement:
Gefunden im 11. Arrondissement im Februar 2023:

Anmerkungen:
[1] : « meurtre d’une femme, d’une fille, en raison de son sexe » https://www.franceculture.fr/societe/le-terme-feminicide-interroge-le-droit (3.9.2019)
[2] https://dict.leo.org/franz%C3%B6sisch-deutsch/feminicides
In der FAZ erschien am 2. März 2021 ein Bericht über die Collagen: Luis Jachmann, Wer wegschaut, macht sich schuldig. Gegen sexualisierte Gewalt: In Frankreich kleben Frauen Botschaften an Häuserwände, die manche Männer wütend machen. Feuilleton, S. 11
[3] Zur marginalen Rolle der Frauen im Pantheon siehe den Blog-Beitrag „Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen. https://paris-blog.org/2018/04/01/das-pantheon-der-grossen-und-der-weniger-grossen-maenner-und-der-wenigen-grossen-frauen-1-das-pantheon-der-frauen/
[4] Bild aus: https://www.courrierinternational.com/article/vu-dallemagne-avec-ses-collages-marguerite-stern-rend-visibles-les-feminicides Im Courrier International ist ein Artikel der TAZ über die Aktion abgedruckt. Dem ist auch das nachfolgende Bild entnommen.
Siehe Le Monde vom 26. Oktober 2019: Marguerite Stern, feministe de combat https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2019/10/26/marguerite-stern-feministe-de-combats_6016971_4500055.html
[5] http://madame.lefigaro.fr/societe/marguerite-stern-la-militante-derriere-la-campagne-de-collage-qui-denonce-les-feminicides-070919-166715
Vorhergehendes Bild der Aktivistinnen aus: Le Monde vom 14. September 2019: ‚Aux femmes assassinées, la patrie indifférante‘: Les ‚colleuses‘ d’affiches veulent rendre visibles les victimes de féminicides
[6] http://www.leparisien.fr/paris-75/paris-400-euros-pour-avoir-colle-des-affiches-contre-les-feminicides-07-09-2019-8147532.php
[7] https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/08/28/feminicide-la-mairie-de-paris-rend-hommage-aux-victimes-et-interpelle-le-gouvernement_5503918_3224.html
Die beiden nachfolgenden Bilder aus: https://www.purepeople.com/media/des-femens-interpellent-le-pouvoir-ann_m5003087
[8] https://www.api-site.paris.fr/mairies/public/assets/2019%2F8%2F14.%20Voeu%20f%C3%A9minicides%20%28adopt%C3%A9%29.pdf
[9] http://madame.lefigaro.fr/societe/stop-feminicide-la-nouvelle-action-coup-de-poing-des-militantes-femen-a-paris-feminisme-violences-faites-aux-femmes-300519-165372
(30. Mai 2019)
[10] https://www.ouest-france.fr/faits-divers/feminicide/stop-feminicide-la-manifestation-choc-des-femen-au-cimetiere-du-montparnasse-paris-6551831
[11] Zum Invader siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2018/10/01/street-art-in-paris-3-der-invader/
[12] https://www.lefigaro.fr/arts-expositions/violences-conjugales-l-artiste-invader-appelle-a-composer-le-3919-20190907
Zum Invader siehe auch den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2018/10/01/street-art-in-paris-3-der-invader/
[13] https://www.letemps.ch/monde/france-guerre-contre-feminicides Le Temps vom 4. September 2019 https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704: En 2018, elles étaient 107 à mourir sous les coups de leurs compagnons ou ex-conjoints.
[14] https://information.tv5monde.com/info/les-feminicides-sont-ils-plus-nombreux-en-france-vrai-dire-319469 und https://www.franceinter.fr/espagne-italie-allemagne-belgique-comment-on-y-parle-des-feminicides-et-comment-on-agit Es wäre natürlich interessant, den Gründen für die hohe Zahl von Frauenmorden in Deutschland und die –nach meiner Beobachtung- doch recht unterschiedliche Präsenz des Themas in Deutschland und Frankreich nachzugehen, aber das würde diesen Blog-Beitrag sprengen – und dafür fehlt mir auch die entsprechende Kompetenz.
[15] Figaro, 4. Juli 2019 https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704
[16] z.B. https://www.dalloz-actualite.fr/node/non-feminicide-ne-doit-pas-etre-penalement-qualifie#.XchXOFdKhPY und https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704
[17] So der Rechtsanwalt Pierre Farge in einem Diskussionsbeitrag in Le Monde vom 12. September: „Le droit pénal doit définir clairement le féminicide“ und entsprechend: https://www.lepoint.fr/justice/pourquoi-il-faut-creer-l-infraction-de-feminicide-28-08-2019-2332031_2386.php
(18) Dans les affaire de fémicides, les alertes négligées par les forces de l’ordre. In: Le Monde vom 21. Oktober 2019
Am 17.11. wurde in den Abendnachrichten von TV 2 ein ausführlicher Beitrag ausgestrahlt zum Thema „femmes battues. Une épreuve pour se faire entendre“. Es kam dort ausführlich eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau zu Wort. Sie berichtete von ihren Schwierigkeiten, von der Polizei und der Justiz ernst genommen zu werden. Erst nach 3-jährigen Bemühungen sei sie wirklich geschützt worden. Fazit, auch von interviewten Polizisten und Juristen, war die Notwendigkeit eines besseren und schnelleren Schutzes der betroffenen Frauen.
(19) Le Monde 17./18. November 2019: Nicole Belloubet, la garde des sceaux, regrette les ‚défaillances‘ https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/11/17/le-constat-d-echec-de-la-justice-dans-la-prevention-des-homicides-conjugaux_6019496_3224.html
siehe auch Le Monde vom 25. Oktober 2019: Féminicides: une étude inédite détaille les carences judiciaires dans la prévention
und: Le Monde, 17.11.2019: Le constat d’échec de la justice dans la prévention des homicides conjugaux. Le rapport de l’inspection générale de la justice sur les homicides conjugaux sur 88 cas définitivement jugés pointe de graves dysfonctionnements dans la chaîne pénale. https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/11/17/le-constat-d-echec-de-la-justice-dans-la-prevention-des-homicides-conjugaux_6019496_3224.html
Entsprechend Le Figaro vom 18.11.: Violence conjugales: la justice admet ses échecs
[20] Auch hier gibt es ein alternatives, feministisches Straßenschild – Überbleibsel einer anderen spektakulären Aktion der Gruppe nous toutes aus dem Frühjahr 2019: Da wurde die einseitige geschlechtsspezifische Verteilung von Straßennamen kritisiert und es wurden andere nach prominenten Frauen benannte Straßennamen vorgeschlagen- Hier rue Berthe Morisot, 1841 – 1895, Malerin, Gründungsmitglied der impressionistischen Bewegung. Eine schöne Alternative zu dem nach Ludwig XIV. benannten Impasse Mont-Louis, einer Sackgasse….
[21] https://www.letemps.ch/monde/france-guerre-contre-feminicides
[22] https://www.gouvernement.fr/un-grenelle-et-des-mesures-fortes-pour-lutter-contre-les-violences-conjugales und https://www.nouvelobs.com/droits-des-femmes/20190903.OBS17914/ce-que-edouard-philippe-a-annonce-lors-du-grenelle-contre-les-feminicides.html
(23) Das System der Geolocalisation wird beispielsweise schon seit Jahren in Spanien verwendet, das immer wieder als Musterbeispiel für einen erfolgreichen Kampf gegen den Frauenmord angeführt wird. In Frankreich ist das System seit 2017 bekannt, seine Einführung wurde schon im Juli 2019 von der Justizministerin angekündigt. Siehe: Pourquoi la France échoue à faire baisser le nombre des féminicides. In: L’express vom 6.7.2019
[24] Bild aus: http://www.leparisien.fr/societe/les-feministes-descendent-dans-la-rue-contre-les-violences-sexistes-24-11-2018-7952169.php
Beitrag eingestellt am 17.11.2019
Einen Artikel in französischer Sprache über die Plakataktion in Paris gibt es im sehr empfehlenswerten Blog „passage du temps“ von Sonia Bianca-Rosoff: https://passagedutemps.wordpress.com/2019/12/04/le-feminisme-saffiche-dans-la-ville/
Pingback: Le féminisme s’affiche dans la ville | Passage du temps
Sehr schön, Wolf. Bravo. Frauke Habe 2 kleine Fehler gefunden.
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