Johann Gottfried Tulla, der Rheindompteur, in Paris

1824 richtete der badische Lokaldichter Dillmann die nachfolgende etwas ungelenke Huldigung an Johann Gottfried Tulla:

„Lob und Dank sei diesem Mann, der durch seinen weisen Plan,

den er nun zu Ende gebracht, uns vom Rhein hat freigemacht.“[1]

Damit rühmte er das Lebenswerk seines Landsmanns, des badischen Wasserbauingenieurs Johann Gottfried Tulla, den damals noch wilden, ungebändigten Rheinstroms zu „bändigen“. Ein Chronist des 19. Jahrhunderts schrieb über den Fluss, er sei „der schreckliche Feind, der nicht nachlässt zu toben, bis er nicht Land und Leute verdorben hat.“[2]

Um dem abzuhelfen, entwarf Tulla den umfassenden Plan einer „Rectification“ des Flusses. Damit sollten die ständigen Gefahren heftiger Hochwasser beseitigt, das natürliche Überschwemmungsgebiet des Rheins landwirtschaftlich und städtebaulich nutzbar gemacht und  am Oberrhein damals noch verbreitete Krankheiten wie Malaria und Typhus bekämpft werden. Die Begradigung und damit auch Verkürzung des Flusses sollte zudem die bessere Nutzung des Rheins als Wasserstraße ermöglichen.

Allerdings gab es auch Widerstand gegen Tullas Pläne: Bauern, die durch die von Tulla geplanten Durchstiche des Rheins ihr angestammtes Land verloren, beschimpften und bedrohten die Bauarbeiter und Ingenieure, sodass sogar das Militär zu deren Schutz eingesetzt werden musste.  Heute sind es vor allem ökologische Argumente, die gegen Tullas fortschrittsgläubiges Eingreifen in die Natur vorgebracht werden, wobei nicht alle Probleme des Rheins – wie zum Beispiel die industriebedingte Wasserverschmutzung- auf Tulla zurückzuführen sind.

Das Wirken Tullas und seine Bewertung erhielten in den letzten Jahren besondere mediale Aufmerksamkeit: 2017 jährte sich der Beginn der Rheinbegradigung zum 200. Mal,  2020  Tullas Geburtstag zum 250. Mal:  Anlässe für Presseberichte, einen Arte-Film und auch ein Buch über

„Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion.“[3]

Gegenstand des nachfolgenden Berichts ist allerdings nicht eine umfassende Darstellung und Würdigung des Tulla’schen Wirkens. Passend zu einem Paris- und Frankreich-Blog geht es hier um die Bedeutung, die Paris für Tulla hatte. Und diese Bedeutung ist sehr erheblich und vielfältig:

  • Tulla hat sich an der École polytechnique in Paris fortgebildet und dort wichtige Impulse für seine weitere Arbeit erhalten.
  • In Paris hat er seine erste große Denkschrift über die „Rectification“ des Rheins erstellt.
  • Die damals in Paris eingeführte nationale Maßeinheit des Meters hat Tulla angeregt, auch in seinem Heimatland Baden ein auf dem Dezimalsystem basierendes einheitliches Längenmaß einzuführen.
  • Es war auch in Paris, wo er sich -letztendlich allerdings erfolglos- von einem international bekannten Spezialisten für Blasenleiden hat behandeln lassen.
  • Im Zuge dieser Behandlung ist Tulla in Paris gestorben und auf dem Friedhof von Montmartre beigesetzt worden.
Der Wasserbauingenieur Johann Gottfried Tulla in badischer Offiziersuniform[4]

Studium an der École Polytechnique

Tulla wurde vor allem an der Bergakademie im sächsischen Freiberg ausgebildet, wo er von 1794 bis 1796 studierte. Danach erhielt er eine Anstellung im badischen Staatsdienst und spezialisierte sich auf den am Rhein besonders wichtigen Bereich des Flussbaus. In diesem Zusammenhang wurde  er 1801 nach Paris beordert. Die Rheinbegradigung war das größte damalige Bauprojekt Europas, ja „die gesamte Begradigung des Oberrheins gilt bis heute als größte, je vom Menschen erbrachte Erdbewegung in Mitteleuropa“! [4a] Und es war ein grenzüberschreitendes Projekt, das nicht nur Baden, Hessen und die zu Bayern gehörende Pfalz betraf, sondern auch Frankreich. Tulla sollte also seine Sprachkenntnisse verbessern, um sich  mit  den  französischen  Kollegen  adäquat auseinandersetzen zu können. Und er sollte an der von Napoleon gegründeten Pariser  École polytechnique, der besten damaligen naturwissenschaftlichen Hochschule Frankreichs, das französische Ingenieurwesen kennenlernen.[5]

Portal des ursprünglichen Sitzes der École Polytechnique placette Jacqueline-de-Romilly (Paris, 5e)  Foto: Wolf Jöckel

Tulla war einer der ersten Auslandsstudenten an der Ecole Polytechnique, zusammen mit dem Naturforscher Alexander von Humboldt und dem italienischen Physiker Alessandro Volta.

Pavillon Joffre am traditionellen Sitz der École Polytechnique (Paris, 5. Arrondissement) mit dem Leitspruch Pour la Patrie, les Sciences et la Gloire. (Für das Vaterland, die Wissenschaften und den Ruhm)

Den Vorlesungen an der École Polytechnique konnte Tulla aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse zur bedingt folgen. Aber er verinnerlichte das an der Pariser Hochschule praktizierte System der Verbindung von Theorie und Praxis, das er später als Vorbild für die von ihm gegründete Karlsruher Ingenieurschule -dem Vorläufer des heutigen Karlsruher Instituts für Technologie (KIT)- nutzte.

Relief am Portal der École Polytechnique  Foto: Wolf Jöckel

An der École Polytechnique begegnete Tulla auch Gaspard Monge, dem damals europaweit bekannten Autor der darstellenden Geometrie und einem der Gründungsväter der Schule.  Angeregt durch seine Pariser Studien übertrug Tulla die mathematischen Regeln auf die Konstruktion von Uferbestigungen (Faschinenbau).  

Johann Gottfried Tulla nutzte für die Vermessungsarbeiten am Rhein die modernsten Messgeräte seiner Zeit. Steffen Schroeder als Tulla im Arte-Film „Der Flussbaumeister. Wie Tulla den Rhein begradigte“  © Foto: arte

Die Einführung eines einheitlichen Maßes in Baden nach französischem Vorbild

Tullas Plan einer Rectification des Rheins hatte eine neue Vermessung und genaue Kartographierung des Landes zur Voraussetzung.  Das war insofern ein Problem, als durch die napoleonischen Neuordnungen Baden um ein Vielfaches erweitert wurde und die verschiedenen Landesteile des neugeschaffenen Großherzogtums unterschiedliche Maßeinheiten hatten. Da gab es – um nur einige zu nennen- den badischen, Mannheimer, rheinländischen, Nürnberger und bayerischen Fuß, den Röttler und den Badenweiler und Hochberger Juchert.. [5a] Deren Vereinheitlichung war unerlässlich und Frankreich diente dabei Tulla als Vorbild.

Dort hatte es nämlich bis zur Revolution von 1789 ebenfalls eine Vielzahl unterschiedlicher Maße und Gewichte gegeben- eine Handel und Gewerbe beeinträchtigende Begleiterscheinung des Feudalsystems. In den Beschwerdeheften (Cahiers de Doléances) für die Abgeordneten der Generalstände von 1789 spielte dieses Thema eine wesentliche Rolle. Die Nationalversammlung nahm denn auch eine Vereinheitlichung als wesentlichen Beitrag zur nationalen Einheit in Angriff. Entsprechend dem universalistischen Geist der Aufklärungsphilosophie, die ja auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte prägte, sollte das neue System allerdings nicht nur für das revolutionäre Frankreich, sondern für alle Länder und Zeiten („à tous les temps, à tous les peuples“) Bestand haben.

Mit Gesetz vom 7. April 1795 (18 germinal an III) wurde eine einheitliche Maßeinheit für ganz Frankreich eingeführt, das mètre étalon. 1796/97 wurden solche von Chalgrin, dem späteren Architekten des Arc de Triomphe, entworfenen Urmeter im ganzen Land an einer Vielzahl von  öffentlichen Orten installiert.[6] In Paris waren es ursprünglich 16 Urmeter, von denen zwei erhalten sind. Das eine befindet sich noch am ursprünglichen Ort in der rue Vaugirard Nummer 36 gegenüber dem Palais du Luxembourg.

Foto: Wolf Jöckel

Das zweite noch erhaltene ist  -vermutlich seit 1848-  am Sitz des Justizministeriums an der Place Vendôme Nummer 13 installiert.[7]

Foto: Wolf Jöckel

Auf diesem Urmeter ist gut zu erkennen, dass es sich bei der neuen Maßeinheit um ein Dezimalsystem handelt, eine revolutionäre Neuerung.  

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Paris wurde der mittlerweile 34­-Jährige zum Oberingenieur ernannt. Es wurden ihm die seinem Rang entsprechenden Aufgaben übertragen. Dazu gehörte auch die Mitarbeit im Gremium zur Vereinheitlichung der Maße und Gewichte im Großherzogtum Baden. Dabei gab es zwei Leitlinien: Das bisher gebräuchliche Doudezimalsystem sollte durch das in Frankreich etablierte Dezimalsystem ersetzt werden, das gerade für die Ingenieure und damit auch die Rheinkorrektur ein erheblicher Fortschritt war. Auch der Meter als Maßeinheit nach französischem Vorbild bot sich an. Allerdings „war die Nachahmung des französischen Vorbildes politisch unerwünscht. Tulla umging die politische Hürde, indem er das neue badische Maß am Meter ausrichtete, diesen jedoch nicht einfach übernahm.“[8] Die neue badische Ruthe, eingeteilt in zehn Fuß, entsprach drei französischen Metern und der neue badische Fuß, eingeteilt in 10 Zoll- entsprach dementsprechend drei französischen Dezimetern.[9]

 Jetzt mussten allerdings die neuen Maße und Gewichte der Bevölkerung vermittelt werden. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte Johann Peter Hebel mit seiner Kalendergeschichte „Des Adjunkts Standrede über das neue Maß und Gewicht“ aus dem Jahr 1812. Der Beamten-Gehilfe steht in einem Wirtshaus auf einem Stuhl und erläutert sehr anschaulich den Anwesenden die Vorteile des neuen Systems:

Erstlich, so war’s bisher in jeder Herrschaft, in jedem Städtlein anders, andre Ellen, andre Schoppen, andre Simri oder Sester, anderes Gewicht. Jetzt wird alles gleich von Überlingen oder Konstanz an, am großen See, bis nach Lörrach im Wiesenkreis und von da durch das ganze Land hinab bis nach Wertheim im Frankenland. Niemand kann mehr irregeführt werden, wie bisher, wenn er an einen fremden Ort kommt und fragt: „Wie teuer die Elle Tuch, oder der Vierling Käs?“ Der Wirt sagt: „So und so viel.“ Wenn er nun meint, hier sei der Käs wohlfeil, und sagt: „Wißt Ihr was? bringt mir lieber ein halbes Pfund“, so bekommt er leichteres Gewicht, und der Käs ist teurer als daheim. Das geht in Zukunft nicht mehr an. Ja es kann alsdann jeder Händler durch das ganze Land seine Elle und seinen Pfundstein selber mit sich führen, ist er in Überlingen probat, so ist er’s auch in Wertheim. [10]

Besonders schön auch die volkstümliche Begründung für die Einführung des Dezimalsystems:

Der große Vorteil aber, der durch die neue Einteilung der Maße gewonnen wird, zeigt sich im Rechnen, weil alles in 10 Teile geht, und keine ungeraden Zahlen oder Brüche im Multiplizieren oder Dividieren zu fürchten sind. Als nämlich noch keine Rechnungstafeln, kein Einmaleins, kein Schulmeister und kein Herr Provisor im Land war, zählten unsere Uraltem an den Fingern. Einmal 10, zweimal 10, dreimal 10; – bis auf zehnmal zehn usw. Daher entstanden die Hauptzahlen 10, 20, 30 und bis auf 100. Item 10 mal 100 ist tausend;
10 mal 1000 ist 10 000 und so weiter. Demnach so ist diese Rechnungsart die natürlichste und ist dem Menschen schon im Mutterleib mit seinen Fingern angewachsen und angeboren und unsere Alten haben’s wohl verstanden mit ihren 3 alten Zahlen, als da sind I und V und X. Solches kommt auch von den Fingern her.

Allerdings dauerte es noch bis 1827, bis das neue System im ganzen Großherzogtum Baden eingeführt war.

Vielleicht trug auch die Erfahrung des revolutionären Frankreichs dazu bei, dass sich Tulla für die Abschaffung der Frondienste einsetzte. Schon 1807, bald nach seiner Rückkehr aus Paris, verfasste er eine Denkschrift, in der er vorrechnete, „dass im Frondienst erstellte Flussbauten um ein Fünftel teurer wären als die im Taglohn ausgeführten Arbeiten. Die Abneigung der zum Frondienst Verpflichteten führe zu unzureichender Arbeitsleistung. In Vorträgen warb Tulla für seine Ansichten, was schließlich zum Erfolg führte.“  In einem Erlass vom14. Mai 1816 wurden in Baden die Flussbaufronden aufgehoben und durch ein vom Land aufgebrachtes Flussbaugeld ersetzt.[11]

1827 Ernennung zum Offizier der französischen Ehrenlegion

Am 21. August 1827 wurde „Jean Godefroi“ Tulla zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt. Gerade für einen Ausländer war dies eine besondere Ehre,  wurden mit der Ehrenlegion doch besondere Verdienste für die Nation  (services éminents à la Nation) gewürdigt. Aber die Rheinkorrektur war ja nicht nur für die angrenzenden deutschen Staaten, sondern auch für das zu Frankreich gehörende Elsass von besonderer Bedeutung. Anlass der Würdigung war der Abschluss eines Grenzvertrags zwischen Baden und Frankreich: Im Zuge der Rheinregulierung musste ja die Grenze neu festgelegt werden, und dies war auch dauerhaft möglich, weil der Lauf des Rheins jetzt den Plänen der Wasserbau-Ingenieure, vor allem Tullas, folgte und nicht mehr den Launen der Natur.

Verleihungsurkunde der Ehrenlegion für Tulla,  colonel,  Directeur des Ponts et Chaussees du Grand-Duché de Bade vom 21. August 1827[12]

Die Ehrenlegion war 1802 von Napoleon, damals 1. Konsul, gegründet worden, wurde aber nach seinem Sturz von dem Bourbonen-König Ludwig  XVIII. weitergeführt. Jetzt allerdings als königlicher Orden. Da wurde dann natürlich das Bild Napoleons ersetzt durch das des ersten Bourbonen-Königs Heinrich IV. bzw. der napoleonische Adler durch die Bourbonen-Lilien.[13]

In der relativ friedlichen Restaurations-Zeit wurden immer mehr bedeutende Zivilisten mit der Ehrenlegion ausgezeichnet, darunter Victor Hugo (im Alter von 23 Jahren!), Lamartine, Chateaubriand und Jean-François Champollion, dem die Entzifferung der ersten Hieroglyphen gelang: Da befand sich Tulla also in bester Gesellschaft.

Auf dem oben abgebildeten Portrait Tullas – hier ein entsprechender Ausschnitt- ist der Orden der Ehrenlegion gut zu erkennen: Er hängt neben dem ganz links befestigten badischen Verdienstorden (dem Orden des Zähringer Löwen), der Tulla noch einen Monat vor seinem Tod von seinem Landesherren verliehen worden war. Die Erfahrung habe „die Richtigkeit Ihrer Vorschläge wegen der Rheinrectification“ bewiesen.[14]  Ganz rechts hängt der Verdienstorden der Bayerischen Krone, halbrechts der russische Orden des Heiligen Wladimir. Den hatte er 1814 erhalten, weil er mit vom ihm geleiteten Straßenbaumaßnahmen den Übergang der im Kampf gegen Napoleon verbündeten Armeen, also auch der russischen, über den Rhein südlich von Straßburg  erleichtert hatte.[15]  

Behandlung bei Dr. Civiale im hôpital Necker und Tod in Paris

Tulla hatte schon seit seinem Pariser Studienaufenthalt mit gesundheitlichen Beschwerden zu tun. Ende der 1820-er Jahre verschlechterte sich aber sein Gesundheitszustand zunehmend. Auch eine längere Arbeitspause und ein Kuraufenthalt konnten daran nichts ändern. Als Ursache  seiner vielfältigen  Beschwerden wurden schließlich Blasensteine  festgestellt und er wurde 1827 zur Behandlung an den damals besten urologischen Facharzt Jean Civiale nach Paris überwiesen. Der arbeitete an dem 1778 gegründeten und sehr fortschrittlichen hôpital Necker: Es war das erste Pariser Krankenhaus, in dem jeder Patient ein eigenes Bett zur Verfügung hatte.[16]

Eingang des Krankenhauses, rue de Sèvres, 15. Arrondissement  Foto: Wolf Jöckel

Civiale hatte eine neue Methode der Beseitigung von Blasensteinen erfunden:  Es handelte sich um eine nicht-invasive bzw. minimal-invasive Technik der Lithotripsie, bei der die Blasensteine in der Harnblase durch ein spezielles durch die Harnröhre eingeführtes Instrument zertrümmert wurden. Civiale war die international anerkannte Kapazität auf diesem Gebiet: 1827 hatte er ein Buch über seine Methode veröffentlicht, das zum Standardwerk  wurde,  1826 und 1827 war er für seine Erfindung und die Vielzahl der mit ihr praktizierten erfolgreichen Operationen (insgesamt etwa 1500) vom Institut royal de France ausgezeichnet worden. [17] Auch aus dem Ausland kamen Patienten nach Paris, um von ihm operiert zu werden. So auch der Astronom Franz Xaver von Zach, Lehrer des Mathematikers Gauß und Alexander von Humboldts, der in einem Brief aus Paris schrieb:

„Ein neuer Beweis, wenn es noch einen bedarf, dass Civiale’s Methode unfehlbar, und unübertreffbar ist, bewährt sich nun abermal, an den Baadischen Ingieurs-Obrist Tulla aus Carlsruhe, welcher auf mein Anrathen und Zureden hierher gekommen ist, um sich von Civiale operieren zu lassen. Er ist mein Nachbar, und logirt in einer Stube neben mir.“

Die ersten Behandlungen zur Zertrümmerung der Steine seien sehr erfolgreich gewesen, bald werde Tulla wieder „ganz hergestellt“ sein. Auch Tulla selbst war sehr überzeugt von der Methode Civiales. Er schickte Operationsbestecke in die Heimat, „dass man nicht genöthigt werden wird nach Paris zu gehen um sich von den Steinen befreyen zu lassen.“ Anfang Februar 1827 schrieb er in einem Brief:

„Ich sehe nun dem Ende meiner Kur getrost entgegen und hoffe, dass solches in künftiger Woche erfolgen dürfte. Nach Beendigung meiner Kur werde ich noch 4 Wochen  hier verbleiben und dann meine Rückreise antreten.“

Dann allerdings verschlechterte sich Tullas Gesundheitszustand und er verstarb am 27. März 1828. „Um den Verdacht, der Tod wäre als Folge der Blasenoperationen aufgetreten, auszuräumen, obduzierte Civiale den Leichnam Tullas und stellte krampfhafte Erstickungsanfälle als Todesursache fest.“ Diese Diagnose übernahm dann auch Philipp Jacob Scheffel in seinem Nekrolog auf Tulla. [18] Durch das Internet geistert auch die Version, Tulla sei der Malariakrankheit erlegen – so sogar in einem professoralen Fachbeitrag des Universitätsklinikums Heidelberg![19]  Es wäre ja auch in der Tat eine Ironie des Schicksals, wenn Tulla gerade an der Krankheit gestorben wäre, die er mit seinem Lebensprojekt bekämpfen wollte.[20]

Heute ist das hôpital Necker eine Kinderklinik. Dazu passend der von Keith Haring bemalte Turm.  Foto: Wolf Jöckel

Das Grabmal auf dem Friedhof von Montmartre 

Tulla wurde auf dem Friedhof Montmartre in Paris beigesetzt und seine Grabstelle kaufte die badische Landesregierung „auf ewig“. Sie liegt, problemlos zu finden, in der ersten Gräberlinie der Avenue Berlioz, an der Ecke der 26. Division. Ganz in der Nähe übrigens, ebenfalls an der Avenue Berlioz, in der 27. Division liegt übrigens das Grab von Heinrich Heine. [20a]

Foto: Wolf Jöckel

Inzwischen steht das Grabmal nicht mehr so frei wie auf der zeitgenössischen Abbildung[21] und die Inschrift auf der Schauseite ist stark verwittert.

Foto: Wolf Jöckel

Nachfolgend der Text der Würdigung auf der Schauseite. Es werden Tullas Rang (Oberst), seine -in französischer Terminologie bezeichnete Funktion (Generaldirektor „der Brücken und Straßen“, was aber in Baden auch den Wasserbau einschloss), seine vier Orden und die Geburts- und Sterbedaten mit den entsprechenden Orten genannt:

JEAN GODEFROY TULLA,

colonel, directeur général / des ponts et chaussées / du grand-duché de bade,

chevalier de l’ordre grand-ducal / du lion de zaehringen / officier de l’ordre royal de la légion-d’honneur,

chevalier de l’ordre impérial de st wladimir de russie/ et de l’ordre royal de la couronne de bavière,

né a carlsruhe le 20 mars 1770

décédé à Paris le 27 mars 1828.[22]

Auf der Rückseite des Grabmals wird mitgeteilt, dass es von den badischen Freunden Tullas errichtet worden sei, um seine „Talente, Redlichkeit und Verdienste“ zu würdigen.

Hommage / rendu à la mémoire / des talents, de la probité  / et du mérite / du défunt / par ses amis/

dans le grand-duché de bade. Foto: Wolf Jöckel

Foto: Wolf Jöckel

Das Relief auf dem Grabstein zeigt einen Plan mit einem wild mäandernden Rheinabschnitt und dem begradigten „Neurhein“. Dabei soll es sich um das „Altriper Eck“ handeln, einen der technisch schwierigsten Abschnitte der Rheinbegradigung nahe dem pfälzischen Dorf Altrip südlich von Mannheim.[23] Es war der letzte Abschnitt der von Tulla geplanten Rheinkorrektur zwischen Basel und Mannheim mit seinen insgesamt 18 Durchtrennungen von Rheinschlingen. Erst 1865, also 40 Jahre nach Tullas ersten Plänen, fand hier der erste Spatenstich statt und erst 1874 war das Werk vollendet: Also gewissermaßen Tullas Vermächtnis.[24]

In einem nachfolgenden Beitrag wird es um das zwischen Mainz und Mannheim gelegene Naturschutzgebiet „Kühkopf“ gehen: Die „Rectificationen“ des Rheins haben nicht nur natürliche Lebensräume zerstört, sondern auch Inseln der ursprünglichen Rheinauen wie den „Kühkopf“ geschaffen.

Literatur

Johann Gottfried Tulla, Ueber die Rektifikation des Rheins: von seinem Austritt aus der Schweitz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogthum Hessen. Karlsruhe: Müller 1825  https://digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/5654478

Franz Littmann, Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion. Neulingen: J.S. Klotz Verlagshaus 2020

Norbert Rösch, Die Rheinbegradigung durch Johann Gottfried Tulla.   
zfv – Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement  4/2009    

Philipp Jakob Scheffel, Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla: gestorben in Paris am 27. März 1828. Karlsruhe 1830  Inhouse-Digitalisierung / Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla (blb-karlsruhe.de)

Nicolle Zerratin und Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. Beiträge zur Stadtgeschichte, Rastatt 2015


Dies ist ein Beitrag von Wolf Jöckel aus https://paris-blog.org/ . Sollte er unter dem Autorennamen Paul Lucas auf der Seite  https://www.voyages-en-patrimoine.com/ veröffentlicht werden, handelt es sich um einen Akt der Piraterie und um einen eklatanten Verstoß gegen das Urheberrecht.

Anmerkungen

[1] Zitiert in: Johann Gottfried Tulla. 20.3.1770 – 27.3.1828  Ansprachen und Vorträge zur Gedenkfeier und Internationalen Fachtagung über Flußregulierungen aus Anlaß des 200. Geburtstages. Karlsruhe 9.-11.1970. Karlsruhe 1970

Beitragsbild: Grabinschrift mit französischen Vornamen vom Friedhof Montmartre. Foto: Wolf Jöckel

[2] https://www.planet-schule.de/wissenspool/lebensraeume-im-fluss/inhalt/hintergrund/mensch-und-fluss/rheinbegradigung-i.html

[3] Franz Littmann, Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion. Neulingen: J.S. Klotz Verlagshaus 2020

Der Flussbaumeister. Wie Tulla den Rhein begradigte. Arte August 2021

[4] Bild aus: https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/stadtmuseum/tulla.de

  Stadtarchiv Karlsruhe 8PBS III 1880

[4a] Informationstafel Umweltbildungszentrum Schatzinsel Kühkopf

[5] Norbert Rösch, Die Rheinbegradigung durch Johann Gottfried Tulla.  Zfv
zfv – Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement  4/2009  134. Jahrgang, S. 242–248

[5a] Eberhard Henze, Technik und Humanität. Johann Gottfried Tulla. Mannheim 1989, S. 16

[6] https://metrologie.entreprises.gouv.fr/fr/la-metrologie/point-d-histoire/histoire-du-metre

[7] http://www.justice.gouv.fr/histoire-et-patrimoine-10050/le-metre-etalon-de-la-place-vendome-restaure-et-reinstalle-33912.html  

[8] Zarratin, S. 16 und Littmann, S. 24

[9] In Hessen übrigens hatte man die politischen Vorbehalte gegenüber dem französischen Maßsystem offenbar nicht: Da entschied der Darmstädter Großherzog „dass das ganze französische Maß und Gewicht System hier eingeführt werden soll, und dass dazu die genauest abgegliechenen Exemplare jetzt aus Paris verschickt sind.“Siehe Zarratin, S. 16/17. Zitiert aus einem Brief von Carl Kroencke, dem Wasserbauingenieur im Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Kroencke setzte in Hessen die von Tulla in Baden begonnene Rheinbegradigung fort.

[10] Text und Bild aus: http:/hausen.pcom.de/jphebel/geschichten/ajunkt_standrede_ma%C3%9F_gewicht.htm

[11]  Zerratin/Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla,  S.18

[12] https://www.leonore.archives-nationales.culture.gouv.fr/ui/  und https://www.leonore.archives-nationales.culture.gouv.fr/ui/notice/363977

[13] https://www.proantic.com/display.php?id=229038

[14] Aus der Begründung der Ordensverleihung. Zitiert bei Zerratin/ Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. S. 28/29

[15] Dieser Orden wurde auch oft an Ausländer -vor allem Preußen- verliehen. Im Verzeichnis der Träger des Ordens von Wikipedia ist Tulla allerdings nicht enthalten. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kategorie:Tr%C3%A4ger_des_Ordens_des_Heiligen_Wladimir&pageuntil=Strantz%2C+Gustav+Adolf+von%0AGustav+Adolf+von+Strantz#mw-pages

[16] https://histoire.inserm.fr/les-lieux/hopital-necker-enfants-malades 30. 8. 2019

[17] Von der Lithotritie oder Zerreibung des Steines in der Blase. Dr. Giviale Paris 1827.

Im Nouveau Dictionnaire de Médecine, Chirurgie etc (2. Band, Paris 1826) wird auf die Publikationen Civiales und seine Auszeichnungen und Erfolge verwiesen.

[18] Zerratin/ Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla, S. 26. Dort auch die Zitate von Zach und Tulla.

Philipp Jakob Scheffel, Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla, S. 19

[19]  Kommt die Malaria zurück in den Rhein-Neckar-Raum? – Klinikticker Online   

[20] Ironie du sort, l’ingénieur allemand succombe en 1828 à l’un des ennemis qu’il combattait : le paludisme.   https://www.telepro.be/decouverte/lhomme-qui-raccourcit-le-rhin.html

[20a] Siehe den Blog-Beitrag zu Heine: https://paris-blog.org/2017/10/02/mit-heinrich-heine-in-paris/

[21] Les principaux monuments funéraires/Tulla – Wikisource

[22]  Grabinschriften weitgehend übernommen aus: https://fr.wikisource.org/wiki/Les_principaux_monuments_fun%C3%A9raires/Tulla  

[23] https://wiki.edu.vn/wiki64/2022/02/13/johann-gottfried-tulla-wikipedia/  

[24] http://www.hgv-altrip.de/index.php/heimat-und-geschichte/alle-beitraege/1109-die-kuerzeste-und-schwierigste-korrektur-des-rheins.html

Weitere geplante Blog-Beiträge:

Das Château Rosa Bonheur in By bei Paris

Naturparadies aus Menschenhand: Das Europareservat Kühkopf

Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen, Teil 2: Der Kult der großen Männer

Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf

Der König der Tiere: Das Labyrinth und die Menagerie Ludwigs XIV. im Park von Versailles

4 Gedanken zu “Johann Gottfried Tulla, der Rheindompteur, in Paris

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