Es gibt auf diesem Blog schon zwei Beiträge zur Normandie, deren Gegenstand die Landung der Alliierten im Juni 1944 ist, konkret: der einerseits sehr touristisch- offensive, andererseits aber auch der eher verschämt-zurückhaltende Umgang mit diesem Ereignis. Diesmal steht der Mont-Saint-Michel im Mittelpunkt, an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne gelegen. Den vielen Berichten über den „heiligen Berg“ im Meer kann man Neues nicht mehr hinzufügen, auch wenn manches vielleicht doch nicht so bekannt sein mag- zum Beispiel, dass der Mont- Saint-Michel vom Beginn der Neuzeit bis 1863 als Staatsgefängnis diente, gewissermaßen als „Bastille des mers“, wie er auch genannt wurde. [1]
Zu den prominenten Gefangenen in den finsteren „cachots“ gehörte auch Auguste Blanqui, von dem schon einmal im Rahmen des Spaziergangs auf dem Père Lachaise die Rede war.[1a]
Inzwischen ist der Mont- Saint- Michel vor allem eine touristische Attraktion ersten Ranges. Wenn man selbst Tourist ist, darf man sich ja nicht über andere Touristen beschweren, auch wenn man gerade in Ferienzeiten vielleicht Schwierigkeiten haben wird, einen Parkplatz für sein Auto zu finden oder sich, am Berg angekommen, nur mühsam den Weg nach oben bahnen kann. Der Mont- Saint- Michel ist eben alles andere als ein „Geheimtipp“: Nach dem Eiffel-Turm und dem Schloss von Versailles nimmt er mit mehr als 2,5 Millionen Besuchern im Jahr auf der Rangliste der meistbesuchten touristischen Ziele Frankreichs immerhin den dritten Platz ein.
Eine weniger massentouristische Alternative ist es, auf einem alten Pilgerweg den Berg zu Fuß zu erreichen. So wandert man durch ein Weltnaturerbe der UNESCO zu einem Weltkulturerbe- eine übrigens weltweit einmalige Gelegenheit. Möglich ist das allerdings aufgrund nur im Rahmen einer geführten Gruppe.
Grund dafür sind die besonderen topographischen Verhältnisse und die Gezeiten in der Bucht. Sie ist zwar in den letzten Jahrhunderten immer mehr verlandet, so dass sie nur noch bei besonders hohen Wasserständen von allen Seiten von Waser umspült war – so wie das auf alten Stichen noch eindrucksvoll zu sehen ist.[2]
Die Verlandung der Bucht wurde wesentlich beschleunigt durch den Bau eines Dammes vom Festland zur Klosterinsel, um den motorisierten Touristen einen einfachen Zugang zu ermöglichen. Inzwischen wurde dieser Damm für den privaten Autoverkehr gesperrt und der große Parkplatz am Fuß des Mont-Saint-Michel beseitigt. Und vor allem: Der massive Deich wurde durch eine Brücke ersetzt und der in die Bucht mündende Fluss Couesnon mit einer neuen Absperrung versehen. So kann das aufgestaute Wasser phasenweise abgelassen werden, so dass es mit hohem Druck ausströmt. Die durch die Flut in die Bucht gelangten Sedimente werden dadurch wieder ausgewaschen und das Wasser kann wie einst bei Flut den Klosterberg umspülen.
Möglich geworden sind diese Arbeiten übrigens durch einen wesentlichen Beitrag des Europäischen Regionalfonds (FEDER), worauf eine aktuelle Ausstellung auf dem gerade eröffneten Seine-Park in Paris, der früheren Autostraße Voie Pompidou, hinweist.
Bei Ebbe ist es aber nach wie vor möglich, die Bucht zu Fuß zu überqueren. Denn immerhin gibt es hier die größte Differenz an der Atlantikküste bzw. in ganz Europa zwischen Ebbe und Flut von bis zu 12 Metern Höhenunterschied. Das bedeutet, dass bei Ebbe die Bucht weitgehend trocken fällt, die Flut dann allerdings auch mit großer Geschwindigkeit in die Bucht einströmt. Aber gerade deshalb kann man sich nicht selbst auf den Weg machen, sondern benötigt einen Führer, der die Gezeiten, die Untiefen, die Schlammlöcher und Flüsse in der Bucht kennt und auch die Zeiten, wann die Absperrung des Couesnon geöffnet wird. Im Mittelalter galt der Weg zum Klosterberg als äußerst gefahrvoll. „Gehst du nach Saint-Michel, vergiss nicht, vorher dein Testament zu machen“, steht in alten Schriften. „Denn bei Flut kommt das Meer mit derartiger Macht wie ein galoppierendes Pferd.“[3]
Um solchen Gefahren zu entgehen, muss man sich einer Führung anvertrauen. Führungen werden (u.a.) angeboten von der Maison de la baie de Genêts am Bec d’Andaine Im Süden der Halbinsel Cotentin. Es ist unbedingt erforderlich, sich dort (in Ferienzeiten frühzeitig) anzumelden und entsprechend auszurüsten: in kälteren Jahreszeiten mit warmer Kleidung und Gummistiefeln, bei wärmeren Temperaturen mit Mütze, wasserfesten Sandalen –auch wenn man die meisten Strecken barfuß geht- genügend Trinkwasser und Sonnenschutz.[4]
Es wird von den Veranstaltern ausdrücklich darauf hingewiesen, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, also 15 – 30 Minuten vor dem festgelegten Termin. Ist man etwas zu früh angekommen, kann man die Zeit bis zum Beginn der Wanderung gut in den ruhigen Dünen am Strand verbringen. Man hat dann schon den Blick auf das Felseninselchen Tombelaine, das als Zufluchtsort von Eremiten und im hundertjährigen Krieg als Fort diente und das man auf dem Weg zum Mont-Saint- Michel passieren wird. Und man sieht von hier aus die wildeste, schroffste Seite des Mont-Saint-Micel mit den Stützmauern des gotischen Klosters.
Und jetzt noch einmal aus der Vogelperspektive:
In den ruhigen Dünen kann man sich einstimmen auf die Wanderung zum Berg (ca 7 km). Der Weg zum Mont-Saint-Michel gehörte im Mittelalter zu den bedeutendsten christlichen Pilgerpfaden. Das beruht –wie meist in solchen Fällen- auf einer Legende: Danach forderte der Erzengel Michael den Bischof von Avranches, Aubert, im Schlaf dreimal auf, auf dem damals noch Mont-Tombe genannten Felsen, einer druidischen Kultstätte, ein ihm geweihtes Heiligtum zu errichten. Als Aubert angesichts der topographischen Verhältnisse zögerte, diese Herkulesaufgabe anzugehen, verlieh der Erzengel seiner Aufforderung Nachdruck, indem er einen Daumenabdruck auf dem Kopf des Bischofs hinterließ. Daraufhin machte sich Aubert daran, den Wunsch des Erzengels zu erfüllen und wurde dafür immerhin auch heiliggesprochen. In der Schatzkammer der Basilika Saint-Gervais d’Avranches wird der Schädel des zögerlichen Bischofs als Reliquie aufbewahrt. [5]
Der Traum des heiligen Aubert: Skulptur im Kloster des Mont-Saint-Michel
Geht dann die Wanderung los, sollte man nicht erschrecken, wenn man viele Menschen um sich herum sieht, die sich auch auf den Weg machen wollen. Man wird in überschaubare Gruppen eingeteilt, denen jeweils ein eigener Führer zugeordnet wird. Dazu geht es in gebührendem Abstand los, jede Gruppe findet einen eigenen Weg und man kann durchaus auch etwas Abstand von den anderen halten, wenn man denn will. Wer also auf Erläuterungen des Führers keinen Wert legt –oder sie sowieso nicht versteht- kann sich in aller Ruhe und Bewunderung dem heiligen Berg nähern und die unterschiedlichen Reliefs des Bodens bewundern und das Wasser und den Schlick unter den Fußsohlen spüren.
Ist man dann fast am Fuß des Mont-Saint-Michel angelangt, wartet noch ein besonderes Abenteuer auf die Wanderer.
Es sind die Schlammlöcher, die sogenannten „sables mouvants“, die es dort gibt und die von den Führern gerne gezeigt werden. Man kann selbst einen Versuch machen, indem man an einer entsprechenden Stelle etwas mit den Füßen –oder sicherheitshalber erst einmal mit einem Fuß- herumruckelt und merkt, wie man langsam tiefer in den Schlamm einsinkt. Das ist ein ganz besonderes Gefühl, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Allerdings hatte ich dann einige Schwierigkeiten, das bis zum Knie im Schlamm steckende Bein wieder mit eigener Kraft herauszuziehen.
Da kann man sich dann gut vorstellen, dass das Abenteuer im Schlammloch auch einmal zu einem echten Problem werden kann, zumal das Phänomen schon im Teppich von Bayeux eine Rolle spielt: Dieses wunderbare gestickte Stoffband von fast 70 Metern Länge aus dem Ende des 11. Jahrhunderts erzählt die Geschichte der Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer. In einer Episode der Vorgeschichte wird erzählt, wie Harald Godwinson (auf dem Teppich: Harold dux), den Wilhelm später (1066) in der Schlacht von Hastings besiegt, mit seinen Gefährten am Mont- Saint-Michel vorbeireitet und den Couesnon (auf dem Teppich: flumen Cosnoni) durchquert.
Ein Pferd mit seinem Reiter kommt im Treibsand zu Fall und zwei von Harolds Leuten sinken so tief in den Sand ein, dass er sie herausziehen muss. (auf dem Teppich: trahebat de arena)
In der Lokalpresse habe ich einen schon etwas älteren Zeitungsbericht gefunden, in dem von drei Touristen berichtet wird, die ebenfalls in den sables mouvantes stecken geblieben sind. Sie waren –in Begleitung eines Führers- zum Mont-Saint-Michel gewandert und so tief in ein Schlammloch geraten, dass sie weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe der anderen Gruppenmitglieder oder des Führers wieder herauskamen. Auch die auf dem Klosterberg stationierte Feuerwehr war machtlos. Es musste also erst ein Hubschrauber alarmiert werden, der die im Schlamm feststeckenden Touristen herausziehen konnte. Immerhin endet der Zeitungsbericht beruhigend: Die drei Touristen seien keines Falls traumatisiert und würden sich sicherlich noch lange an ihr Abenteuer am Mont-Saint-Michel erinnern.[6]
Für eine ausführliche Besichtigung reicht die Zeit auf dem Klosterberg nicht. Aber für einen Kaffee am Rande des Wegs hoch zur Kirche bestimmt – oder noch besser für ein kleines Picknick an einem ruhigen Platz, von dem aus man einen wunderbaren Ausblick auf die Bucht und den Tombelaine-Felsen hat.
Dass sich dann auch hungrige Gäste beim Picknick einstellen, ist übrigens sehr wahrscheinlich.
Viel Zeit bleibt aber nicht, denn man wird bald wieder von einem Bus abgeholt und zum Bec d’Andaine zurückgebracht oder man geht wieder zu Fuß zurück. Wir haben uns für diese Variante entschieden und es nicht bereut; auch wenn man dann nicht mehr den Klosterberg vor Augen, sondern im Rücken hat.
Aber der Charakter der Wanderung war auf dem Rückweg völlig verändert. Jetzt floss das Wasser nicht mehr ab wie auf dem Hinweg, sondern es begann wieder in die Bucht einzuströmen. Da wanderte man öfters durch seichtes Wasser und stellenweise durch Priele mit einiger Strömung: auch eine schöne Erfahrung!
Und die Stimmung des späten Nachmittags mit einem heraufziehenden Gewitter hatte einen ganz besonderen Reiz.
Also unbedingt empfehlenswert! Einziger Nachteil: Die Zeit auf dem Mont-Saint-Michel war –zumindest in unserem Fall- ausgesprochen kurz und reichte lediglich für einen Kaffee und einen kleinen Rundgang. Aber es hing wohl auch mit den Gezeiten und dem drohenden Gewitter zusammen, dass unser Führer auf einen raschen Aufbruch drängte. Die Busfahrer hatten wohl etwas mehr Zeit. Aber zu einer angemessenen Besichtigung des Klosterbergs hätte auch bei ihnen die Zeit nicht ausgereicht. Das muss man wissen, wenn man sich auf die Wanderung begibt. Und es werden ja auch Tagesausflüge angeboten mit Wanderung hin und zurück und ausreichender Zeit zur Besichtigung.
Nähere Informationen:
Es werden verschiedene Varianten für die Wanderung zum Mont-Saint-Michel angeboten:
– z.B. die traversées commentées, also Wanderungen durch die Bucht mit ausführlichen Erläuterungen des Führers – Rückweg zu Fuß oder mit Bus
– die nicht kommentierten Wanderungen, ebenfalls mit den beiden Rückweg-Varianten (allerdings gibt der Führer auch da interessante Erläuterungen, jedenfalls für diejenigen Wanderer, die sich in seiner Nähe halten)
– Tagesauflüge mit Wanderung durch die Bucht und zurück und Zeit zur Besichtigung des Klosters ( traversée Merveille de l’Occident en Baie du Mont Saint Michel)
Ausrüstung: Von April bis Oktober mit nackten Füßen und Shorts. In jedem Fall mitzubringen: Rucksack, Pullover, Regenjacke, Handtuch, Wasserflasche, ggf. Picknick, Sonnenschutz.
Ausgangspunkt: Bec d’Andaine oder St-Léonard (auf der Karte: Pointe du Grouin du Sud) – beides von Avranches aus gut zu erreichen und ausgeschildert.
Konditionen (Preise, Treffpunkte, Zeiten) und (unbedingt erforderliche) Reservierung im Internet unter:
http://www.traverseebaie.com/ oder
Anmerkungen
[1] siehe dazu die Neuerscheinung 2022: Jérémie Halais, La Prison du Mont-Saint-Michel:1792- 1864. 2022
[1a] Bild und weitere Infos dazu: http://motsetmauxdemiche.blog50.com/archive/2013/03/29/vivre-libre-ou-mourir.html http://www.infobretagne.com/mont-saint-michel.htm
[2] Plakate von der Umfassungsmauer des Hôtel des Invalides (Werbung für das musée des plans reliefs)- aufgenommen im Mai 2017
[3] https://www.welt.de/reise/nah/article106365619/Der-Mont-Saint-Michel-versinkt-im-Schlamm.html
[4] http://www.traverseebaie.com/ Näheres am Ende des Beitrags unter „Praktische Informationen“
Karte aus: Le Guide Vert Normandie Cotentin. 2013, S. 292
[5] Le Mont-Saint-Michel à travers baie. In: Libération 27./28.August 2016, Beilage voyages, S. X/XI
Bild bei: https://fr.wikipedia.org/wiki/Aubert_d%27Avranches
[6] http://www.lamanchelibre.fr/actualite-35862-mont-saint-michel-trois-touristes-enlises-dans-les-sables-mouvants.html
eingestellt Mai 2017
Vorschlag für eine kleine Wanderung durch die Salzwiesen
Empfehlenswert ist auch eine kleine Abend- Wanderung durch die Salzwiesen mit wunderbarem Blick auf den Mont Saint-Michel: Man kann das Auto i.A. gut an der Einmündung der D 280 in die von Avranches zum Mont Saint-Michel führende D 275 abstellen. Von dort wandert man ca 45 Minuten in Richtung des heiligen Berges. Es gibt viele Trampelpfade.
Abends wenn die Schafe in ihre Ställe zurückgekehrt sind und die Sonne untergeht, bietet sich das besonders an.
Geplante Beiträge/demnächst auf dem Blog:
- Die Kirche Saint -Sulpice in Paris , Teil 1 (Die Musik, die Krypta, Pigalle und die Säulen von Leptis Magna)
- Die Kirche Saint- Sulpice in Paris, Teil 2 (Der Gnomon, der Kampf mit dem Engel von Delacroix und das café de la mairie)
- Street-Art in Paris
- Sommer in Paris: Baden im Bassin de la Villette, in der Marne und auf/in der Seine
- Das deutsche Haus, „la maison Heinrich Heine“, in der Cité internationale universitaire in Paris
Lieber Wolf,
auf Eure Empfehlung sind wir ja im letzten Jahr von Bec d’Andaine zum Mont gelaufen. Ein herrliches Erlebnis. Wenn ich das nochmal machen würde, würde ich auch so wie Ihr zu Fuß zurücklaufen. Dann braucht man sich den gigantischen Parkplatz und Shuttle-Bus-Wahnsinn nicht anzusehen.
Wolfgang
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Lieber Wolf, ein sehr schöner Bericht, der in mir Erinnerungen weckt.
Mit meinem Vater war ich 1980 dort.
Danke Dir
Bärbel
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