„L’homme qui marche“ (der schreitende Mann) von Alberto Giacometti: Eine exquisite Ausstellung in einem exquisiten Pariser Ambiente

Vom 4. 7. – 29.11.2020 wird im Pariser Institut Giacometti die Ausstellung  L’homme qui marche gezeigt:

  • Eine exquisite Ausstellung, geht es hier doch um eine Ikone der modernen Kunst – mit entsprechenden Konsequenzen für den Kunstmarkt:  2010 wurde ein Exemplar des schreitenden Mannes –es gibt mehrere Versionen- für 74 Millionen Euro versteigert und erzielte damit den bis dahin höchsten Preis, der je für ein Kunstwerk auf einer Auktion bezahlt wurde.[1]  Dieses Werk in seinem Kontext zu präsentieren, ist niemand besser geeignet  als  die Stiftung Giacometti, die den Nachlass des Künstlers verwaltet.
  • Präsentiert wird diese Ausstellung dazu an einem ganz besonderen Ort, dem Institut Giacometti. Das hat seit 2018 seinen Sitz in einem heute unter Denkmalschutz stehenden wunderbaren Jugendstil/Art déco- Stadtpalais in Montparnasse, einem unglaublichen Ort, der jetzt zu einem, wie der Figaro schreibt, petit bijou de musée geworden ist.[2]

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Die Verbindung einer so exquisiten Ausstellung mit einem so exquisiten Ort ist einfach wunderbar.

Gebaut wurde das Haus zwischen 1911 und 1914 von Paul Follot, einem –wie man heute sagen würde- Designer zwischen Art nouveau (Jugendstil) und Art déco. Follot war ein Generalist.  Vom Silberbesteck, über Keramiken (für Wegwood), Teppiche (für die Savonnerie-Manufaktur), Möbel und Seidenstoffe bis zur Ausstattung des Pariser Nobelkaufhauses  Bon Marché und der Normandie, des bei seiner Indienststellung 1935 größten und  luxuriösesten  Überseedampfers der Welt, entwarf er alles.[3]

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Und das Wohnhaus für seine Familie, das gleichzeitig auch als Atelier und als Ausstellungsraum für die von ihm entworfenen Gegenstände diente, entwarf er natürlich auch: Ein Gesamtkunstwerk, das bei seiner Einweihung 1914 Le Tout- Paris  anlockte.[4]

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Das Haus liegt in dem Künstlerviertel Montparnasse, in der Rue Schoelcher Nummer 5.

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Und es liegt damit nur wenige Straßenzüge entfernt von der Rue Hippolyte-Maindron, wo Giacometti sein Atelier hatte und von 1926 bis zu seinem Tod 1966 – mit kriegsbedingter Unterbrechung- lebte und arbeitete, woran eine Plakette am Haus noch erinnert.[5]

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Ein Großteil der Einrichtung von Follots Stadtpalais war zwar schon früher versteigert worden,  aber es gibt noch genug Elemente der Inneneinrichtung zwischen Jugendstil und Art déco, die  an Follot und die Glanzzeiten des Hauses erinnern:

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Hier die Kaminnische im Atelier von Paul Follot:

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Besonders schön gestaltet sind die Glasfenster in den Türen…

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… oder hier in der Trennwand zum Atelier.

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Auch  das Waschbecken in der Toilette hat Follet entworfen.

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Auch ohne das ursprüngliche Mobiliar bilden doch die noch erhaltenen Elemente der Ausstattung  „un ensemble décoratif homogène et unique en France.“[6]

Für die Fondation Giacometti war es ein Glücksfall, Parterre und Zwischengeschoss des Gebäudes für das Institut Giacometti erwerben zu können.

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Es war genau das, was die Leiterin der Stiftung, Catherine Grenier, suchte:

Ich suchte nach einem Ort von rund 350 m2, der keine „white box“ oder ein haussmannisches Interieur ist. Ich suchte nach einem Künstleratelier in Montparnasse, um die Verbindung mit dem für ihn so wichtigen „«génie des lieux“ aufrechtzuerhalten. Beim Verlassen der rue Victor Schœlcher Nummer 5 werden die Besucher in Giacomettis Fußstapfen treten und wie er nach La Coupole, zum Select, gehen können. Simone de Beauvoir lebte in dieser Straße, Picasso hatte dort eine Werkstatt. (…)  Wir kauften zwei Stockwerke, das Erdgeschoss und das Zwischengeschoss dieses denkmalgeschützten Gebäudes.“[7]

Finanziell waren der Kauf und die aufwändige Restaurierung für die Stiftung kein Problem: Geld war durch den Verkauf eines Bildes hinreichend vorhanden, das Miro Giacometti geschenkt hatte….

 

Das Atelier Giacomettis

BILD bildstudio.net

Prunkstück des Instituts Giacometti ist das hier wieder –zum ersten Mal- vollständig rekonstruierte und dauerhaft ausgestellte Atelier des Künstlers.[8]  Giacomettis Frau hatte nach dem Tod ihres Mannes das Atelier mit allen Einzelheiten gesichert.

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Selbst seine benutzten  Malerutensilien und die letzen Zigarettenkippen sind erhalten und ausgestellt.

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Giacometti hat in dieser nur  23qm2 großen „Höhle“ bis zu seinem Tod  gearbeitet und auch gelebt.

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Auch als arrivierter Künstler änderte er an seinem spartanischen Lebensstil nichts.

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Alberto Giacometti wurde dort von zahlreichen Fotografen portraitiert, unter anderem 1957 von Robert Doisneau.[9]

Die aufwändige Erhaltung des Ateliers ist mit dessen großer Bedeutung für das Verständnis des Werkes Giacomettis und des Künstlerviertels Montparnasse zu erklären:

„Giacometti hat immer wieder den besonderen Charakter seines Ateliers hervorgehoben, eines mythischen Ortes, der im kollektiven Gedächtnis als Symbol des künstlerischen Lebens des Montparnasse-Bezirks erhalten geblieben ist.  Untrennbar verknüpft mit der Legende des Künstlers, ist das Atelier notwendig für das Verständnis seines Werkes. Die mit Zeichnungen bedeckten Wände sind Zeuge der vierzig Jahre langen Arbeit des Künstlers und enthalten wertvolle Hinweise auf seinen kreativen Prozess.[10]

Zur Entwicklung des Ateliers als ein „mythischer Ort“ hat auch Jean Genet beigetragen, der mehrmals Modell für Giacometti gestanden hat und der 1957 den Essay L’Atelier d’Alberto Giacometti geschrieben hat.

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Auf dem Titelbild ist auch ein Gipsmodell des schreitenden Mannes abgebildet, das Giacometti sein Leben lang behalten hat, auch wenn es arg ramponiert war (und ist): Bei der Fragilität von Form und Material nur allzu verständlich.  Erst nach dem Krieg war Giacometti prominent genug, dass seine Skulpturen auch in Bronze ausgeführt wurden. Selbstverständlich ist das Gipsmodell des schreitenden Mannes -neben anderen Entwürfen-  auch  in dem Atelier in der rue Schoelcher zu sehen.

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Impressionen der Ausstellung

In dieser Ausstellung sind  zum ersten Mal die wichtigsten Werke der  mehr als dreißig Jahre dauernden Beschäftigung Giacomettis mit dem aufrechten Gang des Menschen zusammengeführt worden.

Hier im Zwischengeschoss gebührend gewürdigt wird die Femme qui marche von 1932, also noch aus der surrealistischen Periode Giacomettis. Diese an die ägyptische Kunst erinnernde kerzengerade stehende Statue markiert die Wiederentdeckung des menschlichen Körpers durch Giacometti.

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Die Figur zwischen zwei Häusern aus dem Jahr 1950 ist ein Werk der Nachkriegszeit, in dem noch einmal der Geist des Surrealismus anklingt. Das für Giacometti typische Motiv des Käfigs wird hier aufgenommen in den beiden Häusern, zwischen denen die Figur schreitet, aber auch gefangen ist: „Un univers absurde“.[11]

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Das folgende Bild zeigt „Die Nacht“ von 1946, von Giacometti betitelt als study for a monument. Vielleicht gehörte das zu dem Entwurf eines für die Stadt Paris bestimmten, aber abgelehnten Projekts zur Erinnerung an den Pädagogen Jean Macé.

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Giacometti:  Es ist ein schlankes junges Mädchen, das im Dunkeln herumtappt und Nacht heißt.

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Im zentralen Raum des Institut, dem ehemaligen Atelier von Paul Follet, stehen drei der schreitenden Männer Giacomettis. Natürlich gibt es dazu auch zahlreiche Skizzen und Zeichnungen aus über 30 Jahren.  Denn das Thema, wie man mit einer immobilien Statue Bewegung anschaulich machen kann,  hat Giacometti jahrelang intensiv beschäftigt. Das zeigt auch seine Auseinandersetzung mit Rodins Homme qui marche. Eine Abbildung davon war in Rilkes 1920 erschienenem Rodin-Buch enthalten. Giacometti hatte es dort nachgezeichnet und die Arme und den Kopf ergänzt, die bei Rodin fehlen.[12] Trotzdem ist aber, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrem Bericht über die Ausstellung urteilt,  keine  Entwicklung  bei der Bearbeitung des Themas  zu erkennen.  Das erlaube der Ausstellung, es mit wenigen gut ausgesuchten Werken  erschöpfend zu behandeln.[13]

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Ein Werk nur rumore durch seine Abwesenheit, wie die Süddeutsche Zeitung weiter schreibt:  „In einem dem Katalog beigefügten „Erratum“-Zettel nimmt das Institut Giacometti mit scharfen Worten seine dort ausgesprochene Danksagung an die Unesco zurück. Deren Leitung hatte die Ausleihe der seit 1970 in ihrem Besitz befindlichen Version des „Homme qui marche“ von 1960 zugesagt und dann wenige Tage vor der Ausstellungseröffnung wieder zurückgezogen, weil das Museum der Forderung auf eine Versicherungssumme von 100 Millionen Euro nicht nachkommen konnte. Solche überzogenen Ausleihbedingungen kämen immer öfter vor und seien skandalös seitens einer öffentlichen Organisation, empört sich Catherine Grenier, die Direktorin des Institut Giacometti. Bei der Unesco bedauert man den Vorfall, doch halte man sich bei allen Ausleihen an eine unabhängige Einschätzung des Versicherungswerts.“ [14]

100 Millionen Euro Versicherungswert! Das muss man sich, nachdem man an dem ärmlichen Atelier Giacomettis vorbeigegangen ist, gewissermaßen auf der Zunge zergehen lassen. Und das umstrittene Objekt in der UNESCO ist immerhin (ausschnittsweise)  hier zu sehen:

Giacometti L'homme qui marche

Diese Version des schreitenden Mannes gibt es also nicht im Institut Giacometti  zu sehen. Aber es gibt die Möglichkeit, sich in die Bibliothek im ehemaligen Atelier Paul Follots zu setzen  und in Ruhe in den dort ausgestellten Ausstellungskatalogen zu stöbern.

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Das entspricht dem Konzept des Institut Giacometti, das ausdrücklich kein „normales Museum“ sein möchte. Welch ein Genuss, in diesem Raum zu lesen und dabei ab und zu  einen Blick auf die drei schreitenden Männer zu werfen und das Spiel von Licht und Schatten über ihren Köpfen zu beobachten!

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Praktische Informationen:

L’Homme qui marche. Une icône du XXe siècle.

Fondation Giacometti

5, rue Victor Schoelcher  75014 Paris

Dienstags bis Sonntags 10-18 Uhr

Unabhängig von Corona ist eine Besichtigung  ausschließlich mit Online-Reservierung möglich:   https://www.fondation-giacometti.fr/fr/institut

Eine Leserin des Blogs hat mich auf eine sehr schöne weiterführende Lektüre zum homme qui marche aufmerksam gemacht:

Lydia Salvayre, Marcher jusqu’au soir  (Reihe „Ma nuit au musée“) Stock 2019

Lydia Salvayre (Prix Goncourt 2014)  hat 2016 während der Ausstellung „Picasso -Giacometti“ eine ganze Nacht im musée Picasso zugebracht und ihr Feldbett vor dem l’homme qui marche aufgeschlagen, nach ihrer Überzeugung « l’œuvre au monde qui disait le plus justement et de la ­façon la plus poignante ce qu’il en était de notre condition humaine : notre infinie solitude et notre infinie vulnérabilité (…), notre entêtement à persévérer contre toute ­raison dans le vivre » . 

In diesem sehr persönlichen Buch l’auteure décrypte son rapport à l’art. Elle se plonge dans la vie de Giacometti, se reconnaît dans son acceptation de l’échec, sa radicalité, son désir d’échapper aux diktats de l’époque pour tracer sa voie en répercutant le chaos du monde et l’inacceptable condition humaine.  (Aude Carasco, La Croix 16.5.2019 – dort auch das nachfolgende Bild)

« Marcher jusqu’au soir » de Lydie Salvayre

Nachtrag:

Am 18. November 2022 erschien in der FAZ ein kleiner Artikel mit der Überschrift: Haus in Paris und dem Untertitel Umbau für Giacometti. Bis 2026 soll in der ehemaligen Gare des Invalides, der derzeit als Air-France-Terminal dient, die Fondation Giacometti eine Ausstellungsfläche von stolzen 6000 Quadratmetern  erhalten. Der Umbau wird durch den Internet-Milliardäe Xavier Niel finanziert, „Wird das Projekt in der angekündigten Form  verwirklicht, handelt es sich für die Stiftung um einen Quantensprung“ und der Invaliden-Bahnhof könnte zu einem der großen Pariser Museen werden.

Man darf gespannt sein,

Anmerkungen:

[1] https://www.dw.com/de/schreitender-mann-erzielt-rekordpreis/a-5215537

[2] https://www.lefigaro.fr/arts-expositions/2018/06/20/03015-20180620ARTFIG00333-l-institut-giacometti-un-petit-bijou-de-musee-est-ne-a-paris.php

[3]  https://www.diepresse.com/5726509/paris-atelierbesuch-bei-giacometti

[4] http://www.ateliersdelachapelle.com/1760-2/

[5] Bild aus:  https://de.wikipedia.org/wiki/Alberto_Giacometti

[6] http ://www.ateliersdelachapelle.com/1760-2/

[7] https://www.lefigaro.fr/arts-expo sitions/2018/06/20/03015-20180620ARTFIG00333-l-institut-giacometti-un-petit-bijou-de-musee-est-ne-a-paris.php

[8] Bild von:  https://www.fondation-giacometti.fr/fr/institut#/fr/article/285/architecture-pascal-grasso

[9] Bild aus:  http://www.en-noir-et-blanc.com/Alberto%20Giacometti%20dans%20son%20atelier%20par%20Robert%20Doisneau-id2.html  Siehe auch die schönen Portraits Giacomettis in seinem Atelier von Sabine Weiss aus dem Jahr 1954: https://www.artsy.net/artwork/sabine-weiss-giacometti  und  von Gordon Parks: https://www.pinterest.de/pin/47569339784883220/

[10] https://www.fondation-giacometti.fr/fr/reconstitution-de-latelier

Übersetzung von W.J.

[11] Siehe Broschüre der Ausstellung

[12] Giacometti fait bouger les statues. La fondation consacrée à l’artiste étudie la genèse de son œuvre célèbre ‚Homme qui marche‘. In: Le Monde 9. Juli 2020, S. 23

[13] https://www.sueddeutsche.de/kultur/ausstellung-in-paris-ein-viel-zu-menschliches-menschenbild-1.4971795

[14] https://www.sueddeutsche.de/kultur/ausstellung-in-paris-ein-viel-zu-menschliches-menschenbild-1.4971795

Weitere Blog-Beiträge mit Bezug zum art nouveau und zur Art Deco:

5 Gedanken zu “„L’homme qui marche“ (der schreitende Mann) von Alberto Giacometti: Eine exquisite Ausstellung in einem exquisiten Pariser Ambiente

  1. valeriechamboncel

    Lieber Wolf,

    Ich habe mit große Interesse deiner Beitrag gelesen! Ich habe grade ein schönes Buch über „l’homme qui marche“ gelesen und kann es Dir nur empfehlen : „Marcher jusqu’au soir „ von Lydia Salvayre (Reihe „Ma nuit au musée“) Merci et à bientôt. Liebe Grüße, Valérie >

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  2. Kathrin Rousseau

    wunderbare Ergänzung zu meinem Besuch dort in dem so aussergewöhnlichen Ort vor ein paar Tagen. Hinzufügen möchte ich, dass die dort für Empfang und Information zuständigen jungen Menschen mit ihrer Freundlichkeit und ihren guten Kenntnissen nicht minder aussergewöhnlich sind !
    DANKE !
    Kathrin Rousseau

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    1. Ja, genau! Und was wir auch sehr geschätzt haben: der verantwortungsvolle, aber sehr souveräne Umgang mit den Covid-Regeln. Das haben wir in Frankreich und Deutschland auch schon ganz anders erlebt. Herzliche Grüße bis ….? Wolf

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  3. Barbara Rubert

    Lieber Wolfgang,

    herzlichen Dank für Ihre wunderbaren Texte. Ich unterrichte auch die französische Sprache und mache Kunstführungen auf Französisch in FFM.

    Herzliche Grüße vom Main

    Barbara Rubert

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