La Butte aux Cailles, ein kleinstädtisches Idyll in Paris

Buttes aux Cailles: Das sind vor allem enge, mit Kopfsteinen gepflasterte Gassen, kleine Kneipen und nette Geschäfte, die Erinnerung an die Pariser Commune und wohin man auch blickt: Street-Art…  Es ist ein kleinstädtisches Idyll, etwas abseits gelegen in der Nähe der Place d’Italie und der Hochhäuser des chinesischen Viertels – da wo man Dererlei also am wenigsten erwartet.

Als Ausgangspunkt für einen kleinen Rundgang bietet sich die Place d’Italie ein, von der aus man in die rue Bobilot einbiegt. Nach einigen hundert Metern geht rechts die Passage du Moulin des Prés ab. Der Name dieses Weges erinnert an eine der Mühlen, die einmal auf diesem Hügel standen.

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Die Passage ist inzwischen eine Art open-air- Galerie für Straßenkünstler. Unter anderem Jeff Aerosol und die Gruppe Lezarts de la Bièvre  haben hier „ausgestellt“.[1] Der Name Lezarts ist ein hübsches Wortspiel: Lézard ist das französische Wort für Eidechse, und Eidechsen gab es auf diesem Hügel früher sicherlich viele. Indem die Künstlergruppe das d am Ende des Wortes durch ein t ersetzt, wird deutlich gemacht, dass es hier um Kunst geht, aber das z der Eidechsen bleibt und die Eidechse im Schriftzug ebenfalls. Die Lezarts de la Bièvre sind  hier gewissermaßen zu Hause, denn der Butte aux Cailles gehört  zur  Umgebung des Flüsschens Bièvre, das einmal am Fuß des Hügels vorbei floss und die Gegend prägte. Heute ist die Bièvre allerdings auf Pariser Stadtgebiet kanalisiert und zugedeckelt, also  nicht mehr zugänglich und sichtbar.

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Die oben abgebildete  schöne Gemeinschaftsarbeit von Jeff Aérosol und den Lezards de la Bièvre gehört zu einem Kunstprojekt, das an verschiedenen Stationen den früheren Verlauf der Bièvre markiert. Und es gehört auch zu einem Rundgang zu den Ateliers und Street-Art-Produktionen der Künstlergruppe Lézarts de la Biévre.

Hier die Lezarts mit einem Künstlerportrait und Jeff Aérosol (vielleicht mit einem Selbstportrait?)

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Auf der anderen Straßenseite haben zwei weitere Straßenkünstler Ihre Spuren/Werke hinterlassen- unten Lady Bug und  links oben Louyz mit der bunten Eidechse, ihrem „Markenzeichen“ 

 

Weiter geht es  links hinein in die Rue du Moulin des Prés.

Dort sieht man (oder sah man noch im Mai 2019) unter den üblichen Straßenschildern lila Aufkleber mit alternativen weiblichen Namen. Dabei handelte es sich um eine feministische Aktion, die die geringe Berücksichtigung von Frauen bei der Benennung von Straßenamen kritisiert. (Bei Métro-Stationen und im Pantheon gibt es ja auch eine entsprechende Verteilung zwischen den Geschlechtern  (1a). Also wurden im April 2019 in Paris –auch im 11. Arrondissement, in dem wir wohnen- alternative Vorschläge für Straßennahmen gemacht. Die rue Simonet beispielsweise, benannt nach dem Besitzer des Grund und Bodens, auf dem diese Straße gebaut wurde, sollte nach einer Chemikerin und Pharmazeutin umbenannt werden, die 1988 den Nobelpreis erhielt. Warum auch nicht? An vielen anderen Stellen der Stadt, leider auch in unserer Umgebung,  waren nach meiner Beobachtung die lila Alternativschilder bald abgerissen. Nicht so hier. Vive la Butte aux Cailles!

In der Rue du Moulin des Prés kommt man auch an diesem schönen Pochoir von Miss Tic vorbei:

Miss Tic Butte rue du moulin des prés

Miss Tic verbindet immer junge anziehende Frauen mit einem Spruch, der oft zum Nachdenken anregt. Die von ihr verwendeten Farben sind im Allgemeinen schwarz, weiß und rot. Das grün hier ist eine Ausnahme: Vielleicht weil es in dem Text um einen lebensnotwendigen Luxus geht, nämlich die Poesie. Wir werden Miss Tic auf unserem Rundgang noch öfters begegnen. Auch sie ist hier gewissermaßen zu Hause.

Aussehen und Atmosphäre der place Paul Verlaine, zu der wir nun kommen,  entsprechen einem kleinen Dorfplatz, wozu auch eine Boule-Bahn in seiner Mitte beiträgt.[2] Außerdem befindet sich auf dem Platz ein artesischer Brunnen, dessen Wasser aus 582 Meter Tiefe emporsteigt: Es ist ein sehr sauberes Wasser, das die Bevölkerung des Viertels nutzt, um sich mit Trinkwasser zu versorgen.

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Und Obdachlose (sans abri) nutzen das Wasser auch….

Das markante Bauwerk am Platz ist das Schwimmbad. Es geht zurück auf 1908 errichtete Duschbäder, die aus dem artesischen Brunnen mit 28 Grad warmen Wasser gespeist wurden. 1924 wurde dann das neue Schwimmbad eingeweiht.

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„Sein Art-Nouveau-Stil steht im perfekten Einklang mit dem malerischen Butte-aux-Cailles-Viertel und macht es zu einem der beiden denkmalgeschützten Schwimmbäder von Paris“ – und wie man hinzufügen muss, zu dem einzigen, das für den normalen Publikumsverkehr geöffnet ist. [3]

Auch das Innere des Hallenbades ist mit seinem von leichten Bögen getragenen Betongewölbe architektonisch interessant. Als das Schwimmbad eröffnet wurde, war es auf der Höhe der Zeit mit obligatorischen Duschen für Badegäste und einem Fußbecken am Eingang zur Schwimmhalle. Allerdings waren die Duschen nicht nach Geschlechtern getrennt, was allerdings auch der Praxis neuerer Pariser Schwimmbäder entspricht – die angestrebte Körperreinigung wird dadurch allerdings zu einer bisweilen etwas verschämten Angelegenheit. Und die ehrwürdige Schwimmhalle ist oft so voll und durch Wassergymnastik in ihrem Gebrauch eingeschränkt, dass sie für Menschen, die gerne einigermaßen unbehindert ihre Bahnen schwimmen wollen, eher nicht der geeignete Ort  ist.

Piscine-Butte-aux-Cailles

Auf der Place Paul Verlaine gibt es auch einen Gedenkstein, der an die erste bemannte Fahrt im Heißluftballon erinnert:

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„Am 21. November 1783 flogen Pilâtre de Rozier und der Marquis d’Arlandes an Bord eines aus Papier (Tapete) gefertigten und mit einem Strohfeuer angetriebenen Montgolfière von Muette los. Sie landeten hier auf der Butte aux Cailles, die damals nur ein ländlicher mit Windmühlen bestandener Hügel war. In weniger als einer halben Stunden hatten sie neun Kilometer zurückgelegt.“

Es hatte die beiden Piloten einige Überzeugungskraft gekostet, den Hof  Ludwigs XVI . davon zu überzeugen, dass die Ehre, die Türme von Notre Dame zu überfliegen, nicht zum Tode Verurteilten zukommen dürfe, sondern freien Männern.[5]

Zwei Tage vorher, am 19. November 1783 hatte es übrigens schon eine Generalprobe für den Flug gegeben: Da war ein Montgolfière im Garten der manufacture des papiers peints  im heutigen 11. Arrondissement aufgestiegen. Der Ballon war mit Stoff bespannt, wie sicherlich auch der vom 21. November. Darauf hatte man Tapete aus der Manufaktur geklebt, die mit goldenen Sonnen bedruckt war. Eine grandiose Marketing-Aktion des Besitzers, Reveillon, der es sich nicht nehmen ließ, sich auch selbst in die Lüfte zu erheben. (5a)

Natürlich fehlt es auch an der Place Verlaine nicht an Werken der Street-Art. Besonders schön finde ich ein Pochoir von Miss Tic, die uns bei unserem Rundgang über den Butte-aux-Cailles begleitet.

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Dieses Pochoir ist sicherlich eine Antwort auf die  Anschläge vom 13. November 2015.  Denn  Ziel der Anschläge waren damals  auch mehrere Terrassen von Bars mit ihren Freiheit und Lebensfreude verkörpernden Besuchern;   den islamistischen Terroristen verhasst, so dass sie die „terrasses de la vie“ zu Terrassen des Todes machten. Aber -so die Botschaft von Miss-Tic: diese Freiheit, an der wir umso wütender und trotziger hängen, lassen wir uns nicht nehmen![6]

Auf der anderen Seite des Platzes, an der Auberge de la Butte,  gibt es zwei weitere schöne Pochoirs von Miss Tic:

Auberge de la Butte Place verlaine

Ich suche die Wahrheit und eine Wohnung 

Miss Tic Auberge de la Butte DSC04159 Butte aux Cailles 6. Mai 2019 (41)

Das Männliche trägt den Sieg davon. Aber wohin?

Unser Spaziergang führt nun über die Rue de le Butte aux Cailles zur Place de la Commune.

In der Rue de la Butte aux Cailles gibt es ein Restaurant und eine Bar, die an die Zeiten der Commune von Paris erinnern: Das Restaurant Le temps des Cerises  und die Bar „Merle Moqueur“.

Ourq Butte aux Cailles Nov 10 016

Der Name „Le temps des Cerises“ bezieht sich auf ein altes, populäres Liebeslied, in dem  die Liebe in der Zeit der Kirschen besungen wird:

                   Quand nous chanterons le temps des cerises

                   Et gai rossignol, et merle moqueur

                   Seront tous en fête.

                   Les belles auront la folie en tête

                   Et les amoureux du soleil au coeur

                   Quand nous chanterons le temps de cerises

                   Sifflera bien mieux le merle moqueur.

Das Lied endet traurig: Die Zeit der Kirschen, der Liebe und Träume,  ist kurz, danach kommen Schmerz und Trauer. Aber trotzdem:

                   J’aimerai toujours le temps des cerises

                   Et le souvenir que je garde au coeur.[7]

temps-des-cerises21871 wird  in dem von preußischen Truppen  belagerten Paris zwischen dem 18. März und dem 21. Mai, au temps des cerises also, ein kurzer revolutionärer Traum gelebt.  Damals wird das Lied zur Hymne der Pariser Commune und ihrer Anhänger. Sie bleibt es auch nach der „semaine sanglante“ vom 21. bis zum 28. Mai, während der die Commune von der Versaillais blutig niedergeschlagen wurde und  die Erinnerung an die Commune  -außer sie  war hasserfüllt und abschreckend-  tabuiert war. Der Autor des Liedes,  Clément, während der Commune Bürgermeister des revolutionären Montmartre,  unterstützte ausdrücklich die poltitische Botschaft des Liedes, indem er es  1885 der  „vaillante citoyenne Louise» widmete, der wachsamen Bürgerin Louise Michel, einer Ikone der Commune.

Von Wolf Biermann gibt es übrigens eine wunderschöne deutsch-französische Version des Liedes, gesungen nach der Wende vor einem jungen Leipziger Publikum – mit einer einleitenden Erläuterung, in der er eine Verbindung zwischen dem Paris von 1871 und dem Leipzig von 1989 herstellt.  Auf youtube zu sehen und zu hören! Es lohnt sich!  (8]

Le Temps des Cerises ist genossenschaftlich organisiert, und die Betreiber beziehen sich nicht nur im Namen der Gaststätte auf die Commune.

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Aux Temps des Cerises

Dieser schönen Aufforderung -und Alternative  zur martialischen Parole der Marseillaise Aux armes, citoyens – kann man getrost folgen.

DSC04360 Aux tem0s des cerises)

Auf der anderen Straßenseite befindet sich die Bar Le Merle Moqueur.

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Auch der Name „ Le Merle Moquer“ geht auf das Gedicht von Clément zurück, in dem die Spottdrossel mehrfach besungen wird. Es ist eine beliebte, abends von jungen Leuten gerne besuchte Bar. Die Preise sind, wie es in parisinfo heißt, „sehr demokratisch“. Wäre bei diesem Namen ja auch noch schöner![9]

Neben der „Merle Moqueur“ gibt es übrigens eine als sehr authentisch gerühmte Crêperie mit dem schönen Namen „Des crêpes et des cailles“. Dass auf der Butte aux Cailles auch Crêpes, also eine bretonische Spezialität,  angeboten werden, liegt insofern nahe, als im 19. Jahrhundert zahlreiche Bretonen sich auf dem Hügel niederließen und einen erheblichen Teil der Arbeiterschaft der dort ansässigen kleinen Handwerks- und Industriebetriebe stellten.

In der Straße gibt es auch – wie überhaupt auf der Butte aux Cailles- nette kleine Geschäfte wie den Honigladen Les Abeilles.

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Dort wird unter anderem selbst produzierter Honig aus Paris angeboten!  Hier zum Beispiel mit genauer Herkunftsbezeichnung, nämlich dem Kellermann-Park im 13. Arrondissement.  Allerdings gibt es den Pariser Honig nur in kleinen Mengen, so dass auf der Website des Ladens empfohlen wird, vorher anzurufen, wenn man sich dafür interessiert.[10]

Übrigens ist Pariser Honig ein weniger exotisches Produkt, als es vielleicht erscheinen mag. Auch wenn Paris die am dichtesten bevölkerte Stadt Europas ist,  gibt es dort schon seit langem Bienenstöcke, auch an prominenten Orten wie auf dem Dach des Palais du Luxembourg, dem Sitz des französischen Senats, oder der Oper. Sogar auf Notre-Dame gibt es drei Bienenstöcke, die jährlich jeweils 25 Kilogramm Honig liefern, der aber den Beschäftigten der Kathedrale vorbehalten ist. Und diese drei Bienenstöcke und ihre Bewohner haben den Brand von Notre-Dame unbeschadet überstanden![11]

Die Qualität des Honigs soll –trotz der Luftbelastung durch Schadstoffe- übrigens dank des geringeren Einsatzes der chemischen Keule in der Großstadt gut sein. Und dank des derzeit angesagten urban gardening  wird es den Pariser Bienen wohl auch in Zukunft kaum an Nahrungsquellen mangeln.

Auf dem weiteren Weg zur Place de la Commune de Paris lohnt es sich auch, in die Seitenstraßen bzw. –gassen zu sehen, zum Beispiel in die malerische Passage Boiton mit dem für den Butte aux Cailles typischen Kopfsteinpflaster.[12]

rue-butte-aux-cailles

Hier sieht man, wie  insgesamt in dem Viertel, noch die alten Laternen.

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Früher waren das Gaslaternen, die abends und morgens per Hand angezündet und wieder ausgemacht wurden. (Ich kenne das noch von meiner Jugend in Darmstadt, dass abends der Gasanzünder die Straße entlang kam, in der wir wohnten). Heute sind da elektrische Glühbirnen installiert, aber die alte Form ist erhalten worden: ein Aspekt des sympathischen, kleinstädtischen Charakters des Viertels.

Dazu passte dann auch, dass bei einem meiner Rundgänge durch das Viertel im Mai 2019 auf der Place de la Commune de Paris ein kleines Gehege mit Hühnern installiert war.

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Wo sonst mitten in Paris wird man wohl morgens vom Krähen eines Hahnes geweckt werden? Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein alteingesessener Bewohner des Butte dagegen Einspruch erheben könnte.

Auf dem Platz steht auch eine der städtischen Informationstafeln, die über die Geschichte des Viertels informieren.

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Man erfährt dort, dass es ein Pierre Caille war, der 1543 den mit Weinstöcken bepflanzten Hügel über der Bièvre kaufte und dem  Viertel seinen Namen gab. Da caille aber das französische Wort für Wachtel ist, passte der Name auch insofern sehr gut zu diesem Viertel. Das Mosaik am Straßenschild veranschaulicht das ja auch entsprechend.

DSC04360 Place de la Commune

Als 1662 die Manufacture des Gobelins geschaffen wurde, siedelten sich  Weber und Färber in der Umgebung, also auch auf dem Butte aux Cailles an. Dazu kamen Mühlen, mehrere Steinbrüche  und im 19. Jahrhundert kleine Industriebetriebe.[13]

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Der Platz ist wenig anziehend, immerhin gibt es in seiner Mitte einen der schönen gußeisernen Brunnen mit den vier Cariathiden. Diese Brunnen findet man an vielen Stellen in Paris. Sie sind nach dem Mäzen Sir Richard Wallace benannt, der sie selbst entwarf und nach den Leiden der Pariser Bevölkerung durch die Belagerung und die Schrecken der semaine sanglante  aufstellen ließ, um die Pariser mit kostenlosem Trinkwasser zu versorgen.

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Vor allem aber  haben sich  verschiedene Straßenkünstler wie Seth um die  Verschönerung des Platzes  verdient gemacht. Seth ist ein international tätiger Straßenkünstler, der gerne sehr schöne und phantasievoll an den jeweiligen Ort angepasste Bilder spielender Kinder an die Wände malt.[14] Hier ist es nicht nur der Junge, der rücklings durch die Luft fliegt, sondern auch das ihn begleitende Rotkehlchen und links oben das Signum des Künstlers.

DSC04159 Seth

DSC04159 Rue de la Butte aux Cailles

Originell und passend zum Pariser Kongress über das Artensterben (2019) ist das Suchplakat für den ausgestorbenen Dodo, das an einer Hauswand des Platzes angebracht ist….

Zu diesem Thema passt – ein Stück weiter in der rue Jonas- auch der bunte Papagei von Louyz vor dem Hintergrund einer Silhouette von Paris und  von rauchenden Schloten. Da fliegen Kanonenkugeln aus Dreck durch die Luft und prallen auf den Eiffelturm…

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Originell der Schmuck eines Straßenschildes ….

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…und  der an einer Hauswand befestigte Spiegel mit der Aufforderung hineinzusehen und der Aufschrift „Du bist schön“ (t’es belle). Das gilt aber nur für Frauen, die in den Spiegel schauen…

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Aber erstaunlich, was hier engagierte und phantasiereiche Menschen  aus einem an sich wenig ansehnlichen Platz gemacht haben.

Bevor es wieder zurück geht zur Place d’Italie bzw. zur Métro-Station Corvisart  bietet sich noch zwei kleine Abstecher an: In die rue Biot, von der aus man einen schönen Blick auf die Türme der Kirche Sainte-Anne de la Butte aux Cailles hat.

DSC04360 Rue Biot

Man hat die Kirche als „kleine Schwester von Sacré-Cœur“ bezeichnet.[15] Diese Bezeichnung bietet sich an wegen des romanisch- byzantischen Stils beider Kirchen. Aber es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten: Beide  stehen auf einem höchst brüchigen Untergrund, so dass sie auf Pfeilern errichtet sind, die auf tiefen festen Felsschichten ruhen. Bei Sainte-Anne sind es 71 Pfeiler, die bis in eine Tiefe von 16-22 Meter hinabreichen. Und beide Kirchen wurden in der Zeit der Dritten Republik gebaut, als  der Bau von Kirchen eher eine Ausnahme war. Sacré- Cœur war ja gebaut als Sühne-Kirche für die (angeblichen) Verbrechen der gottlosen Commune; und zwar demonstrativ auf dem Hügel von Montmartre,  dem aufständischen Zentrum der Revolte. Und man darf annehmen, dass Sainte-Anne mit ihrer auftrumpfenden Architektur aus ähnlichen Gründen in dem Viertel errichtet wurde, das am längsten den konterrevolutionären Angriffen der Versaillais standhalten konnte.

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Die Wappen vieler bretonischer Städte am links im Bild zu sehenden Altar erinnert übrigens noch daran, dass viele  damalige Bewohner des Viertels ihre Wurzeln in der Bretagne hatten.

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Die rue Biot ist übrigens wie die Passage du Moulin des Prés geradezu eine Freiluft-Galerie der Street-Art. Es gibt fast kein Stück Wand/Fassade, das nicht als Ausstellungsfläche dienen würde. Vertreten ist hier unter anderem wieder Seth mit einem Mädchen mit Hüpfseil und eine der  ganz neuen und jetzt öfters in dem Viertel anzutreffenden Musikkarten…

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Für Street-Art-Freundinnen und -Freunde empfiehlt sich auch noch ein kleiner Abstecher in die  rue Alphant. Dort hat die Künstlergruppe Louyz am 24. Mai 2019 ein farbenfrohes großes Wandgemälde mit der obligatorischen bunten Eidechse angebracht.  An diesem Tag ist auch dieses Foto entstanden.

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Übrigens konnte man den beiden Künstlerinnen gut bei der Arbeit zusehen: Sie hatten oben auf ihrem Gerüst eine kleinformatige Vorlage, an der sie sich orientierten,  und unten eine kleine Gruppe von Helfern mit einem größeren Farbsortiment und kulinarischem Nachschub…  Alles also genau geplant – und sogar im Internet angekündigt….

Weiter/zurück geht es dann durch die  von Parisinfo etwas überschwänglich als „wunderschön“ bezeichnete rue des cinq Diamants. Allerdings hat die Straße vor allem für historisch interessierte Menschen einen besonderen Anziehungspunkt, nämlich das Büro der Amies et Amis de la Commne de Paris, deren Ziel es ist, die Erinnerung an die 72 Tage der Commune wachzuhalten und die fortdauernde Aktualität des kurzen revolutionären Frühlings von Paris aufzuzeigen.[16]

DSC03196 Street Art La Butte aux Cailles (7)

Prunkstück des Büros ist die große Erinnerungstafel für die Toten der Commune: Es handelt sich um das Original einer plaque commémorative, die 1908 an der Friedhofsmauer auf dem Père Lachaise angebracht wurde, an der die letzten Kämpfer der Commune im Mai 1871 erschossen wurden. Die Association der Freundinnen und Freunde der Commune organisiert jährlich am letzten Maiwochenende die sogenannte Montée au Mur des Fédérées, zu derMenschen aufgerufen sind, die sich mit den Idealen der Commune verbunden fühlen.[17]

montee des murs des fédérés 2011

Neben der Eingangstür des Büros gibt es  ein kleines Mosaiktäfelchen mit einem Portrait und dem Namen  Wróblewski.

DSC04159 Am Eingang Amis de la Commune

Walery Antoni Wróblewski gehörte zu den Anführern des polnischen Aufstandes gegen das zaristische Russland 1863/64. Nach dessen Niederschlagung emigrierte er nach Frankreich, wo er als Pianist und Musiklehrer seinen Lebensunterhalt verdiente. Während der Commune war er ein Kommandeur der Föderierten und verantwortlich für die Verteidigung des strategisch wichtigen Butte aux Cailles gegen den Vormarsch der Versaillais. Dabei zeichnete er sich besonders aus. Prosper Lissagaray schrieb in seiner auf eigener Anschauung beruhenden „Geschichte der Commune von 1871“ über Wroblewski:

„Er ist der einzige General der Commune, der die Eigenschaften eines Corpsführers gezeigt hat. Er verlangte immer, man solle ihm diejenigen Bataillone schicken, die kein Anderer wollte, und er verstand es auch, sie zu verwenden.“[18]

Commune Spaziergang EDF 031

Nach der Niederschlagung der Commune emigrierte er nach England, wo er sich weiter für die internationale Arbeiterbewegung engagierte. Auch er konnte 1880 nach der allgemeinen Amnestie nach Paris zurückkehren, wo er 1908 starb. Wróblewski gehörte zu den vielen internationalen Aktivisten, die sich in der Pariser Commune engagierten und damit die internationale Solidarität der Arbeiter vorlebten.

Commune Spaziergang EDF 030

Das Grab von Wróblewski befindet sich auf dem Friedhof Père Lachaise, in unmittelbarer Nähe der Mur des Fédérées und  ist –wie auch das von Chopin- oft mit roten und weißen Blumen geschmückt. Sie verweisen auf die polnische Herkunft von Wróblewski und sind ein Zeichen polnisch-französischer Verbundenheit.

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Ein weiterer Anziehungspunkt in der rue des cinq Diamants sind die vielen von Street-Artisten verzierten Wände.

Hier zum Beispiel ein Mosaik von 1918 aus Anlass des 50. Jahrestags des Mai 68.

Und auch hier hat Miss Tic ihre Spuren/Werke  hinterlassen.

cinq diamants 39

rue des cinq diamant Nummer 39

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In der rue des cinq diamants gibt es auch ein kleines thailändisches Restaurant mit diesem schönen Wirtshausschild.

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Ich sehe das als Zeichen für die identitätsstiftende und integrative Kraft der Butte aux Cailles. Insofern ist das, wie ich meine,  ein schöner Abschluss des Beitrags über dieses sympathische Viertel.

Anmerkungen

[1] https://www.lezarts-bievre.com/la-bievre/

Zur Pariser Street-Art im Allgemeinen und Jeff Aérosol im Besonderen siehe die Blog-Beiträge: Street-Art in Paris (1) und (2) https://paris-blog.org/2017/12/01/open-your-eyes-street-art-in-paris-1/ und https://paris-blog.org/2018/06/01/street-art-in-paris-2-mosko-jef-aerosol-und-jerome-mesnager/

(1a) Siehe dazu den Blog-Beitrag: Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen: https://paris-blog.org/2018/04/01/das-pantheon-der-grossen-und-der-weniger-grossen-maenner-und-der-wenigen-grossen-frauen-1-das-pantheon-der-frauen/

[2] https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-balades/promenade-butte-aux-cailles

[3] https://de.parisinfo.com/museen-sehenswurdigkeiten-paris/72885/Piscine-de-la-Butte-aux-Cailles

Das andere denkmalgeschützte Pariser Schwimmbad ist das mondäne Molitor im 16. Arrondissement, das allerdings inzwischen zu einem Hotel gehört und für Normalsterbliche nicht mehr zugänglich ist.

[4] Bild aus: https://www.lecoindelodie.fr/piscine-buttes-aux-cailles/

[5] https://www.pilatre-de-rozier.com/a-propos/jean-francois-pilatre-rozier/

(5a) Siehe dazu den Blog-Beitrag: Der Faubourg-Saint-Antoine (2): Das Viertel der Revolutionäre. https://wordpress.com/post/paris-blog.org/102

[6] Zu Miss Tic siehe auch den Blog-Beitrag Street-Art in Paris (4): https://paris-blog.org/2019/02/01/street-art-in-paris-4-monsieur-chat-miss-tic-und-fred-le-chevalier/

[7] Vollständiger Liedtext in: https://fr.wikisource.org/wiki/Le_Temps_des_cerises

Bild aus: https://passagedutemps.wordpress.com/2017/01/13/2237/. Passage du temps ist ein ausgesprochen schöner Blog mit einem Schwerpunkt zu Paris, der aus den meisten eher oberflächlichen Paris-Blogs herausragt.

[8] http://www.youtube.com/watch?v=Rv420VhwUWc (Dauert 6 Minuten)

[9]  https://de.parisinfo.com/restaurant-paris-de/100464/Le-Merle-Moqueur

[10] https://www.lesabeilles.biz/fr/index.html

[11] https://www.youtube.com/watch?v=5FCX42ZyLVw

[12] https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-balades/promenade-butte-aux-cailles

[13] Zur Manufacture des Gobelins siehe den Blog-Beitrag: Die Manufacture des Gobelins, Politik und Kunst. https://paris-blog.org/2018/08/01/die-manufacture-des-gobelins-politik-und-kunst/

Zu den Steinbrüchen unter Paris siehe:  https://paris-blog.org/2017/04/20/die-bergwerke-und-steinbrueche-von-paris/

[14] https://www.lezarts-bievre.com/2018/04/30/julen: Die Bergwerke und Steinbrüche von Paris. https://wordpress.com/post/paris-blog.org/5497ien-malland-dit-seth-globepainter/

[15] https://meinfrankreich.com/butte-aux-cailles-paris/ 

[16] http://commune1871.org/

[17]Zur Commune siehe den Blog-Beitrag: Der Bürgerkrieg in Frankreich 1871. Ein Rundgang auf dem Friedhof Père Lachaise auf den Spuren der Commune. https://paris-blog.org/2016/08/13/der-buergerkrieg-in-frankreich-1871-ein-rundgang-auf-dem-friedhof-pere-lachaise-in-paris-auf-den-spuren-der-commune/

[18] Prosper Lissagaray, Geschichte der Commune von 1871. Edition suhrkamp 177, FFM 1971, S. 340. (Lissagaray schrieb das Buch 1877 im Londoner Exil). Weitere Wertschätzungen der militärischen Leistung Wroblewskis: http://maitron-en-ligne.univ-paris1.fr/spip.php?article150222

Weitere Beiträge zur Street – Art in Paris auf diesem Blog:

Zur Street-Art siehe auch die Beiträge zu folgenden Stadtvierteln:

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Die Manufacture des Gobelins: Politik und Kunst

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Marschall Pétain, hoch zu Ross, die blau-weiß-roten Blätter flattern im Wind: Ausschnitt aus einem Wandteppich, der 1942/43 in der Manufacture des Gobelins in Paris hergestellt wurde.

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Rechts im Bild sieht man Pétain noch als General  des ersten Weltkriegs, ruhig inmitten von Stacheldrahtverhauen und explodierender Granaten, die ihm nichts anhaben können; in der Hand den strategischen Plan der Schlacht von Verdun, als deren Sieger Pétain gefeiert wurde.

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Links – im Gegensatz dazu- ein Bild des Friedens, unübersehbar durch die Friedenstauben bezeichnet.

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Die Soldaten kommen aus dem Kampf zurück und machen sich an die Arbeit: Eine Idylle des Landlebens. „La France profonde, éternelle et glorieuse“, wie es leibt und lebt.

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Und in der Mitte Pétain, der Präsident des Collabortations-Regimes von Vichy, der, so die Botschaft des Wandteppichs, durch die Zusammenarbeit mit  Nazideutschland Frankreich den Frieden gebracht hat.  Paul Charlemagne hat diesen „À la Gloire du maréchal Pétain“ betitelten Wandteppich entworfen. 1942, als die Arbeit daran begonnen wurde, war Pétain  schon 86 Jahre alt. Und er legte großen Wert darauf, auf den damals weit verbreiteten Portraits als gerechter und strenger „Vater der Nation“, aber nicht als altersschwacher Großvater zu erscheinen. Allzu realistische Portraits fielen der Zensur zum Opfer. Mit dem Portrait auf Charlemagnes Gobelin wird er sicherlich zufrieden gewesen sein.

Dieser Wandteppich war Teil der damaligen Pétain-Verherrlichung und der Propaganda der von ihm proklamierten „révolution nationale“, in der die Arbeit, und dabei vor allem die Landarbeit, eine zentrale Rolle spielte. Der Gobelin sollte den Chef des État français in eine Reihe mit den großen heroischen Gestalten der französischen Geschichte stellen, wie es in dem Begleitfilm zu der Ausstellung heißt.[1] Der Wandteppich wurde bis zur Befreiung von Paris im Musée de l’Orangerie präsentiert, danach erst jetzt wieder in der Ausstellung „Au fil du siècle, 1918-2018, Chefs-d’œuvre de la tapisserie » (April bis September 2018) in der Manufacture des Gobelins in der avenue des Gobelins.[2]

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Gezeigt werden  in dieser Ausstellung  zwei weitere -ebenfalls bisher noch nie ausgestellte- Gobelins, die während der Zeit der occupation  im deutschen Auftrag von Werner Peiner entworfen  und von der Manufaktur hergestellt wurden.

Der Wandteppich mit dem von Stieren gezogenen Wagen und der Hakenkreuzstandarte der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres wurde 1941-1944 angefertigt und war für das Außenministerium des Freiherrn von Ribbentrop bestimmt. Dazu gehörte auch ein weiterer Wandteppich mit dem Motiv der Quadriga-  als „männliches Gegenstück“ zu dem weiblichen Element der Fruchtbarkeit gedacht. Beide Wandteppiche wurden noch vor Kriegsende nach Deutschland gebracht, dort von den Alliierten  entdeckt, 1949 nach Frankreich zurückgebracht und in den Tiefen der Depots des Louvre und des Musée d’Art moderne versenkt…[3]

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Die Herstellung dieser Okkupations-Teppiche erforderte übrigens mehrere Kilogramm Gold- und Silberfäden, die aus Deuschland angeliefert wurden. Man kann sich in der Tat, wie ein  jüdischer Bekannter, den wir beim Besuch der Ausstellung trafen, fragen, woher die Nazis damals das Gold und Silber für diese Wandteppiche hatten…

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Ein weiterer, aber nicht vollendeter Gobelin wurde von „Reichsmarschall“ Göring für seinen Landsitz Carinhall in der Schorfheide bestellt: „Le Globe terrestre“. Materialien waren Wolle, Seide und –natürlich auch hier- Gold- und Silberfäden. Pracht und Ausmaße dieses Wandteppichs entsprachen dem Auftraggeber: Natürlich übertraf die vorgesehene Größe von 72,2 m² nicht nur deutlich die von Ribbentrop bestellten Wandteppiche, er sollte sogar noch 5m² größer werden als das größte im Louvre ausgestellte Bild, Veroneses Hochzeit zu Kana.[4]

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Bemerkenswert sind auf dieser Karte auch Details wie Grenzziehungen und die Hervorhebung von (Haupt-)Städten: Einige Grenzen, z.B. die von Verbündeten Nazi-Deutschlands wie die der Slowakei, Ungarns und Rumäniens, sind mit roter Farbe hervorgehoben, andere wie die belgische, holländische oder dänische Grenze nur leicht skizziert. Und wieder andere fehlen ganz: so  die Grenze zwischen Italien und Frankreich, wo es ja italienische Gebietsansprüche und eine italienische Besatzungszone gab; die Schweiz ist überhaupt nicht berücksichtigt. Und das sogenannte „Protektorat Böhmen und Mähren“ ist (natürlich) voll in das deutsche Staatsgebiet integriert. Elsass-Lothringen allerdings nicht: Vielleicht wollte man diese Provokation den französischen Webern der Manufaktur doch nicht zumuten. Während Hauptstädte im Allgemeinen durch ein Quadrat markiert sind, gilt das für Brüssel nicht, eine niederländische und luxemburgische Hauptstadt existieren überhaupt nicht. Bei Deutschland dagegen sind gleich drei Hauptstädte eingewoben: Berlin, Wien und interessanter Weise auch Prag. Und bemerkenswert ist auch die Bezeichnung „Deutschland“ statt der damals von den Nazis verwendeten Bezeichnung „Großdeutsches Reich“, die man auf einer solchen, propagandistischen Zwecken dienenden Karte vielleicht eher erwarten würde. Aber dieser unvollendete Karten-Gobelin knüpft in seiner Gestaltung eher an traditionelle Weltkarten an. Mit den drei deutschen Hauptstädten bezieht er sich auf den historischen Reichsgedanken und mit seiner selektiven Grenzziehung soll er wohl auch offen sein für die von den Nazis erhofften Veränderungen der europäischen Landkarte im Laufe eines siegreichen Krieges.

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Vollendete Tatsachen schafft der Gobelin aber schon in Afrika, wo die früheren deutschen Kolonien  „heim ins Reich“ geholt sind….

Die in der Ausstellung erstmalig gezeigten Wandteppiche aus der Zeit von collaboration und occupation belegen, wie sich die Gobelin-Manufaktur damals in den Dienst politischer Propaganda gestellt hat oder dazu hat benutzen lassen. Das war allerdings kein völlig aus dem Rahmen fallendes Phänomen.

Die ersten in der Ausstellung gezeigten Gobelins aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg  transportieren ebenfalls eindeutige politische Botschaften. So der von Louis Anquetin entworfene Wandteppich zum Thema „La Victoire“ – einer von insgesamt vier schon 1917 bestellten Gobelins zu diesem Thema.

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In der Mitte des großen Wandteppichs –hier ein Ausschnitt- sieht man eine Bäuerin, die angesichts des blutrot-drohenden Horizonts ängstlich ihr kleines Kind an sich presst. Und Grund zur Angst gibt es in der Tat: Da sieht man die unheilverkündenden Raben…

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… und vor allem einen auf einem feuerspeienden Drachen reitenden wilden Gesellen mit einem blutverschmiertem Dolch und einer Brandfackel in den Händen: An Schaftstiefeln, Pickelhaube und Bart unschwer als ein Bild des mordlustigen deutschen Kaisers zu identifizieren.

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Aber keine Angst: Da sind auf der anderen Seite die in Rubens’scher Manier dargestellten Schmiede des Vulkanus, die aus Pflugscharen Schwerten machen, mit denen der böse Feind besiegt wird.

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Und da ist ganz oben in der Mitte der kampfbereite gallische Hahn, der Garant des Sieges.

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Und als der dann tatsächlich errungen war, produzierte die Manufaktur Bezüge für Sofas und Sessel, auf denen die zum Sieg führenden Waffen abgebildet waren und der heldenhafte Einsatz der französischen Soldaten verherrlicht wurde.

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So gehen Tradition –die klassischen Blumenmuster-, Modernität –die modernen Waffen- und Nationalismus –die heldenhaften Soldaten und die Farben der Tricolore- eine für diese Zeit charakteristische Verbindung ein.

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Die 1921 von der Manufaktur in  Auftrag gegebenen Entwürfe von Adrien Karbowsky sind, wie der Begleittext kritisch vermerkt, Teil der damals gängigen „auto-célébration de la victoire française“. Es handele sich hier angesichts der vom Krieg erzeugten Traumata um „einen letzten Schwanengesang“ militärischer Themen und Motive.

Die königliche Manufaktur des Gobelins: Glorifizierung Ludwigs XIV. und Frankreichs

Dass die Manufaktur sich als Instrument politischer Propaganda betätigte, war ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt.  Dort, wo Mitte des 15. Jahrhunderts an dem Flüsschen Bièvre der holländische Tuchfärber Jehan Gobelin sein Atelier errichtet hatte….

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Inschrift auf der seitlichen Fassade der Manufaktur des Gobelins, avenue des Gobelins[5]

… wo Anfang des 17. Jahrhunderts Henri Quatre flämische Weber angesiedelt hatte, damit sie Teppiche façon de Flandres, also in „flämischer Manier“ produzierten[6], dort –in dem inzwischen Quartier des Gobelins genannten Viertel- errichtete Colbert, der Wirtschaftsminister Ludwigs XIV., die Manufacture des Meubles de la Couronne, zu denen auch die Manufacture royale des Gobelins gehörte. Die dort produzierten Teppiche trugen also den Namen der holländischen Tuchfärber, die hier früher gearbeitet, aber nie auch nur einen einzigen Teppich hergestellt hatten.

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Inschrift auf der Seitenfassade der Manufaktur amCour d’Antin, über dem Eingang zum Ausstelluungsgebäude[7]

Erster Direktor der Manufaktur war der Hofmaler Ludwigs XIV., Charles Le Brun. Das zeigt die Bedeutung, die das Unternehmen für die Krone hatte. In der Manufaktur wurden neben Gobelins auch andere Ausstattungsstücke wie Möbel, Drucke und Gold- und Silberarbeiten hergestellt. Insgesamt arbeiteten damals etwa 250 Handwerker in der Manufaktur. Bei seinen Entwürfen für die Gobelins wurde Le Brun von einem ganzen Stab von Malern unterstützt, die ihm zuarbeiteten. Es gab Spezialisten für Landschaften, für Architektur, für Ornamente, für Stillleben, für die Darstellung von Personen. Le Brun selbst leitete und koordinierte die Arbeiten, behielt es aber sich vor, in allen Darstellungen, in denen der König erschien, dessen Züge selbst zu zeichnen. [8]

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Statue Le Bruns im Hof der Manufaktur

Nicht zimperlich war man übrigens bei der Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz: Es gab nämlich eine bedeutende Produktion von Teppichen in Maincy,  einem Atelier in der Nähe von Vaux-le-Vicomte, dem Schloss Fouquets, des Finanzministers des jungen Ludwigs XIV.  Als der aber seinen Reichtuum allzu protzig zur Schau und damit sogar den  Sonnenkönig in den Schatten stellte, ließ ihn Ludwig XIV. 1661 verhaften und ins Gefängnis werfen, wo er den Rest seines Lebens zubrachte. Gleichzeitig  übernahm der König aber das Künstlerdreigestirn von Vaux-le-Vicomte, nämlich Le Vau (Architekt), Le Nôtre (Gartenarchitekt) und eben auch Le Brun, den Leiter der Fouquet‘schen Teppich-Manufaktur und dessen Personal.[9]

Bei der Anwerbung  zusätzlich benötigter erstklassiger Fachkräfte sah man sogar großzügig über deren Konfession hinweg. Während Protestanten ansonsten vertrieben und verfolgt wurden, standen sie im Bereich der Manufaktur unter dem Schutz der Krone, wenn sie nur  Meister ihres Faches waren – ähnlich also, wie die unter der Protektion der Stiftsdamen des Klosters Saint-Antoine stehenden protestantischen ébénistes. [10]

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Um den rechten Glauben der Beschäftigten zu befördern, wurde immerhin im Bereich der Manufaktur eine Kapelle errichtet – erkennbar an Uhr und Glockentürmchen;  davor auf dem Sockel eine Statue Colberts.

Bei der Gründung der königlichen Manufaktur ging es natürlich, der damals herrschenden merkantilistischen Lehre entsprechend, um –modern ausgedrückt- Importsubstitution. Wie schon zu Zeiten Henri Quatres verbot Colbert die Einfuhr ausländischer Teppiche. Die königlichen Schlösser sollten nur mit Produkten „made in France“ ausgestattet werden. Darüber hinaus waren die in der  Manufaktur hergestellten Gobelins als königliche Präsente und für den Export bestimmt.  In allen Fällen  ging es aber auch darum, die Teppiche als Mittel der Glorifizierung des Sonnenkönigs, seiner „hauts faits es vertus“ zu verwenden. Immerhin wurde die königliche Manufaktur in dem Jahrzehnt gegründet, in dem die absolute Herrschaft Ludwigs XIV. sich konsolidierte und in dem ein festes Repertoire ihm  zugeordneter Symbole und  Bezüge wie die Sonne oder Appollo entstand.  Beispiele solcher der königlichen Propaganda dienender Gobelins sind die Serien zur „Geschichte des Königs“ und zur „Geschichte  Alexanders“, mit dem Ludwig XIV. gerne verglichen wurde. Es ging also auch hier um die Verherrlichung der Monarchie und des Sonnenkönigs. Von diesen Gobelins wurden teilweise bis zu 15 Exemplare hergestellt, um den Ruhm des Königs möglichst weit zu verbreiten. Sie wurden  verwendet, um die Besucher des Hofes zu beeindrucken oder auch als Geschenke für ausländische Botschafter. Die Qualität der Entwürfe, der Reichtum der verwendeten Materialien –auch bei ihnen schon wurde an Gold- und Silberfäden  nicht gespart- und die lange Dauer ihrer Herstellung sollten den Reichtum und die Stabilität Frankreichs zum Ausdruck bringen. Insgesamt wurden während der 30-jährigen Blütezeit der Manufaktur unter der Herrschaft Ludwigs XIV. 775 Gobelins hergestellt – eine beeindruckende Zahl, wenn man bedenkt, dass an einem Gobelin mehrere Weber über ein Jahr lang gearbeitet haben.

Die Bedeutung, die die Manufaktur für Ludwig XIV. hatte, wird in einem  Gobelin anschaulich, der den Besuch des Königs am 15. Oktober 1667  thematisiert. Dieser Gobelin, hier eine Entwurfszeichnung Le Bruns, gehört zu der Serie der 14 Gobelins zur „Histoire du Roi“. [11]

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Die  im Schloss von Versailles ausgestellte Gobelin-Serie zur Geschichte des Königs wurde zwischen 1729 und 1734 hergestellt,  also in der Zeit Ludwigs XV., der sich damit in die Tradition des Sonnenkönigs stellte.[12]

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Die hier dargestellte Szene findet im Hof der Manufaktur statt. Verschiedene Handwerker führen dem König die von ihnen hergestellten Produkte vor: Möbel, Gold- und Silberarbeiten, Teppiche und natürlich Gobelins. Auf der linken Seite sieht man Ludwig XIV., hervorgehoben durch die rote Farbe und durch den freien Raum rund um seine Füße. Außerdem ist er größer als die neben ihm Stehenden, Zeichen seiner Majestät. Begleitet wird er von Colbert, dem er sich zuwendet.

Mit dem Besuch der gerade gegründeten Manufaktur bezeugt der König  seine Modernität, indem er  die Herstellung von Gobelins zu einem „Instrument der politischen Kommunikation“ macht.[13]

Die Blütezeit unter Ludwig XIV. endete allerdings schon frühzeitig: 1694, also 21 Jahre vor dem Tod des Sonnenkönigs, wurde die Manufaktur für fünf Jahre geschlossen, alle dort Beschäftigten entlassen und  ein Teil der dort hergestellten Gold- und Silberarbeiten eingeschmolzen. Grund dafür waren die Staatsfinanzen, die vor allem aufgrund der von Ludwig XIV. angezettelten Kriege, zuletzt durch den sich unerwartet lange hinziehenden Pfälzischen Erbfolgekrieg,  zerrüttet waren.[14]

Die Manufacture des Gobelins: Ihr Beitrag zur Verherrlichung Napoleons

Wie sehr die Manufaktur von den geschichtlichen Entwicklungen geprägt war, zeigte sich dann auch während der  Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons. Direktor der Manufaktur zur Zeit der Revolution war Auguste Belle. Der ließ im November 1793 auf dem Hof der Manufaktur einen Freiheitsbaum errichten, unter dem Gobelins verbrannt wurden, die aufgrund ihrer Wappen oder der königlichen Lilie als nicht mehr zeitgemäß galten. Alle Angestellten  der Manufaktur wurden aufgefordert, auf die neue Verfassung, die Convention nationale, zu schwören und an die Nachwelt nur noch Bilder der Helden und Märtyrer der Freiheit  sowie erinnerungswürdige Taten republikanischer Franzosen weiterzugeben. [15] Im Sommer 1794 besuchte eine Kommission die Manufaktur „pour entretenir la flamme républicaine“: Von 321 in den Beständen der Manufaktur vorhandenen Mustern für die Herstellung von Gobelins (cartons) wurden 120 als antirepublikanisch, fanatisch, d.h. zu offensichtlich christlich, und unmoralisch ausgesondert.[16]

Während des Konsulats und vor allem des napoleonischen Kaiserreichs erlebte die Gobelin-Manufaktur einen neuen Aufschwung. Sie arbeitete jetzt ausschließlich für die Zwecke Napoleons, der wünschte, dass die „maisons Impériales“, vor allem die Tuilerien,  mit den Werken der Manufaktur ausgestattet sein sollten. Das waren Gobelins, die die Heldentaten des Kaisers darstellten, wobei  Gemälde von David, Gros und anderen als Vorlage dienten.  Und es waren kaiserliche Portraits, die den Ruhm das Kaisers – und das Ansehen der Manufaktur- verbreiteten: Wie zu Zeiten des Sonnenkönigs erhielten die Herrscherhäuser Europas Gobelins mit dem Portrait des Kaisers, vor allem natürlich seine zahlreichen Familienmitglieder, die er auf europäischen Thronen  platziert hatte. [17] Das von Napoleon bevorzugte Portrait war nicht das Krönungsportrait seines Hofmalers Jacques-Louis David, sondern das 1805 entstandene Gemälde von François Gérard. Es zeigt Napoleon im Krönungsornat und mit goldenem Lorbeerkranz im Thronsaal der Tuilerien und entsprach in seiner Konzeption der traditionellen Darstellung französischer Könige seit Ludwig XIV. Napoleon ließ von diesem „offiziellen“ Kaiser-Portrait zahlreiche Kopien anfertigen. 1808  bestellte er bei der jetzt kaiserlichen Manufacture des Gobelins eine gewebte Version des Gemäldes, das heute im Museum of Modern Art in New York zu sehen ist.  Es war für den Erzkanzler des Reichs, Jean-Jacques Régis de Cambacérès, bestimmt: Eine besondere Auszeichnung. Eine gemalte Kopie wäre ja wesentlich billiger und schneller verfügbar gewesen, während an diesem Auftrag  elf Weber volle drei Jahre lang arbeiteten.[18]

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Auch wenn Napoleon in der Manufacture des Gobelins ein ideales Instrument für sein Prestigestreben sah, gab es doch –aufgrund der großen Abstände zwischen Konzeption und Fertigstellung eines Gobelins- eine erhebliche Diskrepanz zwischen Projekten und Resultaten. Der Wunsch Napoleons, die wichtigsten Ereingnisse seiner Herrschaft durch Gobelins zu verewigen, konnten deshalb nur bruchstückhaft umgesetzt werden.[19]

Aber es gibt doch auch eindrucksvolle Gobelins aus der Pariser Manufaktur, die der Verherrlichung des Kaisers dienten.

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So der nach einem Gemälde von Antoine-Jean Gros gefertigte Gobelin, auf dem der Erste Konsul Bonaparte hoch zu Ross zu sehen ist. Er  verteilt nach der Schlacht von Marengo am 14. Juni 1800 Ehrensäbel an die  Grenadiere seiner Garde. Das Werk wurde 1810 fertiggestellt und ein Jahr später Hortense, der  Stieftochter des Kaisers, Königin von Holland und Mutter des späteren Napoleons III., geschenkt.[20] En weiteres Beispiel ist der 1809 bis 1915 in der Manufaktur angefertigte Gobelin, in dessen Mittelpunkt natürlich auch Napoleon steht: Nach seiner Krönung zum Kaiser am 8. Dezember 1804 empfängt er im Louvre die Abordnungen des Militärs.[21]

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 Seine Macht wird durch sein Ornat und die Herrscchergeste,  die im Spalier aufgereihten stramm stehenden Soldaten und die demütige Haltung des ottomanischen Gesandten eindrucksvoll herausgestellt. Die Umgebung mit den Raumfluchten des Louvre und der römischen Statue in Siegespose trägt natürlich auch ihren Teil zur Verherrlichung des Kaisers bei.

Es gibt also eine lange, auch vom bourbonischen System der Restauration und dem Kaiserreich Napoleons III. weitergeführte Tradition der Manufacture des Gobelins, einen Beitrag zur Glorifizierung der jeweiligen Repräsentanten des Staates zu leisten. Insofern ist es wohl auch zu erklären, dass  Communarden 1871 kurz vor ihrer Niederschlagung in der semaine sanglante[22] den Vorgängerbau des heutigen Ausstellungsgebäudes in Brand setzten. Dies hatte nicht die geringste militärische, aber eine hohe symbolische Bedeutung: Die Manufaktur als repräsentative Instanz der bekämpften alten Ordnung.

Kunstgobelins aus der Nachkriegszeit

Nach der Instrumentalisierung der Manufaktur durch Pétain und die Nazis war nach 1945 ein Neuanfang unabdingbar. Eine besondere Rolle dabei spielte André Malraux, der von 1959 bis 1969  Kulturminsiter war und dem  die Förderung zeitgenössischer Kunst ein besonderes  Anliegen war.  In seiner Ära wurden Kontakte zu bedeutenden Künstlern geknüpft, die angeregt wurden, Entwürfe für Gobelins herzustellen. In der oben genannten Ausstellung waren zahlreiche solcher Gobelins ausgestellt.

Hier einige Beispiele:

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Fernand Léger, La Création du monde (1962)

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André Derain, L’Âge d’or (1965/66)

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Raoul Dufy, La Baie de Saint-Adresse (1966/68)

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Joan Miró,  hirondelle d’amour (1979/1980)

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Victor Vasarely, Composition foncée (1977/79)

Und aus unserer Sicht besonders eindrucksvoll:

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Hans Hartung, P 1967-109   (1971/1972)

Nach 1945 wurden also in der Manufaktur künstlerisch anspruchsvolle, moderne Gobelins hergestellt. Bei unserem Rundgang –leider abolutes Fotografierverbot- konnten wir einige sehr beeindruckende, von zeitgenössischen Künstlern entworfene Teppiche sehen, die gerade im Entstehen sind. Die einmal gängigen Portraits der jeweils Regierenden haben dagegen  ausgedient. Undenkbar,  dass es etwa Gobelins mit den Portraits von de Gaulle hätte geben können – oder jetzt von Macron: Der vertrat zwar schon vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten die Auffassung, dass die Hinrichtung Ludwigs XVI. eine „emotionale Leere“ im kollektiven Bewusstsein der Franzosen geschaffen habe, die durch eine „Resakralisierung“ der präsidialen Funktion auszufüllen sich der junge, gerne als „jupiterien“ charakterisierte Präsident  nach Kräften bemüht.[23] Entsprechende Gobelins scheiden  aber als Instrumente aus.

Immerhin hat der jeweilige Präsident das Privileg, sich aus dem großen und ständig anwachsenden Reservoir des mobilier national für den Elysée-Palast – auch gerne château genannt- das auszuwählen, was seinem Geschmack und den präsidialen Repräsentationszwecken am meisten entspricht. So sollen, wie uns bei dem Besuch der Manufaktur unsere Führerin augenzwinkernd erläuterte, ausländische Besucher vom französischen savoir-faire so beeindruckt werden, dass sie dann angeregt werden, auch einen Airbus oder eine Mirage zu  bestellen….

Praktische Hinweise:

Adresse: 42, Avenue des Gobelins im 13. Arrondissement

Öffnungszeiten der Dauerausstellung: täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr

Besuche der Ateliers: Mittwochs 15 Uhr, z.T. auch 13 Uhr. Frühzeitige Reservierung erforderlich. Es werden jeweils zwei der drei unter dem Dach des mobilier national vereinigten, in der Avenue des Gobelins installierten und auf unterschiedliche Verfahren spezialisierten Ateliers gezeigt.  (Atelier des Gobelins, de Beauvais und Savonnerie).

https://www.cultival.fr/visites/ateliers-des-gobelins-dans-les-coulisses-dun-metier-dart

 

Weitere Blog-Beiträge zu Ludwig XIV.:

Weitere Blog-Beiträge mit Bezug  zu Napoleon:

Anmerkungen

[1]  „Cette tapisserie vise à inscrire le chef de l’État français dans la lignée des grandes figures heroïque de l’histoire de France.“ Begleitfilm von Ophélie Juan zur Ausstellung und Begleittext zum Wandteppich

[2] Das repräsentative Ausstellungsgebäude an der avenue des Gobelins stammt aus der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

[3] http://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Metiers-d-art/Actualites/Au-fil-du-siecle-chefs-d-oeuvre-de-la-tapisserie-1918-2018

[4] Übernommen vom  Begleittext der Ausstellung

[5] „Jean et Philibert Gobelin, Tuchhändler und –färber „en écarlate“  hatten hier am Ufer der Bièvre am Ende des 16. Jahrhunderts ihr Atelier. Nach ihnen wurden  dieses Viertel von Paris und die Teppichmanufaktur benannt.“ Die Färbemethode „en écarlate“ war damals  besonders  innovativ und gefragt, weil man mit ihr vor allem  ein Spektrum leuchtender Rottöne erzeugen konnte. Siehe: Hélène Hatte und Valérie Rialland-Addach, Promenades dans le quartier des Gobelins et la Butte-aux-Cailles. Paris 2008, S. 72

[6] Zur Förderung der heimischen Produktion von Teppichen verbot er sogar die Einfuhr der bis dahin den Markt beherrschenden flämischen Teppiche.

[7] „Im September 1667 gründete Colbert in den Gebäuden der Gobelins die Möbel-Manufaktur der Krone unter der Leitung von Charles Le Brun“.

[8] https://www.universalis.fr/encyclopedie/charles-le-brun/4-le-directeur-de-la-manufacture-royale-des-gobelins/  und Henri Gleizes, Dans les Coulisses du Mobilier National. Paris 1983, S. 161

[9] Henri Gleizes, Dans les Coulisses du Mobilier National. Paris 1983, S. 154/156

[10] Siehe den Blog-Beitrag über den Faubourg Saint-Antoine, das Viertel des Holzhandwerks: https://paris-blog.org/2016/04/04/der-faubourg-saint-antoine/

[11] Bild aus: https://commons.wikimedia.org/

[12] Eine Zusammenstellung der Serie in: http://collections.chateauversailles.fr/#f8a9f9ca-48d8-4089-b22f-41bc940ec7bd und https://fr.wikipedia.org/wiki/Tenture_de_l%27Histoire_du_Roy

[13] https://www.histoire-image.org/de/etudes/manufacture-gobelins Siehe auch: Jean-Christian Petitfils, Louis XIV.  Paris, Fayard, 1999.

[14] Gleizes, a.a.O., S. 161  https://www.universalis.fr/encyclopedie/charles-le-brun/4-le-directeur-de-la-manufacture-royale-des-gobelins/ und http://www.mobiliernational.culture.gouv.fr/fr/nous-connaitre/les-manufactures/manufacture-des-gobelins

[15]  Gegenstand des Schwurs:  „de n’employer désormais leurs talents qu’à transmettre à la postériorité les images des héros et martyrs de la liberté ainsi que les actions mémorables des Français … républicains“. Gleizes, S. 163/164

[16]  Gleizes, S.  164

[17] Caroline Girard, La manufacture des Gobelins du Premier Empire à la monarchie de Juil  http://theses.enc.sorbonne.fr/2003/girard

[18] https://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/43.99/

[19] Girard a.a.O.

[20] https://www.napoleon.org/histoire-des-2-empires/objets/bonaparte-premier-consul-distribue-des-sabres-dhonneur-aux-grenadiers-de-sa-garde-apres-la-bataille-de-marengo-le-14-juin-1800/

[21] Bild aus: http://www.alaintruong.com/archives/2018/02/05/36115217.html

[22] Siehe  dazu den Beitrag über die Commune auf diesem Blog: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/2912

[23] Interview Macrons vom 8. Juli 2015: http://www.atlantico.fr/pepites/emmanuel-macron-manque-roi-2228499.html  und Interview mit dem Verfassungsrechtler  Dominique Rousseau vom 2. Juli 2017: https://www.nouvelobs.com/politique/20170629.OBS1399/congres-de-versailles-macron-tente-de-resacraliser-la-fonction-presidentielle.html

Geplante weitere Beiträge

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  • Von Lyon nach Dornholzhausen: Die Waldenser, eine französisch-italienisch-deutsche Flüchtlingsgeschichte, Teil 2: Die Waldenser in Hessen-Homburg
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  • Das Haus der Mutualité in Paris und der Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935

Chinatown in Paris (3., 8., 13. und 20. Arrondissement)

Gegenstand dieses Beitrags ist die chinesische „community“ in Paris. Sie ist von ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihrer Sprache und ihren Wohnvierteln  äußerst vielfältig. Chinesen, zu denen  auch Menschen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Südostasien gezählt werden, trifft man vor allem im 3., 13. und 20. Arrondissement an. Besonders sichtbar ist ihre Präsenz bei den Feiern zum chinesischen Neujahrsfest. Aber auch sonst lohnt es sich, Streifzüge durch die chinesischen quartiers zu unternehmen. Dazu will der nachfolgende Beitrag einige Hintergrundinformationen geben und anregen.

Chinatown in Paris? Das mag ziemlich merkwürdig erscheinen. Dass es chinesische Viertel in London, San Francisco oder New York gibt, ist ja bekannt, aber in Paris?

In der Tat: Wenn man den aktuellen Michelin-Führer von Paris (Erscheinungsjahr 2010) aufschlägt und im Stichwortverzeichnis nachschlägt: Fehlanzeige; und bei Ulrich Wickert, der einem immerhin „Alles über Paris“ mitzuteilen verheißt, desgleichen. Dafür gibt’s bei unserem alten „Guide du Routard“ von 1985 das Stichwort „Chinatown“- allerdings in Anführungszeichen. Und einer der 15 soziologischen Stadtrundgänge, die die renommierten Pariser Soziologen Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot vorschlagen (Paris 2009), hat die Schlagzeile:  Chinatown- ganz ohne Anführungsstriche, so wie ja auch in dem nachfolgenden Bild eines chinesischen Supermarkts.

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Also gibt es doch eine Chinatown in Paris, die allerdings, wenn man etwas genauer hinsieht, doch keine „richtige“ Chinatown ist: Denn das, was mit diesem Begriff bezeichnet wird, ist keine Stadt der Chinesen, sondern ein Stadtviertel, in dem viele Asiaten leben: Vietnamesen, Laoten, Kambodschaner, darunter und dazu allerdings auch viele, die aus China stammen. Und es gibt neben dem asiatischen Viertel im 13. Arrondissement, das mit dem Begriff „Chinatown“ gemeint ist, auch einen kleinen chinesischen Bezirk im 3. Arrondissement und selbstverständlich – und wohl am besten bekannt- die Chinesen in Belleville[1]. Und das ist noch nicht alles….

Insgesamt in der Tat  „une communauté multiple[2], was ihre Geschichte, ihre Herkunft und ihre bevorzugten Wohnorte in Paris angeht.

Ich versuche es mal –wie es sich als Historiker gehört- schön der Reihe nach.

Eine kleine chinesische Präsenz gab es in Paris schon seit dem 17. Jahrhundert: Der erste chinesische Student soll dem Sonnenkönig einige chinesische Schriftzeichen und den Gebrauch der Stäbchen beim Essen beigebracht haben. Um 1850 lebten etwa 50 Chinesen in Paris und das erste chinesische Restaurant wurde  eröffnet. Die Weltausstellung von 1900 trug dazu bei, das Interesse an chinesischen Produkten und der chinesischen Küche zu erweitern. Die erste nennenswerte Anzahl von Chinesen kam seit 1912 nach Frankreich. Damals  wurde nämlich zwischen der französischen und der chinesischen Regierung ein Vertrag abgeschlossen, der es jungen Chinesen ermöglichen sollte, in Frankreich kostengünstig ausgebildet zu werden. „Travail et Etudes en France“ hieß das Programm- sozusagen ein Vorläufer der bei heutigen Jugendlichen so beliebten aktuellen „travel and work“-Programme. Die meisten der etwa 2000 „étudiants-ouvriers“ kamen allerdings erst nach dem 1. Weltkrieg. Einer dieser Studenten war der spätere chinesische Ministerpräsident Tschu-En-lai, der zwischen 1922 und 1924 bei Renault in Billancourt arbeitete und in der rue Godefroy Nr. 17 im 13. Arrondissement wohnte- im gleichen Haus, in dem 1922 die französische Sektion der Kommunistischen Partei Chinas gegründet wurde. Tschu-en-lai war Führer des europäischen Zweigs der chinesischen Kommunisten und Mitglied der Gruppe der chinesischen Jungsozialisten von Paris, zu der übrigens auch ein weiterer, später prominenter „travailleur étudiant“ gehörte. [3]

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„Chou en lai 1898-1976 wohnte während seines Aufenthalts in Frankreich in diesem Haus“.

Kurz nachdem ich die Plakette fotografiert hatte, kam übrigens eine Frau vorbei und sah sich aufmerksam an, was ich da gerade aufgenommen hatte- möglicherweise hatte sie die Plakette noch nie beachtet).

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Angebracht wurde die Plakette übrigens 1976 bei einem Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Hua Guofeng in Paris von dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing. Der berichtet davon in seinen Erinnerungen „Le Pouvoir et la Vie“: Er habe bei dieser Gelegenheit seinem chinesischen Gast auch das Zimmer zeigen wollen, in dem Tschou gewohnt habe: „Hurlements de protestation à l’intérieur, poussées par une voix d’homme et une voix de femme, réunis dans la même indignation, et sans doute la même intimité.“ Der Betreiber des Hôtels hatte seine Zimmer offenbar stundenweise vermietet…

Eine ganz andere und viel größere Gruppe von Chinesen kam während des Ersten Weltkriegs nach Frankreich. Um den großen kriegsbedingten Arbeitskräftemangel zu lindern, schloss Frankreich 1915 einen Vertrag mit der chinesischen Regierung, der die Anwerbung von maximal 200 000 chinesischen Arbeitern vorsah. Rekrutierungsbüros wurden in Peking, Shanghai, Hongkong und anderen Städten eingerichtet. Insgesamt kamen 140 000 Chinesen, vor allem aus dem südlich von Shanghai gelegenen Wenzhou, nach Frankreich. Um die Zahl der Angeworbenen zu erhöhen, wurde übrigens auch eine Methode angewendet, die auch in Deutschland zu Zeiten des Absolutismus wohlbekannt war: Junge Leute wurden betrunken gemacht, so dass sie dann einen Vertrag unterschrieben. In China nannte man das offenbar  « shanghaïser ».[4]

Bei einem Ausflug ans Meer stießen wir vor einiger Zeit zufällig in der Nähe der Somme-Mündung auf ein uns sehr merkwürdig erscheinendes Hinweisschild: „Chinesischer Friedhof“. Also kurz entschlossen abgebogen und hingefahren! Zunächst fanden wir in  einem kleinen Dörfchen –Noyelles-sur-mer-  auf dem bescheidenen Dorfplatz zwei chinesische Löwen  bzw. Wächter des Buddha.

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… und dann außerhalb des Ortes den Friedhof mit  Gräbern bzw. Erinnerungstafeln von 884 zwischen 1917 und 1919 gestorbenen chinesischen Arbeitern.

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In Noyelles gab es nämlich im 1. Weltkrieg das „Basislager“ der chinesischen Kriegs-Hilfsarbeiter und für sie speziell auch ein Lazarett. Deshalb gibt es hier den einzigen rein chinesischen Friedhof auf französischem Boden. Unterhalten wird er übrigens von den Engländern, weil die meisten der dort begrabenen Chinesen von den Briten angeworbenen waren, die wie die Franzosen einen Vertrag mit China über die Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen hatten.  Die Chinesen durften/mussten keine Waffen tragen, wurden aber durchaus an der Front für schwierige Missionen eingesetzt: Bei der Aushebung von Schützengräben, der Bergung von Toten oder der Säuberung eroberten Geländes von Minen. Und als 1917 die schlimme spanische Grippe wütete, setzte man sie auch in der Krankenpflege ein. Entsprechend groß war die Zahl der Opfer.[5]

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Ein Teil der von den Franzosen angeworbenen chinesischen Arbeiter –etwa 3000-  kehrte nicht mehr nach China zurück, sondern blieb in Frankreich bzw. vor allem in Paris : Sie siedelten sich aufgrund der billigen Mieten und der verkehrsgünstigen Lage zunächst um den Gare de Lyon an und  eröffneten Geschäfte und Restaurants:  Es war die erste chinesische „Kolonie“ in Paris, die bald auch weitere Chinesen anzog. Die meisten dieser Chinesen, die im allgemeinen Analphabeten waren, verdienten ihr Geld als „Colporteurs“, das heißt sie boten als fliegende Händler auf den Märkten vor allem Lederwaren an.

Heute erinnert noch eine plaque commemorative in der Rue Chrétien du Troyes no 13 am Gare de Lyon an die chinesischen Arbeiter:

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Von 1916 bis 1918 beteiligten sich 140 000 chinesische Arbeiter in Frankreich an den Kriegsanstrengungen der Alliierten und mehrere Tausende verloren dabei ihr Leben. Nach dem Sieg ließen sich 3000 von ihnen im Bereich des Gare de Lyon nieder und bildeten die erste chinesische Gemeinde“. 

Heute ist davon nichts mehr zu sehen- eine Konsequenz der Sanierung des Viertels um den Gare de Lyon. Aber dafür gibt es in der Avenue Daumesnil, die am Gare de Lyon vorbeiführt, ein chinesisches Computergeschäft am anderen. Alle spezialisiert auf Laptops, deren Reparatur und entsprechendes Zubehör. In einem dieser Geschäfte war ich auch, als mein letzter Laptop seinen Geist aufgab, und ich wurde dort mit der zu erwartenden chinesischen Höflichkeit und außerdem sehr umgehend und korrekt bedient. In gewisser Weise kommt man sich da vor wie in einer mittelalterlichen Stadt mit ihren Weckmärkten, Seilergassen und Weißgerbergräben.

Auch die Soldaten und Arbeitskräfte aus dem südostasiatischen Kolonialreich, die während des ersten Weltkriegs in Frankreich eingesetzt wurden, waren nach dem allgemeinen Verständnis und Sprachgebrauch „Chinesen“. Insgesamt waren das über 40 000 sogenannte tiralleurs aus Tonking und Annam, die im Allgemeinen an die Front versetzte französische Arbeitskräfte ersetzten und wegen ihres exotischen Aussehens –nicht nur von Kindern- beäugt und bestaunt wurden.[6]

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Das Chinesenviertel im 3. Arrondissement  

Das älteste heute noch existierende Chinesenviertel ist das im 3. Arrondissement  in und um die Rue au Maire (Métro Arts et Métiers). Es waren vor allem Chinesen aus der Gegend um den Hafen von Wenzhou im Süden Chinas, die zwischen den beiden Weltkriegen nach Frankreich kamen Im 3. Arrondissement eröffneten sie kleine Geschäfte, stellten Lederwaren her und verkauften sie, vor allem in der Rue des Gravilliers. Außerdem arbeiteten sie in kleinen Textilwerkstätten, die meist jüdische Besitzer hatten. « L’expansion des Chinois dans le quartier des Arts-et-Métiers date véritablement de la seconde guerre mondiale, précise Marie Holzman. Beaucoup de Juifs ont alors été déportés par les Allemands. Dès qu’un atelier était vide, les Chinois s’installaient »[7]  1997 stellten die Chinesen im Quartier Arts et Métiers 1997 immerhin 27% der Bevölkerung![8]Ce petit Chinatown“ ist allerdings kein Touristenmagnet und nur wenige Auswärtige verirren sich in die kleinen Geschäfte und Restaurants, in denen man freundlich bedient wird – auch wenn man von den manchmal rein chinesischen Aushängen nichts versteht.

Und es gibt einen von außen gut sichtbaren buddhistischen Tempel, in dem man auch einen Tee serviert bekommt.

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Nicht versäumen sollte man es, in der Seitenstraße –Rue Volta Nr. 3- einen Blick auf den dortigen Fachwerkbau zu werfen. Das Haus galt lange als das älteste in Paris, seit 1978 wird es allerdings ins 17. Jahrhundert datiert. Eigentlich war diese Bauweise aus Feuerschutzgründen seit dem 16. Jahrhundert in Paris verboten, was aber nicht verhindern konnte, dass bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts weiter so gebaut wurde. Übrigens ist das bis  heute ein Problem in Frankreich: Kürzlich wurde in Le Monde berichtet, wie viele Gesetze in den letzten Jahren vom französischen Parlament verabschiedet wurden, die aber nicht in Kraft treten können, weil es an den notwendigen Ausführungsbestimmungen der Ministerialbürokratie fehlt.

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Unten gibt es  das Song Heng, ein kleines chinesisches/vietnamesisches Restaurant, das nach Auskunft der davor Wartenden sehr empfehlenswert ist: schnell –wenn man mal reingekommen ist- gut und preiswert!

Die Pagode des Ching Tsai Lao   (8. Arrondissement)      

Allerdings waren es nicht nur arme chinesische Arbeiter und „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Wenzhou, die sich in dieser Zeit in Paris niederließen. Paris zog auch chinesische Kaufleute an, die sich hier gute Geschäfte versprachen. Einer davon war Ching Tsai Loo. Aus einer reichen Familie von Grundbesitzern, Gelehrten und hohen Beamten stammend, gründete er 1908 eine erste Galerie chinesischer Kunst in Paris.  1928 ließ er in der Nähe der Grands Boulevards ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Wohnhaus im chinesischen Stil umbauen und verkaufte dort chinesische Antiquitäten, die er über seine Niederlassungen in Peking und Shanghai erworben hatte. Außerdem war sein Haus offen für chinesische Landsleute, unter anderem für den – auch aus „gutem Hause“ stammenden- Tschu-En-lai. Ob der kunstsinnige Großkaufmann Ching etwas von den revolutionären Aktivitäten seines Gastes wusste?

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Man traut  kaum seinen Augen, wenn man die Rue de Courcelles hochgeht und plötzlich auf diese chinesische Pagode stößt. Ich war ja schon zig-mal in Paris, aber das hatte ich noch nie gesehen. Eine wunderbare Entdeckung! Und es lohnt sich sehr, das Haus nicht nur von außen zu betrachten.

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Die Erben des Gründers betreiben hier immer noch einen Kunsthandel, und man kann die zum Teil aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende chinesische Inneneinrichtung und  die erlesenen Kunstwerke der Galerie besichtigen. Außerdem erfährt man auf Informationstafeln Interessantes über das Leben und Wirken von Ching Tsai Loo, eher bekannt unter dem Kürzel C.T. Loo.

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C.T.Loo -eigentlich Lu Huan Wen- stammt aus bescheidenen Verhältnissen.  Als Koch der  reichen chinesischen Familie Zhang folgt er dieser 1902 nach Paris, als sein Arbeitgeber Zhang Jinjiang an die Botschaft in Paris berufen wird. Zhang eröffnet dort auch an der place de la Madeleine ein Geschäft für chinesische Waren, die damals sehr in Mode waren, wo Loo nun arbeitet. Rasch entdeckt er, dass mit chinesischen Waren grandiose Geschäfte zu machen sind: Eine Vase aus Porzellan kann in Paris zum 10 000-fachen ihren Einkaufwertes verkauft werden! Loo macht sich also rasch selbstständig, eröffnet ein erstes Geschäft in Paris, es folgen weitere in London, Shanghai und in der 5th avenue in New York. Loo ist nun der weltweit erfolgreichste und  bekannteste Händler chinesischer Kunst. Mit der Gründung der Volksrepublik China versiegt der Nachschub von chinesischer Kunst und man wirft ihm heute in China vor, für den Ausverkauf chinesicher Kunst mitverantwortlich zu sein. Andererseits kann man ihm auch zugute halten, dass auf diese Weise  viele Kunstschätze vor dem Wüten der Kulturrevolutionäre gerettet wurden.

Praktischer Hinweis: 48 rue de Courcelles, 75008 Paris (Métro Courcelles oder besser St Philippe du Roule)                                                                            dienstags bis samstags zwischen 14 und 18 Uhr

Zu C.T.Loo siehe die Biographie von Geraldine Lenain, Monsieur Loo. éd. Philippe Picquier 2013 und den Artikel in Le Monde vom 2. April 2019: Le Musée Guimet sur les traces du mystérieux C.T. Loo (culture, S. 21) anläßlich der Übergabe von Dokumenten aus dem Besitz der Universität von New York an das Pariser Museum.

Das chinesische Viertel in Belleville   

Nach der kommunistischen Machtübernahme  im Jahr 1949 wurde die Auswanderung von Chinesen offiziell untersagt. Erst Anfang der 1980-er Jahre wurden die Ausreisekontrollen lockerer und es waren nun wieder –wie schon in den 1920-er Jahren Chinesen aus Wenhzou, die  -teilweise illegal- nach Frankreich kamen und vor allem in kleinen Textilbetrieben  arbeiteten.  So entstand die „Chinatown“ von Belleville.[9]

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Die Herkunft vieler  Geschäftsinhaber aus Wen Zhou ist  kaum zu übersehen.

Das  Wenzhou in der Rue Belleville Nummer 24 soll übrigens „der beste Chinese der Stadt“ sein.[10]

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Zu den Einwanderern aus Wen Zhou kamen dann auch noch Flüchtlinge aus dem ehemaligen französischen Indochina, die überwiegend zu den dortigen chinesischen Minderheiten gehörten.  Allerdings ist Belleville alles andere als ein reines Chinesenviertel:  Es ist ein altes Arbeiterviertel von Paris mit einer langen Tradition der Aufnahme und Integration von Fremden: Von Franzosen aus armen Provinzen wie der Auvergne, die sich im 19. Jahrhundert in Paris ein besseres Leben erhofften; von Elsässern/Franzosen, die nach der Annexion von Elsass-Lothringen 1871 durch das Deutsche Reich dort nicht länger leben wollten; von Juden aus Mittel- und Osteuropa auf der Flucht vor Pogromen und dann vor dem Nationalsozialismus. Und nach dem Krieg kamen dazu auch schwarzafrikanische und  vor allem nordafrikanische  Einwanderer.

Belleville wird gerne als Beispiel für ein erfolgreiches Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Hautfarbe und Religion angeführt. Es gibt allerdings durchaus auch Probleme des „vivre ensemble“ in Belleville – auch solche, die die Menschen mit chinesischen bzw. südostasiatischen Ursprungs betreffen.  Dazu gehören die expansive chinesische Präsenz in dem Viertel, die Kriminalität, als deren bevorzugte  Opfer sich gerade Chinesen betrachten, und die chinesische Prostitution. Entsprechende Informationen gibt es in dem Blog-Beitrag über  Belleville vom Juli 2016.

Ein Spaziergang durch das „chinesische Belleville“ kann an der Métro-Station Pyrénées beginnen (Linie 11)  und die Rue de Belleville hinunterführen bis zur Station Belleville (Linien 11 und 2). Dabei sollte man  öfters Blicke in die Seitenstraßen rechts und links werfen (incl. Bd de la Vilette und Bd de Belleville) und ggf. kleine Abstecher machen. Ein Einkauf in einem der chinesischen Supermärkte ist ebenfalls äußerst empfehlenswert.

Und natürlich auch ein Imbiss in einem der kleinen  chinesischen Restaurants an der Rue de Belleville oder auch im noblen Président, an der Ecke zwischen dem Bd de Belleville und der Rue  du Faubourg du Temple an der Métro-Station Belleville. Der Président ist eine Institution in Belville, seine Treppe à la Cannes ist legendär, „un vrai festival de Cannes à lui seul“, sein Ruf wurde vor Jahren durch einen Besuch Mitterands verbreitet. In der Mitte des großen Saals steht noch zwischen riesigen Aquarien und vergoldeten Drachen der Sessel, auf dem Mitterand bei seinem Besuch gesessen haben soll und der inzwischen den Status einer Reliquie innehat.[11]

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(aus Le Monde vom 31.1.2014)

Ein schöner Abschluss eines Rundgangs  ist übrigens der  Besuch bei der Association de l’Union des Indochinois en France in der Rue du Buisson St. Louis/Einmündung der Rue Civiale. Man wird dort sehr freundlich empfangen und kann sich die buddhistischen Altäre ansehen.

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Auf einem stehen in einem Glas Holzstäbchen, mit denen es folgende Bewandtnis hat:  Wenn man eine Frage/ein Problem hat, kann man sich ein Holzstäbchen nehmen, auf dem jeweils eine bestimmte Nummer aufgedruckt ist. Dann holt man sich aus dem Wandkasten ein Orakelkärtchen, das der gezogenen Nummer entspricht und findet dort –hoffentlich- die passende/erhoffte Antwort.

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Dem Altarraum angeschlossen ist auch ein äußerst spartanisch eingerichteter Klassenraum, in dem Kinder des Chinesenviertels am Wochenende chinesisch lesen und schreiben lernen, um so den Kontakt mit ihrer heimatlichen Kultur nicht zu verlieren.

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„Chinatown“  im 13. Arrondissement

Eine „multikulturelle“ Solidaritäts- Demonstration für die Chinesen des Viertels, wie es sie in Belleville gab,  wäre wohl in der „eigentlichen“ Pariser Chinatown im 13. Arrondissement kaum möglich und auch kaum erforderlich. In diesem alten/ehemaligen Arbeiterviertel von Paris haben sich vor allem seit den 1970-er Jahren viele Asiaten niedergelassen. Wie viele es genau sind, ist kaum exakt zu ermitteln. Georg Stefan Troller spricht von  35 – 40000 Asiaten meist chinesischer Herkunft oder Abstammung, die dort leben und die wahrscheinlich die größte Chinatown Europas bildeten (Paris geheim, S. 225). Nach Costa-Lascoux/Yu-Sion, die sich auf die offizielle Statistik von 1990 beziehen, sind es dagegen lediglich genau 5086 Personen im 13.Arrondissement, die zu diesem Zeitpunkt die chinesische Nationalität oder die eines der drei Länder  Indochinas hatten. Diese Unterschiede hängen sicherlich damit zusammen, dass die gewiss auch vorhandenen illegalen Einwanderer hier natürlich nicht mitgerechnet sind, die  inzwischen eingebürgerte Migranten ebenso wenig- und gerade bei den Südostasiaten ist der Anteil derer, die die französische Staatbürgerschaft anstreben und erhalten, besonders hoch. (Paris-XIIIe, S.27/28).  Wie auch immer: Selbst  Chinesen, die hier leben, sprechen von dem „quartier chinois du 13ème arrondissement“ und fügen dann noch –wenn auch in Klammern an:  „Le Chinatown parisien“ (Amicale des Teochew).

Dass der Begriff „Chinatown“ auch keine Kreation des Pariser Tourismus-Marketings ist, wird schnell deutlich. Sehr pittoresk ist diese Chinatown nämlich ganz und gar nicht – architektonisch jedenfalls verweist –soweit ich das gesehen habe-neben dem Tempel, zu dem wir noch kommen,  nur ein einziges Gebäude ganz bewusst und ostentativ auf den besonderen Charakter des Viertels: Und zwar ausgerechnet die Filiale von Mc Donalds in der Avenue de Choisy.

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Die lackierten Enten gibt’s allerdings bei Mc Donalds (noch) nicht!

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Ansonsten stehen aber im Zentrum der „Chinatown“ völlig gesichtslose Hochhäuser, die seit den 1960-er Jahren auf dem  Gelände der stillegelegten Autofabrik Panhard & Lavassor –einem der ältesten Autohersteller der Welt- errichtet wurden, an den heute fast nichts mehr erinnert.

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Es handelt sich um ein von den städtebaulichen Theorien Le Corbusiers inspiriertes Projekt: Ein Hochhausviertel mit dem schönen Namen Olympiades, weil die Hochhäuser –aus welchen Gründen auch immer- die Namen von Olympia-Städten tragen.

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Vorgesehen waren Sozialwohnungen (HLM- Habitations à loyer modéré), etwas  anspruchsvollere Wohnungen für den Mittelstand, vor allem aber Wohnungen für junge, gutverdienende Freiberufler und höhere Angestellte. Diese wollte man vor allem durch ein breites Angebot an Geschäften, Freizeitangeboten und schulischen und kulturellen Einrichtungen  anziehen. Allerdings erwies sich diese Hoffnung  als trügerisch. Die Besserverdienenden, die man vor allem im Auge hatte, wollten nicht in einer Umgebung im Stil der  HLM-Siedlungen im tristen banlieue wohnen.

In die freistehenden Wohnräume zogen vor allem seit dem Fall von Saigon 1975 Südostasiaten –oft chinesischer Herkunft- ein, die vor der Machübernahme der Kommunisten geflohen waren. Dazu kamen nach 1979 weitere –ebenfalls oft chinesisch-stämmige- Vietnamesen, Laoten und Kambodschaner als Folge chinesisch-vietnamesischen Krieges – oft „boat people“ ohne finanzielle Mittel. Um die hohen Mieten in den  Olympiades-Türmen  zu bezahlen, wurden die Wohnungen meist völlig überbelegt, oft  von mehreren Familien. Und es wurde dort nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet: vor allem in kleinen Familien-Betrieben der Textil-Herstellung, wobei da wohl, was Arbeitsbedingungen, Steuern und Sozialabgaben angeht, die rechtlichen Rahmenbedingungen gerade in den ersten Jahren zum Teil unbeachtet blieben.  Und das Geld, eine Wohnung zu kaufen oder zu mieten und das Startkapital für ein Geschäft oder einen kleinen Betrieb erhielten die mittellosen Neuankömmlinge nicht durch eine „klassische Bank“, sondern durch die sogenannte „tontine chinoise“,  ein ganz traditionelles chinesisches System der Geldbeschaffung –das auf gegenseitigem Vertrauen und persönlichen Beziehungsgeflechten beruht. Den Ruf von „Chinatown“ förderte das alles nicht. In etwas maliziös gemeinten Bezeichnungen wie „chinesisches Dreieck“ oder „triangle de Choisy“ kommt das zum Ausdruck.[12] (Gemeint ist damit das Dreieck zwischen den Avenuen d’Ivry, Choisy und der Rue de Tolbiac, wozu auch noch das Olympiades-Gelände kommt. Und die Grenzen zwischen „ville européene“ und „ville chinois“ sind sowie fließend. Und wenn dieses Viertel –und vor allem die Olympiades-Betonwüste-  architektonisch eher abschreckend wirken mag: Ein Rundgang, so wie er hier von dem Soziologenpaar Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot vorgeschlagen wird, lohnt sich auf jeden Fall. (Paris, S.130ff).

Zwischen dem Ausgangspunkt, der Metrostation Porte d’Ivry und dem Endpunkt, dem Supermarkt Tang Frères, gibt es eine Menge zu entdecken und man bekommt einen Eindruck von der Vielfalt der Menschen, die hier zusammen leben. „ Le quartier chinois de Paris, connu de nom, méconnu en réalité, est une expérience à vivre. Les couleurs, les odeurs: tout donne l’impression d’être à des milliers de kilomètres de la capitale parisienne…. l’on se surprend à se sentir comme un touriste dans sa propre ville.“[13]

 Dass man in einer anderen Welt ist, merkt man schon sehr schnell, nachdem man die Metrostation verlassen hat: Am Zeitungskiosk gibt es chinesische Zeitungen –einige werden von Peking, andere von Taipeh unterstützt- man findet chinesische bzw. ostasiatische Geschäfte jeder Art: Reisebüros, Versicherungen, Immobilienbüros, Reinigungen, Kunsthandwerk, Lebensmittelläden, Video-Clubs, Reinigungen, Restaurants, Frisöre, Schönheitssalons…

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Alle Aushänge auf chinesisch – oder in anderen ostasiatischen Sprachen;  manchmal kann man mit Mühe kleingedruckte –und oft unvollständige-  französische Übersetzungen finden– so in einem Reisekatalog der Compagnie Franco Asiatique de Voyage, die im „Chinesenviertel“ zwei Niederlassungen unterhält und offenbar für dessen Bewohner Reisen vor allem in die alte Heimat anbietet.

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Zwischen dem Ausgangspunkt, der Metrostation Porte d’Ivry und dem Endpunkt, dem Supermarkt Tang Frères, gibt es eine Menge zu entdecken und man bekommt einen Eindruck von der Vielfalt der Menschen, die hier zusammen leben. „ Le quartier chinois de Paris, connu de nom, méconnu en réalité, est une expérience à vivre. Les couleurs, les odeurs: tout donne l’impression d’être à des milliers de kilomètres de la capitale parisienne…. l’on se surprend à se sentir comme un touriste dans sa propre ville.“[14]

Zwei Orte sollte man bei seinem Rundgang durch das chinesische Viertel unbedingt ansteuern: den buddhistischen Tempel auf der Ostseite des Olympiades-Geländes und den Supermarkt der Tang-Brüder:

Dieser 1989 entstandene buddhistische Tempel ist eine Einrichtung der „Amicale des Teochew en France“.

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 Die Teochew oder –wie sie nach der Aussprache auch bezeichnet werden: Chaozhou- stammen aus der im Süden Chinas gelegenen Provinz Guangdong. Vor 1975 war ihre Zahl in Frankreich völlig unbedeutend. Heute bilden sie die größte Gruppe unter den Chinesen in Paris und alle großen chinesischen Händler der Hauptstadt gehören zu ihnen. Dieser Wohlstand wird auch an dem Tempel sichtbar. Liegt der zweite Tempel der Olympiades unter dem Beton-Boden des Geländes und versteckt neben der Zufahrt zur Tiefgarage (Rue de Disque/Avenue d’Ivry- siehe Plan), so ist der Tempel der Teochew kaum zu verfehlen: Hinweisschilder verweisen auf ihn und seine Architektur hebt ihn aus  dem betongrauen Einheitsbrei der darum herumstehenden Hochhäuser und Einkaufszentren heraus. Besucher werden freundlich empfangen und es gibt auch ein Informationsblatt zum Tempel und der Amicale des Teochew.

Die Vereinigung bietet eine Vielzahl von pädagogischen, künstlerischen, sportlichen und religiösen Aktivitäten an. Ziel ist es vor allem, die landsmannschaftliche Verbundenheit und die Traditionen der Teochew in Frankreich zu bewahren und Neuankömmlinge dabei zu unterstützen, in Frankreich Fuß zu fassen.  Im Tempel beeindrucken vor allem die 18 „wilden Kerle“ an beiden Seiten. In Wirklichkeit sind das aber so etwas wie buddhistische Heilige, sogenannte „Luohans“ oder „arhats“: Sie haben übermenschliche Kräfte, mit denen sie das Wohlergehen der Menschen fördern und Gutes für sie tun. Jeder hat seine speziellen Aufgaben, meist an ihren Attributen erkennbar:   einer zum Beispiel jagt den Tiger, ein anderer bringt die Löwen zum Lachen, und ein weiterer der  18 zähmt den Drachen- ich nehme an, dass das der abgebildete Luohan ist.

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Zum Abschluss des Rundgangs sollte man unbedingt in den Supermarkt der Tang Frères gehen. Und dafür gibt es viele gute Gründe:

Dieser Supermarkt ist der größte ostasiatische Markt in Paris. Besonders an den Wochenenden kommen Ostasiaten aus dem ganzen Großraum von Paris zum Einkaufen hierher.  Allein schon hindurchzugehen und sich die Produkte und die Menschen anzusehen ist ein Abenteuer.                                                                                                                     Die Geschichte der Tang frères ist eine wunderbare ostasiatisch-französische Erfolgsgeschichte.

Die Brüder Khambou und Bounmy Rattanavan verließen 1975 ihr Heimatland Laos, emigrierten nach Paris und gründeten dort 1976 eine Export-/Importfirma mit dem Namen Tang-Frères. Inzwischen ist das –laut Wikipedia- „the biggest Asian supermarket chain west of China“. Umsatz  2009: 174 Millionen €! Erreicht wurde dies u.a. durch eine breite Diversifizierung. Es gibt nicht nur Tang- Supermärkte, sondern auch Tang- China-Imbiss-Stuben –etwas übertrieben Tang Gourmet benannt- , z.B. am Place d’Italie und –natürlich- in der Rue de Belleville. Außerdem importiert und produziert das Unternehmen chinesische DVDs,  ist im TV-Geschäft aktiv und hat zahlreiche lukrative Alleinvertriebsrechte: unter anderem für Danone-Produkte in China und in Frankreich für das Tsingtao-Bier (gegründet 1903, wie stolz auf den Dosen vermerkt wird, und zwar von deutschen Braumeistern in der damaligen Kolonie Tsingtao, was allerdings nicht auf den Dosen steht. Damals hatte das Bier allerdings noch einen anderen Namen: Es hieß „Germania“[15]).

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Einer der beiden Tang-Brüder äußerte sich in einem Gespräch mit Time Europe vom 26. Juni 2000 folgendermaßen zum Verhältnis von Identität und Integration:

„The problems [of integration into France] are mainly problems of communication. At first, the Chinese community made the mistake of remaining closed. They didn’t communicate. But now there’s a second generation that’s been to school here, and it’s opening up more. I think it would be a shame for my children to lose their Chinese culture. Europe needs young people with a dual culture. When you’ve known war and poverty, it makes you stronger. When you’ve got a strong sense of family, you want your kids to succeed. So you keep an eye on them and make sure they study hard. When parents attach importance to their children’s studies and offer encouragement, the children can only succeed.”[16]

Diese Verbindung von Traditionsbewahrung, Integration in die neue Heimat, Familiensinn- bzw. weiter gefasst: landsmannschaflicher Verbundenheit, Lernwillen und Aufstiegsbewusstsein scheint mir, soweit ich das beurteilen kann, typisch zu sein für die Chinesen/Südostasiaten in der Pariser „Chinatown“. Und es ist ja sicherlich auch kein Zufall, dass in dem kurzen Statement zweimal die Begriffe „study“ und „succeed“ verwendet werden: Wenn –wie auch jetzt wieder anlässlich der PISA-Ergebnisse- auch in Frankreich von den schulischen Problemen der Kinder mit „Migrationshintergrund“ gesprochen wird: Die Kinder aus der „Chinatown“ sind damit sicherlich nicht gemeint.  Costa-Lascoux/Yu-Sion heben in ihrer Arbeit über das 13. Arrondissement ausdrücklich die von allen Seiten bestätigte  Motivation,  Arbeitsqualität und den schulischen Erfolg der Schüler/innen asiatischer Herkunft hervor- und dies, obwohl zu Hause i.a. nicht französisch gesprochen würde und die Eltern die Sprache ihrer neuen Heimat oft auch nur sehr unvollkommen beherrschten. Die Schule sei für sie aber gewissermaßen „heilig“.  „Wenn ich nur asiatische Schüler hätte“, wird z.B. der Kollege einer Schule im 13. Arrondissement zitiert, „könnte ich abends früher und wesentlich weniger erschöpft nach Hause gehen“ (S.120). Die asiatischen Schüler sind also in vielfacher Hinsicht „des élèves modèles“ (S.119). Und dazu passt ja übrigens auch, dass das „außer Konkurrenz“ teilnehmende Shanghai bei der letzten PISA-Untersuchung weltweiter Spitzenreiter geworden ist.

Das chinesische Neujahrsfest

Jedes Jahr gibt es zum chinesischen Neujahrsfest den traditionellen Umzug durch das 13. Arrondissement. Hier wird einerseits das Traditionsbewusstsein der Asiaten deutlich, aber auch ihr Wunsch, sich nach außen zu öffnen und darzustellen. Der Umzug mit seinen spektakulären Drachen- und Löwentänzen, der mehrere Stunden dauert, ist ein Anziehungspunkt für die chinesischen Gemeinden der Ile-de-France, aber auch für viele alteingesessene Pariser und Touristen. Aufgrund der traditionellen, farbenfrohen Kostüme, der Böller und der „Motivwagen“ kommt man sich ein wenig vor wie auf unseren Faschingsumzügen, und die Veranstalter sprechen ja auch selbst von einem „Carnaval du nouvel an chinois“.

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Während es bei uns die verschiedenen Karnelvals- und sonstigen Vereine sind, die die einzelnen Wagen und „Nummern“ gestalten, sind es hier meistens die Vereinigungen von Chinesen aus verschiedenen Gegenden ihrer Heimat:  Die „Association amicale des Cantonais“,  die „Association de la Communauté de Hainan  en France“, die „Association des Panyu en France“…  Manche der Namen, die auf den jeweils vorangetragenen bestickten Transparenten erschienen,  hatte ich noch nie gehört, aber neben mir stand bei meinem letzten Besuch des Neujahrsfests ein freundlicher junger „Asiate“, der mir eine kleine Nachhilfestunde in chinesischer Geographie gab.

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Dieser Umzug zum chinesischen Neujahrsfest ist ein eindrucksvoller und anschaulicher Ausdruck der Bedeutung der „Asiaten“ in Frankreich.

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Und dabei ist dieser Umzug im 13. Arrondissement nur ein Teil der Festivitäten, die es zum chinesischen Neujahrsfest in Paris gibt. Auch die chinesischen Gemeinden im 3. und 20. Arrondissement veranstalten Umzüge, vor dem Rathaus des 11. Arrondissement und an  vielen anderen Stellen werden Löwentänze aufgeführt, es gibt oft auch Konzerte mit traditioneller chinesischer Musik, wie –hier zu sehen- im Festsaal des Rathauses  des 13. Arrondissements.

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Und überall sind die Rathäuser, in deren Bezirken eine größere chinesische Gemeinde lebt, und die „chinesischen Straßen“ und Geschäfte mit den glücksbringenden roten Lampions geschmückt.

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Das Rathaus des 3. Arrondissement

Gerade das chinesische Neujahrsfest ist also ein schöner Anlass, einen Eindruck von der Vielfalt,  Bedeutung und Vitalität des „chinesischen Paris zu gewinnen.

Pour en savoir plus:

Costa-Lascoux, Jacqueline und Live Yu-Sion: Paris-XIIIe, lumières d’Asie. Paris 1995

Marie Holzman, Chinois de Paris (1989).

Loizeau, Emmanuelle: Le 3e Arrondissement. Itinéraires d’histoire et d’architecture. Paris 2000

Pinçon, Michel und Pinçon-Charlot, Monique: Chinatown, un ghetto chinois à Paris? In: Paris. Quinze promenades sociologiques. Paris 2009, S. 130-156

Führungen durch das ”chinesische Belleville”:  Donatien Schramm Tel. 06.30.75.47.22 cffc75@yahoo.fr (samstags 14.30)

Anmerkungen:

[1]  siehe dazu den Blog-Beitrag über Belleville vom Juli 2016

[2] http://www2.cnrs.fr/presse/thema/600.htmImprimer

[3] Zur Geschichte der chinesischen Präsenz in Frankreich/Paris siehe den kleinen Text von Donatien Schramm: http://www.chine-france.com/wp-content/uploads/2013/07/LA-PRESENCE-CHINOISE-EN-FRANCE.pdf

Schramm ist Président de l’Association Chinois de France – Français de Chine

[4] http://lagrandeguerre.blog.lemonde.fr/2013/12/26/les-travailleurs-chinois-de-la-premiere-guerre-mondiale-22/ und Schramm (a.a.O.)  Dazu auch : Ma Li, Travailleurs chinois dans la première guerre mondiale (2012)

[5] www.tao-yin.com/wai-jia/cimetiere_noyelles.htm

[6] Manon Pignon, 1914-1918. Paris dans la Grande Guerre. Paris, Parigrmme 2014

[7] http://lagrandeguerre.blog.lemonde.fr/2013/12/26/les-travailleurs-chinois-de-la-premiere-guerre-mondiale-22/

[8] Loizeau, S. 54- eine neuere Statistik habe ich nicht.

[9]http://www2.cnrs.fr/presse/thema/600.htmImprimer. Siehe dazu auch den Blog-Beitrag über Belleville (20. Arrondissement) vom Juni 2016

[10] http://www.weltenbummlermag.de/paris-naschkatzen

[11] http://www.lemonde.fr/societe/article/2014/01/31/l-or-retrouve-du-restaurant-le-president-symbole-de-la-mue-chinoise-de-belleville_4357852_3224.html

http://www.evous.fr/Restaurant-Le-President,1128405.html#2jBLTGVD7cJ5VqxL.99

http://www.leparisien.fr/espace-premium/actu/comment-vote-13-04-2012-1952538.php

[12] Costa-Lacoux/Yu-Sion, 148

[13] http://www.decouvrir-paris.fr/2010/04/le-quartier-chinois-toute-lasie-a-paris/

[14] http://www.decouvrir-paris.fr/2010/04/le-quartier-chinois-toute-lasie-a-paris/

[15] http://www.chine-france.com/wp-content/uploads/2013/07/LA-PRESENCE-CHINOISE-EN-FRANCE.pdf

[16] http://www.time.com/time/europe/specials/immigration/voices_tang.html

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