Mit Odysseus im Labyrinth: Die Jahresausstellung 2022 der Stiftung Carmignac auf Porquerolles

Nach den beiden Ausstellungs – highlights 2019 und 2021, die schon Gegenstand dieses Blogs waren[1], präsentiert die Fondation Carmignac in diesem Jahr Le songe d’Ulysse  (Der Traum des Odysseus): Auch diesmal wieder eine grandiose Ausstellung, vielleicht sogar die eindrucksvollste dank der Einheit von Thema, Ort, Objekten und Form ihrer Präsentation .

Diesmal geht es um Odysseus, den Helden des Homer’schen Epos, der 10 Jahre vor Troja kämpfte und dann 10 Jahre auf dem Meer herumirrte, bis er schließlich wieder in seine Heimat Ithaka zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Menelaos zurückfand.

Porquerolles ist ein idealer Ort für eine solche Ausstellung: Das Licht, das Meer, die Bäume und die Grotten sind noch immer so wie zur Zeit des Homer. Und es geht die Sage, dass Odysseus auf seinen  Irrfahrten auch auf Porquerolles gewesen sei und die Insel  von dem Riesen Alycastre befreit habe. Der sei von Poseidon, dem Feind des Odysseus, geschickt worden.

Eine von Miquel Barceló geschaffene Skulptur des Ungeheuers empfängt den Besucher am Eingang der Villa  Carmignac.

Eintauchen in die Welt des Wassers

Wie schon bei der Jahresausstellung 2021 zum Thema La mer imaginaire ist das Wasser das vorherrschende Element der Ausstellung.  Denn auf dem Wasser irrte Odysseus umher und durchstreifte das Mittelmeer von Troia über die griechischen Inseln bis -vielleicht- Nordafrika, Italien und eben Porquerolles….  Wenn man wie üblich am Empfang der Villa seine Schuhe ausgezogen hat, geht man die Treppe hinunter und taucht auch schon ein in die faszinierende Welt des Wassers.[2]

Illustriert wird das Eintauchen durch eine Wandtapete, angefertigt nach dem Grabstein des Tauchers (480-470 v. Chr.) im Nationalmuseum von Paestum. Zur Unterwasserwelt der Ausstellung gehören auch zwei große Kunstwerke, die in der Villa  Carmignac  ihren festen Platz haben:

Da ist zunächst Bruce Naumanns One Hundred Fish Fountain (2005). Der Brunnen besteht aus 97 Bronze- Fischen. Es sind sieben verschiedene Arten vertreten, die Naumann in seiner Jugend selbst gefischt hat. Der Brunnen nimmt einen ganzen abgeschlossenen Raum ein: Ein wunderbares Erlebnis, wenn sich das Wasser aus den unzähligen kleinen Fischfontänen ins große Wasserbecken ergießt. Man kann sich auf eine der Bänke am Rand setzen oder einfach auf den Boden und zu- und in-sich hineinhören.

Das andere ist das große Unterwasser-Panorama von Miquel Barceló.

Der schrieb dazu:

Ich habe das große Bild so konzipiert, dass man sich wie in einem Aquarium voll mit diesen schrecklichen Tieren fühlt, diesen Riesen-Kraken und -Calamaren… Ich wollte das Gefühl vermitteln, von der Malerei umgeben zu sein – wie bei den Seerosenbildern von Monet, wie in einer Kapelle, aber mit einem bedrohlichen, ungeheuerlichen Aspekt.“[3]

Schiffbruch, Tod und Leben

Von dem Fische-Brunnen und den Riesen-Kraken und -Kalamaren ist es nicht weit zum zentralen Raum des Gebäudes mit einer -auch diesmal wieder-  spektakulären Installation, in der es -wie auch schon bei der Jahresausstellung von 2021- um Leben und Tod geht. Damals war es das riesige Skelett eines Wals, das aber Grundlage für neues Leben ist.

Diesmal ist es eine aus zerbrochenen Masten und heruntergerissenen Segeln zusammengesetzte Metapher eines Schiffbruchs – passend zu Odysseus, der „auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet“, wie es gleich am Anfang des Epos heißt.

Zu diese vielen Leiden gehörte auch der Schiffbruch: Nach dem Sieg über Troja gerät Odysseus in einen Sturm, und die Nymphe Kalypso nimmt den Schiffbrüchigen bei sich auf, verliebt sich in ihn und hält ihn sieben Jahre fest. Doch als sie ihn endlich auf Wunsch der Götter ziehen lässt, beginnt die Irrfahrt erst wirklich. Denn der Meeresgott Poseidon sinnt auf Rache für die Blendung seines Sohnes Polyphem, des einäugigen Riesen, der Odysseus und seine Gefährten in einer Höhle gefangen gehalten hatte und dabei war, alle zu verzehren…  Rache bedeutete für den Gott des Meeres, die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Menelaos  zu verhindern, also auch Schiffbruch…

Die Installation ist eine für diese Ausstellung konzipierte Koproduktion von Jorge Peris und der Fondation Carmignac:  heroes boca a bajo. Es ist ein Moment der Stille, das Schiff geht unter, die Segel fallen in sich zusammen, Rettung ist nicht mehr möglich. Das Gesicht der Helden blickt nach unten, in den Tod.  Aber der wird nicht siegen: Dafür sorgen die Sonne und die Wolken, die durch die Decke, ein Wasserbecken, ständig sich verändernde Spiegelungen auf den hellen Segeln bilden. Ein grandioses Schauspiel von flimmerndem Licht und Schatten. Sogar aus der Unterwelt, konfrontiert mit dem Tod, kehrt Odysseus unversehrt, ja gestärkt wieder ans Licht. Auch wenn er seine Gefährten auf seinen Irrfahrten verliert, er findet schließlich auch wieder den Weg zu Frau und Kind nach Ithaka.

Faszinierend ist es auch, wenn man -bei unserem Besuch stand gerade eine Tür offen- das Wasserschauspiel von oben beobachten kann.

Die Ausstellung als Labyrinth

Francesco Stocchi, der Kurator der Ausstellung, hatte die Idee, die Ausstellungsräume in ein Labyrinth zu verwandeln. Um den zentralen Raum herum ist eine Folge von engen Kabinetten mit Spiegelungen und Scheintreppen eingerichtet. Das ist äußerst raffiniert gemacht:  Nach dem Ausstellungsbesuch hatten wir uns am Ausgang mit Freunden verabredet und tauschten kurz unsere ersten Eindrücke aus. Und da stellten wir gemeinsam fest, dass allen das eine oder andere -für den einen oder die andere besonders Wichtige- entgangen war.  Also eine neue Runde im Labyrinth….

Durch die Wahl des Labyrinths als Leitidee der Ausstellungsarchitektur wird der Besucher ein wenig in die Situation des Odysseus versetzt. Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, keinen Pfeil, der zum Ausgang weist. So muss jeder sich auf seine eigene Suche begeben, seinen eigenen Weg finden.

Das Labyrinth strukturiert aber nicht nur die Szenographie, sondern es ist auch direkt Gegenstand der Ausstellung.

Dieser geknüpfte Teppich von Marinus Boezem (Collection du Mobilier National, Paris), nimmt das Motiv des Labyrinths der Kathedrale von Chartres auf.[4] In ihm kann man sich nicht verlieren- es gibt nur einen Weg, den man nicht verfehlen kann, und der führt zu Gott.  Aber -wie es im Begleittext heißt: Es ist auch ein Weg der Meditation, der den Besucher „zu sich selbst führt“. Nur konsequent also, dass dieser Teppich im Eingangsbereich der Ausstellung angebracht ist, bevor der Besucher in das nachfolgende „Labyrinth“ eintritt… 

Aber daneben gibt es auch noch den Leinen-Stoff aus der peruanischen Nazca-Kultur, entstanden zwischen 80 vor Chr. und 50 nach Chr. Das Motiv erinnert auch an ein Labyrinth, aber in seiner Mitte lauert der Tod, eine Spinne.

Dies ist ein kleiner Ausschnitt einer Boje von Mark Bradford (The loop of deep waters 1, 2014). Die Oberfläche ist mit bemaltem Pappmaché und Reisverschlüssen neu gestaltet: Jahrhunderte-alte chinesische Wasserwege, die für Handel,  Austausch, Kolonisation und Eroberung genutzt wurden – so wie auch die Wasserstraßen im Mittelmeer, auf denen Odysseus bei seinen Irrfahrten unterwegs war.

Keith Haring (Untitled 1982) hat unter vielfältigen Einflüssen wie der steinzeitlichen Wandmalerei (la peinture rupestre) und den indianischen Kulturen Amerikas eine eigene „Iconographie sous forme de labyrinthe narratif“ entwickelt. Dazu gehören das christliche Kreuz als Ausdruck seiner Skepsis gegenüber den Religionen und die ägyptischen Hieroglyphen.

Penelope, die sehnsüchtig Wartende, Hoffende, Ärgerliche…

Gewissermaßen der Bezugsrahmen der 20 Jahre Krieg und Irrfahrten des Odysseus war seine Frau Penelope. Und mit zwei Arbeiten von Martial Raysse zu Penelope beginnt und endet auch die Ausstellung.

Martial Raysse, Faire et défaire Pénélope that’s the rule, 1966  (Fondation Carmignac)

Penelope wartet 20 Jahre lang treu auf ihren Gatten und glaubt fest an seine Rückkehr. Drei Jahre lang erwehrt sie sich ihrer aufdringlichen Freier. Sie gibt vor, erst ein  Totentuch für ihren Schwiegervater Laërtes weben zu müssen, bevor sei eine neue Ehe eingehen kann. Aber nachts trennt sie immer auf, was sie tagsüber gewebt hat. Die aus beweglichen Bruchstücken zusammengesetzte Arbeit von Martial Raysse bezieht sich auf diesen Prozess des Machens und des Rückgängig-Machens (faire et défaire).  

Man Ray, Objet indestructible (1965) 

Dieses Werk ist zusammengesetzt aus einem Metronom und dem darauf befestigten Bild eines Auges.  Man Ray setzte es ein, wenn er malte. Es war sein akustischer und rhythmische Begleiter und Beobachter. In seiner ursprünglichen Version hieß es Object à détruire. 1957 wurde das Objekt gestohlen und schließlich von Man Ray durch ein neues, reproduzierbares -und damit unzerstörbares- ersetzt. Das Metronom gibt zwar ein bestimmtes Tempo vor, aber das kann/muss man selbst wählen – und die Dauer ist unbegrenzt…

Man Rays unzerstörbares Objekt verweist auf die Dimension der Zeit: 10 Jahre kämpft Odysseus in Troja, 10 Jahre dauert seine Irrfahrt, bis er endlich zu sich und nach Hause gefunden hat: sehr lange also, gerade auch bezogen auf die damalige kürzere Lebenserwartung. Vielleicht darf man das als Botschaft an die Besucher verstehen, sich auf ihrem eigenen Weg Zeit zu nehmen und zu geben…

Tony Matelli, Weed  (2017) Dauerinstallation

Die äußersten Widrigkeiten zum Trotz sich behauptende Pflanze Tony Matellis und das nachfolgend abgebildete Bild von Roy Lichtenstein verstehe ich als Ausdruck von Hoffnung und Sehnsucht, die die Beziehung von Penelope zu ihrem verschollenen Mann geprägt hat.

Dieses Bild von Martial Raysse aus dem Jahr 1962 hat keinen Titel. Aber im Zusammenhang dieser Ausstellung bezieht es sich auf Penelope, es dient auch als Motiv für Katalog-Cover und Ausstellungspräsentation. Der nachdenkliche fragende Blick der jungen Frau passt gut zu Penelope. Oftmals wurde sie in ihren Hoffnungen enttäuscht, sie zieht sich zurück und träumt von ihrem abwesenden Gatten. Im Traum lebt sie die Sehnsucht nach Odysseus aus und hält sein Bild wach, wie es war, als er in den Troianischen Krieg aufbrach- und dabei wird sie selbst noch schöner und begehrenswerter.[5]

Den Abschluss der Ausstellung bildet ein weiteres Patchwork Bild von Martial Raysse, bei dem der Bezug zu Odysseus und Penelope ganz explizit ist:  Ulysses, why do you come so late poor fool? – eine immerhin doch etwas befremdliche Begrüßung des endlich zurückgekehrten und herbeigesehnten Gatten.

Aber sie passt doch auch zu dem kühl distanzierten, nahezu abweisenden Verhalten Penelopes im Epos: Immerhin kehrt Odysseus -von Athene perfekt als Bettler getarnt-  gealtert, mit Glatze und Runzeln zurück, und Penelope will und muss ganz sicher sein, dass sie es auch wirklich mit ihrem Mann zu tun hat. Und schließlich war Odysseus ja 20 Jahre verschollen und hatte sich/bzw. wurde 10 Jahre auf dem Meer herumgetrieben, und die eheliche Treue, die Penelope auszeichnete, galt dabei für ihn eher nicht ….  Da darf sie den armen Teufel durchaus fragen, warum er denn erst so spät kommt…

Wind und Wellen, die Sonne und die Sterne…

Winde und Wellen begleiten Odysseus auf seinen Irrfahrten, und heftige Stürme bringen ihn vom Weg in die Heimat ab und machen ihn zum Schiffbrüchigen.[6] In der Ausstellung wird auf sehr originelle Weise die Macht des Windes den Besuchern erfahrbar gemacht: Da ist ein Instrument in die Wand eingebaut, dem Anschein nach ein altes defektes Gebläse, das ab und zu und für einige Minuten einen starken Windstoß erzeugt, der die davor stehenden Besucher erfasst.

Micol Assaël, Senza Titolo (Dielettrico) 2002

Wie müssen da erst die Winde des zürnenden Meeresgottes Poseidon und die von Odysseus‘ Gefährten mutwillig freigelassenen fürchterlichen Stürme von Aiolos, dem Gott der Winde, gewesen sein. Das Werk soll uns aber auch die Gefahren unserer Umwelt bewusst machen, wie es in der  beigefügten Erläuterung heißt: Der historisch/literarische Bezug und die aktuelle Erfahrungsdimension sind in der Konzeption der Ausstellung immer präsent.

Eine außergewöhnliche Idee, die Macht der Winde anschaulich zu machen, ist hier zu sehen: Allessandro Piangiamore hat aus Erde, die er an verschiedenen Orten von Porquerolles gesammelt hat, kleine Formen hergestellt. Die hat er dann an exponierten Stellen der Insel wie dem Leuchtturm an der Spitze oder den Forts im Westen und Osten den winterlichen Winden der Insel ausgesetzt. So wurden sie von ihnen geformt, es sind Skulpturen der Winde. Und die  Farben -von ocker bis violett- stammen ebenfalls von verschiedenen Orten der Insel. (Alessandro Piangiamore, tutto il vento che c’é, 1021/22 und Il cacciatore  di polvere, 2022)  Eine Gemeinschaftsproduktion des Künstlers und der Stiftung Carmignac).

Hier ein spätes Werk von Roy Lichtenstein, eines Lieblingsmalers der Stiftung: Fishing Village, 1987. Eine farbige wilde, den geradezu explosiven Kräften der Natur ausgesetzte Landschaft.

Willem de Kooning, Untitled XLIII (1983)

Das Icarus-Thema, das in diesem Werk von Adger Covans thematisiert ist (Icarus 1970), verweist nicht nur auf die Macht der Elemente, sondern auch auf menschliche Grenzen. Die berücksichtigt Odysseus bei seinen Irrfahrten: So lässt er sich von seinen Gefährten am Mast seines Schiffes festbinden, um nicht dem Gesang der Sirenen zu erliegen…

Hier zwei Ausschnitte eines wunderbaren Sternenhimmels, den Miguel Rothschild aus kleinen Stecknadeln kreiert hat. Ich musste dabei unwillkürlich an den „bestirnten Himmel über uns“ denken, der Kants Gemüt „mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllte. Und für diese Bewunderung gibt es auch seit der Zeit Kants immer neuen Anlass. Es geht aber um mehr: Rothschild hat seine Arbeit mit einem berühmten Shakespeare-Zitat aus dem Drama „Julius Caesar“ überschrieben: The fault is not in our stars, but in ourselves that we are underlings.  Brutus möchte Cassius von der Notwendigkeit überzeugen, Caesar umzubringen, um die Republik zu retten. Da kommt dann Kants „moralische Gesetz in uns“ ins Spiel. Es geht hier also auch um die Grundlagen und Antriebe menschlichen Handelns und um Handlungsspielräume. Im Epos von Homer sind es wesentlich die Götter, die über das Schicksal des Odysseus entscheiden: Athena, Poseidon, letztendlich sogar das Götterkollegium auf dem Olymp mit Zeus als oberstem Richter. Aber selbst in diesem von der Götterwelt bestimmten Kosmos hat Odysseus Raum für eigenständiges Handeln…  

Verführerische, bedrohliche Frauen und andere Gefahren der Reise

Odysseus muss während seiner Reise äußerste Gefahren bestehen, wobei ihm die Götter helfen, aber auch seine Vorsicht, Tapferkeit und List. Da gibt es zunächst die beiden der Götterwelt zuzurechnenden Frauen, die sich in ihn verlieben und ihn bei sich behalten wollen.

Carol Rama, Dorina (1944)

7 Jahre lang wird er von der „schönlockigen Kalypso“ aufgehalten, die sich in ihn verliebt und nicht mehr gehen lassen will. Da muss erst Zeus ein Machtwort sprechen und der Meernymphe befehlen, ihren geliebten Gefangenen freizugeben.

Und dann ist es die Zauberin Circe, auf deren Insel es Odysseus und seine Männer verschlägt. Sie verwandelt die von Odysseus zur Erkundung vorausgeschickten Männer in Schweine. Der Götterbote Hermes versorgt den Helden aber mit einem Kraut, das das Gift der Circe unwirksam macht. Mit dem Schwert in der Hand erreicht Odysseus, dass Circe seine Gefährten wieder zurückverwandelt und  Circe verliebt sich in Odysseus: Zwei Frauen also mit großer Machtfülle, die eine sexuelle Beziehung zu dem Helden eingehen und sein Heimkommen gefährden… [7]   

John Baldessari, Raised Eyebrows/Furrowed Foreheads (Part three) Knife (with hands) 2009

Ein Jahr lang lässt es sich Odysseus bei Circe gut gehen, dann setzt er endlich auf Drängen seiner Gefährten seine Heimreise fort.

Und dann gibt es ja noch die verführerisch singenden und Tod bringenden Sirenen und das männermordende Monster Skylla mit dem Oberkörper einer jungen Frau….

Louise Bourgeois, femme couteau (Die Messerfrau), 2002[8]

In den für die Ausstellung ausgewählten Werken klingen diese Episoden an.  Da gibt es -anders als in der Ausstellung von 2019- keine makellose, jungfräuliche Botticelli’sche Venus, die der Muschel entsteigt … selbst Niki de Saint  Phalles Venus von Milo ist blutverschmiert:  Die „ambiguïté du désir“ ist, wie der Katalog bestätigt, ein zentrales Thema der Ausstellung…

Noch viele andere Gefahren bedrohen Odysseus. Am berühmtesten ist da wohl der einäugige Riese Polyphem, der Odysseus in seiner Höhle gefangen hält und viele seiner Gefährten verzehrt. Aber der listige Held ersinnt einen Ausweg, den Oliver Laric gestaltet hat.  (Ram With Human, 2021).

Die Gefahr und die Angst um sich und seine Gefährten sind ständige Begleiter des Odysseus auf seinen Irrfahrten. Mit dem Thema Angst beschäftigt sich auch das Bild von Rashid Johnson Anxious Red Painting August 19th.  Es ist entstanden 2020 während der ersten Coronavirus-Welle. Die Wiederholung und Intensität dieser roten Figuren verkörperten, so der Begleittext, „ein tiefes Gefühl physischer und psychischer Isolation“ und könnten so eine allgemeinere und zeitlosere Angst symbolisieren.

In diesem Bild klingt aber auch der Lebens- oder Schicksalsfaden an, der gerade in der antiken Mythologie und bei Homer eine zentrale Rolle spielt. In Friedrich Schillers Nachdichtung der „Turandot“ Carlo Gozzis ist das so formuliert:

Es führt das Schicksal an verborgnem Band
Den Menschen auf geheimnißvollen Pfaden,
Doch über ihm wacht eine Götterhand,
Und wunderbar entwirret sich der Faden.[9]

Das passt auch zu Odysseus. Bei Rashid Johnson allerdings mag man an eine wunderbare Entwirrung des Lebensfadens nicht so recht glauben.

 Und wie ist es bei den Bootsflüchtlingen?

Deren Schicksal und Odyseen hat William Kentridge 2017 eindrucksvoll thematisiert.

 Refugees (You Will find no Other Seas)

Vergangenheit und Gegenwart, das bestätigen diese Arbeiten noch einmal eindringlich, sind in der Jahresausstellung der Villa Carmignac immer präsent. Der Weg durch das Labyrinth des Odysseus  führt durch die antike Mythologie, aber er lädt auch dazu ein, sich auf eine ganz persönliche und ganz aktuelle Odyssee zu begeben.

Praktische Hinweise:

Dauer der Ausstellung bis 16. Oktober 2022

Die Ausstellung ist geöffnet von Dienstag bis Sonntag (montags geschlossen) von 10-18 Uhr. Letzer Kartenverkauf um 16 Uhr. Es werden auch Nocturnes angeboten, die aber nur für Besucher infrage kommen, die auf Porquerolles übernachten.

Es ist äußerst empfehlenswert, Eintrittskarten (Tag und Zeit) zu reservieren unter https://billetterie.villa-carmignac.com/

Zwischen der Presqu‘île de Giens/Tour Fondue und Porquerolles gibt es regelmäßige Fährverbindungen. Auch hier ist eine Reservierung von Tag und Uhrzeit der Hinfahrt dringend zu empfehlen unter https://www.resa-tlv.com/resinternet  Die Uhrzeit der mitgebuchten Rückfahrt ist nicht festgelegt.

Am Tour Fondue stehen hinreichend bezahlte Parkplätze zu Verfügung.  

Von der Anlegestelle zur Villa Carmignac sind es ca 30 Minuten Fußweg. Im Tourismus-Büro am Hafen liegt ein Plan des Ortes aus.

Literatur:

Le Songe d’Ulysse. Katalog der Ausstellung Villa Carmignac Porquerolles. Éditions Dilecta, Paris, 2022

Éditions Beaux Arts. La Fondation Carmignac. Île de Porquerolles.  Paris, 2019

Homer, Odysseus. In der Übersetzung von Wolfgang Schadewald. Rororo Taschenbuch 2008


Anmerkungen:

[1] https://paris-blog.org/2018/10/15/die-insel-porquerolles-natur-und-kunst/ und https://paris-blog.org/2021/08/01/la-mer-imaginaire-die-jahresausstellung-2021-in-der-villa-carmignac-auf-porquerolles/

[2] Die nachfolgend präsentierten Fotos wurden von Wolf und Frauke Jöckel während des Ausstellungsbesuchs aufgenommen. Es handelt sich dabei meist um Ausschnitte. Die vollständigen Exponate sind in dem hervorragenden Katalog zu sehen.

[3] Beaux Arts, La Fondation Carmignac

[4] Siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/04/08/das-labyrinth-von-chartres/

[5] Anton Bierl, Die Wiedererkennung von Odysseus und seiner treuen Gattin Penelope. Uni Basel 2018

[6] Es sind nicht nur die Winde des Poseidon, sondern auch die des Aiolos, des Gottes der Winde.  Der hatte Odysseus freundlich aufgenommen und ihm zum Abschied einen Schlauch geschenkt, in dem alle ungünstigen Winde  gefangen waren. Um sicher nach Hause zu kommen, durfte Odysseus diesen Schlauch auf keinen Fall öffnen. So segelten sie mit gutem Wind zehn Tage lang und konnten bereits die Küsten Ithakas, ihrer Heimat, in der Ferne erkennen. Doch da übermannte Odysseus, der bisher kein Auge geschlossen hatte, der Schlaf. Seine Gefährten hatten schon lange darüber gerätselt, was sich wohl in dem prall gefüllten Schlauch verbarg – vielleicht Schätze, die Odysseus aus Troia mitbrachte? Sie beschlossen, die Gelegenheit zu benutzen und den Schlauch zu öffnen. Kaum war dies geschehen, brachen alle Winde in fürchterlichem Sturm hervor und trieben das Schiff geradewegs von Ithaka weg.  http://www.latein.ch/goetter/odysseus/index.php?file=odysseus&item=3&sort=

[7] https://www.researchgate.net/publication/354650824_Der_Heros_und_die_starken_Frauen

[8] In der beigefügten Erläuterung wird allerdings der bedrohliche Eindruck des Werkes relativiert. Louise Bourgeois habe hier die familiäre Erfahrung der Restaurierung von Teppichen verarbeitet.

[9] https://www.friedrich-schiller-archiv.de/uebersetzungen/turandot-prinzessin-von-china-von-gozzi/vierter-aufzug-fuenfter-auftritt

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