La Maison de la Mutualité à Paris / Das Haus der Mutualité in Paris (2): Der Erste Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur von 1935

Im September 2018 erschien auf diesem Blog ein Beitrag über das Haus der Mutualité in Paris mit dem Untertitel „die Geschichte  eines Mythos“   https://paris-blog.org/?s=Das+Haus+der+Mutualit%C3%A9%2C+die+Geschichte+eines+Mythos

Einige Aspekte des mythischen Charakters der Mutualité wurden dort angesprochen, noch nicht allerdings der  Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur von 1935, der ebenfalls zu den großen Stunden der Mutualité gehört. Auf ihn soll im Folgenden etwas näher eingegangen  werden.

Vom 21. bis zum 25. Juni 1935 versammelten  sich im Haus der Mutualité mehr als 230 Schriftsteller aus 38 Ländern, die dem Aufruf zu dem Treffen gefolgt waren:

„Angesichts der Gefahren, die in einer Anzahl von Ländern die Kultur bedrohen, haben einige Schriftsteller die Initiative zur Einberufung eines Kongresses ergriffen, um die Mittel zu ihrer Verteidigung zu prüfen und zu diskutieren.“[1]

Heinrich Mann, der damals als politischer Flüchtling in Nizza wohnte, erhielt den Aufruf von dem Schriftsteller Johannes R. Becher, einem der Organisatoren des  Kongresses, und leitete ihn an seinen Neffen Klaus Mann weiter mit den Worten:

„Unterschrieben haben z.B. (…)  Aragon, Barbusse, Bloch. ´(…) Gide, Giono, Guéhenno, Malraux, Margueritte, Rolland (…) eigentlich alle“. (Brief vom 13. April 1935)

 Unter den ausländischen Teilnehmern des Kongresses  (u.a. Aldous Huxley,  Boris Pasternak, , Waldo Frank,  E.M. Forster) waren  russische Autoren besonders zahlreich  vertreten. An  der Spitze der  vom Zentralkomitee der KPdSU handverlesenen russischen Delegation stand Ilja Ehrenburg.  Der Delegation gehörten allerdings auf Initiative der Organisatoren des Kongresses auch Boris  Pasternak und Isaac Babel an, deren Beiträge besonders gefeiert wurden.

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Henri Barbusse, Alexej Tolstoi und Boris Pasternak

Zu den Ländern, in denen damals die Kultur bedroht war, gehörte natürlich vor allem das nationalsozialistische Deutschland, dessen literarische Elite zum größten Teil nach der „Machtergreifung“ Hitlers das Land verlassen und im Ausland Zuflucht gesucht hatte.[2]  Mit den Bücherverbrennungen hatten die Nazis ja ihren Kampf gegen die Kultur spektakulär in Szene gesetzt. Insofern ist es nur allzu verständlich, dass unter den teilnehmenden Schriftstellern auch zahlreiche prominente deutsche/deutschsprachige  Exilanten waren wie Anna Seghers, Heinrich und Klaus Mann, Robert Musil, Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Max Brod,  Ernst Toller, Alfred Kerr und Lion Feuchtwanger, die mit ihren Beiträgen die Konferenz wesentlich mitprägten. Mit ihrer Teilnahme demonstrierten diese Schriftsteller, dass das humanistische Erbe Deutschland mit dem Nationalsozialismus nicht gänzlich untergegangen war.  Und die Berufung auf dieses Erbe diente auch der Legitimation des Widerstands in einer Zeit, in der die Hoffnungen auf einen schnellen Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ verflogen waren und in der es im gleichgeschalteten Gestapo-Deutschland keine antinazistische Volksbewegung gab (und geben konnte), auf die man sich hätte beziehen können.[3] Ein besonderes Anliegen der deutschsprachigen Autoren war es selbstverständlich, das Forum des Kongresses zu nutzen, um die europäische Öffentlichkeit auf den Charakter und die Gefahren des Faschismus aufmerksam zu machen. Das Bedürfnis, gegen das Dritte Reich Stellung zu beziehen, bewog auch Robert Musil zur Teilnahme, auch wenn er sich selbst –und seine Rede auf dem Kongress- als unpolitisch bezeichnete.

Getagt wurde zweimal täglich, jeweils nachmittags und abends. Bei der Eröffnungsveranstaltung war der große Saal der Maison de la Mutualité trotz hoher Eintrittspreise voll besetzt. 3000 Zuschauer hatten im Saal und auf den Tribünen Platz gefunden. Für diejenigen, die keine Karten erhalten hatten, wurden vor dem Gebäude Lautsprecher aufgestellt, die die Reden nach draußen übertrugen.

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Die Fotografie vom Eröffnungsabend stammt von der Berliner Fotografin Gisèle Freund, die 1933 nach Frankreich emigriert war. Auf Einladung des Schriftstellers und Mitveranstalters André Malraux  dokumentierte sie den fünftägigen Kongress und fertigte dabei auch zahlreiche Porträts  prominenter Teilnehmer an.[4]

Das politische Umfeld, in dem der Kongress stattfand und möglich wurde, war die in den  1930-er Jahren  vollzogene Veränderung der politischen Linie der Komintern (Kommunistische Internationale). Hatte die bisher in den Sozialisten (und nicht in den Nazis) den Hauptfeind gesehen (Sozialfaschismus-Theorie), so ging es nun angesichts des immer bedrohlicheren Faschismus darum, eine antifaschistische Einheitsfront gegen den potentiellen Hauptfeind Nazideutschland herzustellen. Frankreich kam in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu, denn die blutigen Unruhen in Paris vom 9. Februar 1934 wurden von vielen Seiten als faschistischer Umsturzversuch wahrgenommen.  So kam es zu einer allmählichen Veränderung des Verhältnisses von Sozialisten und Kommunisten, die dann 1936 zur Regierung des front populaire unter Léon Blum führte.  Auch außenpolitisch vollzog sich ein Wandel: Am 2. Mai 1935 schlossen die UdSSR und Frankreich einen „Vertrag über den gegenseitigen Beistand“. Beide vertragsschießenden Seiten gingen davon aus, dass ihr politisches Bündnis ein Gegengewicht zum nationalsozialistischen Deutschland und seinen Expansionsplänen in Europa schaffen würde. Der Vertrag sah gegenseitigen Beistand für den Fall vor, dass eine von ihnen zum Objekt der Aggression seitens eines dritten Staates werden würde.[5]

Die Tagesordnung des Kongresses ist Ausdruck der Bemühung, ein breites Bündnis gegen die Gefahren des Faschismus zu formen. Sieben Themenkreise waren von den Veranstaltern vorgesehen: das kulturelle Erbe, die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, das Individuum, der Humanismus, Nation und Kultur, die Würde des Denkens und natürlich das umfassende Thema der Verteidigung der Kultur.[6]

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Demonstration am Rand des Kongresses zum „Kulturerbe“

Golo Mann, der damals als Lektor an der École normale supérieure in Saint-Cloud bei Paris arbeitete und den Kongress beobachtete, stellte bissig fest,  während des Kongresses sei nicht  mehr von Klassenkampf die Rede gewesen, sondern „nur noch vom Kampf aller frei, fortschrittlich und humanistisch Gesinnten  gegen die Barbarei des Faschismus“.[7]

Die kommunistisch orientierten Autoren waren vor allem bestrebt,  die Sowjetunion als Sachwalterin der Kultur und  Bollwerk gegen den Faschismus herauszustellen. Dabei wurden  sie unterstützt von bürgerlichen Autoren, die im Rahmen der Volksfront-Politik das Bündnis mit der Sowjetunion als unverzichtbaren Bestandteil des Kampfs gegen den Faschismus betrachteten. So Romain Rolland, der sich damals gerade auf dem Weg in die Sowjetunion, „das Land, in dem die neue Welt geschaffen  wird“,  befand und von dort aus brüderliche Grüße an den Kongress richtete.[8]

Besonders gefeiert wurde auf dem  Kongress Heinrich Mann, der seit seinem Roman „Der Untertan“ als Repräsentant des „anderen Deutschland“ galt. In den letzten Jahren der Weimarer Republik war er  Präsident der Abteilung Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, ein Amt, aus das ihn die Nazis nach der „Machtübernahme“ umgehend entfernten.  Und natürlich gehörte er auch zu den Autoren, deren Bücher am 10. Mai 1933  verbrannt wurden und denen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Ein Bündnis der Arbeiterparteien gegen den  Faschismus hatte Heinrich Mann schon früh gefordert, als dies noch im völligen Widerspruch zur Linie von KPD und KPdSU stand. Und Heinrich Mann, der die Welt mit den  Augen eines Literaten und Idealisten sah, war auch durchaus geneigt, die Oktoberrevolution als konsequente Fortsetzung der Französischen Revolution zu sehen und die Entwicklung der Sowjetunion entsprechend wahrzunehmen und zu beurteilen.

Insofern war es nur konsequent, dass ihm auf dem Kongress eine besondere  Rolle zukam: Er hatte die Ehre, eine der Sitzungen zu leiten, und als er für seinen  Redebeitrag das Podium betrat, erhoben sich die Anwesenden von ihren Plätzen und applaudierten. In einem „Geist gegen Macht“ überschriebenen Artikel über den Kongress schrieben E.E. Kisch und Bodo Uhse 1936:

„Mit einer deutschen Verbeugung nimmt Heinrich Mann eine Demonstration der Solidarität entgegen, die nicht nur ihm, nicht nur den in der Emigration kämpfenden deutschen Schriftstellern gilt, sondern dem wahren Deutschland.“ [9]

In seiner Rede stellte Heinrich Mann den aktuellen Kampf um die „Verteidigung der Kultur“ in die Tradition der abendländischen Geistesgeschichte von Humanismus und Aufklärung. Er forderte –typisch für sein Denken- das politische Engagement von Intellektuellen, die Dummköpfen nicht die Macht über die Völker überlassen dürften. Und er machte den Versammelten Mut: „Unbesiegbar war noch keine Barbarei“:  Eine Rede also, die den an den Kongress gestellten Ansprüchen in vollem Maße entsprach – auch wenn die drei genannten Vorbilder –Clemenceau, Lenin (und nicht Stalin! W.J.) und Masaryk wohl nicht ganz nach dem Geschmack stalinistischer Hardliner waren.[10]

Einige Auszüge aus dieser Rede:

Es ist recht merkwürdig, dass im Jahre 1935 eine Schriftsteller-Versammlung nach der Freiheit des Denkens verlangt: denn schließlich, das geht hier vor. Im Jahre 1535 wäre es neu gewesen. Die Eroberung des individuellen Denkens, damit fängt die moderne Welt an, – die jetzt der Auflösung nahe scheint. Dadurch wird alles wieder in Frage gestellt, sogar was ganze Jahrhunderte lang erledigt gewesen war. Die Gewissensfreiheit, so viele Geschlechter haben um sie gekämpft, und jetzt ist sie nicht mehr sicher. Das Denken selbst ist gefährdet, und doch ist der Gedanke der Schöpfer der Welt, in der wir noch leben. (…)

Wir dürfen nicht warten, bis dies Unglück vollständig wird und sich ausdehnt über noch mehr Länder der westlichen Gesittung. Zu verteidigen haben wir eine ruhmreiche Vergangenheit und was sie uns vererbt hat, die Freiheit zu denken und nach Erkenntnissen zu handeln. Wir haben strahlenden Beispielen zu folgen. Wir sind die Fortsetzer und Verteidiger einer großen Überlieferung. (…)

Die Pflicht aber verlangt von den Intellektuellen, dass sie sich widersetzen mit allen Kräften, wenn Dummköpfe sich aufwerfen zu Weltbeherrschern und zu Zensoren. Dumme geht das Denken nichts an, das Handeln übrigens ebenso wenig. Gehandelt soll werden, nicht von Kommissbrüdern, denen Fabrikanten die Macht verleihen, sondern von Männern der allerhöchsten Erkenntnis und einer unvergleichlichen Geistesmacht. Nur der Geist sichert die nötige Autorität, um Menschen zu führen: gemeint ist ein Geist der Erkenntnis und Festigkeit. Unter anderen Umständen als den heutigen müsste das nicht erst gesagt werden: Intellektuelle haben oft genug öffentlich gehandelt. Intellektuelle haben die Geschicke eines Landes gelenkt, und die Geschicke aller Länder mit beeinflusst. Es genügt, Namen zu denken wie Georges Clemenceau, Lenin, Thomas Masaryk.(…)

Man lasse sich nicht beirren: unbesiegbar war noch keine Barbarei. Die Dummheit erhebt den Anspruch, die Welt zu beherrschen? Darauf gibt es die Antwort, die Flaubert erteilt hat: das Beste wäre, eine Akademie von Wissenden regierte den ganzen Planeten. Mit Höchstforderungen muss die Intelligenz auftreten gegen Feinde, die von ihr, nur von ihr das Schlimmste zu fürchten haben.[11]

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Heinrich Mann und André Gide, deren  Verhältnis allerdings von deutlicher Distanz geprägt war 

Eine bemerkenswerte Rede hielt auf dem Kongress auch Anna Seghers. Sie hatte wie Heinrich Mann schon 1933 Deutschland verlassen und gehörte zu den von den Nazis verfemten Schriftstellern, deren Bücher verbrannt und „ausgemerzt“ wurden. Anna Seghers versuchte, in ihrem französischen Exil mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern ein einigermaßen „normales“ Familienleben zu führen. Aber als engagierter Kommunistin war es für sie selbstverständlich, nicht „in ein nur privates Dasein“ zu fliehen und damit „dem Gegner das Feld“ zu räumen.[12] Die Zeit des französischen Exils war denn auch nicht nur ihre künstlerisch produktivste Zeit, vor allem mit den bedeutenden Romanen „Das siebte Kreuz“ und „Transit“, sondern auch eine Zeit intensiver politischer Aktivität: Wie sie selbst einmal schrieb, gab es keine antifaschistische Aktion, an der sie nicht teilgenommen hätte.[13]

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Anna Seghers und Gustav Regler 1935

Thema ihrer Rede auf dem Schriftstellerkongress war die „Vaterlandsliebe“ – für im Exil lebende Menschen immer ein zentrales Thema, wie das ja schon bei Heinrich Heine zu beobachten ist. Für deutsche Antifaschisten, die vor den Nazis geflohen war, hatte das Thema eine besondere Bedeutung. Sie lebten gezwungenermaßen fern ihrer Heimat und wurden sich deshalb umso mehr bewusst, was diese für sie bedeutete und was sie mit ihr verloren hatten.  Und der Begriff des „Vaterlands“ wurde im Dritten Reich ja in chauvinistischer Weise missbraucht und propagiert wurde, was nicht unwidersprochen bleiben sollte.  Für Kommunisten hatte das Thema eine ganz spezifische Brisanz, weil für sie erst mit dem Schwenk zur Volksfront-Politik eine Rehabilitierung von Begriffen wie Heimat und Vaterland möglich wurde. Klaus Mann veranlasste das damals zu der bissigen Bemerkung, auf Treffen der französischen Kommunisten würde  nicht mehr nur voller Inbrunst die Internationale gesungen, sondern jetzt auch die Marseillaise. Insofern entsprach Anna Seghers‘ Redethema der neuen Parteilinie, wobei  man ihr allerdings zu Gute halten muss, dass sie sich schon seit 1933 für eine Einigung aller antifaschistischen Kräfte engagierte und dass es nicht des Segens der Komintern bedurfte, damit sie die Liebe zu ihrer Heimat entdeckte.

Seghers betont am Beginn ihrer Rede, dass im Namen des „Vaterlandes“ viel Blut vergossen und Leid verursacht worden sei. Einige Schriftsteller bezeichneten den Begriff als „den gültigsten aller immanenten Werte, den gültigsten aller Stoffe.“ Andere, und damit sind doch wohl ihre Parteifreunde aus der Zeit vor der Volksfront-Wende gemeint,  entlarvten ihn „als Betrug oder als eine Fiktion.“ Aber „auf jeden Irrtum in der Einschätzung der nationalen Frage reagieren die Massen unerbittlich“  Denn auch wenn der Vaterlandsbegriff „im Bewusstsein der heutigen Menschen“ längst entlarvt schien: Er regenerierte sich trotzdem täglich und minütlich aus dem Sein heraus. Jeder Zuruf in der Muttersprache, jeder Erdkrümel zwischen den Fingern, jeder Handgriff an der Maschine, jeder Waldgeruch bestätigte ihnen von neuem die Realität ihrer Gemeinschaft.“ Und da denkt man unwillkürlich daran,  wie Anna Seghers in einer Tagebucheintragung vom Juni 1933 beschreibt, wie sie ihre Kinder an der Grenze abholt: „Das mehrfarbige, karierte Kleid der Kleinen, der Geruch ihrer Haare machen mich verrückt vor Heimweh“ Und als sie die Taschen des kleinen Pierre leeren entdecken sie: „ein paar trockene Grashalme, ein Pfennig, eine Fahrkarte, ein Tannenzapfen: ein  halbes Deutschland.“[14]

Anna Seghers setzt dem dumpfen nationalsozialistischen Begriff des Vaterlands ein emanzipatorisches Verständnis von Vaterland entgegen. Sie erläutert anhand des Blicks eines durch Deutschland reisenden Schriftstellers  auf  „die grandiose, höllische, schwefelgelbe Leuna-Fabriklandschaft, die Herzpumpe seines Vaterlandes.“  Da könne man stolz sein auf das, was die Arbeiter dort aufgebaut hätten,  auf ihre sozialen Kämpfe und Errungenschaften, „auf die Zukunft von Leuna“  (Wie tragisch diese Zukunft dann sein würde, konnte Seghers ja nicht ahnen).  „Wer in unseren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen demonstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte.“

Es passt zu einem Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, dass Anna Seghers sich bei ihrer Suche nach einem emanzipatorischen Vaterlandsbegriff auch auf das deutsche kulturelle Erbe  bezieht und auf Schriftsteller wie Hölderlin, Büchner, Günderrode, Kleist, Lenz und Bürger verweist: „Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land.“  Und so leiden, kann man ergänzen, auch die aus dem Dritten Reich geflohenen Schriftsteller an den  Zuständen in ihrer Heimat, so sind auch sie, wie 100 Jahre zuvor Heinrich Heine, aus dem Schlaf gebracht, wenn sie an Deutschland denken. Aber wie er lieben auch sie ihre Heimat, ihr verlorenes Vaterland,  und es ist Anna Seghers, die „Das siebte Kreuz“ mit einem wunderbaren Hymnus auf ihre Heimat beginnt. (15) Die Heimat, das Vaterland,  soll nicht den Nazis überlassen werden. So lautet denn auch der Schlussappell Anna Seghers: „Entziehen wir die wirklichen nationalen Kulturgüter  ihren vorgeblichen Sachwaltern. Helfen wir Schriftsteller am Aufbau  neuer Vaterländer!“  Und für die exilierten deutschen Schriftsteller bedeutete das, dem „anderen Deutschland“ Konturen zu verleihen, das zu repräsentieren sie mit Recht beanspruchten.

Für uns heute, das soll doch noch angefügt werden, haben Anna Seghers Überlegungen  zu Vaterland und Heimat angesichts von Globalisierung und weltweiten Migrationsbewegungen wieder besondere Aktualität gewonnen. Die Fragen, ob es (noch) eine spezifische deutsche Kultur gibt, was „Heimat“ für die Menschen heute bedeutet und welche Konsequenzen das für die Politik hat bzw. (nicht) haben sollte,   ob es  einen Patriotismus geben kann/darf,  der über einen ( m.E. eher kopflastigen und kaum Identität- stiftenden) „Verfassungspatriotismus“ hinausgeht, ob man nicht nur Scham empfinden muss über die unermesslichen Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden, sondern auch stolz sein darf auf das große kulturelle Erbe unseres Landes: alle diese  Fragen sind mehr  denn ja aktuell- und dies gilt  damit auch für Anna Seghers Rede zur „Vaterlandsliebe“. Und aktuell ist ja sicherlich auch Anna Seghers Einsicht, dass man Begriffe wie „Vaterland“ und „Heimat“ nicht den Rechtsradikalen überlassen  darf.

Während die beiden Reden Heinrich Manns und Anna Seghers sich in das von den Veranstaltern des Schriftstellerkongresses vertretene Konzept einer übergreifenden antifaschistischen Einheitsfront einordneten, gab es auf dem Kongress aber durchaus auch kritische Töne, und zwar von rechts wie von links. So verteidigte Julien Benda im Blick auf die Sowjetunion die Unabhängigkeit des Schriftstellers, der italienische Historiker Gaetano Salvemini kritisierte die Angriffe auf die Freiheitsrechte im stalinistischen Russland und Madeleine Paz brachte den Fall des Schriftstellers Victor Serge zur Sprache, der wegen seiner trotzkistischen Ideen nach Sibirien verbannt wurde.[16] Auf der anderen Seite kritisierte Andé Breton den russisch-französischen Beistandspakt als eine Konzession an die bürgerliche Ordnung und Bertolt Brecht stellte der humanistischen Konzeption des Kongresses die marxistische Klassenfrage entgegen:

„Viele von uns Schriftstellern haben die Wurzel der Rohheit, die sie entsetzt, noch nicht entdeckt. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, dass sie die Grausamkeiten des Faschismus als unnötige Grausamkeiten betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, dass zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind. Aber zur Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentumsverhältnisse sind diese Grausamkeiten nötig.“[17]

Bei allen politischen und literarischen Unterschieden, bei allen Diskrepanzen zwischen so vielen eigenwilligen Individuen wurde der Kongress aber doch „von einer großen Gemeinsamkeit“ getragen, wie Fritz J. Raddatz in der ZEIT schrieb.  „Es war ein Aufgebot des Protestes, aber auch der Hoffnung – heute schon Legende, damals geisteshistorisches Ereignis.“[18]

Congrès de 1935 Andre Gide

Auf der Rednertribüne André Malraux, rechts von Ihm André Gide. An der Wand das Portrait von Maxim Gorki

Herrmann Kesten, ein in den 1920-er Jahren und im französischen Exil der 1930-er Jahren äußerst einflussreicher Literat und Lektor, schrieb im Rückblick, er habe nicht an dem Kongress teilgenommen, der von Kommunisten „inszeniert, finanziert, dirigiert“ worden sei. Er sei nicht blind genug gewesen, „um gegen die Diktatur von Hitler, Mussolini, Salazar aufzutreten, die Greuel im Dritten Reich anzuklagen, und gleichzeitig die Augen vor den Greueln der Diktatur in Sowjetrussland zu schließen.“ Aber er sei doch zu den öffentlichen Sitzungen des Kongresses gegangen und habe nicht mit seinen vielen Freunden gerechtet, weder öffentlich noch privat, die sich dort engagiert hätten, „nicht einmal in meinem Herzen“.[19]

Aldous Huxley, einer der Kongressteilnehmer,  beklagte sich, zurück in England,  über fünf Tage „endloser kommunistischer Demagogie“: the thing simply turned out to be a series of public meetings organised by the French communist writers for their own glorification and the Russians as a piece of Soviet propaganda. Amusing to observe, as a rather discreditable episode in the Comedie Humaine‘.[20]

Hier wird deutlich, woran der Versuch, eine gemeinsame antifaschistische Bewegung herzustellen, schließlich scheiterte und warum der Kongress, wie Karola Bloch, die Ehefrau von Ernst Bloch,  bedauerte, „so wenige politische Auswirkungen“ hatte.  Es war die Haltung zur Sowjetunion angesichts der stalinistischen Schauprozesse. Der Bruch, der dadurch zwischen den antifaschistischen Intellektuellen entstand,[21]  wurde bald nach dem Kongress besonders deutlich an den Büchern von André Gide und Lion Feuchtwanger über ihre Reisen in die Sowjetunion: André Gide, Retour de l’URSS (1936) und Lion Feuchtwanger, Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde (1937).

André Gide hatte als Hauptredner und Ehrenvorsitzender des Kongresses zur Verteidigung der Kultur festgestellt, nichts sei „unwahrer als die Behauptung, dass die Sowjetunion uniformiere“ und ein Jahr später erklärte er bei der Totenfeier für Maxim Gorkij an der Seite Stalins auf dem Roten Platz in Moskau:  „Das Schicksal der Kultur ist in unseren Sinnen geknüpft an das Schicksal der UdSSR selbst. Wir werden sie verteidigen“. Gide kam nach seinen eigenen Worten „als überzeugter und begeisterter Anhänger nach Russland, willens und bereit, eine neue Weltordnung zu bewundern.“[22] Gerade deshalb erregte seine Kritik an den Zuständen im stalinistischen Russland großes Aufsehen und kostete nach der Schätzung Lion Feuchtwangers die Sowjetunion zwei Drittel ihrer Anhänger im Westen.[33] Feuchtwanger sah aber in Stalin einen unverzichtbaren Verbündeten im Kampf gegen Hitler. So ging es ihm in seinem Bericht über die Reise in die Sowjetunion auch darum, „das von Desillusionierung gezeichnete Bild, mit dem André Gide aus der Sowjetunion zurückgekehrt war, zu widerlegen.“ So wurde Feuchtwanger zum Propagandisten Stalins und -wie auch Heinrich Mann- zum Verteidiger der Moskauer Prozesse.[24]

Der Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur von 1935 ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur französischen Volksfront, der Frankreich  grundlegende Reformen zu verdanken hat. Auch der Versuch des Zusammenschlusses der deutschen Opposition gegen Hitler in einer deutschen Volksfront (der Lutetia-Kreis) baut auf den Erfahrungen des Kongresses von 1935 auf. Allerdings markieren der Kongress zur Verteidigung der Kultur und die Volksfront-Bündnisse  auch den kurzfristigen Höhepunkt einer großen Illusion, die schon bald danach zerbrach: Der Illusion einer möglichen dauerhaften Allianz zwischen den der Freiheit verpflichteten  linken Intellektuellen der westlichen Demokratien und der stalinistischen Sowjetunion und ihren Gefolgsleuten. Aus historischer Perspektive  bleibt dennoch auch  festzuhalten, dass der Schriftstellerkongress von 1935  „ein historischer Vorläufer des großen militärischen Bündnisses gegen den Krieg der Nazis“ war- auch wenn Stalin 1939 erst einmal gemeinsame Sache mit Hitler machte und das  Bündnis mit den westlichen Demokratien erst von dem Eroberungs- und Vernichtungskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion erzwungen wurde. Und anders als 1935 und 1936 konnte es, als dieses Bündnis eingegangen wurde, nicht mehr den geringsten Zweifel an dem verbrecherischen und imperialistischen Charakter der stalinistischen Sowjetunion geben….  [25]

Anmerkungen

[1] https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Themen/schriftstellerkongress.html

[2] Siehe dazu den Blog-Beitrag über das Exil deutscher Schriftsteller in Frankreich: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/592

[3] Siehe: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Einleitung und Anhang von Wolfgang Klein, Berlin (Ost): Akademie-Verlag 1982

und –mit informativen Einführungen: Sandra Teroni, Wolfgang Klein (Hrsg): Pour la défense de la culture: Les textes du Congrès international des écrivains Paris juin 1935. Dijon 2005

Wie bedeutsam die Beziehung auf das kulturelle Erbe für den deutschen Widerstand war, zeigen besonders anschaulich die Flugblätter der Weißen Rose.  (Berufung auf Goethe und Schiller, auf Lao-tse, Cicero, Aristoteles, Novalis und das Alte Testament).

[4] http://www.gisele-freund.com/international-congress-for-the-defense-of-culture-hall-of-the-mutualite-paris-21th-of-june-1935/  Neben Gisèle Freund war es nur noch David Seymour, genannt Chim, der Aufnahmen von dem Kongress und seinen Teilnehmer/innen machte.

[5] https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0020_fra_de.pdf

[6] © David Seymour/Magnum Photos. Siehe  auch: https://www.icp.org/browse/archive/objects/demonstration-at-the-international-congress-for-the-defense-of-culture-paris

[7] Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. FFM 1999, S. 93

[8] http://www.albin-michel.fr/ouvrages/voyage-a-moscou-juin-juillet-1935-cahier-ndeg-29-9782226058607

[9] Zitiert in  Paris 1935, S. 462

[10] Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. FFM 1999, S. 91/92

[11] Abdruck der Rede bei Klein, Paris 1935 und in: https://das-blaettchen.de/2015/07/reden-auf-dem-schriftstellerkongress-zur-verteidigung-der-kultur-in-paris-1935-33406.html

[12] Zum französischen Exil von Anna Seghers siehe den Blog-Beitrag „Dadurch,  dass ich zum Glück die Kinder habe, ist alles doppelt schwer“   https://wordpress.com/post/paris-blog.org/11274 

Abdruck der Rede bei Klein, Paris 1935

Die Zitate stammen aus dem Vorwort zum ersten Heft der 1933  unter Mitwirkung von Anna Seghers in Prag erschienenen Exilzeitschrift „Neue Deutsche Blätter“.

[13] Siehe Christiane Zehl Romero, Anna Seghers, Eine Biographie 1900-1947.. Berlin 2000, S. 271

Bildquelle: http://www.gisele-freund.com/international-congress-for-the-defense-of-culture-hall-of-the-mutualite-paris-21th-of-june-1935/

Zu Anna Seghers im französischen Exil siehe den Blog-Beitrag:    https://paris-blog.org/2018/11/19/dadurch-dass-ich-zum-glueck-die-kinder-habe-ist-alles-doppelt-schwer-anna-seghers-im-pariser-exil-1933-1940/

[14] Anna Seghers, sechs Tage, sechs Jahre. Tagebuchseiten. In ndl vom 9. September 1984

(15) Siehe dazu. Birgit ohsen, „Heimat“ im Exilwerk von Anna Seghers. Berlin 2017

[16] Siehe: https://journals.openedition.org/monderusse/6620

[17] http://www.deutschlandfunk.de/fuer-die-freiheit.871.de.html?dram:article_id=127007

[18] Fritz J. Raddatz,  Fast vergessene Dokumente: Der Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935. In: DIE ZEIT 17/1985 vom 19. April 1985

Das nachfolgende Bild aus: http://e-gide.blogspot.com/2008/10/au-congrs-de-1935.html

©David Seymour/Magnum Photos

[19] Herrmann Kesten, Dichter im Café. Ullstein Taschenbuch 1983, S. 72

[20] https://www.theguardian.com/observer/comment/story/0,6903,1361235,00.html

[21] Michel Aucouturier in seiner Rezension von Teroni/Klein, Pour la défense  de la culture. https://journals.openedition.org/monderusse/6620

[22] Hans Christoph Buch, Wer betrügt, betrügt sich selbst. Die Zeit, 3.4.1992.

https://www.zeit.de/1992/15/wer-betruegt-betruegt-sich-selbst/seite-2

[23]https://www.tagesspiegel.de/kultur/lion-feuchtwanger-in-moskau-stalin-mon-amour/21014434.html

[24] Siehe dazu: Anne Hartmann, Ich kam, ich sah, ich werde schreiben. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937. Eine Dokumentation. Göttingen 2017,  Rezension: https://www.deutschlandfunk.de/buch-ueber-feuchtwangers-russland-reise-ueberfordert-in.700.de.html?dram:article_id=417615

[25] Eberhard Spreng im Deutschlandradio Kultur vom 21.6.2010 https://www.deutschlandfunkkultur.de/fuer-die-freiheit.932.de.html?dram:article_id=130845

Weitere Blog-Beiträge mit Bezug zu deutschsprachigen Schriftstellern in Paris/im französischen Exil:

Weitere geplante Beiträge:

  • Die Petite Ceinture, die ehemalige Ringbahn um Paris (1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen 
  • Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“
  • Die Schokoladenfabrik Menier in Noisiel an der Marne: repräsentative Fabrikarchitektur und patriarchalischer Kapitalismus im 19. Jahrhundert
  • Die Villen der Meniers in Paris und das Familiengrab auf dem Père Lachaise 
  • „Les enfants de Paris“: Pariser Erinnerungstafeln/plaques commémoratives zur Zeit 1939-1945

5 Gedanken zu “La Maison de la Mutualité à Paris / Das Haus der Mutualité in Paris (2): Der Erste Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur von 1935

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