Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung

Am 27. Januar 2020  wurde auf zahlreichen  Veranstaltungen an die Befreiung des Konzentrationslagers  Auschwitz vor 75 Jahren erinnert. Auch in  Paris gab es eine Fülle von Veranstaltungen. So wurde an diesem Tag –unter anderem- die nach längerer Überarbeitung neu gestaltete Mauer der Namen im Mémorial de la Shoah durch Präsident Macron  eingeweiht.[1]

Viel wurde in diesen Tagen in Frankreich über „le devoir de la mémoire“ gesprochen und geschrieben,  also die Aufgabe, die Erinnerung an das Grauen der „Endlösung“ wachzuhalten. Und dies mit umso mehr Recht, als in der Bevölkerung und vor allem bei der jungen Generation die Kenntnis der Verbrechen zu wünschen übrig lässt. Nach einer im Dezember 2018 veröffentlichten Ifop-Umfrage wissen 30% der 18-35-jährigen Franzosen nicht, dass es während des Zweiten Weltkriegs einen Genozid an Juden gab.  [2]  Und –wie in Deutschland- gibt es auch in Frankreich eine erschreckende Zahl von antisemitischen Vorfällen, ja Verbrechen.

Ich habe  den Holocaust-Gedenktag des Jahres 2020 zum Anlass genommen, in einer kleinen Beitrags-Reihe einige Orte vorzustellen, an denen  in Paris an den Holocaust erinnert wird.

  • In diesem ersten Teil dieses Beitrags wird an einigen Beispielen aus unserer Umgebung die Präsenz der Erinnerung im öffentlichen Raum der Stadt aufgezeigt. Dazu werde ich die Entwicklung skizzieren vom de Gaulle’schen Mythos eines in der Résistance geeinten Frankreichs bis zur Anerkennung der Mitwirkung des Landes bei der nationalsozialistischen „Endlösung“.
  • Im zweiten Beitrag werden  das Mémorial de la Shoah und das Mémorial de la Déportation im Mittelpunkt stehen.
  • Im dritten Beitrag geht es um Orte der Deportation:  das Gymnase Japy im 11. Arrondissement, das bei allen Judenrazzien als ein erstes Sammellager gedient hat;  das Wintervelodrom am Eiffelturm,  das sogeannte Vel d’Hiv, nach dem die große  Razzia vom 16. Juli 1942 benannt ist;   dazu  das Internierungslager von Drancy und den Bahnhof von Bobigny,  alles Orte,  die im Ablauf der Deportationen eine wesentliche Rolle gespielt haben.
  • Abschließend lade ich zu einem Spaziergang auf den Friedhof Père Lachaise ein, in dem zahlreiche Denkmale an die nationalsozialistischen Konzentrationslager erinnern. Diesen Beitrag habe ich schon am 27. Januar 2020 in den Blog eingestellt. [3].

Einige Beispiele der Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Raum

Die Erinnerung an die Opfer der „Endlösung“ ist im öffentlichen Raum der Stadt Paris nicht zu übersehen. Das soll zunächst an einigen Beispielen aus unserer näheren Umgebung und täglichen Erfahrung veranschaulicht werden.  Zwar gibt es in Paris keine Stolpersteine, aber dafür zahlreiche Erinnerungsplaketten an  Häuserwänden – eine in Paris sehr alte und immer noch lebendige Tradition. Die Plaketten zur Zeit von 1939-1945 beziehen sich vor allem auf den Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer und die Kämpfer, die bei der Befreiung von Paris im August 1944 umgekommen sind, aber selbstverständlich gibt es auch zahlreiche Tafeln, die an die Opfer des Holocaust erinnern. Da wir im 11. Arrondissement wohnen, beziehen sich die nachfolgenden Beispiele vor allem auf dieses Stadtviertel. Eine vollständige  Dokumentation aller Pariser Erinnerungstafeln zur Zeit von 1939-1945 hat Philippe Apeloig in seinem wunderbaren Buch  Enfants de Paris 1939-1945  vorgenommen. [4]

Nicht zu übersehen sind die schwarzen Marmortafeln an allen Pariser Schulen.  Hier ein Bild von der Grundschule Avenue des Bouvines in „unserem“  11. Arrondissement:

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Zur Erinnerung an die Schüler dieser Schule, die zwischen 1942 und 1944 deportiert wurden, weil sie Juden waren; unschuldige Opfer der Nazi-Barbarei und der Regierung von Vichy. Mehr als 1200 Kinder des 11. Arrondissements wurden in den Vernichtungslagern umgebracht. Vergessen wir sie niemals!“

Initiatorin der Plaketten ist die Association pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés (AMEJD). Ergänzend dazu hat die AMEJD  des 11. Arrondissements eine Wanderausstellung  über die deportierten Kinder dieses Stadtviertels erstellt. [5]

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Der Grund, warum gerade  das 11. Arrondissement für eine solche Ausstellung ausgewählt wurde, liegt wohl darin, dass es hier bis zu den großen Razzien in den Jahren der occupation und des Pétain-Regimes einen vergleichsweise großen Anteil jüdischer Bevölkerung gab. Das in der Ausstellung gezeigte Schaubild gibt den Stand 1. Juli 1941 wieder – Grundlage war die Registrierung aller Juden, die von der  Pétain-Regierung durchgeführt wurde.

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Eindrucksvoll ist, dass konkrete Schicksale anschaulich gemacht werden: Hier zum Beispiel die von zwei Schülern der Grundschule in der Avenue de Bouvines.

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Henri Skrzydlack, 9 Jahre, wurde mit seiner Mutter im Lager Pithiviers interniert, dann allein nach Drancy überführt. Er wurde 21 Tage nach seiner Mutter deportiert. Sein Vater, der während einer Razzia allein verhaftet und direkt in Drancy interniert wurde, war schon deportiert worden.

Henri gehörte zu den 104 Kindern des 11. Departements , die mit dem Konvoi 23 vom 24. August 1942 deportiert wurden.

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Charles Kruk, ein ehemaliger 16 Jahre alter Schüler, dessen Eltern schon deportiert waren, wurde Opfer der Razzia des Kinderheims in der rue Lamarck im 18. Arrondissement am 10. Februar 1943. Am folgenden Tag wurde er von Drancy nach Auschwitz deportiert.

Henri gehörte zu den 34 Kindern des 11. Arrondissements, die mit dem Konvoi 47 vom 11. Februar 1943 deportiert wurden.

Die Ausstellung ist  zu besonderen Anlässen –wie  zum Holocaust-Gedenktag-  im Salle des Fêtes des Rathauses des 11. Arrondissements zu sehen. Wie aufmerksam und interessiert kleine Ausstellungsbesucher bei der Sache sind, zeigt das nachfolgende Bild.

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Besonders anrührend sind die Tafeln mit den Namen und dem Alter  der deportierten kleinen Kinder, „die noch keine Gelegenheit hatten, eine Schule zu besuchen“. Sie sind in jeweils einer öffentlichen Anlage aller Pariser Arrondissements aufgestellt. Hier die Tafel mit den Namen der 199 deportierten und ermordeten jüdischen Kleinkinder des 11. Arrondissements im Jardin Titon.[6]

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Aufgenommen wurden dieses und das folgende  Foto am 30. Januar 2020 anlässlich einer kleinen Zeremonie zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Veranstalter waren die Mairie des Arrondissements und die AMEJD. Und beteiligt waren auch Schüler/innen einer benachbarten Schule, die die Namen der deportierten Schüler ihrer Schule vorlasen und für sie Blumen niederlegten.

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Als die meisten Besucher schon weggegangen waren, stand dieser kleine Junge noch im strömenden Regen vor der Tafel…

An vielen Stellen des 11. Arrondissements, aber auch in der rue d’Aligre im 12. Arrondissement, wo „unser“ Wochenmarkt stattfindet, wurde in diesem Jahr  mit einer Plakataktion an die jüdischen Kinder bzw. Jugendlichen erinnert, die dort einmal gelebt haben, bevor sie in die Vernichtungslager deportiert wurden:

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… vier junge  Cohens, offenbar  Geschwister,  Suzanne, 8 Jahre; Renée, 10 Jahre; Esther,  12 Jahre und  David, 14 Jahre.

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Sicherlich haben sie in diesem Hof gespielt, der jetzt von den Straßenhändlern als Depot genutzt wird. 

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Bei dem  Namen Nemirovski  denkt man unwillkürlich an Irène Nemirovsky, die verheißungsvolle junge Schriftstellerin, die 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde und in deren erst spät entdecktem Roman Suite française sie eindrucksvoll die Situation der Menschen im besetzten Frankreich der Jahre 1940-1942 beschreibt.

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Eine besondere Gedenktafel gibt es in der rue des Boulets Nummer 8 im 11. Arrondissement:

In diesem Haus wurden Louise Jacobson, 17 Jahre alt, und ihre Mutter Olga Jacobson verhaftet. Sie wurden 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet, weil sie Juden waren. Die ‚Briefe von Louise Jacobson‘ bleiben für die Geschichte ein unschätzbares Zeugnis.

Louise Jacobson wurde am 1. September 1942 verhaftet.

Patrick Modiano hat in seinem Buch Dora Bruder den entsprechenden Polizeibericht wiedergegeben: „Die Inspektoren Curinier und Lasalle an den Hauptkommissar, Chef der Sonderbrigade: Wir überantworten Ihrer Verfügung eine gewisse Jacobson Louise, geboren am 24. Dezember 1925 in Paris, 12. Arrondissement (…) seit 1925 französische Staatsangehörige durch Einbürgerung, jüdischer Rasse, ledig. Wohnhaft bei ihrer Mutter, 8 Rue des Boulets, 11. Arrondissement, Studentin. Heute gegen 14 Uhr am Wohnsitz ihrer Mutter festgenommen, unter folgenden Umständen: Während wir am oben angegebenen Ort eine Hausdurchsuchung durchführten, betrat die junge Jacobson die Wohnung, und wir stellten fest, dass sie das für Juden charakteristische Kennzeichen nicht trug, wie es durch eine deutsche Verordnung vorgeschrieben ist. Sie gab an, um 8 Uhr 30 das Haus verlassen zu haben und zu einem Vorbereitungskurs für das Abitur am Lycée Henri- IV, Rue Clovis, gegangen zu sein. Darüber hinaus haben Nachbarn dieser jungen Person angegeben, dass diese junge Person häufig ohne dieses Kennzeichen das Haus  verlasse.[7]

Die noch erhaltenen Briefe Louise Jacobons  aus dem Gefängnis von Fresnes und dem Internierungslager von Drancy sind mit winziger Schrift auf Postkarten geschrieben und bezeugen auf bewundernswerte Weise ihre Durchhaltestärke und ihren Überlebenswillen. Serge Klarsfeld, der das Vorwort zur Buchausgabe geschrieben hat, bezeichnete Louise Jacobson als „notre Anne Frank“.[8]

Auch manche Namen öffentlicher Gebäude erinnern an Opfer des Holocaust. So die Gesamtschule Anne Frank im 11. Arrondissement.

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Hier wurde die Erinnerungstafel an der Fassade  zum Holocaust-Gedenktag mit einem neuen Blumengebinde des Pariser Rathauses versehen.

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Auch zwei andere öffentliche Gebäude, die wir öfters nutzen, tragen Namen von Opfern des Holocaust: Die Mediathek Hélène Berr im 12. Arrondissement und das Schwimmbad Alfred Nakache im 20. Arrondissement. Hèlène Berr ist eine französische Jüdin, die im April 1945 –wie Anne Frank- im KZ Bergen-Belsen umgekommen ist. Ihr Pariser Tagebuch 1942-1944  ist „ein bewegendes Dokument zur Geschichte des Holocaust, vergleichbar mit den Tagebüchern von Anne Frank.“ (Verlagstext Fischer-Verlag).

Auch das Schwimmbad Alfred Nakache im 20. Arrondissement, das wir öfters besuchen, wenn unser benachbartes „Hausbad“ mal wieder jede sich nur bietende Gelegenheit nutzt, seine Pforten zu schließen, ist nach einem Opfer des Holocaust benannt: Nämlich nach dem „Schwimmer von Auschwitz“.

Nakache war  französischer  Rekordschwimmer, Teilnehmer an der Olympiade 1936 in Berlin,  wurde ab 1940 zunächst ein Opfer der Rassegesetze der Vichy-Regierung, dann von den Nazis  über das Lager Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er heimlich mit anderen Gefangenen im Löschwasserbecken schwamm. Dank seiner physischen Konstitution und seines Lebenswillens überstand Nakache Auschwitz und sogar den Todesmarsch nach Buchenwald, wo er im April 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Er begann sofort wieder mit dem Training, wurde 1946 noch einmal französischer Meister und konnte sich sogar noch einmal für die Olympischen Spiele in London 1948 in London qualifizieren, wo er das Halbfinale über 200 Meter Brust erreichte!

Schade ist, dass an dem Schwimmbad zwar auf großen Transparenten über die Geschichte der Pariser Schwimmbäder informiert wird, nicht aber über das unglaubliche Leben des Namensgebers. Das darauf angesprochene Schwimmbadpersonal konnte auch nur auf das Internet als Informationsquelle verweisen….  Aber auch an der Gesamtschule Anne Frank und an der Mediathek Hélène Berr fehlen –wenn auch noch so kurze- Informationen zu den Namensgeberinnen. Schade!

Das Ende des gaullistischen Mythos vom geeinten Land des Widerstands

Auf den an den Pariser Schulen angebrachten Erinnerungstafeln wird ausdrücklich auf die Beteiligung der Regierung von Vichy an der Deportation jüdischer Kinder hingewiesen.

Angebracht wurden die Tafeln 2004/2005  auf Initiative der Association Pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés (AMEJD) und auf Beschluss des Pariser Stadtrats, der allerdings keineswegs unkontrovers war:  Dass auf den Tafeln als Täter gleichberechtigt die „Nazi-Barbarei“ (nota bene: nicht „Deutschland“) und die Regierung von Vichy genannt werden, veranlasste die rechten Parteien, sich vehement gegen die Anbringung dieser Erinnerungstafeln an den städtischen Schulen zu wehren.

Es gehörte lange zu dem von de Gaulle aus politischen Opportunitätsgründen gepflegten nationalen Selbstbild, ein Land der Opfer und des allgemeinen Widerstands gegen die Besatzung gewesen zu sein. Das aktive Mitwirken von Franzosen an der Identifizierung, Verhaftung, Internierung und Auslieferung von Juden wurde also verdrängt. Kein einziger französischer Gendarm, der an antisemitischen Aktionen –und Ausschreitungen- beteiligt war, wurde je vor Gericht gestellt oder hatte nach 1945 irgendwelche beruflichen Nachteile zu erleiden. Selbst der oberste Judenjäger und Chef der Vichy-Polizei, Bousquet,  konnte, da er rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hatte, wegen seiner „Verdienste für die Résistance“ fast ungeschoren davon kommen und im Nachkriegs-Frankreich weiter politisch und publizistisch Karriere machen.[9]

Ein bezeichnendes Beispiel für die Tendenz der Verdrängung ist  der Umgang mit Alain Resnais‘ 1956 entstandenem dokumentarischen Kurzfilm „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel) über die Schrecken der Judenvernichtung- 30 Jahre vor Lanzmanns Shoah-Film. Nach dem Urteil von François Truffaut « un film sublime, dont il est très difficile de parler… toute la force du film réside dans le ton adopté par les auteurs : une douceur terrifiante… »   Der Film – immerhin unter Mitwirkung des offiziellen Komitees der Geschichte des 2. Weltkriegs (CHGM) entstanden- wurde für das Festival von Cannes 1956 ausgewählt, aber dann Objekt der Zensur: Die Mütze eines französischen Gendarmen in einem der von Vichy eingerichteten Internierungslager musste wegretuschiert werden, was allerdings nicht ausreichte: Auf Druck der deutschen Botschaft in Paris und des französischen Außenministeriums wurde der Film aus dem offiziellen Programm der Filmfestspiele entfernt und konnte nur inoffiziell am Rande gezeigt werden;  selbst dort übrigens ohne französische Mütze- die Originalversion ist erst seit den 1990-er Jahren wieder zu sehen.[10]

Es war dann Marcel Ophüls‘ wegweisender  Dokumentarfilm Le Chagrin et la Pitié (deutsch: Das Haus nebenan- Chronik einer französischen Stadt im Krieg) von 1969, der  „das Bild vom im Widerstand geeinten Frankreich zum Wanken brachte“ und der Anlass einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung in Frankreich wurde.[9]  Kern des Films sind Interviews, die Ophüls und seine beiden Mitarbeiter André Harris und Alain de Sédouy mit Zeitzeugen geführt haben, so dass ein Bild des täglichen Lebens in der Stadt Clermont-Ferrand im nicht besetzten „freien“ Teil Frankreichs unter der Herrschaft der Regierung von Vichy entsteht. Die Zeitzeugen sind –neben einigen prominenten Angehörigen des Widerstands- überwiegend durchschnittliche Franzosen.

Das Gesamtbild, das sich aus dem über vierstündigen Film ergibt, war höchst provokativ:

  • Das Frankreich von Vichy besaß danach –jedenfalls bis zur Besetzung der „freien Zone“ durch deutsche Truppen im November 1942, einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Und die Gesetze, Handlungen und Pläne des Vichy-Regimes gehorchten zwar zu einem Teil den Umständen von Niederlage und Besatzung, zu einem wesentlichen Teil aber auch einer inneren Logik, die von der politischen und ideologischen Geschichte Frankreichs bestimmt war.
  • Es gab einen eigenständigen französischen Antisemitismus, der vom staatlichen Antisemitismus des Vichy-Regimes favorisiert wurde, aber unabhängig war von dem Antisemitismus der Nazis.
  • Die Kollaborateure waren nicht unbedingt auf eigene Vorteile bedachte Verräter, sondern es gab auch Überzeugungstäter, die sich ohne Rücksicht auf die eigene Person auf Seiten der Nazis engagierten.

Der Film löste einen Skandal aus und provozierte heftige Kritik von allen Seiten, von der Linken (Jean Paul Sartre)  über die Liberalen (Simone Veil) bis zu den Rechten (die Gaullisten), die alle fanden, dass die Rolle der eigenen Gesinnungsgenossen in den dunklen Jahren Frankreichs nicht richtig oder nicht hinreichend gewürdigt worden sei. Aber natürlich wollten und konnten die Autoren nicht DEN Film über die Zeit der Besatzung machen, sondern sie haben besonders –im Geiste von 1968- solche Aspekte ins Scheinwerferlicht gerückt, die bisher eher unterbelichtet oder gar ausgeblendet waren.[12]

Das gab und gibt dem Film bis heute seinen großen Wert. Die Filmemacher allerdings mussten die staatliche französische Fernsehgesellschaft ORTF, die den Film in Auftrag gegeben hatte, verlassen, und der Film wurde  1969 –ausgerechnet!-  in Deutschland, fertig gestellt, wo Ophüls nun arbeitete.  In Frankreich war der Film allerdings tabu. Simone Veil, Ministerin unter de Gaulle und –inzwischen pantheonisierte- Angehörige des Widertands,  fand, der Film zeige das unzutreffende Bild eines feigen, egoistischen und bösen Frankreichs und Jacques de Bresson, damals Chef des ORTF und auch ein prominenter Angehöriger des Widerstands, war der Auffassung, der Film zerstöre Mythen, „die die Franzosen noch brauchen“.[13] So durfte der Film erst 1981 offiziell ausgestrahlt werden, am 28./29. Oktober in FR 3 vor 15 Millionen Zuschauern.

Inzwischen hatte aber schon der amerikanische Historiker  Robert O. Paxton  zum ersten Mal die Rolle des Collaborations-Regimes von Vichy wissenschaftlich fundiert dargestellt. Sein Buch Vichy France, Old Guard and New Order, 1940-1944  erschien 1972 in den USA, ein Jahr später in französischer Übersetzung.  Paxtons Bilanz der illusionären Collaboration von Vichy ist vernichtend.[12] Vor allem hebt Paxton den Antisemitismus von Vichy hervor, den er als dessen größte Schande bezeichnet. Ohne den geringsten Druck Nazi- Deutschlands habe Vichy mit seinen Gesetzen  vom 3. und 4. Oktober 1940 den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Leben verfügt (le statut des Juifs) und die Internierung ausländischer Juden ermöglicht. Vichy habe zwar  mit seiner selbst gewollten Diskriminierung von Juden nicht auch den Völkermord beabsichtigt, aber es habe  in Frankreich Voraussetzungen für die Organisation der „Endlösung“ geschaffen.[15]

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  Plakette am ehemaligen Sitz des „Generalkommissariats für Judenfragen“,  dem „Werkzeug der antisemitischen Politik des Etat français von Vichy“.

Das Generalkommissariat befand sich am Platz der Petit-Pères im 2. Arrondissement im Gebäude einer „arisierten“ jüdischen Bank.

Eine ganz entscheidende Rolle bei der französischen „Aufarbeitung der Vergangenheit“ spielten die hartnäckigen und unermüdlichen Bemühungen von Serge und Beate Klarsfeld, deutsche Kriegsverbrecher und ihre französischen Handlanger vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Ein Meilenstein, ja Wendepunkt war dabei der Prozess gegen Klaus Barbie, alias Klaus Altmann, den „Schlächter von Lyon“,  im Juli 1987.[14] Dazu kamen dann Anklagen und  auch Prozesse gegen französische Helfershelfer, die nach dem Krieg entweder mit freundlicher Unterstützung westlicher Geheimdienste oder der katholischen Kirche untergetaucht oder bei Gaullisten oder Sozialisten weiter Karriere gemacht hatten. Ein Beispiel dafür ist  Maurice Papon.  Der war  im Zweiten Weltkrieg als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux verantwortlich für die Verhaftung von etwa 1600 Juden, die zwischen 1942 und 1944  zunächst nach Drancy und von dort weiter nach Auschwitz transportiert wurden. Er gehört aber –wie der oberste Polizeichef von Vichy- René Bousquet- zu den sogenannten „vichisto-résistants“ (Jean-Pierre Azema), die sich zunächst in den Dienst der sogenannten révolution nationale Pétains stellten, dann aber auch Verbindungen zur  Résistance knüpften. So konnte Papon nach 1945 mit ausdrücklicher Billigung von de Gaulle weiter Karriere machen, u.a. als Polizeipräfekt in Algerien, wo er einschlägige Erfahrungen im brutalen Umgang mit der algerischen Widerstandsbewegung sammeln konnte, dann als  Polizeichef von Paris, wo  er Demonstrationen für die Unabhängigkeit Algeriens blutig niederschlug.  Zwischen 1978 und 1981 war er sogar noch Minister in zwei Regierungen. Dann deckte die Zeitung Le Canard Enchaîné seine in Vergessenheit geratene Vergangenheit als williger Helfershelfer der „Endlösung“ auf. Aber erst 1998 wurde er zu 10 Jahren Gefängnis  verurteilt,  von denen er aber nur 3 Jahre absitzen musste. Aber dennoch: Der pädagogische Zweck, den die Klarsfelds mit ihrem Engagement auch verfolgten, war erreicht, vergleicht man, wie Serge Klarsfeld in seinen Memoiren,  die Situation Mitte und Ende des Jahrhunderts:

„Im Oktober 1944 hielt Papon bei der Befreiung von Bordeaux eine Rede, in der er die Patrioten und die deportierten Juden ehrte. Und die französische Gesellschaft war der Meinung, dass die Franzosen, die die Juden verhaftet und den Deutschen ausgeliefert hatten, sich nichts vorzuwerfen hätten: Sie hätten nur ihre Pflicht getan, und es sei besser gewesen, dass sie es gemacht hätten als die Deutschen. 1998 hat das französische Volk entschieden, dass sich  der  französische Staatsapparats von Vichy  zum wichtigen und unabdingbaren Komplizen der Deutschen bei ihrem Plan zur Vernichtung der Juden gemacht hatte.“ [17]

Die Anerkennung der französischen (Mit-)Verantwortung

Es war der damalige Präsident Jacques Chirac, der 1995  offiziell die Beteiligung Frankreichs an der Deportation der Juden anerkannte, und zwar in einer außerordentlichen –und wie man sagen muss: mutigen-  Rede, fast vergleichbar mit dem historischen Kniefall Willy Brandts in Warschau. Die Wahrheit sei, so Chirac damals, dass das  Verbrechen in Frankreich von Frankreich begangen worden sei („le crime fut commis en France par la France“.[18]), aber gegen die Werte und Ideale, für die Frankreich stehe.  Chirac brach damit ein Tabu, das noch in der Tradition de Gaulles von seinem sozialistischen Vorgänger François Mitterand gepflegt wurde. Mitterrand hatte es stets vermieden,  eine Mitverantwortung Frankreichs anzuerkennen, das er durch das mit den Nationalsozialisten kollaborierende Vichy-Regime  nicht repräsentiert sah, sondern allein durch die in London ansässige Exil-Regierung  des „Freien Frankreichs“ des Generals de Gaulle. Noch 1992, anlässlich des  50. Jahrestags der Deportationen, hatte er in seiner Rede betont, man könne „von der Republik keine Rechenschaft verlangen, sie hat getan, was sie musste.“[19]

Chirac hielt seine Rede anlässlich des  53. Jahrestags der Razzia des Wintervelodroms, der rafle du Vel d’hiv. Damals wurden in Paris von der französischen Gendarmerie  fast 13 000  ausländische oder staatenlose Juden, darunter viele Frauen und etwa 4000 Kinder, verhaftet, die in Frankreich Zuflucht gesucht hatten.  Sie wurden tagelang unter unsäglichen Bedingungen im Wintervelodrom in der Nähe des Eiffelturms eingepfercht, einer ersten Station auf dem Weg in die Vernichtungslager .[20]

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Jacques Chirac am Mahnmal für die Opfer der Judendeportationen am 16. Juli 1995

Es dauerte dann bis 2012, bis wieder ein französischer Präsident, nämlich François  Hollande, am Ort des ehemaligen Wintervelodroms eine Rede hielt. Hollande bezog sich direkt auf die Rede Chiracs von 1995 und wiederholte dessen Worte:  „La vérité, c’est que le crime fut commis en France, par la France.“. Und wahr sei auch, dass kein einziger deutscher Soldat beteiligt gewesen sei, sondern dass auf der Grundlage der von der Vichy-Regierung erstellten Listen allein die französische Gendarmerie die Razzia durchgeführt und die verhafteten Juden bis zu den Internierungslagern transportiert habe.[21]

War 70 Jahre nach den damaligen Ereignissen eine „mémoire apaisée“ erwartet worden, so zeigten die Reaktionen auf die Rede Hollandes, dass die Erinnerung an die Rolle Frankreichs bei den Judendeportationen immer noch höchst umstritten war. Henri Guaino, der gaullistische Redenschreiber (plume) Sarkozys, zeigte sich, wie andere Stimmen aus dem rechten Lager, „scandalisé“:  Frankreich habe mit den damaligen Verbrechen nichts zu tun, das wahre Frankreich sei seit dem 18. Juni 1940, der Widerstandsrede de Gaulles, in London gewesen. Aber auch auf Seiten der Linken wurde –in der Tradition Mitterands- jede Verantwortung  Frankreichs geleugnet: Man könne doch nicht so tun, so der sozialistische Senator Chevenement, als sei der 1940 nach der Kapitulation (angeblich) illegal an die Macht gekommene Pétain Frankreich gewesen. Das veranlasste dann den Historiker Henri Rousso, einen Spezialisten des Vichy-Regimes, zu einer Klarstellung: Man müsse zwischen den Werten und den Fakten unterscheiden: Natürlich repräsentiere Vichy nicht, wie Chirac und Hollande ja auch feststellten,  die Werte Frankreichs, aber Vichy habe durchaus eine auch international anerkannte Legitimität besessen. Insofern verstehe er die Kritik an der Rede Hollandes nicht.[22]

2017 war es dann Präsident Macron, der sich am Mahnmal des Vel d’Hiv zur Verantwortung Frankreichs für die Deportationen bekannte. „Ja, ich wiederhole es hier, es war tatsächlich Frankreich, das die Razzia und danach die Deportation organisierte“- und damit auch den Tod  fast aller am 16./17. Juli  1942 aus ihren Wohnungen geholten 13 152 Juden. Aber auch jetzt wieder erhob sich der übliche Entrüstungssturm:  von Jean-Luc Melenchon und Jacques Sapir, für den die Rede Macrons „ein Skandal“ war, auf der Linken –  bis Marine le Pen auf der Rechten, die sich treuherzig auf de Gaulle, Mitterand und Guaino berief. [23]

Von einer gemeinsamen nationalen Erinnerungskultur kann in Frankreich also immer noch keine Rede sein:  (24) Umso wichtiger die sehr eindringliche, aber nicht aufdringliche Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit im öffentlichen Raum der Stadt Paris.

Anmerkungen

[1] Eine (keineswegs vollständige)  Übersicht in: http://www.fondationshoah.org/memoire/journee-internationale-la-memoire-des-victimes-de-la-shoah-2020

[2]https://www.francetvinfo.fr/culture/patrimoine/histoire/meconnaissance-de-la-shoah-chez-les-jeunes-ce-qui-a-considerablement-baisse-c-est-la-transmission-familiale_3109749.html

Siehe auch: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/shoah-une-majorite-de-francais-ignorent-le-nombre-de-juifs-tues-20200122

Im Zusammenhang mit dem schrecklichen Mord an dem Lehrer Samuel Paty wurde auch wiederholt auf Probleme hingewiesen, die manche Lehrkräfte an „Brennpunktschulen“ bei der Behandlung der Judenvernichtung im Unterricht haben.

[3]  https://paris-blog.org/2020/01/27/pariser-erinnerungsorte-an-den-holocaust-der-friedhof-pere-lachaise/

[4] Siehe dazu den Blog-Beitrag über die Erinnerungstafeln zur Zeit von 1939-1945:  https://paris-blog.org/2019/08/25/erinnerungstafeln-zu-der-zeit-von-1939-bis-1945-in-paris-enfants-de-paris-1939-1945/

[5] AMEJD 11e  www.amejd11.org  und https://amejd11e.wordpress.com/  Président Félix Jastreb  amejd11e@gmailcom

[6] Siehe  https://paris-blog.org/2019/08/25/erinnerungstafeln-zu-der-zeit-von-1939-bis-1945-in-paris-enfants-de-paris-1939-1945/

[7] Patrick Modiano, Dora Bruder. München dtv 2014, S. 110/111. Louise Jacobson besuchte allerdings nicht -wie Modiano- das von ihrem Wohnort weit entfernte  Elitegymnasium Henri IV, sondern das lycée Hélène Boucher am Cours de Vincennes, an dem ich immer vorbeifahre, wenn wir im benachbarten Gymnasium Maurice Ravel Chorprobe haben.

[8] Lettres de Louise Jacobson et de ses proches: Fresnes, Drancy 1942-1943. Paris: Éditions Robert Laffont 1997. Die Briefe sind auch zugänglich bei Gallica: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k48087315/f13.image.texteImage

[9] Siehe in diesem Zusammenhang die Hinweise auf den Umgang mit dem Pariser Pétain-freundlichen Kardinal  Suhard  im Blog-Beitrag über Notre- Dame https://paris-blog.org/2019/05/02/napoleon-de-gaulle-und-victor-hugo-notre-dame-die-geschichte-und-das-herz-frankreichs/   und auf  die Nachkriegskarriere des an der Judenvernichtung mitwirkenden Maurice Papon im Blog-Beitrag über die KZ-Denkmäler auf dem Père Lachaise: https://paris-blog.org/2020/01/27/pariser-erinnerungsorte-an-den-holocaust-der-friedhof-pere-lachaise/

Zur wechselhaften Petain-Rezeption und einer entsprechenden Apologetik siehe den Beitrag von Jörn Leonhard:  Mythisierung und Mnesie: Das Bild Philippe Pelains im Wandel der politisch-historischen Kultur Frankreichs seit 1945. In: Georg Christoph Berger Waldegg (Hrsg.): Führer der extremen Rechten: Das schwierige Verhältnis der Nachkriegsgeschichtsschreibung zu „Grossen Männern“ der eigenen Vergangenheit. Zürich: Chronos, 2006, S. 109-129. Sonderdruck aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg:

[10] Noch im  2010 gab es übrigens einen Vorfall, der an den Umgang mit „Nacht und Nebel“ erinnert. Da sollte an dem Journée nationale du souvenir et de la déportation  die Zeitzeugin Ida Grinspan, mit 14 Jahren nach Auschwitz deportiert, in einem Collège am Rande von Paris aus ihren als Buch erschienenen Erinnerungen vorlesen. Darin ist auch ein Brief enthalten, in dem sie ihre Verhaftung durch drei französische Polizisten beschreibt. Die Stadtverwaltung , die von dem Vorhaben erfahren hatte, forderte zunächst in Gestalt eines Beigeordneten –und ehemaligen Polizisten- , dass Grinspan nicht von „Gendarmen“ sprechen sollte, weil das “trop stigmatisante pour une profession“ sei, also zu stigmatisierend für einen Berufsstand. Statt dessen solle sie von „Männern“ sprechen. Dem Bürgermeister reichte das aber nicht, sondern er widersetzte sich insgesamt der Lektüre des Textes. Dass die betroffene, engagierte Lehrerin dies nicht einfach hinnahm und die Angelegenheit ein entsprechendes öffentliches Echo auslöste, veranlasste den Bürgermeister dann doch, seine Zensur fallen zu lassen und sich bei Ida Grinspan zu entschuldigen.   https://www.lemonde.fr/societe/article/2010/04/29/la-lettre-d-une-deportee-censuree-dans-les-deux-sevres_1344650_3224.html

[11] https://www.arte-edition.de/item/4009.html  Zu der Auseinandersetzung um den Film in Frankreich siehe die sehr fundierte Darstellung von Henry Rousso in: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours. Éditions du Seuil 1987, Abschnitt: Impitoyable Chagrin (So die Typographie in der Ausgabe), S. 121ff

[12] Insofern ist das Lob in der nachfolgenden Filmkritik berechtigt, die nachfolgende Kritik allerdings nicht:  Le film tire sa force du fait même qu’il rappelle l’importance de la collaboration – révélant ainsi que la France était loin à cette époque d’être unanimement gaulliste – mais sa faiblesse tient à la façon qu’il a de présenter la collaboration comme le résultat d’attitudes purement individuelles. Le film souffre de cette propension, inhérente à la plupart des émissions historiques télévisées, à n’étayer un fait historique que sur des témoignages individuels en excluant toute approche d’ensemble des données d’un phénomène historique telle que l’étude des structures sociales, des institutions politiques ou des mentalités.  (Le Cinéma français.1960-1985 sous la direction de Philippe de Comes et Michel Marmin avec la collaboration de Jean Arnoulx et Guy Braucourt. Paris: Editions Atlas, 1985. 76-77.)

[13] Zit. bei Rousso, S. 131

Siehe auch Azéma, Jean-Pierre, Wieviorka Olivier. Vichy 1940-1944. Librairie Académique Perrin, 1997. S. 262:  Les réactions les plus hostiles provenaient de celles et de ceux qui avaient vécu la période: les nostalgiques du pétainisme sans doute, mais également nombre de résistants non communistes qui ne se retrouvaient pas dans l’économie générale du film, ou de personnalités engagées dans les batailles de mémoire. Ainsi Simone Veil s’en montre une adversaire tenace, parce que Ophuls a, selon elle, ‚montré une France lâche, égoïste, méchante, et noirci terriblement la situation‘

[14] Robert O. Paxton, La France de Vichy 1940-1944. Éditions du Seuil 1973

[15] Paxton a.a.O., S. 171f

[16] Siehe Henry Rousso a.a.O, S. 229f und besonders S.242  Zu der Jagd auf Klaus Barbie siehe natürlich auch die Memoiren von Beate und Serge Klarsfeld, Paris: Fayard/Flammarion 2015

[17] Beate und Serge Klarsfeld, Mémoires. Paris: Fayard/Flammarion 2015, S. 576 und 596

[18]  Wortlaut der Rede: https://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2014/03/27/25001-20140327ARTFIG00092-le-discours-de-jacques-chirac-au-vel-d-hiv-en-1995.php

Bilddokument: https://www.youtube.com/watch?v=uzyW53KsZF4

[19]https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article108367331/Ein-Verbrechen-in-und-von-Frankreich.html

[20] Bild: https://www.lemonde.fr/disparitions/portfolio/2019/09/26/les-quarante-ans-de-vie-politique-de-jacques-chirac-en-images_6013158_3382.html Bild Jack Guez/AFP

[21] https://www.franceculture.fr/politique/vel-dhiv-francois-hollande-va-plus-loin-que-jacques-chirac-et-cree-une-nouvelle-polemique

[22]  https://www.lemonde.fr/societe/article/2012/07/16/rafle-du-vel-d-hiv-70-ans-apres-la-memoire-apaisee_1734132_3224.html

http://www.lemonde.fr/politique/article/2012/07/23/rafle-du-vel-d-hiv-guaino-scandalise-par-la-declaration-de-hollande_1736970_823448.html  Siehe auch: https://www.marianne.net/politique/vel-d-hiv-hollande-n-pas-clos-la-controverse

[23] http://www.lefigaro.fr/politique/2017/07/16/01002-20170716ARTFIG00136-vel-d-hiv-macron-dans-les-pas-de-chirac.php

https://www.francetvinfo.fr/culture/patrimoine/histoire/commemoration-du-vel-d-hiv-emmanuel-macron-prononce-un-discours-solennel-devant-benyamin-netanyahou_2285604.html

2019 – Bir Hakeim, le Vel’ d’Hiv’ et Emmanuel Macron

https://www.lejdd.fr/Politique/le-discours-de-macron-au-vel-dhiv-critique-par-melenchon-et-lextreme-droite-3391313

(24)  In Deutschland gibt es diesen Konsens leider auch nicht (mehr): Siehe die berüchtigte „Fliegenschiss“-Metapher  des AfD-Vorsitzenden Gauland oder die einschlägigen Beiträge des thüringischen AfD-Vorsitzenden Höcke.

Weitere geplante Beiträge: 

Seraphine Louis und Wilhelm Uhde: Die wunderbare und tragische Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen Mäzens

Gravelotte: Ein einzigartiger Erinnerungsort an den deusch-französischen Krieg 1870/1871

Die Bäderstadt Vichy:  Der Schatten „Vichys“ über der „Königin der Kurbäder“

 

Wohnen, wo einmal die Guillotine stand: La Grande et la Petite Roquette

In diesem Beitrag geht es um die Geschichte unseres Viertels, das nach der Straße benannt ist, die es durchquert, der Rue de la Roquette. Und diesen Namen trugen auch die großen Gefängnisse, die hier einmal standen. In ihnen spiegeln sich 100 Jahre französischer Geschichte, spektakuläre Hinrichtungen wurden hier vollzogen, an die heute noch die  Fundamente der Guillotine erinnern….  

Der Eingang unserer neuen Wohnung liegt in der Rue Maillard.  Namensgeber der Straße, in der unsere frühere Wohnung lag, war der französische General Chancy aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/1871. Der Name Rue Maillard weckt dagegen angenehmere Assoziationen: Gleich nach Verbreitung unserer neuen Adresse wurden wir auf Louis Camille Maillard aufmerksam gemacht, den Entdecker der nach ihm benannten chemischen Reaktion, die u.a. dafür sorgt, dass ein Braten bei entsprechender Zubereitung eine leckere Bräunung und ein geschmackvolles Aroma erhält. Also Bratenduft statt Pulverdampf.

Allerdings kommen dann doch noch weniger angenehme Assoziationen hinzu, wenn man sich etwas  näher mit unserem  neuen Viertel beschäftigt: Nämlich der Knall des Fallbeils, der Guillotine, die hier einmal stand. Darauf wird man hingewiesen, wenn man von der Rue de la Roquette in die Rue du Croix Faubin einbiegt, an der unsere Wohnung liegt. Dort steht eine der Erinnerungstafeln „Histoire de Paris“, mit denen Passanten auf die historische Vergangenheit eines Ortes und –soweit vorhanden- entsprechende sichtbare Spuren hingewiesen werden, an denen sie sonst vielleicht eher achtlos vorübergegangen wären. So sicherlich an diesem Ort: Denn hingewiesen wird auf fünf eher  unscheinbare Steinplatten (aus Granit), die vom Asphalt der Straße ausgespart sind. Es sind, wie die Tafel erläutert, die Fundamente einer Guillotine, die hier –bei Bedarf- aufgebaut wurde, um den Aufprall des Fallbeils aufzuhalten.[1]

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Die Guillotine  gehörte zu dem Gefängnis La Grande Roquette, das -1836 errichtet- auf diesem Areal stand und in dem zu Zwangsarbeit Verteilte gefangen gehalten wurden, die auf ihren Abtransport in die Strafkolonien von Ĭle  de Ré, nach Neu-Kaledonien  oder nach Cayenne warteten- dahin also, wo der Pfeffer wächst… Und zum Tode Verurteilte warteten dort auf die Guillotine.  Im Volksmund hieß das Gefängnis  „Abbaye des Cinq-Pierres“ – eine Anspielung auf die fünf Steine des Fundaments der Guillotine und auf ein Kloster, das sich an gleicher Stelle befunden hatte, bis es zur Zeit der Französischen Revolution aufgelöst wurde.

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Nach der Angabe im unteren Teil der städtischen Erinnerungstafel wurden über 200 Todesurteile mit der hier aufgestellten Guillotine öffentlich vollstreckt.[2]  Obwohl die Hinrichtungen im Allgemeinen in aller Frühe vollzogen wurden, kamen immer Schaulustige zu der am Eingang des Gefängnisses gelegenen Place de la Roquette, um dem „Schauspiel“ beizuwohnen. (1a)

Wie populär solche  Hinrichtungen waren, wird auch daran deutlich, dass der durch die Plakate von Henri de Toulouse-Lautrec bekannte Kabarettist Aristide Bruant hat die letzten Momente eines Gefangenen der Roquette auf seine Weise besungen hat. Sein Publikum muss das wohl lustig gefunden haben:

220px-Lautrec_ambassadeurs,_aristide_bruant_(poster)_1892

Tout ça, vois-tu, ça n’me fait rien

C’qui m’paralyse

C’est qu’i faut qu’on coupe, avant l’mien,

L’col de ma ch’mise;

En pensant au froid des ciseaux,

A la toilette,

J’ai peur d’avoir froid dans les os,

A la Roquette.

Aussi j’vas m’raidi pour marcher

Sans qu’ça m’émeuve,

C’est pas moi que j’voudrais flancher

Devant la veuve;

J’veux pas qu’on dis’que j’ai l’trac

De la lunette,

Avant d’éternuer dans l’sac,

A la Roquette.“

Die Grande Roquette war –wie bei einem Bauwerk dieser Art nicht anders zu erwarten-  Schauplatz spektakulärer und tragischer Ereignisse. Die Erinnerungstafel verweist ausdrücklich auf die Exekution der beiden Anarchisten Auguste Vaillant und Emile Henry. Auguste Vaillant hatte 1893 von der Zuschauertribune der Assemblée Nationale eine Bombe auf die dort versammelten Parlamentarier geworfen, wobei 50 Menschen verletzt wurden. Vaillant wurde am 5. Februar 1894 vor der Roquette guillotiniert- mit den letzten Worten: „Es lebe die Anarchie! Mein Tod wird gerächt“.[3]

220px-Le_Petit_Journal_-_Explosion_à_la_Chambre Auguste Vaillant

Die Rache ließ auch nicht lange auf sich warten. Am 12. Februar 1794 verübte der Anarchist Emile Henry einen Anschlag auf das Café Terminus im Gare St. Lazare, bei dem 20 Besucher verletzt wurden, einer davon tödlich. Der Prozess gegen Henry erregte erhebliches Aufsehen wegen des unerschrockenen Auftretens des jungen hochgebildeten Anarchisten und der sozialkritischen Rechtfertigung seiner Tat. Auf den Vorwurf des Richters, er habe einen Anschlag auf Unschuldige verübt, antwortete er: „Il n’y a pas de bourgeois innocents“. Die Erklärung, die er vor Gericht abgab, wurde berühmt.[4]

Am 21. Mai 1894 wurde Henry vor der Roquette guillotiniert- im Beisein übrigens  von Georges Clemenceau und Maurice Barrès- beide alles andere als Sympathisanten des Anarchismus, die aber von dem Schicksal des jungen Manns angerührt waren.

Nicht hingewiesen wird auf der städtischen Hinweistafel auf zwei Ereignisse, die die Grande Roquette in ganz  besonderem  Maße in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten und dazu –wenn auch in verschiedener Weise- zu ihrer  Bedeutsamkeit beitrugen, und zwar die Hinrichtung des Mörders Troppmann 1870 und die Geiselerschießung der Commune 1871.

Die Hinrichtung Troppmanns

Die Hinrichtung des Mörders Troppmann in der Roquette am 19. Januar 1870 war ein außerordentlich spektakuläres Ereignis.  Troppmann hatte aus Geldgier 8 Mitglieder einer Familie nach und nach auf sehr heimtückische Weise umgebracht.

Von der Entdeckung der Leichen über die Jagd nach dem Täter bis hin zum Prozess und der Hinrichtung verfolgten Moritatensänger und insbesondere die noch junge  Presse den Fall.  Besonders hervor tat sich das 1863 gegründete Le Petit Journal. Dieses konnte die Auflage von dem ersten Bericht über diesen Mord am 23. September von 357.000, drei Tage später auf 403.950, am Tag der Hinrichtung Troppmanns bis auf 594.000 Exemplare steigern. Das Blatt versorgte seine Leser hierbei mit Details; beispielsweise dass Troppmann angeblich seinen Bruder um Blausäure und Äther gebeten habe, um seine Wärter zu vergiften und dass er versucht habe seinen Henker zu beißen. Der mediale  Erfolg der Troppmann-Berichterstattung war Wasser auf die Mühlen der Sensationspresse und trug generell  zur bevorzugten Behandlung der „faits divers“ in den Massenmedien bei, die ja gerade in Frankreich besonders auffällig ist: Noch heute beginnen die Nachrichtensendungen in den großen französischen Fernsehprogrammen, selbst in dem öffentlich-rechtlichen TV 2, sehr oft mit einer ausführlichen Berichterstattung über solche „faits divers“, einen Mord in der Provinz, einen plötzlichen Wintereinbruch in den französischen Alpen oder einer Warnung vor einem Stauwochenende, bevor dann auch das politische Tagesgeschehen –mehr oder eher weniger- zu seinem Recht kommt.

Welches Aufsehen der Fall Troppmann in Frankreich erregte, beschreibt übrigens kein Geringerer als Iwan Turgenew in seinem ausführlichen, zeitnah verfassten Bericht L’exécution de Troppmann, der in der Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe mündet- wie sie damals von vielen aufgeklärten Geistern –in Frankreich etwa von Victor Hugo und später dann im Zusammenhang mit der Hinrichtung Henrys auch von Clemenceau- erhoben wurde. Turgenew hielt sich 1870 in Paris auf und wurde eingeladen, als einer der wenigen „Ehrengäste“ der Hinrichtung des Mörders aus nächster Nähe beizuwohnen.  Schon Tage davor seien in allen Schaufenstern Fotos von Troppmann ausgestellt worden und Tausende von Schaulustigen seien jede Nacht zur Roquette gekommen, um nicht den Aufbau der Guillotine zu versäumen. Die damals äußerst spannungsreiche und bewegte politische Situation in Frankreich (kurz vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges) sei demgegenüber völlig in den Hintergrund des öffentlichen Interesses geraten.

70536893 Execution de Troppmann

Die Nacht vor der Hinrichtung mussten die privilegierten Zuschauer im Zimmer des Gefängnisdirektors verbringen, weil befürchtet wurde, dass am nächsten Morgen die erwarteten Massen der Schaulustigen den Zutritt zur Roquette unmöglich machen würden. So kann Turgenew aus nächster Nähe den Aufbau der Guillotine beobachten, dem Henker die Hand schütteln –nach Troppmann immerhin die wichtigste Figur des bevorstehenden Spektakels-  und die zahlreiche Post betrachten, die Troppmann von allen Seiten erhalten, aber nicht zur Kenntnis genommen hatte- auch nicht die Billets von Frauen, denen teilweise Blumen wie Margueriten und Immortellen beigegeben worden waren. Schon mitten in der Nacht versammelten sich, wie die Polizei dem Gefängnisdirektor berichtete,  über 25 000 Schaulustige vor dem mit der Überschrift „Dépot des Condamnés“ versehenen Eingang der Roquette.

grande roquette portail

Turgenew beschreibt anschaulich, was von dieser erwartungsvollen Menschenmenge an das Ohr der Ehrengäste im Gefängnis dringt:

„Ce brouhaha m’étonnait par sa ressemblance avec les mugissements lointains du flux et du reflux de la mer, le même crescendo Wagnérien infini qui ne monte pas régulièrement, mais avec de grands chuchotements et des déversements gigantesques. Les notes aiguës des voix des femmes et des enfants jaillissaient comme des éclaboussures fines sur le bourdonnement colossal. La puissance brutale d’une force de la nature se montrait dans tout cela. Tantôt elle s’apaise pour un instant comme si elle était couchée et ramassée… et la voilà encore qui grandit, s’enfle et gronde comme toute prête à s’élancer et à tout déchirer, qui recule encore et peu à peu se calme, puis de nouveau grandit… et cela n’a pas de fin. Que veut dire ce bruit ? pensai-je. Impatience ? Joie ? Haine ?… Non, il ne sert d’écho à aucun sentiment individuel humain. Tout simplement le bruit et le brouhaha de la nature.“

„Tout d’un coup, lentement, comme une gueule, s’ouvrirent les deux battants des portes accompagnés en même temps d’un grand rugissement de la foule réjouie, satisfaite. Soudain, le monstre de la guillotine nous regarda avec ses deux poteaux noirs et le couperet suspendu.

Als Troppmann aufs Schaffott geführt wird:  Totenstille unter den  vielen Tausenden Zuschauern:

„J’eus le temps de remarquer qu’à l’apparition de Troppmann le bruit de la foule se tut comme un monstre qui s’endort. Un silence sans respiration.“

Dann die Vollstreckung des Urteils:

„Enfin retentit un bruit léger de bois qui se heurtent. C’était la chute de la lunette supérieure avec la découpure transversale pour laisser passer le tranchant, la lunette qui prend le cou du criminel et rend sa tête immobile ; puis quelque chose gronda sourdement, roula et éructa comme si un grand animal eût craché. Je ne puis trouver une comparaison plus exacte.

Tout se couvrit d’un brouillard.“

Und danach?

„Je me sentais très fatigué, et je n’étais pas le seul. Tous paraissaient épuisés, quoique tous, apparemment, se sentissent mieux, comme si leurs épaules fussent débarrassées d’un grand poids.

Mais personne de nous, absolument personne, n’avait l’air d’un homme qui a assisté à l’exécution d’un acte de justice sociale. Chacun tâchait de se détourner de cette idée et de rejeter la responsabilité de cet assassinat. … Nous parlions de la barbarie inepte et superflue de toute cette procédure du moyen-âge, grâce à laquelle l’agonie d’un criminel dure trente minutes, de six heures vingt-huit à sept heures….., du dégoût de tous ces travestissements, de cette coupe de cheveux, des voyages par les escaliers et les corridors…..

De quel droit fait-on tout cela ? Comment soutenir cette routine révoltante ? La peine de mort elle-même pouvait-elle être justifiée ?“

 Turgenew sieht keinerlei –wie auch immer gearteten- Nutzen, den eine solche „Nacht der Schlaflosigkeit, der Trunkenheit und der Perversion“ auf die Zuschauer haben  könnte. Und er zieht aus all dem den Schluss, dass die Todesstrafe unabweisbar auf der Tagesordnung der humanité contemporaine stehe. Er hoffe, dass er mit seinem Bericht einen Beitrag zu ihrer Abschaffung, mindestens jedoch zur Beendigung ihrer öffentlichen Zurschaustellung leisten würde.[5]

 Allerdings  hat es noch fast 70 Jahre gedauert, bis in Frankreich auf das Schauspiel öffentlicher Hinrichtungen verzichtet wurde: Am 17. Juni 1939 wurde der Deutsche Eugen Weidmann, der in Frankreich 6 Menschen ermordet hatte, vor 10000 Schaulustigen in Versailles hingerichtet. Dabei kam es zu volksfestartigen Szenen, Champagnerkorken knallten, Frauen tauchten ihre Taschentücher in das Blut des mit Clark Gable verglichenen Frauenhelden.[6] Danach verzichtete man in Frankreich auf weitere Spektakel dieser Art. Aber es dauerte dann noch einmal über 40 Jahre, bis  in Frankreich –mit der Lex Badinter von 1981- die Todesstrafe endlich abgeschafft wurde. In Russland –Turgenjew richtete sich mit seinem Text ja in erster Linie an eine russische Leserschaft- geschah das erst 2009- und in vielen anderen Ländern hat sich –nicht einmal in diesem Punkt- die „humanité contemporaine“ immer noch nicht durchgesetzt…

Die Geiselerschießung in der Roquette 1871

Ein besonders tragisches Ereignis war sicherlich die Erschießung von sechs Geiseln durch die Commune in der Grande Roquette. Sie fand statt am 24. Mai 1871, während der blutigen Niederschlagung der Commune in der semaine sanglante[7], durch die Versaillais, also die Truppen der nach Versailles geflüchteten Regierung unter Adolphe Thiers.

Grundlage der Geiselerschießung war ein Dekret der Commune vom 5. April 1871, dem gemäß alle mit der Regierung in Versailles zusammenarbeitenden Personen Geiseln des Volks von Paris seien. Jede Erschießung von Kriegsgefangenen oder Anhängern der sich als  rechtmäßige  Regierung betrachtenden Commune habe die Erschießung einer dreifachen Anzahl von Geiseln zur Folge- ein auch in den Reihen der Commune und ihrer Sympathisanten umstrittenes Dekret.[8] Allerdings handelte es sich bei der Geiselerschießung in der Roquette um keine automatische  Replik auf die unbeschreiblichen und massenhaften Gräueltaten der Versailler in der semaine sanglante. Die Commune hatte nämlich zunächst angeboten, den von ihr festgehaltenen Erzbischof von Paris, Mgr Darboy, gegen den von den Versaillern gefangenen gehaltenen Revolutionär Auguste Blanqui auszutauschen. Und als dieses Angebot unbeantwortet blieb, schlug die Commune sogar vor, im Gegenzug zur Befreiung Blanquis alle von ihr festgehaltenen 64 Geiseln freizulassen. Blanqui war seit der Revolution von 1830 eine Leitfigur der sozialistischen Bewegung in Frankreich. Mehrfach wurde er wegen  seiner revolutionären Aktivitäten und Überzeugungen verhaftet. So auch im März 1871 auf Befehl von Adolphe Thiers, der damit die Commune einer charismatischen Führungsfigur beraubte und der deshalb auch unter gar keinen Umständen auf das Angebot der Commune eingehen wollte. Sein Sekretär kommentiert das zynisch: « Les otages ! Les otages, tant pis pour eux ! »[9]

So werden am 24. Mai in der Grande Roquette 6 Geiseln der Commune, darunter der Pariser Erzbischof, erschossen.

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Gedenktafel in der Kirche La Madeleine für den Priester J.G. Deguerry, der zu den am 24. Mai 1871 erschossenen Geiseln gehörte.

Dass Blanqui auch heute noch Verehrer hat, zeigt sein Grab mit der von Dalou geschaffenen eindrucksvollen Bronzefigur auf dem Père Lachaise. (91. Division)[10]

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Die Geiselerschießung vom 24. Mai war ein wesentliches  Element in der 1871 einsetzenden groß angelegten Diffamierungskampagne der Commune und ihrer „Verbrechen“, bei der die junge Fotografie systematisch eingesetzt wurde. Fotos vom zerstörten Pariser Rathaus oder der umgestürzten Vendôme-Säule gehörten dazu.[11] Und die Erschießung der Geiseln in der Roquette wurde propagandistisch nachgestellt, fotografiert und verbreitet. Das hatte gleichzeitig auch die Funktion, von dem systematischen Terror der eigenen Seite –mit etwa 30 000 Opfern- abzulenken.

Crimes de la Commune              

 „Crimes de la Commune : Assassinat des otages dans la prison de la Roquette“

 Die Zelle, in der Erzbischof Darboy seine letzten Tage auf dieser Welt verbracht hatte, wurde übrigens beim Abriss der Grande Roquette Stein für Stein abgetragen und in der Krypta des Priesterseminars Saint Sulpice von Issy-les-Moulinaux wieder aufgebaut- zusammen  mit einem  Stück der Mauer, vor der die sechs Geiseln erschossen wurden.[12]

Allerdings haben die Sieger nach Niederschlagung der Commune in der sogenannten „semaine sanglante„, der blutigen  Woche, mit aller Brutalität zurückgeschlagen. Dabei hat wiederum die Grande Roquette eine Rolle gespielt, wie  Prosper Lissagaray in seiner „Geschichte der Commune von 1871“  (es 577, S. 362) berichtet:

Nach beendigtem Kampfe verwandelte sich die Armee in ein ungeheures Executions-Peleton. Am Sonntag wurden mehr als 5000 Gefangene, die in der Umgegend des Père La Chaise aufgegriffen waren, in das Gefängniß la Roquette geführt. Ein Bataillonschef stand am Eingang und musterte die Gefangenen, ohne an einen  Einzigen  eine Frage  zu stellen, indem er nur „rechts“ oder „links“ sagte. Die zur Linken wurden sogleich erschossen. Man leerte ihnen die Taschen, lehnte  sie an eine Mauer und machte sie nieder. Der Mauer gegenüber hielten zwei oder drei Pfaffen  sich die Breviere vor die Nase und murmelten die Gebete der Sterbenden.“

Die Petite Roquette

Auf der anderen Seite der Rue de la Roquette gibt es den Square de  la Roquette, eine kleine hübsche Parkanlage mit einem Springbrunnen, Blumen, Bänken, Spiel- und (in Paris eher selten) Bolz- und Basketballplätzen  für Jugendliche. Davor sogar auch noch einen Boule-Platz, der allerdings von den zahlreichen Hunden des Viertels eher anderweitig genutzt wird.

Dass man sich auch hier auf geschichtsträchtigem Grund befindet, ist noch deutlicher als auf der anderen Seite der Straße: Da gibt es unübersehbar das übliche grüne Schild der Parkverwaltung, das am Eingang allen Pariser Grünanlagen über den Namen  und die Geschichte des Ortes informiert. So auch hier:

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Der Name der Anlage (und der Straße) sei abgeleitet von einer Pflanze, die zwischen den Steinen des Klosters wuchs,  das  sich hier befunden  habe : die roquette, lateinisch eruca, italienisch rucola, die im Mittelalter schon als Salatpflanze genutzt wurde, dann in Vergessenheit geriet und inzwischen wieder über Italien ihren Weg in die deutsche Küche gefunden hat.[13]  1836 habe ein Gefängnis für Frauen, Kinder und junge Straftäter das Kloster ersetzt, dessen Bau sich an der Festungsarchitektur orientiert habe. In der Tat erinnert das Gefängnis, wie der Plan seines Architekten Louis- Hippolyte Lebas zeigt, in seinen Ausmaßen und seinem Grundriss an eine Festungsanlage Vaubans.(13a)

Lebas war damals ein prominenter Architekt, der gerade die Pariser Kirche Notre-Dame de la Lorette im 9. Arrondissement fertiggestellt hatte. Bei seinem Gefängnisentwurf bezog er sich aber weniger auf Vauban, sondern auf das Modell  des britischen Philosophen Jeremy Bentham  und verwirklichte damit ein für Frankreich damals avantgardistisches Projekt.[14] Bentham, der Begründer des klassischen Utilitarismus, entwickelte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Konzept zum Bau von Fabriken und Gefängnissen, das eine möglichst effektive Überwachung und Kontrolle der Arbeiter bzw. Gefangenen ermöglichen sollte, das sogenannte Panopticon.  Von einem zentralen Ort sollten danach alle Fabrikarbeiter oder Gefängnisinsassen beaufsichtigt werden. Im Mittelpunkt eines nach dem Panopticon-Prinzip konzipierten Gefängnisses steht ein Beobachtungsturm, von welchem aus Zelltrakte abgehen (in der sogenannten Strahlenbauweise). So kann der Wärter in der Mitte die Zellen einsehen, ohne dass die Insassen wiederum den Wärter sehen können. Das liegt daran, dass die Gefangenen aus der Sicht des Wärters im Gegenlicht gut sichtbar sind, der Wärter selbst jedoch im Dunkel seines Standortes nicht ausgemacht werden kann. Mithin wissen die Gefangenen nicht, ob sie gerade überwacht werden.

Von diesem Konstruktionsprinzip erhoffte sich Bentham, dass sich alle Insassen zu jeder Zeit unter  Überwachungsdruck  regelkonform verhalten (also abweichendes  Verhalten vermeiden, da sie immer davon ausgehen müssten, beobachtet zu werden. Dies führe vor allem durch die Reduktion des Personals zu einer massiven Kostensenkung im Gefängnis- und Fabrikwesen, denn das Verhältnis zwischen effektiv geleisteter Überwachungsarbeit und erzeugter Angst, beobachtet zu werden, sei sehr günstig.

Michel Foucault hat in seinem Buch „Überwachen und Strafen“ die Wirkung des Panopticons als „Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ beschrieben, „der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.“ (Frankfurt 1977, S. 258)  Er sieht hier das „kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage“ (253), in der die  Machtausübung immer weniger auf die Ausübung körperlicher Gewalt angewiesen ist. Insofern stehe das Panopticon für das  Herrschaftsprinzip liberaler Gesellschaften, die er auch Disziplinargesellschaften nennt.

Nach dem Panopticon-Prinzip wurden im 19. und 20. Jahrhundert weltweit zahlreiche Gefängnisse errichtet- in Deutschland z.B. das ursprünglich als preußisches Mustergefängnis gebaute, aber besonders im Dritten Reich berüchtigte Gefängnis in Berlin-Moabit. Auch das Kölner Arrest- und Correctionshaus am Klingelpütz wurde in den 1830-er Jahren als Panopticum-Bau errichtet. .[14a]

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Und in Frankreich war es eben das mächtige sechseckige La Roquette, das in Abgrenzung zu der für die Schwerverbrecher bestimmten Grande Roquette auf der anderen Straßenseite Petite Roquette genannt wurde, weil es für Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 20 Jahren und für Frauen  bestimmt war. Eine Zeit seines jungen Lebens verbrachte hier übrigens in den 1920-er Jahren ein aus schwierigsten Verhältnissen stammender  15- jähriger Jugendlicher- Beginn einer langen Gefängnis-Odyssee: Es war Jean Genet- der mit dem 1942 im Gefängnis geschriebenen eindrucksvollen Gedicht „Le Condamné à mort“ (Der zum Tode Verurteilte) seine literarische Karriere begann.[15]

Alle Gefangenen in der Petite Roquette wurden isoliert und voneinander fern gehalten- selbst bei dem überwachten einstündigen täglichen Aufenthalt im Freien, der in getrennten Pferchen stattfand, oder bei einem Besuch des Erzbischofs (s. Anm. 11). Die entsprechenden zeitgenössischen Bilder aus der Petite Roquette lassen für mich Assoziationen an schlimmste Massentierhaltung aufkommen.

La petite Roquette

Die von totaler Isolation und Überwachung geprägten Haftbedingungen waren schon damals nicht unumstritten: Kaiserin Eugénie, die durchaus  sozial engagierte Frau Napoleons III., war bei einem Besuch in der Petite Roquette offenbar ziemlich entsetzt und forderte einen alternativen Strafvollzug für Jugendliche. Es wurden dann zwar auch landwirtschaftliche Kolonien eingerichtet, in denen jugendliche Strafgefangene arbeiten und auf die Rückkehr in die Freiheit vorbereitet werden sollten, aber die Petite Roquette blieb doch auch weiterhin zumindest eine obligatorische Durchgangsstation.

Nachdem 1939 öffentliche Hinrichtungen in Frankreich verboten worden waren, wurde die  Petite Roquette als Ort künftiger Hinrichtungen von Frauen  in Paris bestimmt. Zweimal wurde dieses Gesetz dann angewendet: Am 6. Februar 1942 wurde Georgette Monnerot hingerichtet, weil sie ihr Kind getötet hatte, am 30. Juli 1943 Marie-Louise Giraud wegen der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen– da sind wir in der Ära Vichys und Pétains.

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1974 wurde das Gefängnis abgerissen, um das weitläufige Gelände freundlicheren Verwendungen zuzuführen. Erhalten wurden aber die beiden Eingangstore des Gefängnisses, durch die man nun die neue Park- und Freizeitanlage betritt. An dem linken der beiden  Eingangstore weist eine Erinnerungstafel darauf hin, dass hier zwischen dem 18. Juni 1940, dem berühmten Londoner Aufruf de Gaulles zum Widerstand,  bis zum 28. August 1944, der Befreiung von Paris, 4000 Mitglieder der Résistance inhaftiert waren.

Während bei den an allen Schulen angebrachten Gedenktafeln zur Erinnerung an die jüdischen Opfer der Occupation immer auch auf die Rolle der französischen Polizei hingewiesen wird[16], werden hier zwar die Opfer, aber nicht die Täter und ihre Helfer benannt. Auf der homepage der ajpn, der Vereinigung der „Anonymes, Justes et Persécutés  durant la periode Nazie“[17] ist das anders: Dort findet sich folgende präzisere Angabe: „Durant la Seconde Guerre mondiale, 4000 femmes sont emprisonnées à la Roquette par la police française pour faits de résistance.“ Das Gefängnis unterstand jedenfalls  -wie ja auch die Polizei-  der Regierung von Vichy, d.h. die Gefängnisverwaltung lag in französischer Hand.[18] Die Repression der résistance entsprach ja nicht nur dem gemeinsamen Willen der Besatzer und der Collaboration, sondern auch dem Interesse des besiegten Frankreichs, des sogenannten État français,  ein Höchstmaß an (scheinbarer) Souveränität zu erhalten.

Unter den inhaftierten Frauen waren übrigens auch Ausländerinnen, die wegen ihrer antifaschistischen Überzeugung verhaftet worden  waren. So auch die deutsch-tschechische Literatin Lenka Reinerová, in deren Biographie sich die Tragik des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll niederschlägt: Zu ihren Freunden der Zwischenkriegszeit in Prag gehörten Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und Max Brod, der Herausgeber der Werke von Franz Kafka. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag Flucht nach Frankreich, dort ein halbes Jahr Einzelhaft in der Petite Roquette, danach in einem Frauenlager der Vichy-Zone interniert, Flucht über Casablanca nach Mexiko, wo sie das Malerehepaar Frida Kahlo und Diego Rivera  und natürlich die ebenfalls nach Mexiko emigrierte Schriftstellerin Anna Seghers trifft. 1948 Rückkehr nach Prag, wo ihr im Rahmen der stalinistischen „Säuberungen“ der Prozess gemacht wird. Erst 1964 rehabilitiert, wird sie  nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der KPC ausgeschlossen.  2008 starb sie – die letzte Vertreterin der Prager deutschsprachigen Literatur.[19]

Während die Petite Roquette erst 1974 abgerissen wurde, was das auf der anderen Seite mit der Grande Roquette schon 1900 geschehen. Da platzte Paris aus allen Nähten, die Grande Roquette wurde abgerissen, das Gelände zwischen der Rue de la Roquette, der Rue de la Folie Régnault und der Rue la Vacquerie wurde durch kleine verkehrsberuhigte Einbahnstraßen in sechs Rechtecke eingeteilt, die nach und nach mit 6- bis 7-stöckigen Häusern bebaut wurden. In einem davon wohnen wir jetzt..

Anmerkungen

[1] Die Angaben für das Gewicht des Fallbeils schwanken zwischen 7 und 200 kg (Turgenew). Übrigens werden auch heute noch Guillotines hergestellt- mit denen allerdings nicht mehr Köpfe abgeschnitten werden, sondern Baguette-Rohlinge aus der Teigmasse: http://rinaldin.it/fra/Cat_fra/34_Guillotines.pdf

(1a) Bild aus: https://www.pariszigzag.fr/histoire-insolite-paris/une-guillotine-a-paris

[2] Nach Wikipedia waren es 69: http://de.wikipedia.org/wiki/Gef%C3%A4ngnisse_von_La_Roquette

[3](http://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Vaillant)

[4] Zitiert in : http://fr.wikipedia.org/wiki/Émile_Henry_(anarchiste) 

[5] http://bibliotheque-russe-et-slave.com/Livres/Tourgueniev%20-%20L’Execution%20de%20Troppmann.htm

[6] http://www.welt.de/geschichte/article129139943/Letzte-oeffentliche-Hinrichtung-in-Frankreich.html

http://www.t-online.de/nachrichten/wissen/geschichte/id_69859512/frankreich-deutscher-serienmoerder-wurde-1939-enthauptet.html

[7] Siehe dazu Bericht 15: 140 Jahre Commune

[8] Z.B. auch von Victor Hugo in seinem Gedicht Pas  de représailles (In: L’Année terrible, 1871)

[9] http://www.histoire-image.org/pleincadre/index.php?i=71

[10] Zu Dalou s. den 33. Bericht über das Hotel Païva. Zum Père Lachaise vielleicht später einmal mehr.

[11] In der aktuellen großen  Monet-Ausstellung im Frankfurter Staedel-Museum werden entsprechende Fotos von Jules Andrieu und Franck gezeigt.

[12] http://www.sulpissy.info/spip.php?

[13] Ein freundlicher Leser des Berichts hat mich darauf hingewiesen, dass die Rauke sogar im Hessenpark im Taunus  angebaut und gezeigt wird. Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Rucola

(13a) Die Federzeichnung aus den 1830-er Jahren ist auch zu sehen in der Dauerausstellung der Architekturgeschichte von Paris im Pavillon d’Arsénal in Paris

[14] Anaïs Guérin, La Petite Roquette, la  double vie d’une prison Parisienne,  1836 – 1974. 2013

[14a] Vielen Dank, Ulrich Schläger, für diesen Hinweis!

[15] Vollständige französische Version und englische Übersetzung:  http://www.sptzr.net/Translations/prisoner.htm  Auf youtube gibt es eine eindrucksvolle (gekürzte) Chanson-Version von Marc Ogeret

Einen Bericht über die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten in der Grande Roquette gibt es übrigens auch von Jules  Valls in seinem Le Tableau de Paris, 1882/1883

[16] Siehe dazu den Blog-Beitrag über Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1) 

[17] http://www.ajpn.org/internement-Prison-de-la-Roquette-470.html

[18] Die Gestapo hatte in Paris ein  eigenes Gefängnis, das Cherche-midi im Boulevard Raspail, das  allerdings nicht der Internierung diente, sondern dem Verhör und damit natürlich auch der Folter.

[19] Martin Doerry und Hans-Ulrich Stoldt haben 1982 im Spiegel (30.9.2002) ein sehr lesenswertes Interview mit Lenka Rainerowa  veröffentlicht.   http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-25327110.html

Der Faubourg Saint-Antoine, Teil 2: Das Viertel der Revolutionäre

Im ersten Teil dieses Beitrags ging es um den Faubourg Saint-Antoine als das Viertel des Holzhandwerks und der Kunsttischler. Dort wurde ein großer Teil der noblen Ausstattung für die Schlösser des französischen Adels hergestellt. Heute erinnern noch viele der früheren Handwerkerhöfe an diese  glanzvolle Periode des Viertels.

Der Faubourg Saint-Antoine, das Viertel des Holzhandwerks: https://paris-blog.org/?s=Faubourg+Saint+Antoine+Holzhandwerk

Im nachfolgenden zweiten Teil geht es um die -mit der wirtschaftlichen Tätigkeit des Viertels eng verknüpfte- politische Tradition des Viertels:  In allen französischen ‚Revolutionen, 1789, 1830, 1848 und 1871, spielte das Viertel  eine wesentliche Rolle.

Die Kehrseite des wirtschaftlichen Aufschwungs des Faubourg-St-Antoine im ancien régime waren nämlich die insgesamt miserablen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Weil es hier keine Zunftzugehörigkeit gab, gab es auch nicht die von den Zünften immerhin sichergestellte soziale Absicherung. Gerade in der Wirtschaftskrise, die der Französischen Revolution vorausging, waren die Konsequenzen für die Arbeiter besonders spürbar.

Dies war der Ursprung der sogenannten affaire Réveillon, gewissermaßen  der Auftaktveranstaltung der Französischen Revolution. Und die fand –wie ja  auch der Sturm auf die Bastille- nicht von ungefähr gerade im aufsässigen Faubourg Saint-Antoine statt. In der Enzyklopädie Larousse finden sich zu dieser „Affaire“ folgende Informationen:

Émeute qui éclata au faubourg Saint-Antoine à Paris le 28 avril 1789. La fabrique de papiers peints de J.-B. Réveillon fut pillée et incendiée par ses ouvriers, auxquels se joignirent de nombreux travailleurs du quartier. L’intervention de l’armée fit 300 victimes.

Was hat es mit diesem Aufstand auf sich? In den weitläufigen Gartenanlagen der ehemaligen Folie Titon zwischen der Rue de Montreuil und der heutigen Rue Chanzy wurde im 18. Jahrhundert eine königliche Manufaktur für bedrucktes buntes Papier eingerichtet. Der Chef der Manufaktur, Réveillon, war großbürgerlicher Mäzen und arbeitete mit den Brüdern Montgolfier bei der Herstellung der ersten Heißluftballone zusammen. Er saß auch selbst  mit in dem ersten  Montgolfière, der  am 19. November 1783 im Garten der Folie Titon abhob: Seine Hülle bestand aus Stoff, auf den mit goldenen Sonnen bedrucktes Réveillon-Papier geklebt war – eine grandiose Marketing-Aktion.

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Bemalung eines Tellers zur Erinnerung an den 19. November 1783; aus dem musée Carnavalet

Reveillons Manufaktur litt aber  am Vorabend der Französischen Revolution unter der Wirtschaftskrise, zu der nach einem Freihandelsabkommen  mit England die billige englische Konkurrenz wesentlich beitrug. Réveillon, ein eher fortschrittlicher Unternehmer, schlug deshalb am 23. April 1789 vor, einerseits die an der Stadtgrenze erhobenen Zölle (den verhassten octroi) abzuschaffen, um damit die Preise der Grundnahrungsmittel, vor allem den Brotpreis, zu senken. Damit gäbe es Spielraum, die Löhne um 25% zu kürzen, um das  Überleben der Betriebe zu ermöglichen.  Natürlich konnte und wollte Ludwig XVI. angesichts der leeren  Staatskassen nicht auf den octroi verzichten, so dass für die ca 300 Beschäftigten Réveillons und für die in den Arbeitervierteln im Osten der Stadt nur die Drohung drastischer Lohnsenkungen blieb, die sich wie  ein Lauffeuer verbreitete.  So kam es zur Revolte der Arbeiter (1)

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Sie zogen in die Innenstadt vor das Hôtel de ville mit dem Ruf Le pain à deux sous,  verbrannten Stoffpuppen mit  den Zügen ihres Fabrikherren. Am 27./28. April besetzten aufgebrachte Arbeiter des Viertels das Haus und die Manufaktur Réveillons, zündeten die Gebäude  an und verjagten den Besitzer.

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Teil eines Frieses in der Hofeinfahrt von Nr 33 rue de Montreuil, in dem die Affaire Reveillon veranschaulicht wird.

In Presseartikeln über Fabrikbesetzungen, die in Frankreich ja eine gewisse Verbreitung und Popularität haben, wird übrigens gerne auf diese  historische Parallele verwiesen.  Réveillon flüchtete sich in die nahe gelegene Bastille, die also nicht nur als Gefängnis, sondern in diesem Fall auch einmal als Zufluchtsort diente. Dann rückte aber ein Garde-Regiment an, um die sogenannte „Ordnung“ wiederherzustellen: Es ist nicht erwiesen, wie viele Opfer es gab. „On parle de plus de trois cents morts et d’autant de blessés.“ (2)  Es soll -nach dem Sturm auf das Tuilerien-Schloss am 10. August 1792- sogar der blutigste Tag der Französischen Revolution gewesen sein.

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Gedenktafeln am ehemaligen Eingang der Folie Titon, die an den Start des ersten Montgolfière und den Aufstand vom 28. April 1789 erinnern

Die Truppe wurde danach vorsichtshalber gleich in der leer stehenden ehemaligen Glasmanufaktur in der nahe gelegenen Rue Reuilly in Bereitschaft gehalten. Allerdings verbündete sich am 14. Juli 1789 ein Teil dieser Truppe mit den Belagerern der Bastille und trug damit entscheidend zu ihrem Fall bei.

Hubert Robert

Die Erstürmung der Bastille hatte übrigens vor allem eine symbolische Bedeutung, galt sie doch seit den Zeiten Richelieus als Sinnbild absolutistischer Willkür:  Ein lettre de cachet des Monarchen genügte, um eine missliebige Person gefangen zu setzen. Dabei war die Bastille eher für prominente Gefangene bestimmt und die Haftbedingungen waren, genügend finanzielle Ressourcen vorausgesetzt, relativ komfortabel. Teilweise wird die Bastille von 1789 eher als Hotel denn als Gefängnis beschrieben.  Die Befreier waren denn auch  etwas enttäuscht, nur 7 eher gewöhnliche Spitzbuben dort vorzufinden, so dass man sogar einen den Erwartungen entsprechenden Gefangenen einfach erfand, den Comte de Lorges, der angeblich 32 Jahre lang in einem dunklen, feuchten Kellerloch angekettet gewesen sei. (3)

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Und  dank der Revolution konnte sich selbst ein adliger Gauner wie der Chevalier de Latue, dem einmal mit Hilfe einer Strickleiter ein spektakulärer Ausbruch gelungen war, erfolgreich als Opfer des Absolutismus und Held der neuen  Zeit in Szene setzen. Da die Bastille ein Symbol war, wurde auch unmittelbar nach ihrem Fall der Bauunternehmer Pierre François Palloy mit dem Abriss beauftragt, den Hubert Robert in einem eindrucksvollen Gemälde festhielt, das er dem Marquis de La Fayette schenkte. Hier ein Ausschnitt:

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Palloy nutzte die Bastille als Steinbruch, er ließ aber auch von Blöcken der Festung Modelle des Baus herstellen, die er an die 83 Départements, an König Ludwig XVI. und einflussreiche Persönlichkeiten  Frankreichs und des Auslands, u.a. George Washington, versandte. Ein Exemplar ist heute im Stadtmuseum Carnavalet ausgestellt. Zu sehen ist von der Bastille heute fast nichts mehr, nur noch wenige Fundamente eines Turms in der kleinen Grünanlage an der Métro-Station Sully-Morland am Boulevard Henri Quatre. Und da, wo die Rue Saint -Antoine in die Place de  la Bastille einmündet,  sind noch die Umrisse eines früheren Festungsturmes auf der Straße markiert – inzwischen durch Markierungen aus Metall ersetzt.  Sie deuten übrigens an, dass die Bastille nicht ganz so mächtig gewesen ist, wie sie auf vielen heroisierenden Darstellungen –zum Beispiel  auf dem oben gezeigten Gemälde von Jean-Baptiste Lallemand- präsentiert wird.

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Seit der umfassenden Umgestaltung des Platzes 2020/2021 erinnern jetzt in den Boden  eingelassene Symbole an die revolutionäre Verrgangenheit des Platzes und des Viertels: Platten mit den Jahresdaten 1789, 1830, 1848 und 1871 und natürlich auch mit dem Symbol der Bastille: 

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Einen Elefanten gibt es da übrigens auch: Der hat aber nichts mit der Revolution zu tun, sondern mit Napoleon. Der Kaiser plante nämlich, auf dem nun leeren Platz, an dem die Bastille stand, einen riesigen Elefanten mit einer Aussichtsplattform errichten zu lassen. Daraus ist dann allerdings nichts geworden, und es blieb bei einem Modell aus Holz und Gips, das dort bis 1836 stand und dann der Julisäule Platz machte…. 

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In der Mitte des Platzes steht seitdem die Säule mit dem Genius der Freiheit an seiner Spitze.

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Auf  ihr sind die Opfer der Juli-Revolution von 1830 verzeichnet, durch die die Herrschaft der Bourbonen endgültig beendet wurde. Durch den Bau der Säule stellte sich der nun gekürte „Bürgerkönig“ Louis Philippe  in die Tradition der Französischen Revolution und er ehrte damit die Opfer der Juli- Revolution, die  auf diesem Platz begraben sind: Ein Grund, weshalb die Metro-Linie 1, die schnell und automatisiert Paris von West nach Ost durchquert, hier einen großen Bogen beschreibt. 

Delacroix hat diese Revolution verherrlicht durch sein 1830 entstandenes Gemälde „Die Freiheit führt das Volk an“ – dessen Motiv hier als Hintergrund einer Wurfbude auf dem  Batille-Platz dient.

324 Bude Place de la Bastille

Auch in der nachfolgenden Revolution von 1848 hat der Faubourg Saint-Antoine eine wesentliche Rolle gespielt. Insgesamt 65 Barrikaden wurden damals in dem Viertel errichtet- eine davon die große Barrikade, die Victor Hugo hat in seinem Roman „Les Miserables“ beschrieben hat: „La barricade Saint-Antoine était monstrueuse…. elle surgissait comme une levée cyclopéenne au fond de la redoutable place qui a vu le 14 juillet. » (Bd V, Buch 1, Kap.1).

Ein eindrucksvolles Bild  einer Barrikade im Faubourg Saint-Antoine habe ich  im Musée des Artistes im Künstlerdorf Barbizon gefunden. Es stammt von Nicolas- Francois Chifflard (1825-1901) und ist ganz unverkennbar von Delacroix‘  bekanntem  Freiheitsbild beeinflusst. Umso deutlicher wird damit der Faubourg Saint-Antoine als Ursprung und Zentrum der französischen Freiheitsbewegungen gefeiert.

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In der Nähe dieser Barrikade wurde im Juni 1848 der als Parlamentär fungierende Erzbischof von Paris, Monsignor Affre, tödlich verwundet, woran ein Kirchenfenster in Saint Marguerite, der alten Kirche des Viertels  erinnert. 

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Lange wurde angenommen, dass im kleinen Friedhof der Kirche der Leichnam von Ludwig XVII. begraben sei, dem Dauphin und Sohn des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI. Der angebliche Grabstein existiert auch heute noch. Um diesen Sohn rankten sich lange viele Legenden, es gab zahlreiche „Dauphin-Hochstapler“ und –wie mein alter Michelin-Führer schreibt- „das Geheimnis Ludwig XVII. bleibt vollständig“. Der Autor Robert Löhr hat das übrigens zum Anlass für eine echte „Räuberpistole“ genommen: Goethe erhält von seinem Weimarer Fürsten den waghalsigen Auftrag, den (angeblichen) Dauphin aus dem von napoleonischen Truppen besetzten Mainz zu befreien. Um Goethe versammelt sich nun eine illustre Runde (Schiller, Kleist, Humboldt, Bettine von Arnim, Brentano), die zahlreiche Abenteuer zu bestehen hat (u.a. mit Armbrust- natürlich Schiller- und Faust- natürlich Goethe) und sich dabei weitgehend mit Zitaten aus den jeweiligen Werken verständigt. Für literarisch Interessierte ist das natürlich ein besonderes Vergnügen.

Eine der letzten Barrikaden gab es auf dem Faubourg-St-Antoine 1851, anlässlich des Staatsstreichs von Louis-Napoleon-Bonaparte, dem späteren Kaiser Napoleon III. Eine Gruppe von Parlamentsabgeordneten rief die Arbeiter und Handwerker zum Widerstand auf. Zu diesen Abgeordneten gehörte der aus dem Elsass stammende Victor Schoelcher, der als Abgeordneter der Nationalversammlung Martinique vertrat und Initiator des décret d’abolition de l’esclavage vom 27. April 1848 war, das die völlige Abschaffung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien festschrieb. Mit dabei war auch der Armenarzt des Viertels, Jean Baptiste Alphonse Baudin. Die Bewohner des Faubourgs waren  allerdings diesmal –drei Jahre nach den 4000 Toten  vom 25. Juni 1848 – eher zurückhaltend und verdächtigten Baudin und seine Mitstreiter, nur wegen ihrer Diäten auf die Barrikaden gehen zu wollen. Die Abgeordneten der Nationalversammlung waren damals  beim Volk nicht sehr beliebt – u.a. weil eine Mehrheit von ihnen das 1848 beschlossene allgemeine Wahlrecht abgeschafft hatte – und wurden als „Fünfundzwanzig-Franc-Männer“ verhöhnt. Baudin gab aber nicht auf und stieg, nachdem er sich eine Trikoloren-Schärpe umgelegt hatte, auf eine kleine Barrikade an der Ecke Rue de Cotte und dem Faubourg Saint-Antoine, bestehend aus einer Mistfuhre, einem Milchkarren, einem Bäckerwagen und einem Omnibus. Auf diesem eher symbolischen Hindernis rief Baudin aus: „Ihr werdet sehen, Bürger, wie man für fünfundzwanzig Francs stirbt“, rief er aus und wurde erschossen.

IMG_3560 Pichio

Der Maler Ernest Pichio hat diesen Augenblick in einem Gemälde festgehalten, das man sich im Pariser Stadtmuseum Carnavalet im Original ansehen kann.

Baudin wäre allerdings wohl vergessen worden, hätte ihm nicht Victor Hugo in „Les années funestes“ ein Denkmal gesetzt:

„La barricade était livide dans l’aurore.   Et comme j’arrivais elle fumait encore;

Rey me serra la main et dit:   Baudin est mort.

Il semblait calme et doux comme    Un enfant qui dort;

Ses yeux étaient fermés,

Ses bras pendaient, sa bouche    Souriait d’un sourire héroique     Et farouche.

Ceux qui l’environnaient l’emportèrent.”

Heute erinnert noch an Ort und Stelle eine  historische Erinnerungstafel der Stadt Paris und eine schöne Plakette mit goldenen Lettern am Haus:

„Vor diesem Haus fiel ruhmreich Jean Baptiste Alphonse Victor Baudin, Vertreter des Volkes für das Département de l’Ain. Er wurde am 3. Dezember 1851 getötet, als er das Gesetz und die Republik verteidigte“ 

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Und schließlich wurde Baudin unter der Dritten Repbulik auch ins Pantheon aufgenommen- wie übrigens auch sein Mitstreiter Victor Schoelcher- der allerdings wegen seiner Verdienste um die Abschaffung der Skaverei. Schoelcher blieb übrigens 1851 bei der Schießerei an der Barrikade im Faubourg Saint – Antoine unverletzt, verließ aber umgehend Frankreich und kehrte erst nach der Abdankung Napoleons wieder nach Paris zurück. Ursprünglich stand früher auf dem kleinen, nach Baudin benannten Platz an der Kreuzung zwischen der Rue du Faubourg Saint-Antoine, der Rue de Cotte und der Rue Crozalier ein bronzenes Standbild von Baudin. Das wurde aber während der deutschen Besatzung von Paris an die Nazis übergeben, um deren Edelmetall-Forderungen nachzukommen. Auf einen überzeugten Republikaner wie Baudin glaubten die Collaborateure offenbar am ehesten verzichten zu können…

Die Arbeiter und Handwerker aus dem Faubourg Saint-Antoine haben in allen Revolutionen und Umbrüchen des langen 19. Jahrhunderts eine große Rolle gespielt. Mark Twain hat darüber  in seinem Paris-Buch ein vernichtendes Urteil gefällt:

Hier leben die Menschen, welche die Revolutionen beginnen. Wann immer es etwas dieser Art zu tun gibt- sie sind dazu bereit. Sie haben so viel echte Freude am Bau einer Barrikade, wie daran, eine Kehle durchzuschneiden oder einen Freund in die Seine zu stoßen.“

Der Pariser Präfekt Haussmann sah das wohl ganz ähnlich. Deshalb zerschnitt er nämlich bei seiner Neueinteilung von Paris in 20 Arrondissements den aufrührerischen  Faubourg Saint-Antoine entlang seiner zentralen  Achse, der Rue du Faubourg Saint-Antoine. Den nördlichen Teil schlug er dem 11. und den südlichen Teil dem 12. Arrondissement zu. Deren neue  Rathäuser wurden weit entfernt voneinander errichtet, um der Gefahr koordinierter revolutionärer Umtriebe vorzubeugen – eine  Methode, die Haussmann  auch im „roten“ Belleville praktizierte, das auf das 19. und das 20. Arrondissement aufgeteilt wurde.

Dazu kam die Abdeckung des letzten Stücks des Kanals Saint-Martin, die zum Boulevard Richard-Lenoir wurde. Damit verlor der Faubourg Saint-Antoine eine Verteidigungslinie, die den Regierungstruppen im Juni 1848 tagelang widerstanden hatte.

Schließlich  stellte er mit dem Boulevard du Prince-Eugène (heute Boulevard Voltaire) zwischen der Place du Château-d’Eau (heute Place de la République) und der Place du Trône (heute Place de la Nation) eine Verbindung zwischen zwei Kasernen her und „vollendete die Einschließung der revolutionären Vorstadt“ (Thankmar von Münchhausen).

Genutzt hat das allerdings –in beiden Fällen- nichts. Denn während der Pariser Commune wurde in beiden Stadtvierteln erbitterter Widerstand gegen den Vormarsch der Versailler Truppen während der semaine sanglante geleistet. Auf dem Faubourg Saint-Antoine stand eine der letzten Barrikaden der Commune, und zwar an der Einmündung der Rue de Charonne, neben dem schönen Barockbrunnen, der das Viertel mit frischem Wasser aus den Höhen von Belleville und Ménilmontant versorgte.

20555-7 Barricade

Kaum ein Stadtviertel von Paris kann sich einer so reichen und bewegten revolutionären Vergangenheit rühmen wie der Faubourg Saint-Antoine. Und ganz anders als Mark Twain hat dies Jules Vallès in seinem Buch „Le Tableau de Paris“ gewürdigt:

C’est dans le faubourg Saint-Antoine que luit le premier éclair des révoltes: avant que la Bastille soit prise, la fabrique de  Réveillon, le marchand des papiers peints, est attaquée par une foule en guenilles. On met le feu à la maison, on casse ses côtes de pierre, on la démantibule et on la  fouille, mais on ne vole pas un sou dans la caisse. Ils sont déjà les soldats d’une idée, ces faubouriens…

Vient l’attaque de la forteresse. C’est leur voisin; ils ont vu arriverchez elle des prisonniers qui ressemblent fort à leurs exploiteurs, à leurs bourreaux, gens de noblesse  ou gens de robe. Dans cette Bastille, on n’enferme que des privilégiés, tous mépriseurs des pauvres. Mais le vent de la  Révolution casse les égoïsmes d’un grand coup de son aile, et le faubourg ne s’attarde pas à ses rancunes et donne son coup de tête contre  les murs! Le faubourg Saint-Antoine restera, pendant toute la période tourmentée et sanglante, le bélier de la Révolution. … En tout cas, le faubourg a l’honneur sanglant de rester le théâtre des chutes terribles et des solonnelles agnonies dans le tremblementde terre de la guerre civile!

Anmerkungen

(1) Le saccage de la Folie Titon-Pillage de la maison Réveillon au faubourg Saint-Antoine le 28 avril 1789. Um 1789.  Zugeschrieben Laurent Guyot    https://www.parismuseescollections.paris.fr/fr/musee-carnavalet/oeuvres/le-saccage-de-la-folie-titon-pillage-de-la-maison-reveillon-au-faubourg#infos-principales

(2) Eric Vuillard, 14 juillet. Actes Sud 2016, S. 10 (Das erste Kapitel dieses sehr lesenswerten Buches heißt „La folie Titon“.

(3)  Les légendes révolutionaires: Le comte de Lorges http://www.vendeensetchouans.com/archives/2014/07/14/30254227.html

s.a. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6479943r.r=bastille.langFR

 

Erster Teil des Beitrags über den Faubourg Saint-Antoine:

Der Faubourg Saint- Antoine, Das Vierel des Holzhandwerks   https://paris-blog.org/2016/04/04/der-faubourg-saint-antoine/

 

Spaziergang durch den Faubourg Saint-Antoine

In der deutsch-französischen Internet-Zeitschrift dok.doc.eu habe ich im November 2021 einen Artikel  über die Greeters-Stadtführungen in Paris veröffentlicht. Als Beispiel dient ein Spaziergang durch den Faubourg Saint-Antoine. 

 

POUR EN SAVOIR PLUS:

Bourgeois, Jean-Claude : A la découverte du Faubourg Saint-Antoine. Association pour la Sauvegarde et la Mise en valeur du Paris historique. Paris 2010

Diwo, Jean:  249, Faubourg St. Antoine. Flammarion 2006

Diwo, Jean: Les Dames du Faubourg. Editions Denoël 1984

Hervier, Dominique et al.: Le faubourg St. Antoine. Cahier du patrimoine. 1998

Laborde, Marie Françoise : Architecture industrielle Paris et environs. Paris 1998

André Larané, 27-28 avril 1789. Pillage de la manufacture Réveillon. https://www.herodote.net/27_28_avril_1789-evenement-17890427.php  (26.4.2020)

Maréchal, Sebastien: Le 12e arrondissement. Itinéraires d’histoire et d’architecture. Action Artistique de la Ville de Paris. 2000

Michel, Denis und Renou, Dominique: Le Guide du Promeneur. 11e arrondissement. Paris 1993

Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot: La (re)prise de la Bastille: L’embourgeoisement du faubourg Saint-Antoine.  In: Paris. Quinze promenades sociologique. Petite Bibliothèque Payot. Paris 2013, S. 129f

André Larané, 27-28 avril 1789. Pillage de la manufacture Réveillon. https://www.herodote.net/27_28_avril_1789-evenement-17890427.php

Der Faubourg Saint-Antoine (Teil 1): Das Viertel des Holzhandwerks

Als wir 2009 daran gingen, uns –zunächst für ein Jahr- in Paris niederzulassen,  fanden wir eine Wohnung im Faubourg Saint-Antoine, einem uns bis dahin ganz unbekannten Viertel von Paris. Kein Wunder, denn in den meisten –jedenfalls älteren-  Stadtführern ist es überhaupt nicht erwähnt, weist es doch keine besonderen Sehenswürdigkeiten auf, keine spektakulären Bauwerke, kein Museum oder andere Attraktionen. Und um den Ruf des Viertels stand es auch nicht immer zum Besten. So hat Mark Twain  1869 das Viertel als “Gegenstück (zum) prunkvollen Versailles mit seinen Schlössern, seinen Statuen, seinen Gärten und Springbrunnen” wie folgt beschrieben:

„Kleine, enge Straßen; schmutzige Kinder, die sie versperrten; schmierige, schlampige Frauen, die die Kinder einfingen und verprügelten; dreckige Höhlen in den Erdgeschossen, mit Lumpenhandlungen darin (…), weitere dreckige Höhlen, in denen ganze Garnituren von Kleidung aus zweiter und dritter Hand zu Preisen verkauft werden, die jeden Inhaber ruinieren würden, der sein Lager nicht zusammengestohlen hätte; … In diesen kleinen, krummen Straßen bringt man für sieben Dollar einen Mann um und wirft die Leiche in die Seine…  In diesem ganzen Faubourg St. Antoine gehen Elend, Armut, Laster und Verbrechen Hand in Hand, und die Zeugnisse dafür starren einem von allen Seiten ins Gesicht.  (zit. in: dtv Reise Textbuch Paris, 1990, S. 295/296).

Ganz anders das Wochenmagazin Le Point, das  in seiner Ausgabe vom 28. Oktober 2010 das 11. Arrodissement, zu dem ein großer Teil des Faubourgs gehört, mit diesen Worten beschrieb:

„Avec ses nombreux îlots qui ont résisté à la vague haumssmannienne, le 11e est un arrondissement qui a du caractère. Parfois frondeur, souvent héroïque, toujours accueillant, il port sa mixité comme un étendard. … L’arrondissement le plus dense de la capitale, qui abrite 152 000 habitants, continue de séduire. Aux artisans et aux ouvriers qui ont fait sa réputation viennent désormais se joindre des artistes, des intellos et de jeunes couples avec leurs bambins » – und natürlich –wie man ergänzen muss- sogar deutsche Pensionäre!  Wir haben jedenfalls in den  sechs Jahren, die wir im Faubourg wohnten  (von 2009 bis 2015) dieses Viertel immer besser kennen – und schätzen gelernt und es wurde  zu unserer zweiten Heimat.

Im Gegensatz etwa zu den noblen Faubourgs  St.Germain oder St. Honoré im Westen reiht sich am Faubourg St. Antoine kein grandioser Adelspalast an den anderen. Es gibt viele kleine Geschäfte, auch viele sog. Bazare mit billigen Sonderangeboten: Da haben wir zum Beispiel eine elektronische Küchenwaage für 3.50 €  und eine Küchenmaschine für 19.80 € gekauft, auf die es sogar 3 Monate Garantie gab.  Daneben gibt’s das chaotisch vollgeräumte Lädchen mit dem kleinen Chinesen, der das Messingschild (Mme et M. Jöckel) für unsere Wohnungstür hergestellt hat, dann den Blumenladen mit den Sträußen zu 3 € (5 Sträuße zu 10 €!), den nordafrikanischen Metzger, bei dem wir unser Lammfleisch kaufen, der schon in Gelnhausen und Hanau war und dessen Sohn, der ab und zu an der Kasse steht, sich freut, wenn man mit ihm deutsch redet, das er seit vier Jahren auf der Schule lernt. Und  natürlich gibt es das sog. Internet-Café, in dem wir öfters waren, solange wir noch keinen Internet-Anschluss hatten: ein enger Raum vollgestopft mit Telefonkabinen und PCs, in dem meist ein babylonisches Sprachgewirr herrschte und in dem es lebhaft  zuging wie auf einem Marktplatz. Vor allem wenn –wie öfters- die junge Russin da war, die mit ihrem lover  ziemlich laut und schrill „skypte“.

Typisch für das Viertel sind aber vor allem die kleinen Durchgänge und Höfe, in denen „antike“ Möbel  verkauft und manchmal auch noch hergestellt werden. Hier war nämlich früher das Viertel der Handwerker, die die Möbel  für die Adelspaläste im Westen der Stadt, aber auch für den ganzen französischen Adel hergestellt haben, ihre Waren aber auch weiter nach  Europa exportierten.

Dass der Faubourg-St-Antoine das Viertel der Kunst -Tischler wurde, hat natürlich auch historische Ursachen. Das ganze Viertel gehörte nämlich im Mittelalter zu dem Kloster Saint- Antoine- des- champs, und der Faubourg St-Antoine, an dem das Kloster lag,  war ein Teil der wichtigen, breiten Einfallsstraße vom Westen in das Zentrum von Paris, die schon auf die Römer zurückgeht und auf der die Könige –bis hin zu Ludwig XIV- von ihrem Schloss in Vincennes in die Stadt einzogen oder sich bei wichtigen Anlässen vom Volk feiern ließen

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Auf dem Merian-Stich von 1615 erkennt man im Vordergrund die Bastille und  die „place Royalle“, also die heutige place des Vosges. Links im Hintergrund ist das Schloss von Vincennes mit seinen Türmen und der „sainte chapelle“ abgebildet. An der Straße nach Vincennes liegt -in der Mitte des Bildes-  das Kloster S. Antoine des champs mit seinem sehr weitläufigen ummauerten Klosterbezirk. Der spitze Dachreiter auf der Vierung deutet darauf hin, dass es sich um ein zisterziensisches Kloster handeln muss.

In der Tat war St. Antoine des Champs  ein nobles zisterziensisches Damenstift,  das  im Laufe der Jahrhunderte viele Schenkungen und Privilegien erhielt: Zwei davon waren besonders wichtig: 1131 erhielt das Kloster nämlich das Privileg, Schweine zu halten, was gleichzeitig im Stadtgebiet von Paris verboten wurde. Anlass war ein grotesker Unfall von Philipp, dem Lieblingssohn und Mitregenten Ludwigs VI: Im Alter von 15 Jahren ritt er mit seinen Gefolgsleuten in Paris entlang der Seine, als plötzlich ein Schwein seinem Pferd zwischen die Beine lief. Philipp wurde über den Kopf seines Pferdes geschleudert und zog sich so starke Verletzungen zu, dass er am Tag darauf verstarb, ohne vorher das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Das Kloster St. Antoine erhielt nun das Privileg der Schweinehaltung: Die Schweine des Klosters hatten sogar -in 12-er Trupps und mit Glocken um den Hals- Aufenthaltsrecht in den Straßen der Stadt. (1) Dieses Privileg  mehrte erheblich den Wohlstand des Klosters.

Besonders folgenreich war dann ein weiteres Privileg, das das Kloster im Jahr 1471 unter der Regierung Ludwigs XI. erhielt: Damals wurden die im Bereich des Klosters angesiedelten Handwerker von den üblichen Zunftzwängen befreit, ein Privileg, das von Colbert 1657 erneuert wurde.  So entstand im Faubourg Saint-Antoine gewissermaßen eine „marktwirtschaftliche Insel“. Während die „zünftigen“ Schreiner nur Eichenholz verwenden durften, konnten die Werkstätten im Faubourg St-Antoine auch andere Holzarten verwenden, vor allem die Edelhölzer, die ab dem 16. Jahrhundert aus den neu entdeckten Kontinenten nach Europa kamen. Die Kunsttischler des Viertels werden deshalb ja auch ébénistes genannt.  Im Pariser Stadtmuseum (Hotel Carnavalet) sind auch zahlreiche Möbel aus dem 18. Jahrhundert ausgestellt, von denen ein wesentlicher Anteil sicherlich aus dem Faubourg St. Antoine stammt. Bei einem kleinen Rundgang habe ich –nur stichprobenartig- die Verwendung von 18 verschiedenen Holzarten festgestellt! Dazu kamen dann auch noch andere Materialien wie Bronze, der damals sehr modische japanische Lack, Marmor und verschiedene Farben und Stoffe, die bei der Möbelherstellung verwendet wurden. So entwickelte sich in diesem Viertel eine Vielfalt von kleinen Betrieben rund um die Möbelproduktion.

Hier ein Detail eines im Pariser Stadtmuseum musée Carnavalet ausgestellten Paravent aus dem Faubourg Saint-Antoine. Es handelt sich um eine mit Imitationslack (Vernis Martin) der Familie Martin  hergestellte Arbeit mit chinesischen Motiven.

Eine besondere Anziehungskraft übte der Faubourg Saint-Antoine auch für deutsche Handwerker aus. „Sie brachten nach Paris Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie in den oft beschränkten Verhältnissen ihrer Herkunftsstädt nicht sinnvoll einsetzen konnten und die in Frankreich nicht in vergleichbarer Weise  beheimatet waren“, vor allem die Arbeit mit Furnieren. „Umgekehrt fanden sie in der französischen Metropole einen Markt, den es anderswo vergleichbar nicht gab, und sie  profitierten von dem hohen Interesse, das die kulturell und gesellschaftlich führenden  Kreise für handwerkliche Höchstleistungen zeigten.“ (Pallach)

Ein Beispiel ist der im Rheinland geborene Johann Franz Oeben. Er arbeitete zunächst in der Werkstadt eines französischen Kunsttischlers, machte sich dann aber im Faubourg Saint-Antoine selbstständig. Von Madame Pompadour, der Mätresse Ludwigs XV.,  erhielt er zahlreiche Aufträge. 

Man kann davon ausgehen, dass der elegante kleine Nachttisch auf dem Portrait der Madame de Pompadour von Boucher (Alte Pinakothek München) von Oeben angefertigt wurde. 

Oebens Schwester, die er gleich mit nach Paris gebracht hatte, heiratete einen andern deutschen Kunsttischler, Martin Carlin aus Freiburg im Breisgau, der viele Aufträge von Madame Du Barry und Marie Antoinette erhielt. Und als Oeben starb, heiratete seine Witwe einen anderen deutschstämmigen Ebenisten, nämlich Jean-Henri Riesener. Der allein hatte im Faubourg Saint-Antoine vor der Revolution  30 Werkstätten, um den Luxus-Bedarf des Adels zu befriedigen. Riesener verkörperte die „perfection de l’ébenesterie parisienne sous Louis XVI“. (Info-Text aus dem Musée Nissim Camondo). Er fertigte insgesamt 600 feinste Möbel für den königlichen Hof und war bevorzugter Lieferant von Marie Antoinette. 

Und so kann Jean-Claude Bourgeois in seinem kleinen Führer durch den Faubourg Saint-Antoine feststellen, am Ende des 18. Jahrhunderts sei in den Werkstätten und auf den Straßen des Faubourgs ebenso flüssig deutsch wie französisch gesprochen worden.   „Les Allemands“ waren ein  Begriff : Unter diesem Stichwort notierte sich Ludwig XVI. Zahlungen von 2400 und 1200 livres f+r eine Kommode und einen Schreibsekretär in seinem privaten Ausgabenbuch. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammten viele der in dem Viertel arbeitenden Handwerker aus Deutschland. Und sie waren auch ein wesentlicher Bestandteil des  revolutionären Potentials des Viertels, wie sich in den Revolutionen von 1830 und 1848 zeigte. (2)

Die meisten der von Oeben und Riesener angefertigten Möbel für den königlichen Hof wurden 1793/94 von den Revolutionären verkauft und sind heute in englischen und amerikanischen Museen ausgestellt. Immerhin existiert noch der berühmte Schreibtisch von Ludwig XV., der von Oeben begonnen und von Riesener vollendet wurde. Er ist heute im Schloss Versailles zu bewundern. 

Bureau du Roi von Oeben und Riesener, Marketerie und Ormolu, 1760-69 von Unbekannt Unbekannt

Seit 2021 gehört ein weiterer Sekretär aus der Gemeinschaftsproduktion von Oeben und Riesener mit wunderbaren Einlegearbeiten wieder zu dem Versailler Mobiliar.

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Sekretär der dauphine Marie-Josèphe de Saxe, 1763-1765

Schöne Möbelstücke von Riesener gibt es auch im sehr empfehlenswerten Museum Nissim Camondo am Monceau-Park zu sehen. Unter anderem diese raffinierte Commode, deren Schubladen durch einen  seitlich verschiebbaren bemalten Lamellen-Vorhang verdeckt sind.

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Kommode von Jean-Henri Riesener 

Eine weitere Riesener-Kommode ist seit Ende 2021 im neu eröffneten Hôtel de la Marine an der Place de la Concorde zu bewundern. Die gehörte zum ursprünglichen Mobiliar, das aber während der Französischen Revolution zum größten Teil zerstört wurde. 2021 tauchte aber eine Riesener-Kommode wieder auf und wurde von einem Mäzen für 1,2 Millionen Dollar (!) ersteigert, dem Hôtel übergeben und damit wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Heimat der Kommode                                                                                                  

Insgesamt gab es im 18. Jahrhundert  etwa 800 Werkstätten im Faubourg, die mit der Produktion von Luxus-Möbeln beschäftigt waren. Zum Ruhm und Erfolg des Viertels trugen auch neue Möbelstücke bei, die hier erfunden wurden wie die Credenz oder Anrichte und vor allem natürlich die  Kommode. Erfunden wurde sie von André-Charles Boulle im Jahre 1662. Sie ersetzte die  alte Holztruhe, weil sie wesentlich praktischer und bequemer –commode- war, wie Boulles Frau spontan ausrief, als ihr Mann ihr seine Erfindung präsentierte: Mit Hilfe der Schubladen konnte man leichter Ordnung halten als in einer Truhe, und auf der Kommode war auch noch Platz für Vasen, kleine Statuen und andere schöne Dinge nach dem Geschmack der Zeit. Und weil die Befreiung vom Zunftzwang nicht auf Franzosen beschränkt war, entwickelte das Viertel auch eine große Anziehungskraft auf  unternehmungslustige und schöpferische Handwerker: Kunsttischler aus anderen Ländern wie Flandern, den Niederlanden und vor allem Deutschland: Doch zur revolutionären Geschichte des Faubourgs mehr im entsprechenden Folgebeitrag.

Dass gerade der Faubourg Saint- Antoine das Zentrum des Holzhandwerks wurde, beruht natürlich zunächst und vor allem auch auf seiner Lage in der Nähe der Seine-Kais, auf denen das die Seine herabgeflößte Holz gestapelt wurde. Im 16. Jahrhundert, als Paris, die größte damalige Stadt Europas, 300 000 Einwohner hatte, waren die Wälder in der Umgebung nicht mehr in der Lage,  den Bedarf der Stadt an Holz zu decken. Holz wurde vor allem für die Kamine benötigt, aber auch für den Hausbau und für die Herstellung von Möbeln. Die dafür erforderlichen riesigen Mengen an Holz wurden  deshalb aus den noch intakten  Wäldern des Morvan über die Yonne  und die Seine nach Paris geflößt. Zunächst wurden kleine „branches“, Flöße von 4 mal 4,5 m, zusammengebunden, dann, sobald die Breite und Tiefe des Flusses es erlaubten, „coupons“ von 4 branches und schließlich „parts“ aus 9 coupons. Ab Auxerre wurden dann ganze „trains des bois“ von 72 Metern Länge zusammengebunden und in 11 Tagen von 2 „flotteurs“ nach Paris geflößt. Dort wurden die „Holzzüge“ in der Nähe des Faubourg Saint -Antoine angelandet. Holz und Seile wurden verkauft, und die Flößer gingen zu Fuß nach Auxerre zurück, um von dort einen neuen Transport zu übernehmen. Pro Jahr waren das mehrere tausend solcher riesigen Holzzüge,  die letzten im Jahr 1877. Da hatte die Eisenbahn das Flößen als Transportmittel ersetzt.

Zur Produktionspalette des Faubourgs gehörten auch die  Tapeten, die mit speziell angefertigten Holzmodeln bedruckt wurden. Eine der größten europäischen Manufakturen für Tapeten (papier peint) war die königliche Manufaktur Reveillon, die in der Vorgeschichte der Französischen Revolution eine bedeutende  Rolle spielte. (Dazu mehr im nachfolgenden Beitrag über den „revolutionären“ Faubourg Saint-Antoine).  Darüber hinaus wurden  hier auch Spiegel produziert. Im 16. Jahrhundert war deren Herstellung ein venezianisches Geheimnis und Monopol. Ludwig XIV. beauftragte aber 1665 im Zuge seiner merkantilistischen Politik  seinen Finanzminister Colbert, eine königliche Spiegelglas-Manufaktur zu gründen mit dem Ziel, Frankreich von den venezianischen Importen unabhängig zu machen. Diese Manufaktur wurde im Faubourg St. Antoine, in der Rue Reuilly, angesiedelt. Sie erlebte ihre Blütezeit ab 1688, als in Frankreich ein neues Verfahren entwickelt wurde, das die Herstellung besserer und größerer Spiegel ermöglichte. Die königliche Manufaktur im Faubourg St-Antoine erhielt –auch um sie für bürgerliche Investoren interessanter und gewinnträchtiger zu machen- ein Monopol auf dieses Verfahren und dann vor allem den prestigeträchtigen Auftrag zur Ausstattung des Spiegelsaals im Schloss von Versailles. Die Vormacht der Venezianer in der Glas- und Spiegelproduktion war nun gebrochen. Im Jahr 1692 erhielt die königliche Spiegelmanufaktur  den Namen einer Produktionsstätte bei Laon: St. Gobain – inzwischen eines der größten französischen Unternehmen, das immer noch –auch in Deutschland- führend in der Glasproduktion tätig ist. Von dem früheren Standort ist heute allerdings nichts mehr zu sehen, immerhin gibt es davor  eine Erinnerungs-Tafel der Stadt Paris.

Noch 1955 war der Faubourg Saint-Antoine das größte Zentrum der französischen Möbelproduktion. Heute werden nur noch  in wenigen der Höfe in unserem Viertel  Möbel hergestellt bzw. wenigstens repariert, manche Möbelhersteller haben hier aber immerhin noch ihren Sitz oder einen Ausstellungsraum.

Ein schönes Beispiel ist (bzw war bis Ende 2018)  das Maison Stroesser im Cour St-Nicolas zwischen der Avenue Ledru Rollin und der Rue St-Nicolas.

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Gegründet wurde dieser Betrieb von einem elsässischen Handwerker, der nach dem deutsch-franzöischen Krieg 1870/1871 aus dem Elsass emigriert war, um nicht unter preußisch-deutscher Besatzung leben zu müssen.

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Danach gehörte der Betrieb der Familie Lepennec, die -wie wir festgestellt haben- sogar unsere Nachbarn in der Rue Maillard sind. Bevor wir das entdeckten, war ich schon oft bei Spaziergängen mit Paris-Besuchern dort vorbeigegangen, und anfangs hatte ich gedacht, der am Eingang postierte Hund sei aus Porzellan. Er war aber aus Fleisch und Blut und hieß Dagobert.  Die Firma Stroesser bot ein breites, hochwertiges Möbelsortiment an, das vom Patron nach Kundenwünschen entworfen und dann von auswärtigen Unternehmen produziert wurde.

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Es gab aber auch noch eine alte sympathische Werkstatt im Hof, in der Möbel repariert wurden und neue Möbel den letzten Schliff und die gewünschte Politur erhielten.

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Inzwischen (seit Anfang 2019) gibt es das Maison Stroesser und  diese Werkstatt nicht mehr. Wieder ein Stück der alten Ebenisten-Tradition des Faubourg Saint-Antoine, die verschwunden ist.

So wie auch dieser alte Tischler, den ich vor Jahren in einem der Handwerkerhöfe des Viertels  fotografiert habe:

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Er stellte sich in einem an der Eingangstür befestigten Blatt als  ébéniste, also  als Kunsttischler vor, dazu als Hedonist -de pére en fils-  und auch noch als  Ataraxist- eine erstaunliche Bezeichnung bei einem Menschen, der kaum eine klassische Bildung erhalten hat: Die Kombination dieser Selbstetikettierungen verweist auf den griechischen Philosophen Epikur, für den dauerhafte Lust nur der erfahren kann, dessen Verlangen auf das Notwendigste beschränkt ist.

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Das passt auch gut zu dem Eindruck dieser Werkstatt. Als ich das Foto machte, war der hedonistische Tischler allerdings bei einer wenig lustvollen Beschäftigung: Er schrieb gerade die Überweisung für einen Strafzettel wegen falschen Parkens…. Auch den alten Tischler gibt es aber inzwischen nicht mehr…

Wie lebendig und ausstrahlend diese Tradition gewesen ist, hat sich mir übrigens kürzlich (Mai 2018)  wieder eindrucksvoll bestätigt: Ein Schweizer, der auf diesen Beitrag aufmerksam  geworden war, hatte mich kontaktiert und mir von den Beziehungen seiner Familie zum Faubourg Saint-Antoine berichtet. Sein Großvater Oskar Bieder hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar zweimal bei Tischlern im Faubourg Saint-Antoine gearbeitet: Das erste Mal im Rahmen seiner Gesellenwanderung von 1882 bis 1885 bei dem Möbelhersteller G. Seuret, wie sein Wanderbuch ausweist.

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Danach kam Oskar Bieder noch einmal zurück in den Faubourg Saint-Antoine, um von  1888 bis 1893 bei dem aus Böhmen stammenden Kunsttischler François (eigentlich Franz) Linke „seine technischen und gestalterischen Fähigkeiten der Möbelherstellung noch weiter zu verfeinern“. Linke war auf seiner Gesellenwanderung nach Paris gekommen und dort sesshaft geworden. In seinem florierenden Betrieb, der „seit der Weltausstellung von 1900 als die exklusivste Kunstschreinerei in Paris, wenn nicht in ganz Europa“ galt, beschäftigte er auch andere deutschsprachige Schreiner. Auf einem Foto von 1886 ist die Belegschaft zu sehen: Sie strahlt das Selbstbewusstsein und den Handwerkerstolz der ébénistes des Faubourg Saint-Antoine aus.

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Das übertrug dann Oskar Bieder auf die Kunsttischlerei, die er nach seiner Rückkehr in die Schweiz gründete.

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Sie firmierte unter dem dort ungebräuchlichen, aber programmatischen Namen Ébénisterie und wurde zur führenden Kunstschreinerei der Schweiz. Auch Hans Bieder, der Sohn und Nachfolger Oskar Bieders,  verbrachte Lehrjahre in Paris, unter anderem -wie sein Vater- bei der Firma Linke im Faubourg Saint-Antoine. Ich hatte die wunderbare Gelegenheit, mit dem Enkel von Oskar Bieder und dem Neffen von Hans Bieder einen Spaziergang durch das Viertel zu machen, an dessen Ende er mir ein Buch über die Kunstschreinerei Bieder in Liestal schenkte (Liestal 2016), dem die vorstehenden Bilder entnommen sind. Die Firma Linke gibt es allerdings nicht mehr. Allerdings fanden wir in einem alten Verzeichnis der ébénistes des Viertels, das uns der Patron der Maison Stroesser zeigte, noch einen entsprechenden Hinweis…

Doch nach diesem Exkurs zurück bzw. weiter mit unserem Spaziergang durch den Faubourg Saint-Antoine. Im Cour St. Nicolas hat sich -gegenüber der Werkstatt der Maison Stroesser- inzwischen eine Fahrradmanufaktur eingerichtet. Als ich kürzlich mit Besuchern dort war, machte der Chef gerade über Skype ein Interview mit einer Zeitschrift in Dubai. Aber eine freundliche Dame hat uns etwas herumgeführt und die Finessen der hier hergestellten Fahrräder erläutert. Sie kosten  dann allerdings auch zwischen 9000 und 20000 Euro! Abnehmer gibt es offenbar genug… Und dass die Felgen manchmal aus Holz sind, ist doch immerhin auch ein Anknüpfungspunkt an die handwerkliche Tradition des  Faubourg Saint-Antoine.

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Ein alter Handwerkerhof ist auch der Cour du Bel Air im Faubourg St. Antoine Nr.56, der glücklicherweise immer zugänglich ist.

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Man sollte sich durch das Schild cour privé nicht abschrecken lassen und durch die Toreinfahrt in den begrünten Innenhof gehen. Dort wurde früher das von den Seine-Kais herangebrachte Holz gelagert, das für die Handwerker des Viertels bestimmt war. Heute parken da eher Autos, aber die entsprechenden Begrenzungen lassen sich noch gut erkennen.

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Auf der linken Seite des Hofs fällt zwischen den Pflastersteinen ein großer Steinblock auf: Angeblich soll der den Musketieren, die in einer benachbarten Kaserne untergebracht waren, als Spieltisch gedient haben. In einem Büchlein über „Paris secret et insolite“ (Paris 2012) wird er deshalb auch als „pavé des Mousquetaires“ bezeichnet (S. 147). Legenden sind oft einfach zu schön, um nicht erzählt zu werden, auch wenn ihr Wahrheitsgehalt ungewiss ist…

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 Lohnend ist auch ein Blick in das schöne alte Treppenhaus G mit seiner unter Denkmalschutz stehenden Holztreppe – und nicht versäumen sollte man es auch, sich den hinteren zweiten Hof anzusehen: Da bekommt man einen Eindruck davon, was man aus solchen alten Gemäuern machen kann, wenn man Geschmack und genug Geld hat. Von dem Holzhandwerk, das hier heimisch war, ist heute nichts mehr zu sehen.

Dafür  hatte sich in dem Hof  (in der linken hinteren Ecke versteckt) ein nobler Couturier niedergelassen, der auf Bestellung und auf Maß sehr feine Damengarderoben vor allem für Kundinnen mit nordafrikanischem „Migrationshintergrund“ anfertigte. Man konnte ihm bei der Arbeit zusehen, zum Beispiel wenn er Pailletten auf einem Abendkleid befestigte, und wenn er nicht unter Zeitdruck war, zeigte er auch gerne Fotos von seinen Kreationen.

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Bei meinem letzten Besuch in dem Hof war die Werkstatt allerdings leergeräumt- schade. Leider gab es  keinen Hinweis, was aus dem Couturier geworden  ist – vielleicht ist er ja in größere Räume umgezogen, denn nach seinen Angaben konnte er in mit seinem ganz speziellen Nischen-Angebot gut leben.

Hochspezialisierte Handwerksbetriebe gibt es im quartier auch in anderen Bereichen. Ein schönes Beispiel dafür ist ein kleiner unscheinbarer Lederhandwerks-Laden in der abgelegenen  rue Titon, in der es wenig andere Geschäfte und keine „Laufkundschaft“ gibt. Mit ihm habe ich auf etwas kuriose Weise Bekanntschaft gemacht. Bei einem unserer Koffer war eine Naht aufgeplatzt. Ich bin also damit zu einem Schuster, der aber nicht über das erforderliche Werkzeug verfügte und mich an den Laden in der rue Titon verwies. Der Inhaber empfing mich sehr freundlich, sah sich den Schaden an und meinte dann, der Arbeitsaufwand sei zu groß, eine Reparatur lohne sich also nicht. Wenn ich aber wolle, könne ich mich in seine  Werkstatt setzen, er würde mir die erforderlichen Werkzeuge geben und mich einweisen, sodass ich das selbst machen könne. So geschah es dann auch.

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Bei der Arbeit erfuhr ich dann auch etwas, wie er mit einem so abgelegenen Laden überleben kann. Er erzählte mir, dass es sich um einen alteingesessenen Familienbetrieb handele, dass er über spezielle Werkzeuge und ein know-how verfüge, das es sonst kaum noch gäbe. Von großen Modehäusern erhalte er Aufträge für Sonderanfertigunngen für Modenschauen oder haute-couture- Kollektionen. Das werde gut bezahlt und eröffne ihm auch den Zugang zu weiteren Kunden.

Ein lange Zeit ziemlich heruntergekommener und zum Abriss bestimmter alter Handwerkerhof ist der Cour de l’Industrie in der Rue de Montreuil., ein einzigartiges Ensemble.  Dort haben einige Handwerker und Künstler unter ziemlich desolaten Bedingungen überlebt. Aber inzwischen hat die Stadt Paris sich der Höfe- es sind insgesamt drei aufeinander folgende- angenommen, sie unter Denkmalschutz  gestellt und mit großem Aufwand ein Sanierungsprogramm gestartet, das im Februar 2017 abgeschlossen wurde.

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Das Ergebnis ist beeindruckend und zeigt, dass -zumindest mit öffentlicher Hilfe- auch „normale“ Handwerker eine Sanierung „überleben“ können.

Da, wo jetzt das neue  weiße Gebäüde steht, war früher der Platz der Dampfmaschine, die die drei  Höfe mit Strom versorgte. Jetzt sind dort Ateliers für Künstler entstanden.

Und  nochmal zum Vergleich der  vorherige Zustand:

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und nachher:

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Zum Teil sind die alten Handwerkerhöfe im Faubourg  für die Bobos (bourgeois-bohème) edel herausgeputzt. Das ist ein Aspekt des „embourgeoisement“, dem das Viertel seit Jahren unterliegt. Ein Beispiel dafür ist der kürzlich renovierte „Cour de l’Etoile d’Or“ (Nr. 75) mit der schönen Sonnenuhr von 1757. Der ist  natürlich  mit einer Schließanlage von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Aber  unter der Woche kann man im Allgemeinen das Hoftor öffnen, ohne den Digicode zu kennen.

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Direkt gegenüber diesem Hexenhäuschen  mit Kater (auf dem  Tisch liegend) wurde im ersten Hof des Cour de l’Étoile d’Or  kürzlich übrigens ein hochmodernes und pikfeines Wohnhaus mit einer Wand aus rostbraunem Metall gebaut – ein Kontrast, wie er für das Viertel immer typischer wird.

Und dahinter gibt es dann noch einen zweiten, breiteren Hof. Handwerker findet man dort allerdings nicht mehr, aber im Sommer kann man  in der Mitte des Hofs sogar Tomaten und Kürbisse bewundern.

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Und im alten Treppenhaus findet man noch einen Hinweis auf die guten alten Zeiten der Möbelherstellung.

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Es lohnt sich auch, einen Blick in den ehemaligen Handwerkerhof nebenan zu werfen, den Cour des Shadoks. (No 71).  Dieser frühere Handwerkerhof verdankt seinen Namen Jacques Rouxel, dem Schöpfer der Shadoks, der hier gewohnt hat.

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Zu den kleinen Paradiesen der  sogenannten „Bobos“ gehört auch der  Cour Reuilly.  Den  kann man allerdings nur mit viel Glück  betreten, wenn man von einem  freundlichen Bewohner hereingelassen  wird, oder zusammen mit einem professioneller Führer, der  den Geheimcode kennt.  Hinter einem unscheinbaren Tor öffnet sich eine ganz eigene Welt mit kleinen herausgeputzten Häusern, Weinranken, Edelkatzen….

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Sehr malerisch ist auch der Innenhof der Nr. 33, schön begrünt, mit lauschigen, von der Außenwelt abgeschirmten Sitzecken.

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Allerdings muss man auch da  Glück haben, als „normal Sterblicher“ dort hereinzukommen.

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Denen, die draußen vor der Tür bleiben, streckt der Straßenkünstler Gregos höhnisch die Zunge raus….

Sehr gut zu beobachten ist im Cour des Bourgignons  die  enge Nachbarschaft von Arbeit und Wohnen, wie sie im Faubourg üblich war: Im Erdgeschoss befinden sich die Werkstätten, darüber z.T. Lagerräume, während in den oberen Stockwerken die Arbeiter wohnten. Bis hin zur Industrialisierung dienten ja die Werkstätten meistens auch als Wohnräume, wurde  aber Mitte des 19. Jahrhunderts wiurde die hier zu beobachtende  Trennung  von Napoleon III. vorgeschrieben.  Allerdings  -wie die meisten der von oben verordneten sozialen Verbesserungen-   nicht aus reiner Menschenliebe, sondern um nach den Erfahrungen der Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 die Arbeiter ruhig zu stellen und außerdem auch noch die teuren Maschinen zu schützen. Heute ist in den ehemaligen  Werkstätten unter anderem eine Design-Ausstellungshalle angesiedelt. An die industrielle Vergangenheit erinnert noch der unter Denkmalschutz stehende Schornstein der Dampfmaschine.

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Jedenfalls lohnt es sich sehr, die Straße Faubourg Saint-Antoine zwischen der Bastille und der métro – Station Faidherbe-Chalgny entlangzubummeln und soweit möglich etwas in die rechts und links gelegenen (ehemaligen) Handwerkerhöfe hineinzusehen. Auf einige der alten Handwerkerhöfe wird man auch durch das cour-Schild mit dem großen F, das für Faubourg steht, hingewiesen. Das sind allerdings eher diejenigen Höfe, in denen noch Handwerksbetriebe oder neue an Publikumsverkehr interessierte Boutiquen angesiedelt sind. Ein schönes Beispsiel ist die  rue de Montreuil Nr. 33, wo der China-Lack- Spezialist Lee stolz darauf hinweist, dass er die renommierte École Boulle absolviert hat.

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Erhalten haben sich vor allem kleine Geschäfte, in denen nachgemachte Möbel aller Stilrichtungen angeboten werden, wie etwas in der Passage du Chantier.

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Wenn man mit offenen Augen durch das Viertel geht, entdeckt man auf Schritt und Tritt, dass man sich in dem ehemaligen  Viertel des Holzhandwerks befindet.

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Besonders nobel ist die ehemalige Niederlassung der Holzfirma Boutet aus Vichy in der Rue Faidherbe – im art nouveau-Stil dekoriert.

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Inzwischen ist daraus ein  4-Sterne- Hotel geworden, in dem man luxuriös und stilecht im Faubourg Saint Antoine logieren kann. Kosten pro Nacht: 240 bis 490 Euro. (Stand Juni 2016)

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Und es gibt auch noch einige kleine spezialisierte Läden, in denen  alles Mögliche angeboten wird, was für die Herstellung, Reparatur und Erneuerung alter Möbel erforderlich ist. Zum Beispiel das Atelier Lecchi, das vor allem auf die Restaurierung von Lackarbeiten spezialisiert ist (Ecke Rue du Dahomey/Rue St Bernard). Die arg verwitterte passende Bemalung der Außenwände lässt allerdings Zweifel aufkommen, ob dieses schöne Geschäft noch eine Zukunft hat.

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Das gilt auch für die grandiose Quinquaillerie Lejeune in der Rue du Faubourg Saint -Antoine schräg gegenüber der Fontaine de Montreuil.

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Hier habe ich ein Ersatzteil für die „antiken“ Messing-Türgriffe in unserer Wohnung gefunden, das ich schon lange gesucht habe: 2,50 Euro! Aber einfach ist das Geschäft nicht, wie ich von den sympathischen Besitzern erfahren habe: Da die Wohnungen  in Paris meist sehr klein und sehr teuer sind, reicht es bei der Einrichtung oft nur für Massenware  à la Ikea. Dafür braucht man die wunderbaren  Produkte von Lejeune eher nicht.

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Die Tradition des Möbelhandwerks wird auch durch die École Boulle aufrecht erhalten, ein Lycée professionelle des métiers de l’ameublement. Einmal im Jahr öffnet es seine Pforten und zeigt etwas von der Ausbildung und ihren Resultaten.

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Nicht versäumen sollte man es, zum Beispiel am Ende eines Spaziergangs durch den Faubourg Saint-Antoine einen Blick in den malerischen Cour Damoye an der Place de la Bastille zu werfen, der tagsüber zugänglich ist. Dort gab es früher eine außergewöhnliche kleine Kaffeerösterei, die von einer entzückenden alten Dame betrieben wurde.

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Der ausgeschenkte Kaffee war gut und unschlagbar billig und in Anbetracht des  wunderbaren  Ambiente konnte man auch bezüglich der hygienischen Verhältnisse ein Auge zudrücken.  Die alte Dame ist übrigens 2016 in den Ruhestand gegangen. Ein junger Mann hat aber ihre Nachfolge übernommen und das Lädchen im alten Stil  renoviert. Man kann dort wieder selbst gerösteten Kaffee kaufen und auch gleich probieren.

Ein passender Ort für ein Mittagessen im Faubourg Saint-Antoine ist „La Cour du Faubourg“ in der Nr. 27/ 29 der rue du Faubourg Saint-Antoine in der Nähe der Bastille.

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Das Restaurant liegt -zumindest teilweise- in einem überdachten Hof des Viertels.Und die Preise sind ausgesprochen zivil, wenn auch inzwischen ein wenig teurer als auf diesem Preisschild….

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Anmerkungen

(1) http://www.paris-anecdote.fr/Cochons-privilegies.html

(2) „On retrouvera nombre de compagnons et artisans allemands à Paris : en 1830 puis en 1848, ils contribueront grandement à la réputation révolutionnaire des ouvriers du Faubourg Saint-Antoine.“   http://www.histoire-immigration.fr/des-dossiers-thematiques-sur-l-histoire-de-l-immigration/les-pionniers-allemands-1820

 

Zweiter Teil des Beitrags über den Faubourg Saint-Antoine: 

Der Faubourg Saint-Antoine, das Viertel der Revolutionäre  https://paris-blog.org/2016/04/06/der-faubourg-saint-antoine-teil-2-das-viertel-der-revolutionaere/

 

Spaziergang durch den Faubourg Saint-Antoine

In der deutsch-französischen Internet-Zeitschrift dok.doc.eu habe ich im November 2021 einen Artikel  über die Greeters-Stadtführungen in Paris veröffentlicht. Als Beispiel dient ein Spaziergang durch den Faubourg Saint-Antoine. 

 

Pour en savoir plus: 

Bourgeois, Jean-Claude : A la découverte du Faubourg Saint-Antoine. Association pour la Sauvegarde et la Mise en valeur du Paris historique. Paris 2010

Diwo, Jean:  249, Faubourg St. Antoine. Flammarion 2006

Diwo, Jean: Les Dames du Faubourg. Editions Denoël 1984

Hervier, Dominique et al.: Le faubourg St. Antoine. Cahier du patrimoine. 1998

Laborde, Marie Françoise : Architecture industrielle Paris et environs. Paris 1998

Maréchal, Sebastien: Le 12e arrondissement. Itinéraires d’histoire et d’architecture. Action Artistique de la Ville de Paris. 2000

Michel, Denis und Renou, Dominique: Le Guide du Promeneur. 11e arrondissement. Paris 1993

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Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot: La (re)prise de la Bastille: L’embourgeoisement du faubourg Saint-Antoine.  In: Paris. Quinze promenades sociologique. Petite Bibliothèque Payot. Paris 2013, S. 129f

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