Der nachfolgende Beitrag leitet eine kleine Reihe von Beiträgen zum Palais Royal ein. Die weiteren Beiträge beziehen sich auf die „wilden Jahre“ des Palais Royal zwischen 1780 und 1830:
Teil 2: Das Palais Royal als Einkaufs- und Unterhaltungszentrum https://paris-blog.org/2020/08/01/das-palais-royal-2-ein-einkaufs-und-unterhaltungszentrum-in-den-wilden-jahren-zwischen-1780-1830/
Palais 3: Das Palais Royal als revolutionärer Freiraum und „Sündenbabel“ https://paris-blog.org/2020/10/01/das-palais-royal-3-revolutionarer-freiraum-und-sundenbabel-in-den-wilden-jahren-zwischen-1780-und-1830/
Unter den Gärten und Parks von Paris spielt der Garten des Palais Royal eher eine stiefmütterliche Rolle- und das trotz seiner Lage mitten in der Stadt und in der Nähe des Louvre. In zahlreichen Zusammenstellungen der schönsten Parks und Gärten von Paris wird er überhaupt nicht aufgeführt.[1] Das liegt wohl daran, dass der Garten etwas verborgen und geschützt im Innern des Palais Royal liegt.

So befindet man sich –wenn man vom Süden oder Norden den Park betritt, in einer Oase der Ruhe mitten im pulsierenden Leben der Stadt und man spürt noch etwas von dem aristokratischen Flair dieses Ortes.

Der Garten des Palais Royal ist auf drei Seiten umgeben von Arkadengängen, die zum Bummeln einladen. Benannt sind sie nach seinen drei Söhnen: Im Westen ist das die Galerie de Montpensier, benannt nach Antoine Philippe, Herzog von Montpensier; im Norden die Galerie de Beaujolais, benannt nach Louis Charles, Graf von Beaujolais, und im Osten die Galerie de Valois, benannt nach seinem ältesten Sohn Louis-Philippe, zunächst Herzog von Valois, später Herzog von Chartres und von 1830-1848 „König der Franzosen“.
Kleine, edle Boutiquen reihen sich aneinander, bei denen man sich manchmal fragt, wie sie (über-) leben können. Aber offenbar gibt es in Paris genug Touristen und wohlhabende Menschen, die es sich leisten wollen und können, bei einer solchen Adresse einzukaufen. Für Normalsterbliche genügt es ja auch, einen Blick durch die Fensterscheiben zu werfen.

Das gilt auch für das berühmte Restaurant Vefour. Es wurde 1784 in der gerade neu errichteten Galerie de Beaujolais eröffnet, dem nördlichen Arkadengang, der hier rechts im Bild zu sehen ist.

Damals war es noch ein Café, das Café de Chartres – benannt nach dem duc de Chartres, dem Bauherrn der Arkadengänge. Später wurde das Lokal von Herrn Véfour übernommen, preziös ausgestattet und nach ihm benannt: Als Le Grand Véfour wurde es eine gastronomische „adresse mythique“ der Stadt.[2]

Flaubert, Turgenew und Edmond de Goncourt speisten regelmäßig in dem Restaurant, wozu sie dann auch die beiden jüngeren Schriftsteller Zola und Daudet einluden: das waren die sogenannten „Dîners des Cinq“. Und später gehörten Victor Hugo, Balzac, George Sand, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und natürlich die Nachbarn Colette und Jean Cocteau zu den prominenten Gästen.[3]

In seinem Roman Verlorene Illusionen beschreibt Honoré de Balzac das turbulente Treiben in den Galerien des Palais Royal:
Alles wurde hier gemacht, die öffentliche Meinung, der Ruf, politische und finanzielle Geschäfte. Man gab sich vor und nach der Börse Stelldichein in den Galerien. Das Paris der Bankiers und Kaufleute füllte oft den Hof des Palais Royal und flutete, wenn es regnete, in die Galerien hinein, deren Akustik bewirkte, dass jedes Gelächter widerhallte und dass man an dem einen Ende sofort wusste, worüber am anderen gestritten wurde. Es gab hier Buchhändler, Dichtung, Politik und Prosa, Modemagazine und schließlich Freudenmädchen, die nur am Abend kamen. [3a]
Aber nun zum Garten: Er ist mit seinen Alleen und den in quadratische Formen gezwungenen Bäumen streng französisch angelegt. Aber es ist kein Schaugarten, der vor allem beeindrucken will, sondern er lädt ein zum Verweilen: Es gibt einen zentralen Springbrunnen mit –allerdings etwas unbequemen- eisernen Sesseln und Stühlen darum herum, wie man sie auch vom Jardin du Luxembourg oder dem Tuilerien-Garten kennt.

Die Dame mit ihrer vollgefüllten Einkaufstasche und dem elegant herausgeputzten, rotbeschuhten Pudel gönnt sich hier eine Pause. Vielleicht kommt sie gerade aus einer der noblen Boutiquen unter den Arkaden.
Es gibt auch viele Bänke, die zum Sitzen einladen.

Die Spatzen fressen sogar aus der Hand!

Anziehend ist das Ensemble von harmonischer, edler Architektur und dem Garten in allen Jahreszeiten:
Eine besondere Attraktion sind im Frühjahr blühenden Magnolien. Die wurden 1992 auf Initiative des damaligen Kultusministers Jack Lang angepflanzt, auch wenn sie eigentlich nicht zu einem französischen Garten passen. [3b]

Und danach blühen ganzen Sommer über die Rosen, im Herbst färben sich die Blätter der Bäume und im Winter entfalten die kahlen Alleen einen besonderen strengen Reiz.

Manchmal lohnt es sich auch, einen Blick nach oben zu werfen, wo wir einmal diese beiden Dachwandler entdeckt haben, die offenbar gerne einmal den Garten von oben betrachten wollten.

Der Garten des Palais Royal ist aber nicht nur ein Eldorado für Tauben, Spatzen und ältere Damen. Er war auch ein Anziehungspunkt für Literaten und er wird deshalb auch der jardin des belles lettres genannt. Das ist sicherlich in seiner zentralen Lage begründet, auch der Nähe zur Bibliothèque Nationale und den beiden Theatern, der Comédie Française und dem Théâtre du Palais-Royal. Es beruht aber auch darauf, dass das Palais Royal berühmt war für seine vielen Cafés. Eines davon war das Café de la Régence, das es heute leider nicht mehr gibt. Hermann Kesten hat es in seinem Büchlein „Dichter im Café“ besonders gewürdigt.[4] Es gibt darin ein schönes Zitat, das in kaum einer einschlägigen Veröffentlichung über das Palais Royal fehlt:
Im posthum publizierten Dialog Rameaus Neffe, den Goethe auf Schillers Empfehlung aus dem Manuskript übersetzt hatte, lange vor der Publikation des Originals, schildert Diderot das Café de la Régence, den Neffen des Rameau, den Rameau und sich. „Es mag schön oder hässlich Wetter sein“, so beginnt er, „meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall, um fünf Uhr abends im Palais Royal spazieren zu gehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d’Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sei sie weise oder töricht. So sieht man in der Allée de Foi unsere jungen Liederlichen einer Courtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andere, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.“
„Wenn es gar zu kalt oder regnerisch ist, flüchte ich mich in das Café de la Régence und sehe zu meiner Unterhaltung den Schachspielern zu. Paris ist der Ort in der Welt, und das Café de la Régence der Ort in Paris, wo man das Spiel am besten spielt… Da sieht man die bedeutendsten Züge, da hört man die gemeinsten Reden…“
Hermann Kesten war Autor und Lektor, floh 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Frankreich und leitete die deutsche Abteilung des niederländischen Exilverlags Allert de Lange. Er wohnte zeitweise in Sanary, der „Hauptstadt der deutschen Literatur der 1930-er Jahre“[5], zeitweise in Nizza in Hausgemeinschaft mit Joseph Roth und Heinrich Mann und zeitweise auch in Paris. Dann hielt er sich gerne im Café de la Régence auf und traf dort seine zahlreichen literarischen Freunde. Dazu gehörte natürlich auch Stefan Zweig, für den es damals nur ein paar Schritte dorthin waren.
Stefan Zweig hatte 1912 das Hotel Beaujolais in der gleichnamigen Straße entdeckt- auch das gibt es heute nicht mehr. Es lag neben dem Restaurant Vefour, und die Zimmer hatten einen Ausblick in den Garten des Palais Royal. In den 1930-er Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, ließ sich Zweig wieder dort nieder. In seinen Erinnerungen Die Welt von gestern beschreibt er, wie er diesen Platz entdeckte und was ihn dorthin zog:
Die Stadt war zur Zeit, da ich sie kennenlernte, noch nicht so völlig zu einer Einheit zusammengeschmolzen wie heute dank der Untergrundbahnen und Automobile; noch regierten hauptsächlich die mächtigen, von schweren, dampfenden Pferden gezogenen Omnibusse den Verkehr. Allerdings, bequemer war Paris kaum zu entdecken als vom ›Imperial‹, vom ersten Stock dieser breiten Karossen oder aus den offenen Droschken, die ebenfalls nicht allzu hitzig fuhren. Aber von Montmartre nach Montparnasse war es damals immerhin noch eine kleine Reise, und ich hielt im Hinblick auf die Sparsamkeit der Pariser Kleinbürger die Legende durchaus für glaubhaft, daß es noch Pariser der rive droite gebe, die nie auf der rive gauche gewesen seien, und Kinder, die einzig im Luxembourg-Garten gespielt und nie den Tuileriengarten oder Parc Monceau gesehen. Der richtige Bürger oder Concierge blieb gerne chez soi, in seinem Quartier; er schuf sich innerhalb von Großparis sein kleines Paris, und jedes dieser Arrondissements trug darum noch seinen deutlichen und sogar provinzartigen Charakter. So bedeutete es für einen Fremden einen gewissen Entschluß, zu wählen, wo er seine Zelte aufschlagen sollte. Das Quartier Latin lockte mich nicht mehr. Dorthin war ich bei einem früheren kurzen Besuch als Zwanzigjähriger gleich von der Bahn aus gestürzt; am ersten Abend schon hatte ich im Café Vachette gesessen und mir ehrfürchtig den Platz Verlaines zeigen lassen und den Marmortisch, auf den er in der Trunkenheit immer mit seinem schweren Stock zornig hieb, um sich Respekt zu verschaffen. Ihm zu Ehren hatte ich unalkoholischer Akoluth ein Glas Absinth getrunken, obwohl dies grünliche Gebräu mir gar nicht mundete, aber ich glaubte als junger, ehrfürchtiger Mensch mich verpflichtet, im Quartier Latin mich an das Ritual der lyrischen Dichter Frankreichs halten zu müssen; am liebsten hätte ich damals aus Stilgefühl im fünften Stock in einer Mansarde bei der Sorbonne gewohnt, um die ›richtige‹ Quartier-Latin-Stimmung, wie ich sie aus den Büchern kannte, getreulicher mitleben zu können. Mit fünfundzwanzig Jahren dagegen empfand ich nicht mehr so naiv romantisch, das Studentenviertel schien mir zu international, zu unpariserisch. Und vor allem wollte ich mir mein dauerndes Quartier schon nicht mehr nach literarischen Reminiszenzen wählen, sondern um möglichst gut meine eigene Arbeit zu tun. Ich blickte mich sogleich um. Das elegante Paris, die Champs Élysées, boten in diesem Sinne nicht die geringste Eignung, noch weniger das Quartier um das Café de la Paix, wo alle reichen Fremden des Balkans sich Rendezvous gaben und außer den Kellnern niemand französisch sprach. Eher hatte die stille, von Kirchen und Klöstern umschattete Sphäre von Saint Sulpice, wo auch Rilke und Suarez gerne wohnten, für mich Reiz; am liebsten hätte ich auf der Isle St. Louis Hausung genommen, um gleicherweise beiden Seiten von Paris, der rive droite und rive gauche, verbunden zu sein. Aber im Spazierengehen gelang es mir, gleich in der ersten Woche etwas noch Schöneres zu finden. Durch die Galerien des Palais schlendernd, entdeckte ich, daß unter den im achtzehnten Jahrhundert von Prince Egalité ebenmäßig gebauten Häusern dieses riesigen Carrés ein einziges einstmals vornehmes Palais zu einem kleinen, etwas primitiven Hotel herabgekommen war. Ich ließ mir eines der Zimmer zeigen und merkte entzückt, daß der Blick vom Fenster in den Garten des Palais Royal hinausging, der mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. Nur das leise Brausen der Stadt hörte man dann undeutlich und rhythmisch wie einen ruhelosen Wogenschlag an eine ferne Küste, im Mondlicht leuchteten die Statuen, und in den ersten Morgenstunden trug manchmal der Wind von den nahen ›Halles‹ einen würzigen Duft von Gemüse her. In diesem historischen Geviert des Palais Royal hatten die Dichter, die Staatsmänner des achtzehnten, des neunzehnten Jahrhunderts gewohnt, quer gegenüber war das Haus, wo Balzac und Victor Hugo so oft die hundert engen Stufen bis zur Mansarde der von mir so geliebten Dichterin Marceline Desbordes-Valmore emporgestiegen waren, dort leuchtete marmorn die Stelle, wo Camille Desmoulins das Volk zum Sturm auf die Bastille aufgerufen, dort war der gedeckte Gang, wo der arme kleine Leutnant Bonaparte sich unter den promenierenden, nicht sehr tugendhaften Damen eine Gönnerin gesucht. Die Geschichte Frankreichs sprach hier aus jedem Stein; außerdem lag nur eine Straße weit die Nationalbibliothek, wo ich meine Vormittage verbrachte, und nahe auch das Louvremuseum mit seinen Bildern, die Boulevards mit ihrem menschlichen Geström; ich war endlich dort, wohin ich mich gewünscht, dort, wo seit Jahrhunderten heiß und rhythmisch der Herzschlag Frankreichs ging, im innersten Paris. Ich erinnere mich, wie André Gide mich einmal besuchte und, über diese Stille mitten im Herzen von Paris staunend, sagte: »Von den Ausländern müssen wir die schönsten Stellen unserer eigenen Stadt uns zeigen lassen.« Und wirklich, ich hätte nichts Pariserischeres und zugleich Abgeschiedeneres finden können als dieses romantische Studierzimmer im innersten Bannkreis der lebendigsten Stadt der Welt.[6]
Das Palais Royal verdankt seinen literarischen Ruhm aber vor allem zwei Autoren: Colette und Jean Cocteau.

An beide wird im Palais Royal intensiv erinnert, wie dieses Foto vom Februar 2020 zeigt. Das dort abgebildete Doppelportrait von Colette und Cocteau stammt aus dem Jahr 1947. 2019 wurden die beiden baumbestandenen Alleen des Gartens auf die Namen Colette und Cocteau getauft.

Colette
Colette wohnte von 1927 bis 1929 im Zwischengeschoss rue de Beaujolais Nummer 9 und dann wieder ab 1938 im gleichen Haus ein Stockwerk darüber bis zu ihrem Tod 1954. Fünf Monate nach ihrem Einzug, 1938, besuchte Walter Benjamin sie dort:
„Die Zeit eines Interviews ist längst überschritten. Mit den Blicken messe ich im Hinausgehen die niedrigen Stuben von schmalem, altmodischem Ausmaß. ‚Wie lange wohnen Sie schon hier, gnädige Frau?‘ ‚Fünf Monate. Das hier –nicht wahr?- ist altes Palais Royal. Die Zimmer sind so winzig, dass ich, um mir ein Arbeitszimmer zu verschaffen, eine Zwischenwand habe fortnehmen lassen. Sie waren früher für die Damen des Palais Royal belegt. On y a rien fait que l’amour.‘ Ich aber könnte diese sehr kluge, sehr gerade, sehr französische Künstlerin mir nirgends richtiger untergebracht denken, als in diesem zentralsten, verstecktesten Winkel der Altstadt, der im Regenwetter verwittert und einsam schweigt.“[7]

Von ihrem Fenster im ersten Stock des Hauses aus beobachtete Colette gerne das Treiben im Garten des Palais Royal – zumal in den von ihrer Arthrose überschatteten Lebensjahren:
„In unserem königlichen Wohnbezirk haben wir kaum bequemere und hygienischere Verhältnisse, als sie zur Zeit des Sonnenkönigs in Versailles herrschten. (…) Aber was schert das die Kinder, die unumschränkten Herren des Parks? Wenn die Not am größten ist, fällt das Höschen, schürzt sich das Röckchen und …. Es geht noch einfacher. In seinem Wagen stößt das Baby einen Alarmschrei aus: ohne sich von ihrem Eisenstuhl zu erheben – einem unverwüstlichen Überbleibsel der uralten Zeit- schnappt sich die Mutter oder die Kinderfrau das Kleinchen und hält es wie ein Sieb zum Durchseihen von Flüssigem und Festem in die Luft. Gestern bestätigten neun feuchte Spuren auf dem Bürgersteig genau unter meinem Fenster, dass am Nachmittag neun Kinder zwischen den Stühlen gespielt. Ah, was für ein unerfreulicher Geruch in die Abendluft aufsteigt. (…)
Aber ich habe nicht das Herz, sie zu verurteilen, sie, meine lebhaften Schreihälse, meine kleinen pfeifenden Kobras, meine trompetenschmetternden und mit Rasseln lärmenden Zündblättchen-Schützen, obwohl ich die Erinnerung an die Wohltaten einer Erziehung, die vor allem die Stille lehrte, nicht vergessen habe. Weil ich sie beobachte, und sie durch das Beobachten zu meinen eigenen mache, kann ich sie nicht immerzu tadeln.“ [8]

Heute ist dieses Fenster besonders markiert durch ein C und einen Stern. Der verweist, so vermute ich, auf das letzte und nach vielfacher Überzeugung beste Buch Colettes „L’étoile Vesper“ – das ist der Venusstern, „der in den Abendstunden am Himmel steht. Und wie ein Stern leuchtet dieser Name über dem stillen Werk von Colette.“[9] Als sie starb, wurde ihr Sarg im Ehrenhof des Palais Royal aufgebahrt und tausende Menschen erwiesen ihr die letzte Ehre.

Heute erinnert nicht nur die Plakette in der rue de Beaujolais an die Schriftstellerin, sondern es gibt auch noch eine weitere Erinnerungstafel mit ihrem Portrait an der engen Passage du Perron, dem nördlichen Zugang in den Garten, „an dessen Rand sie ihre letzten Jahre verbrachte“.

Und nicht zuletzt gibt es noch die südlich des Jardin du Palais-Royal gelegene place Colette zwischen der Comédie Française und dem Restaurant/dem Café Nemours. Dort befindet sich auch der „Haupteingang“ zum Garten.[10]

Der unkonventionelle, verspielte Metro-Eingang „Kiosque des Noctambules“ auf dem Platz hätte Colette wohl gefallen…

Jean Cocteau

Jean Cocteau lebte von 1940 bis 1947 mit seinem Partner Jean Marais in der rue de Montpensier Nummer 36, wo es auch eine Erinnerungsplakette gibt.
Bis zu seinem Tod hielt er sich dann nur noch zeitweise in Paris auf, überwiegend aber in Milly-la-Forêt, wo er auch die Kapelle ausmalte, in der er begraben ist. (10a)

1947 – aus diesem Jahr stammt auch dieses Bild- schrieb Jean Cocteau in „La difficulté d’être“ über diese Wohnung:
Ich mietete diesen winzigen Keller 1940, als die deutsche Armee auf Paris marschierte. […] Ich bleibe jetzt hier, weil es unmöglich ist, eine geeignete Unterkunft zu finden, auch wegen der Ausstrahlung, die das Palais-Royal für manche Seelen hat. “ [11]
Ein Keller war die Wohnung allerdings nicht: Sie lag im Zwischengeschoss zwischen dem Parterre und der étage noble, so dass Jean Cocteau wie Colette auch einen Blick in den Garten und auf die spielenden Kinder hatte.[12]

Ganz so winzig war die Wohnung übrigens nicht: immerhin war sie 50 qm2 groß. (2016 wurde sie –inzwischen deutlich vergrößert- für einen Quadratmeterpreis von 20. 000 Euro als ideale Junggesellenwohnung oder pied-à-terre zum Verkauf angeboten.)
Wie sehr Cocteau dem Palais Royal verbunden und seinem Charme verfallen war, wird aus einem kleinen Text für das comité du Palais-Royal deutlich, dessen Ehrenpräsident er war. Er bezeichnet darin das Palais Royal als eine kleine Stadt in einer großen Stadt; eine kleine Stadt mit eigenen Gewohnheiten und Sitten. Ihre Bewohner, indigènes, vergleicht er mit manchen alten Gondolieren von Venedig, die nie ein Pferd oder ein Auto gesehen hätten.
Les nôtres semblent ne connaître que les voûtes, les colonnes, les lampadaires, les esplanades et les grilles à pointe d’or dans le labyrinthe desquels les échoppes vendent les livres libertins, les timbres-poste et les légions d’honneur. Petite ville émouvante à force d’être en proie aux fantômes illustres de l’Histoire de France et des personnages de Balzac. Éternellement parcourue par une troupe de sans-culottes, la bouche ouverte en forme de cri, brandissant une tête coupée… (13)
Dazu passt eine Tuschezeichnung von Cocteau aus dem Jahr 1962 mit dem Titel „Scène révolutionnaire au Palais Royal“, die im März 2020 für 1300 Euro versteigert wurde. [14]

Weniger blutrünstig und deutlich billiger geht es im Restaurant und Teesalon Muscade zu. Der befindet sich im Erdgeschoss der rue Montpensier 36, da also, wo Cocteau wohnte. Es gibt eine große Kuchenauswahl und es soll sogar einen „Salade Cocteau“ geben, bestehend aus Salatblättern, im Ofen gebackenem Ziegenkäse und Schneckenbutter…. Und vor allem: Bei schönem Wetter lädt die Terrasse im Jardin du Palais- Royal zum Draußensitzen ein.
Die literarischen Bänke
Wenn der Garten des Palais Royal mit Fug und Recht als ein jardin des belles lettres bezeichnet werden kann, so beruht das auch auf den dort aufgestellten „literarischen Bänken“. Da gibt es die zehn von dem Künstlerduo Michel Goulet und François Massut entworfenen „chaises-poèmes“, die 2016 aufgestellt wurden.

Es handelt sich um Stuhlpaare, die so miteinander verbunden sind, dass ein Dialog möglich ist, ohne den Kopf verdrehen zu müssen. Auf den Rückenlehnen ist das Zitat eines Dichters/einer Dichterin eingraviert. Hier ist es die an Erich Fromms „Haben oder Sein“ erinnernde Devise von Marina Tsvetaïeva: zwei Hilfsverben: Sein ist mehr wert als haben. Eigentlich sollte man einen mitgebrachten Kopfhörer an eine an jedem Stuhlpaar befestigte Box anschließen und dann Gedichte zeitgenössischer Autoren hören können. Bei unseren Besuchen im Garten des Palais-Royal war dies allerdings nicht möglich.

Seit 2019 gibt es zusätzlich auch noch die „banc-poèmes“: Das sind die traditionellen Bänke in den beiden Alleen des Gartens. Die beiden Künstler, die schon die chaises-poèmes entworfen hatten, nutzten die Renovierung der Bänke, auf ihren Rückenlehnen Zitate von Autoren anzubringen, wobei Colette in der ihren Namen tragenden Allee besonders berücksichtigt ist und Jean Cocteau entsprechend in „seiner“ Allee.

Hier zum Abschuss dieses Berichts eine Bank mit einem Zitat von Colette aus ihrem Buch „La Naissance du Jour“ von 1928: Die Schwierigkeit besteht nicht darin zu geben, sondern nicht alles zu geben.[15]

Anmerkungen:
[1] Siehe z.B. https://www.parismalanders.com/die-schoensten-parks-in-paris/ oder: Paris im Frühling: Die schönsten Parks und Gärten. https://www.pariscityvision.com/de/paris/pariser-parks-und-garten-fruhling Auch in Marco Polos Zusammenstellung der schönsten Parks und Gärten von Paris ist der Garten des Palais-Royal nicht berücksichtigt. https://www.marcopolo.de/reisefuehrer-tipps/paris/die-schoensten-parks-gaerten-in-paris.html
[2] http://www.grand-vefour.com/legrandvefour/lhistoire.html
Der Ausdruck „adresse mythique“ stammt aus: https://www.leparisien.fr/paris-75/paris-revolution-de-palais-au-grand-vefour-16-02-2021-8425104.php Siehe ausch: https://www.nzz.ch/gaumenfreude_und_augenschmaus-1.9178318
[3] David Burke, Writers in Paris: Literary Lives in the City of Light, Berkely 2008, S. 174 entsprechend: http://www.writersinparis.com/formwritersinparis2.php
[3a] Uwe Schultz, Paris. Literarische Spaziergänge. insel taschenbuch 2884. Frankfurt und Leipzig 2003, S. 200
[3b] siehe: https://www.leparisien.fr/paris-75/a-paris-au-palais-royal-les-magnolias-sont-en-fleurs-19-03-2022
[4] Hermann Kesten, Dichter im Café. Cadolzburg: Ars vivendi 2015
[5] Siehe den Blog-Beitrag: //paris-blog.org/2016/04/18/exil-in-frankreich-sanary-les-milles-und-marseille/
[6] https://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/7
[7] Aus: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften IV,1 Zitiert in: Susanne Gretter (Hrsg), Paris liegt an der Seine. Bilder einer Stadt. st 2994, Frankfurt 1999, S. 167
[8] Zit in: Hans von Zigesar (Hrsg), Reise Textbuch Paris. Ein literarischer Begleiter auf den Wegen durch die Stadt. Dtv 3902, München 1990, S. 114/115. Bild von 1949 aus: http://paris-bise-art.blogspot.com/2014/11/la-fenetre-de-colette-au-palais-royal.html
[9] https://www.spiegel.de/geschichte/pariser-skandal-schriftstellerin-colette-geliebt-gehasst-bewundert-a-1244361.html
[10] Bild des Nemours aus: http://www.lenemours.paris/ Bild des Metro-Eingangs: https://www.parisladouce.com/2013/03/paris-le-kiosque-des-noctambules-de.html
(10a) Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/04/11/milly-la-foret-jean-cocteau-niki-de-saint-phalle-und-jean-tinguely/
[11] Zitat und Bild (Pierre Jahan / Roger-Viollet) aus: http://www.leparisien.fr/paris-75/a-vendre-au-palais-royal-a-paris-appartement-de-cocteau-1-950-000-eur-18-03-2016-5639481.php
« J’ai loué cette cave minuscule en 1940, lorsque l’armée allemande marchait sur Paris […] Je m’y soigne à présent par fatigue, à cause de l’impossibilité de trouver un logement convenable, à cause aussi d’un charme que le Palais-Royal exerce sur certaines âmes ».
[12] Bild aus: https://www.ebay.de/itm/Cocteau-Le-Palais-Royal-raconte-par-Jean-Cocteau-vu-par-Veronique-Filozof –
(13) Jean Cocteau, Le Palais-Royal. In: Jean Cocteau, Paris suivi de notes sur l’amour. Paris: Bernard Grasset 2013, S. 35/36
[14] Signé et daté en bas à droite „1962 / Jean Cocteau“
https://www.artcurial.com/fr/lot-jean-cocteau-1889-1963-scene-revolutionnaire-au-palais-royal-1962-encre-sur-papier-3961-109?utm_source=barnebys&utm_medium=referral&utm_campaign=barnebys&utm_content=2020-03-10 1300 Euro März 2020
[15] https://www.lefigaro.fr/sortir-paris/2019/03/01/30004-20190301ARTFIG00028-que-savez-vous-sur-colette-et-cocteau-au-palais-royal.php
Literatur
Le Palais Royal. Katalog der Ausstellung im Musée Carnavalet 1988
Le ‚Palais des Fées‘: Le Palais-Royal, centre des amusements de la capitale de 1780 à 1815. Interview mit Florence Köll, Autorin einer Doktorarbeit über « Le résumé de Paris »? Le Palais-Royal de 1780 à 1815 : commerces, logements, divertissements . https://chartes.hypotheses.org/5640 2019
Olivier Dautresme, La promenade, un loisir urbain universel? L’exemple du Palais-Royal à Paris à la fin du XVIIIe siècle. In: Histoire urbaine 2001/1, S. 83-102. https://www.cairn.info/revue-histoire-urbaine-2001-1-page-83.htm#no7
Guy Lambert/Dominique Massounie, Le Palais-Royal. Ed. du Patrimoine 2010
Clyde Plumauzille, Le ‘marché aux putains’ : économies sexuelles et dynamique spatiales du Palais-Royal dans le Paris révolutionnaire. https://journals.openedition.org/gss/2943
Rousseau, Murielle, Die Gärten von Paris. Mit farbigen Fotografien von Marie Preaud
insel taschenbuch 4776 FFM/Leipzig 2020 Beitrag über den Garten des Palais Royal: https://www.suhrkamp.de/download/Blickinsbuch/9783458364764.pdf
Rodolphe Trouilleux, Le Palais-Royal. Un demi-siècle de folies 1780-1830. Bernard Giovanangeli Éditeur 2010
René Héron de Villefosse: L’anti-Versailles ou le Palais-Royal de Philippe Egalité. Paris: Dullis 1974
Weitere geplante Beiträge:
Das Palais Royal (2): Ein Einkaufs- und Unterhaltungszentrum in den „wilden Jahren“ zwischen 1780-1830
Das Palais Royal (3): revolutionärer Freiraum und Sündenbabel in den „wilden Jahren“ zwischen 1780 und 1830
Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung
Der Parc Jean-Jacques Rousseau in Ermenonville