Ein gutes Jahr nach dem Brand von Notre – Dame ist die Kirche eine riesige Baustelle, überragt von dem mächtigen Kran, mit dem das alte zerschmolzene und verbogene Gerüst entfernt und eine neues installiert wurde. (Alle Bilder sind aufgenommen am 20.8.2020)
Immerhin aber haben die Fassade, die beiden Türme und damit auch die Glocken den Brand unversehrt überstanden. Es hat nicht viel gefehlt und der Brand hätte auch dort mit noch katastrophaleren Folgen gewütet.
Das hat ein bravouröser Einsatz der Feuerwehrleute verhindert, und die alle bösen Eindringlinge abwehrenden Chimären Viollet-le-Ducs haben vielleicht auch dabei geholfen…
Zugänglich ist die Kirche natürlich nicht und wird es auch auf längere Zeit nicht sein. Sie ist umgeben von einem Bauzaun, der allerdings so dimensioniert ist, dass ein Teil des Vorplatzes der Kirche wieder zugänglich ist. Auf diesem Bauzaun sind nun Kinderzeichnungen zu Notre – Dame ausgestellt.
Sechs Monate nach dem Brand hatte der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, alle Kinder Frankreichs und der Welt dazu aufgerufen, die Kirche, die ihr kennt oder die Kirche, die ihr euch vorstellt, zu zeichnen.
Überschrift des Aufrufs: Dessine- moi Notre-Dame (Zeichne mir Notre-Dame)
Sicherlich nicht alle Kinder der Welt, aber wohl die meisten Frankreichs und viele in anderen Ländern kennen Saint-Exupérys Buch vom kleinen Prinzen, der bei seiner ersten Begegnung mit dem in der Sahara notgelandeten Erzähler diesen bittet, ihm doch ein Schaf zu zeichnen.
Das hat vielleicht dazu beigetragen, dass fast 6000 Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 16 Jahren dem Aufruf gefolgt sind. Eine kleine Auswahl der Arbeiten ist nun auf dem Bauzaun von Notre – Dame zu sehen.
Diese Gesamtdarstellung von Notre-Dame haben Schüler/innen der Schule Notre-Dame de France in Paris gemalt und alle haben unterschrieben. Den angegebenen Schulnamen nach zu schließen, waren es wohl viele private konfessionelle Schulen, die sich beteiligt haben. Altersangaben der Zeichner fehlen leider bei allen Abbildungen.
Motiv ist vor allem die Fassade, aber sie ist ja auch gewissermaßen das architektonische Markenzeichen der Kathedrale.
Manchmal wird auch der Brand thematisiert….
… und manchmal sind es die himmlischen Mächte, die ihre schützende Hand über die Fassade gehalten haben.
Hier ist es die Jungfrau Maria. Kein Wunder, denn die Zeichnung stammt von Magdalena aus Krakau, dem Ort der Marienkirche und des wunderbaren Marienaltars von Veit Stoß.
Besonders originell ist die Zeichnung von Loïc aus Frankfurt. (Eine Schule ist hier leider nicht angegeben). Loïchat mit Papier, Kleber (glue), Scheren und Buntstiften Notre-Dame gewissermaßen wieder aufgebaut.
In der Realität wird das natürlich viel länger dauern. Präsident Macron hatte unmittelbar nach dem Brand etwas vollmundig 2024 als Jahr der Wiederherstellung angekündigt, aber da kannte man noch nicht die zusätzlichen Probleme wie die Bleibelastung und die Covid 19- Pandemie und die dadurch bedingten Zeitverzögerungen …
Aber vielleicht wird ja Maria helfen. Deren Statue, die ihren Platz in der Kathedrale hatte, wurde jetzt auf dem Vorplatz der Kirche aufgestellt. (Foto September 2021)…
Der Garten das Palais Royal mit seinen Arkadengängen war seit deren Entstehung in den 1780-er Jahren ein Anziehungspunkt nicht nur für Pariser, sondern für Touristen aus aller Welt. Man ging dorthin, um zu essen, einzukaufen, sich zu unterhalten und zu amüsieren. Wollte man sehen und gesehen werden, ging kein Weg am Palais Royal vorbei. Es war gewissermaßen ein Vorläufer heutiger Einkaufszentren und die „Amüsiermeile“ von Paris. Zeitgenössische Berichte überbieten sich geradezu mit entsprechenden Superlativen.
Mehr dazu im vorhergehenden Bericht über Kommerz und Unterhaltung in den „wilden Jahren“ des Palais Royal:
Im nachfolgenden Bericht geht es um zwei für das Palais Royal ebenfalls zentrale Aspekte: nämlich seine politische und erotische Bedeutung. In beiderlei Hinsicht war es ein einzigartiger „hotspot“ in den wilden Jahren zwischen 1780 und 1830.[1]
Das Palais Royal als „Anti- Versailles“ und Schauplatz der Revolutionen
Am 12. Juli 1789 wird der Garten des Palais Royal Schauplatz eines Ereignisses, das in die Geschichtsbücher eingeht: Camille Desmoulins, ein junger, bis dahin weitgehend unbekannter junger Mann, er ist Journalist und Rechtsanwalt, steigt auf einen der im Garten aufgestellten Tische und ruft das Volk zu den Waffen. Was war der Anlass? Am Mittag des Tages war in Paris die Nachricht von der Entlassung des Finanzministers Necker durch Ludwig XVI. eingetroffen. Necker war beim Dritten Stand sehr beliebt, weil er dafür eingetreten war, den von der Nationalversammlung vorgebrachten liberalen Forderungen entgegenzukommen. Der König aber folgte den Scharfmachern in seiner Umgebung. Necker wird entlassen und zum Verlassen des Königreichs aufgefordert.[2] Was danach geschieht, berichtet Desmoulins in einem Brief vom 16. Juli an seinen Vater:
Wie hat sich in drei Tagen das Gesicht aller Dinge verändert! Am Sonntag [12. Juli] war ganz Paris bestürzt über die Entlassung Neckers; sosehr ich versuchte, die Geister zu erhitzen, kein Mensch wollte zu den Waffen greifen. Ich schließe mich ihnen an; man sieht meinen Eifer; man umringt mich; man drängt mich, auf einen Tisch zu steigen: In einer Minute habe ich 6000 Menschen um mich. „Bürger“, sage ich nunmehr, „ihr wisst, die Nation hatte gefordert, dass Necker ihr erhalten bliebe, dass man ihm ein Denkmal errichtete: Man hat ihn davongejagt! Kann man euch frecher trotzen? Nach diesem Streich werden sie alles wagen, und noch für diese Nacht planen sie, organisieren sie vielleicht eine Bartholomäusnacht für die Patrioten.“ „Zu den Waffen“, sagte ich, „zu den Waffen!“ [3]
Alle sollten grüne Kokarden nehmen als Zeichen der Hoffnung. Er wolle auch gerne ruhmreich sterben. Nur ein Unglück könne es für ihn geben: Mitanzusehen, wie Frankreich versklavt werde, „c’est celui de voir la France devenir esclave“.[4]Schauplatz der Szene ist das Palais Royal, der Tisch, den Camille Desmoulins besteigt, gehört zu dem Café le Foy. Dieses Café war damals das einzige im Palais Royal, das das Privileg hatte, Tische im Garten aufstellen zu dürfen. Und es war, wie die Brüder Goncourt in ihrer Geschichte der französischen Gesellschaft während der Revolution schreiben, in den bewegten Monaten des Sommers 1789 im Palais Royal das, was das Palais Royal in Paris war: „une petite capitale d’agitation, dans le royaume de l’agitation“ und die sieben Arkaden das Cafés waren „le portique de la Révolution“.[5]
Hier eine weit verbreitete Darstellung der berühmten Szene vom 12. Juli 1789: Ein Kupferstich nach einer Zeichnung von Jean-Louis Prieur d.J. aus der Folge Tableaux de la Révolution Française, 1791/92.[6]
Die Wirkung dieser Rede ist überwältigend. Es bildet sich ein spontaner Demonstrationszug. Die Büsten von Necker und des Herzogs von Orléans werden im Triumphzug durch die Stadt zum Platz Louis XV getragen.[7]
Die Büsten hatte man von Philippe Curtz/Curtius erhalten, der in Paris zwei Wachsfigurenkabinette unterhielt, davon eines im Palais Royal, in der Galerie de Montpensier Nummer 17, in dem die Büsten bedeutender historischer Persönlichkeiten und aktueller politischer Prominenz ausgestellt waren. (Marie Grosholtz, die spätere Mme Tussaud erlernte dort ihr Handwerk). Auf der place Louis XV, der heutigen place de la Concorde, kam es zu einem Scharmützel mit dem régiment Royal-Allemand, deutschen Söldnern. Die musste man einsetzen, weil die gardes françaises sich auf die Seite ihrer Landsleute gestellt hatten. Der Träger der Büste des Herzogs von Orléans wurde von einem Schuss getroffen, was die Empörung weiter steigerte. Er und die ramponierte Büste wurden demonstrativ ins Palais Royal zurückgebracht.
Am Abend kam es dann zum Sturm auf die Barrieren der Zollmauer, von denen die meisten zerstört wurden: Dort erhoben die sogenannten Generalpächter im Auftrag der Krone Zoll unter anderem für Brot und Getreide. Deren Preise waren damals so hoch wie noch nie im 18. Jahrhundert. [8] Zwei Tage später wurde die Bastille gestürmt und Camille Desmoulins konnte am 20. September stolz seinem Vater berichten:
Denkt Euch, ein großer Teil der Hauptstadt nennt mich unter den hauptsächlichsten Urhebern der Revolution Ich habe dazu beigetragen, mein Vaterland frei zu machen, ich habe mir einen Namen gemacht.[9]
Und das Palais Royal war durch ihn zu einem der großen Schauplätze der Französischen Revolution geworden. Desmoulins nannte das Palais-Royal sogar das „camp de la Révolution“. Schon am 24. Juni 1789, bevor er selbst den Tisch des Cafés le Foy bestieg und das Volk zu den Waffen rief, schrieb er in einem Brief, im Palais-Royal bestiegen jeden Abend Menschen mit lauter Stimme die Tische und verläsen die neuesten Nachrichten. Dabei herrsche eine gespannte Stille, nur unterbrochen von Bravos der Patrioten. Und dann verglich er das Palais Royal mit dem Forum Romanum: „Ainsi faisaient les Romains dont le Forum ne ressemblait pas mal à notre Palais-Royal.“[10]
In der Tat war schon vor der Zusammenkunft der Generalstände in Versailles das Palais Royal „das Forum gewesen, das die öffentliche Meinung mit neuen Schlagworten versorgte.“ Die in Frankreich verbotenen Bücher von Voltaire und Rousseau konnten hier gelesen werden. Als dann die Generalstände tagten, entwickelte sich im Palais Royal eine parallele Versammlung, an der ohne Einschränkung jedermann teilnehmen konnte und die permanent tagte. Im Palais Royal schlug gewissermaßen „das Herz der Revolution“.[11]
Der Schriftsteller, Journalist und Verleger Joachim Heinrich Campe hat das in seinen Briefen aus Paris beschrieben. Campe war gleich nach dem Sturm auf die Bastille von Braunschweig nach Paris aufgebrochen, um dem Leichenbegräbnis des französischen Despotismus beizuwohnen.“[12] Campe schreibt in seinem zweiten Brief vom 9. August 1789 über das Palais Royal:
Alles, was hier gesagt oder getan wird, bleibt innerhalb der Mauern des Palais; kein Mensch nimmt weiter Notiz davon; kein Mensch bekümmert sich weiter darum. Schon seit vielen Jahren war dieser Ort, ohngeachtet er mitten in Paris und dem Throne des Despotismus so nahe lag, der Sitz einer unbeschränkten bürgerlichen und gesellschaftlichen Freiheit, wo man redete, was man dachte, und wo man tat, was man wollte, ohne dass jemand ein Ärgernis daran nahm. Der Pariser hörte auf, sobald er diesen Ort betrat, ein Pariser oder Franzose zu sein, er war für den Augenblick ein vollkommener Republikaner, ein Weltbürger, der keine bürgerlichen und keine konventionellen Einschränkungen und Fesseln kannte.“[13]
Dass das Palais Royal eine so bedeutende politische Rolle spielen konnte, ist wesentlich seinem „Hausherrn“, dem Herzog von Orléans, zu verdanken. Er gehörte einer bourbonischen Nebenlinie an, war aber im Versailler Königshaus wenig gelitten. Über sein „unstandesgemäßes“ Immobilienprojekt mit dem Verkauf von Läden und Wohnungen an den Rändern des Palais Royal-Gartens rümpfte man am Hof die Nase. Und noch weniger amused war man über die politischen Neigungen des Herzogs, der ein großer Bewunderer des englischen Regierungssystems war und mit den neuen Ideen der Aufklärung sympathisierte. Am 25. Juni 1789 hatte er sich als Mitglied der Nationalversammlung mit anderen Vertretern des Adels dem Dritten Stand angeschlossen. Kein Wunder also, dass das Palais Royal zu einem Treffpunkt kritischer Geister wurde. Da der Herzog als Hausherr dort auch die Polizeigewalt innehatte, musste man keine Verfolgungen befürchten: Das Palais Royal war sozusagen ein exterritorialer Raum und ein „Anti-Versailles“.
In den Revolutionsjahren trafen sich in den Cafés die Anhänger verschiedener politischer Strömungen und Vereinigungen. Von der besonderen Rolle des Café le Foy war schon die Rede. Dort hatte Desmoulins seinen großen Auftritt am 12. Juli 1789, dort verkehrte auch seine Geliebte, Théroigne de Mérincourt, die „Amazone der Revolution“. Sie war eigentlich die Tochter flämischer Bauern, war in Paris wie die „Königin von Saba“ empfangen worden, hatte am Weiberzug nach Versailles teilgenommen und war neben dem Wagen geritten, der den König nach Paris transportiert hatte. Im Café de Foy hielt sie blutige Volksreden…[14] Später versammelten sich in diesem Café ausgerechnet die Royalisten, während sich die Jacobiner, nachdem Ludwig XVI. und Marie-Antoinette unter der Guillotine geendet waren, im Café Corazza trafen.
Nach der Abschaffung des Königtums am 10. August 1792 wechselte der Herzog von Orléans seinen Namen: Er nannte sich nun Philippe Égalité, das Palais Royal wurde zum Palais- Égalité und der Garten zum Jardin de la Révolution.[15]
In einem der Arkadencafés ermordete ein Royalist am 20. Januar 1793 den Abgeordneten Lepeletier de Saint-Fargeau, einen Anhänger Robespierres, weil er für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hatte.[16]
Eigentlich wollte der Attentäter Philippe- Égalité als den ranghöchsten „Königsmörder“ töten, denn auch der hatte für den Tod des Königs gestimmt und damit zur denkbar knappsten Mehrheit im Konvent für das Todesurteil Ludwigs XVI. beigetragen (361 gegen 360 Stimmen). Gedankt hat ihm die Revolution das nicht: Am 6. November 1793 endete auch sein Leben unter der Guillotine.
Auch bei der sogenannten Juli-Revolution von 1830, die zum endgültigen Sturz der Bourbonen führte, spielte das Palais Royal eine wesentliche Rolle und man hat es deshalb auch als pépinière des révolutions bezeichnet.[17] In den Jahren der Restauration zwischen 1815 und 1830 unter Karl X. war das Palais Royal eine wichtige und populäre Informationsbörse und ein Diskussionsforum. Ludwig Börne hat das in seinen zwischen 1822 und 1824 entstandenen Schilderungen aus Paris beschrieben. Darin ist ein eigenes Kapitel den Lesekabinetten gewidmet:
Für einen Sittenmaler gibt es keinen reichern Anblick als der Garten des Palais Royal in den Vormittagstunden. Tausend Menschen halten Zeitungen in der Hand und zeigen sich in den mannigfaltigsten Stellungen und Bewegungen. Der eine sitzt, der andere steht, der dritte geht, bald langsamern, bald schnellern Schrittes. Jetzt zieht eine Nachricht seine Aufmerksamkeit stärker an, er vergißt den zweiten Fuß hinzustellen, und steht einige Sekunden lang wie ein Säulenheiliger auf einem Beine. Andere stehen an Bäume gelehnt, andere an den Geländern, welche die Blumenbeete einschließen, andere an den Pfeilern der Arkaden. Der Metzgerknecht wischt sich die blutigen Hände ab, die Zeitung nicht zu röten, und der ambulierende Pastetenbäcker läßt seine Kuchen kalt werden über dem Lesen. Wenn einst Paris auf gleiche Weise unterginge, wie Herkulaneum und Pompeji untergegangen, und man deckte den Palais Royal und die Menschen darin auf, und fände sie in derselben Stellung, worin sie der Tod überrascht – die Papierblätter in den Händen wären zerstäubt – würden die Altertumsforscher sich die Köpfe zerbrechen, was alle diese Menschen eigentlich gemacht hatten, als die Lava über sie kam. Kein Markt, kein Theater war da, das zeigt die Örtlichkeit. Kein sonstiges Schauspiel hatte die Aufmerksamkeit angezogen, denn die Köpfe sind nach verschiedenen Seiten gerichtet, und der Blick war zur Erde gesenkt. Was haben sie denn getan? wird man fragen, und keiner wird darauf antworten: sie haben Zeitungen gelesen.[18]
Während hier im öffentlichen Raum gelesen und diskutiert wird, war das im gleichzeitigen deutschen Biedermaier anders: Ernst Elias Niebergall hat den typischen deutschen Zeitungsleser dieser Zeit in seiner in Darmstädter Mundart verfassten sogenannten Lokalposse Datterich wunderbar karikiert. Da liest der Drehermeister Dumbach seine Zeitung im bequemen häuslichen Ohrensessel und raisonniert und spintisiert dann am Stammtisch im Wirtshaus über Gott und die Welt, was stellenweise geradezu bedrückend zeitgemäß klingt: „Mir erläwe’s net, awwer Sie wern sähe, dass ich recht hob: in fufzig Johr sinn mer all Derke!“[19] (In fünfzig Jahren sind wir alle Türken!)
Im Palais Royal dagegen kündigen sich schon die nächste Revolution und der Sturz der Bourbonen-Herrschaft an: Am 31. Mai gibt Louis-Philippe, duc d’Orléans und Sohn des 1793 guillotinierten Philippe-Égalité, im Palais Royal ein großes Fest für seinen Schwager, den König beider Sizilien (Neapel und Sizilien), an dem auch ausnahmsweise Karl X. teilnimmt, der sonst einen großen Bogen um das (nicht nur) politisch anrüchige Palais macht. Es ist ein warmer Abend, es wird getanzt, dann aber auch gegen den immer autoritärer regierenden König demonstriert. Ein Beobachter kommentiert mit dem berühmt gewordenen Satz: „C’est bien un bal napolitain car nous dansons sur un volcan!“[20] Einige Tage später kommt es zum Ausbruch des Vulkans: Am 26. Juli ordnet Karl X. in den sogenannten Juli-Ordonnanzen an, die Pressezensur einzuführen und das Wahlrecht einzuschränken. Im Garten des Palais Royal wird der Text der Ordonnanzen verbreitet, wie die Lithographie Hyppolyte Bellanges zeigt.[21]
Dort ist, wie ein zeitgenössischer Beobachter schreibt, die Empörung groß und die Erregung auf ihrem Siedepunkt. „Sur chaque banc surgissent de nouveaux Camille Desmoulins“.[22]
Die Polizei schreitet ein, aber vergebens.
Die ersten Barrikaden werden in den umliegenden Straßen errichtet. Durch den Aufstand in den Trois Gloirieuses, den „drei glorreichen Tagen“ des 27./28./29. Juli, wird Karl X. zur Abdankung gezwungen.
Dieses Gemälde von Horace Vernet zeigt Louis – Philippe, wie er am 31. Juli das Palais Royal verlässt, um sich in das Hôtel de Ville zu begeben.[23] Dort wird er von den Vertretern des liberalen Großbürgertums empfangen, das ihn einige Tage danach zum „König der Franzosen“ erhebt.
So haben zwei Revolutionen ihren Ausgang im Palais Royal genommen.
Im Garten der Lüste
Das Palais Royal war aber in den Jahren zwischen 1880 und 1930 nicht nur ein revolutionärer Freiraum und ein politischer Vulkan, sondern auch -modern ausgedrückt- das Eros-Center von Paris.
Jacques-Antoine Dulaure nennt in seinen Nouvelles Descriptions des curiosités de Paris aus dem Jahr 1787 das Palais Royal „ le centre des plaisirs“ von Paris[24]. Der Garten der Lüste hatte einerseits eine große Anziehungskraft, stieß aber auch ab. Für Louis Sebastien Mercier war es „le temple de la volupté“, ja eine „scheußliche Kloake mitten in der Stadt“. Auf einem Punkt sei hier der ganze Skandal der Prostitution konzentriert.[25]
Heinrich von Kleist schreibt in einem Brief aus Paris vom 29. Juli 1801: „Auf dem Rückwege gehe ich durch das Palais Royal, wo man ganz Paris kennenlernen kann, mit all seinen Greueln und sogenannten Freuden- es ist kein sinnliches Bedürfnis, das hier nicht bis zum Ekel befriedigt, keine Tugend, die hier nicht mit Frechheit verspottet, keine Infamie, die hier nicht nach Prinzipien begangen würde.“[26] Ludwig Börne, von dem schon die Rede war, bewunderte zwar einerseits das politische Leben im Palais Royal, bezeichnete es aber andererseits mit Abscheu als das „Lustlager“, das wohl allen bekannt sei. „Die Armut ist vergoldet, der Hunger scherzt, das Laster lächelt.“ [27]Im Allgemeinen trug aber gerade dieses „lächelnde Laster“ ganz wesentlich zur Attraktivität des Palais Royal in dessen wilden Jahren zwischen 1780 und 1830 bei. Nicht von ungefähr führt der erste Weg des im vorigen Bericht zitierten russischen Reisenden Karamansin ins Palais Royal.[28] Für die europäischen Eliten dieser Zeit war Paris, und da vor allem das Palais Royal, die Hauptstadt des Vergnügens und der Freizügigkeit, capitale du plaisir et du libertinage.[29]
Es gab auch entsprechende Reiseführer, in denen die „fröhlichen und galanten Abenden“ im Palais Royal anschaulich beschrieben wurden. Da lässt sich der Gast gleich von zwei „filles publiques“ verwöhnen und eine Bedienstete serviert dazu edle Speisen und Getränke, an denen es im Palais Royal ja auch nicht mangelte.
Und wer es ganz genau wissen wollte, konnte einen Führer mit den Namen, Wohnungen und Tarifen der käuflichen „filles du Palais-Royal“ erstehen. Deren „Rang“ und entsprechend auch deren Tarife waren sehr unterschiedlich und die Angebote manchmal so umfangreich und differenziert wie die damals im Palais Royal „erfundenen“ kulinarischen Menüs. Es muss also ein recht voluminöses Opus gewesen sein; zumal insgesamt im Palais Royal, dem wohl größten „marché aux putains“ der Geschichte, bis zu 2000 „filles“ ihrem Gewerbe nachgingen! 600-800 wohnten direkt in den Häusern, die den Garten des Palais Royal umgeben, die anderen waren sogenannte „hirondelles“ (Schwalben), die abends auf Freiersuche in die Galerien und den Garten kamen. [30]
Wie es da abends zuging, vermitteln die beiden nachfolgenden zeitgenössischen Darstellungen:
Hier handelt es sich um ein Ölgemälde von Louis Léopold Boilly (1761-1845).[31] Zu sehen ist eine einschlägige Szene in den Galerien des Palais Royal. Insgesamt fällt die deutliche Unterscheidung der schwarz gekleideten Männer und der weiß gekleideten Frauen auf. Darauf hat auch Balzac in seiner Beschreibung des Palais Royal in den „Verlorenen Illusionen“ hingewiesen:
„Das Fleisch der Schultern und der Brüste stach aus dem Dunkel der männlichen Kleidung hervor und bewirkte den prachtvollsten Gegensatz…“[32]
Auf dem Bild von Boilly sieht man einen Herrn hinter dem Zaun im Gespräch mit zwei Damen. Die Mitte bilden drei Figurengruppen mit jeweils einer hervorgehobenen weiß gekleideten Frau. Während der Mann hinter dem Zaun offenbar noch ein Anbahnungsgespräch führt, scheint sich das Paar daneben schon handelseinig zu sein, wie die besitzergreifende Geste des Mannes andeutet. Die Dame rechts davon –in Begleitung eines Kindes- bietet sich offenbar den beiden neben ihr stehenden Männern an. Manche „filles publiques“ mieteten sogar Kinder, um als angebliche „mère de famille“ ihre Chancen zu erhöhen.[33] Die Frau rechts im Bild streichelt das Murmeltier im Korb des Kindes, eine im 18. Jahrhundert anscheinend verbreitete allegorische Darstellung mit eindeutig sexueller Konnotation. Das Kind und die sich diskret im Hintergrund haltende Frau könnten auch ein Hinweis darauf sein, dass, wie Rétif de la Bretonne schreibt, im Garten des Palais Royal Kupplerinnen Jungen und Mädchen „im Alter der zartesten Unschuld“ anbieten und diese Opfer brutaler Freier werden.[34] Das am Pfeiler rechts angeheftete Plakat mit der Aufschrift „Avis aux sexes“ lässt keinen Zweifel, worum es in dieser Szenerie geht.
Eindeutig ist auch die nachfolgende Lithographie des böhmischen Malers und Grafikers Georg Emmanuel Opitz zeigt: Opitz kam 1814 wohl im Gefolge der siegreichen anti-napoleonischen Koalition nach Paris. 1819 erschien dann sein graphisches Hauptwerk, die 24 Charakterszenen aus dem Leben in Paris.
Dabei durfte natürlich das „lupanar à ciel ouvert“[35] nicht fehlen. Thema dieser kolorierten Lithografie ist der Ausgang der Boutique Nummer 113, der wohl bekanntesten „Spielhölle“ des Palais Royal mit dazu gehörendem Café und Bordell, die es Opitz besonders angetan hatte. Die Galerien des Palais Royal scheinen, folgt man diesen beiden Darstellungen, geradezu als Kontakthof gedient zu haben.[36]
Es gab aber auch noch andere Kontaktmöglichkeiten, wie die scheinbar „unschuldigen“ magasins prétextes, in denen aber nicht in erster Linie die ausgestellten Waren verkauft wurden. Aus einem Polizeibericht vom 21. August 1794 : « Les femmes publiques font plus que jamais publiquement commerce de leurs charmes en invitant les passants à venir acheter leurs marchandises.“[37] Es gab außerdem die Cafés wie das berühmte Café des Aveugles oder das noble Café de Foy, in denen die „cocottes de luxe“ auf eine spendable Kundschaft warteten. Und nicht zuletzt hatte das Théâtre de Montpensier seinen Platz im erotischen Angebot des Palais Royal.[38]
Louis Binet 1744-1800), Foyer du théâtre Montansier im Palais Royal
Aus dem schon zitierten Polizeibericht erfährt man, dass ein Drittel der Plätze dieses Theaters, und zwar die allerbesten, für die „femmes publiques“ reserviert waren. Auf dieser zeitgenössischen Darstellung sieht man auf der rechten Seite einen Theaterbesucher, der mit einem Opernglas die auf der Balustrade aufgereihten Damen begutachtet, in der Mitte sprechen zwei Damen mögliche Kunden an, wobei sie ihren Avancen durch entsprechende Armbewegungen Nachdruck verleihen: „la salle du théâtre est ainsi transfigurée en un vaste champ de bataille érotique où viennent se négocier les plaisirs.“[39]
Für den hier dargestellten erotischen Kampf musste man natürlich entsprechend gerüstet sein. Ein Mittel dafür waren die Buchhandlungen, die in den „années folles“ des Palais besonders beliebt waren. Da gab es zum Beispiel die Buchhandlung Pierre- Honoré-Antoine Pain, wo die einschlägigen erotischen Bestseller der Zeit auslagen und verkauft wurden. Die meisten dieser Buchhandlungen hatten bis spät in die Nacht geöffnet. Die Lektüre eines erotischen Textes im Kerzenschein diente manchen Besuchern des Palais Royal als „apéritif sexuel“, bevor sie unter den Arkaden des Palais oder nach einer Vorstellung im théâtre Montansier von der Imagination in die Realität wechselten.[40]
Und dann gehörte dazu natürlich auch ein passendes outfit. Im 18. Jahrhundert wurden Modezeichnungen immer beliebter, die in Almanachen, Zeitschriften oder illustrierten Büchern veröffentlicht wurden. Ein um 1800 bekannter Modezeichner war Claude-Louis Desrais (1746-1816), der eine Serie von Grafiken zum Thema Mode du Jour (Mode des Tages) anfertigte. Die Nummer 5 dieser Serie trägt den Titel „LE SÉRAIL EN BOUTIQUE“.[41]
Die Szene ist sehr wahrscheinlich im Palais Royal angesiedelt, wofür auch die Werbung für das Théâtre Montpensier an der Wand links spricht. Schauplatz ist eine Boutique, ein magasin prétexte. Der Ausdruck sérail ist eine Anspielung an die Harems und überhöht damit gewissermaßen die ziemlich drastische Bordell- Szenerie mit den ostentativ barbusigen „filles de joie“. Und die beiden Herren rechts und links, die dem Treiben zusehen bzw. dabei sind, sich ihm anzuschließen, sind von Desrais modisch ausstaffiert.
Restif de la Bretonne, der wie kein anderer das nächtliche Palais Royal beobachtet und beschrieben hat, ging – nicht ohne ein gewisses Bedauern- davon aus, dass mit der Französischen Revolution strengere Sitten dem dortigen libertären Treiben ein Ende machen würde: „Nous posons en fait, que si notre admirable Revolution se consolide, comme il y a tout lieu de le croire, elle élevera tellement l’âme a tout ce qui porte le nom de Français, que dans dix ans, on ne trouvera plus de Filles-publiques….“[42] Aber genau das Gegenteil trat ein: 1791 wurde die Prostitution von der Liste der Vergehen gestrichen und damit legalisiert, wozu auch die 2100 „demoiselles du Palais-Royal“ mit ihrer Eingabe an die Generalstände beigetragen hatten. [43]
Die Folge war, dass das Palais Royal als erotisches Zentrum zunächst noch weiter an Bedeutung gewann.[44] Das änderte sich allerdings seit den 1820-er Jahren: 1822 verbot der Polizeipräfekt die Prostitution im Palais Royal zwischen dem 15. Dezember und dem 15. Januar, um ungestörte und unabgelenkte Einkäufe zu Weihnachten und zum neuen Jahr zu gewährleisten. Diese Maßnahme wurde in den folgenden Jahren erneuert, bis dann 1830 ein generelles Prostitutionsverbot im Palais erlassen wurde: Das Ende der „wilden Jahre“. 1836 wurde dann auch noch das Glücksspiel im Palais Royal verboten und so sein Niedergang besiegelt. Die Prostituierten suchten sich neue Jagdgebiete, die noblen Schmuckgeschäfte in den Arkaden zogen zur place Vendôme um und für das Flanieren boten sich die neuen Passagen und die grands boulevards an. Das Palais Royal galt als „un quartier qui meurt“, [45] bis es dann als Ort der Literatur und Oase der Ruhe mitten in Paris zu neuem Leben erwachte. Doch das ist eine andere Geschichte und ein anderer Blog-Beitrag:
[1] Die Charakterisierung des Palais Royal als revolutionärer Freiraum und Sündenbabel im Titel dieses Berichts habe ich von Uwe Schultz, Paris. Literarische Spaziergänge, S. 197 übernommen.
[2] Zum historischen Hintergrund siehe: François Furet/Denis Richard, Die Französische Revolution. Frankfurt 1968, S. 84f (Die drei Revolutionen des Sommers 1789)
[3] Zitiert in: https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/d-68812759.html Vollständige deutsche Version in: Politische Bildung, Materialien für den Unterricht. Die Französische Revolution. Stuttgart 1978, S. 43ff (nach Gustav Landauer, Hrsg, Briefe aus der Französischen Revolution, Bd 1, Ffm 1919, S. 148-156)
[4] „Que la face des choses est changée depuis trois jours! Dimanche, tout Paris était consterné du renvoi de M. Necker; (…) Je vais sur les trois heures au Palais-Royal; je gémissais, au milieu d’un groupe, sur notre lâcheté à tous, lorsque trois jeunes gens passent, se tenant par la main et criant: Aux armes! Je me joins à eux; on voit mon zèle, on m’entoure, on me presse de monter sur une table: dans la minute, j’ai autour de moi six mille personnes. ‚Citoyens, dis-je alors, vous savez que la nation avait demandé que Necker lui fût conservé, qu’on lui élevât un monument, et on l’a chassé! Peut-on vous braver plus insolemment? Après ce coup, ils vont tout oser, et, pour cette nuit, ils méditent, ils disposent peut-être une Saint-Barthélemy pour les patriotes. (…) je parlais sans ordre: ‚Aux armes! Ai-je dit, aux armes. Prenons tous des cocardes vertres, couleur de l’espérance.“.
Œuvres de Camille Desmoulins. Bd 1. Herausgegeben von der Bibliothéque Nationale. Collection des meilleurs auteurs anciens et modernes. Paris 1871, S. 8/9
[5] Edmond et Jules de Goncourt, Histoire de la société française pendant la Révolution. Paris: Éditions du Boucher 2002 (Nachdruck der Ausgabe von 1889), S. 156 (Elektronische Ausgabe bei books.google.de)
[6] Kupferstich aus dem Jahr 1802 von Pierre Gabriel Berthault (1748–1819) nach Zeichnung von Jean-Louis Prieur d. J. (1759–1795). Aus der Folge: Tableaux de la Révolution Française, 1791/92. Aus: https://commons.wikimedia.org/
[13] Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris während der Französischen Revolution geschrieben. Herausgegeben von Helmut König. Berlin: Rütten und Loening 1961, S. 165/166
[14] Siehe: Hermann Kesten, Dichter im Café. Ullstein Buch 37105. Ffm/Berlin/Wien 1983, S. 56/57
[26] Heinrich von Kleist, Ekel in der Menge. Brief aus Paris vom 29. Juli 1801. Zit in: Karsten Witte (Hrsg), Paris. Deutsche Republikaner reisen. FFM 1980 (Insel Taschenbuch 389) S. 68
[27] Ludwig Börne, Schilderungen aus Paris 1822 und 1823. In: Gesammelte Schriften 1829.
[28] N.M.Karamansin, Brief eines russischen Reisenden. Aus: Europa erlesen: Paris. Herausgegeben von Joachim Dennhardt. Klagenfurt 2015, S.34/37
[29] Clyde Plumauzille, Le ‘marché aux putains’ : économies sexuelles et dynamique spatiales du Palais-Royal dans le Paris révolutionnaire. https://journals.openedition.org/gss/2943
Ein anderer, nicht nur auf das Palais Royal beschränkter entsprechender zeitgenössischer Reiseführer: Almanach des demoiselles de Paris, de tout genre et de toutes les classes, ou calendrier du plaisir, contenant leurs noms, demeures, âges, tailles, figures, et leurs autres appas ; leurs caractères, talens, origines, aventures, et le prix de leurs charmes. Corrigé, augmenté, Et suivi des recherches profondes sur les filles Angloises, Espagnoles, Italiennes et Allemandes. Pour l’année 1792. Paphos : imprimerie de l’amour, 1792. http://www.pileface.com/sollers/pdf/cataloguelivre052019WEB.pdf
Le Palais Royal. Katalog der Ausstellung im Musée Carnavalet 1988
Le ‚Palais des Fées‘: Le Palais-Royal, centre des amusements de la capitale de 1780 à 1815. Interview mit Florence Köll, Autorin einer Doktorarbeit über « Le résumé de Paris »? Le Palais-Royal de 1780 à 1815 : commerces, logements, divertissements . https://chartes.hypotheses.org/5640 2019
Guy Lambert/Dominique Massounie, Le Palais-Royal. Ed. du Patrimoine 2010
Clyde Plumauzille, Le ‘marché aux putains’ : économies sexuelles et dynamique spatiales du Palais-Royal dans le Paris révolutionnaire. https://journals.openedition.org/gss/2943
Rodolphe Trouilleux, Le Palais-Royal. Un demi-siècle de folies 1780-1830. Bernard Giovanangeli Éditeur 2010
René Héron de Villefosse: L’anti-Versailles ou le Palais-Royal de Philippe Egalité. Paris: Dullis 1974
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