Die Zeitung Libération feiert ihren 50. Geburtstag: Eine Bilderstrecke

5.2.1973: Die Geburtsstunde von Libération

Wenn Sie jeden Morgen eine freie Tageszeitung haben wollen…

Am 5.2.1973 erschien die erste Ausgabe der Tageszeitung Libération. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte auch Jean-Paul Sartre. Die Zeitung verstand sich als Sprachrohr einer Gegenöffentlichkeit, als Stimme des Volkes (du peuple) und Vertreterin eines Konzepts der direkten Demokratie. Sie versprach, ohne Werbung und Einfluss-nehmende Geldgeber auszukommen. Libération wurde damit auch zum großen Vorbild für die fünf Jahre später gegründete Berliner Tageszeitung/taz.

Eine große Bedeutung spielten für Libération von Anfang an Fotos. Es wurde eine eigene unabhängige Fotoagentur engagierter Fotografen in Selbstverwaltung gegründet, die für Libération arbeiteten. Auch wenn diese Agentur nur bis Ende der 1970-er Jahre bestand , blieben die Fotos ein Markenzeichen der Zeitung. Seit den 1980-er Jahren bekamen sie sogar in einem Prozess zunehmender Professionalisierung einen besonderen Stellenwert: Sie waren nicht einfach nur Illustrationen zu Texten, sondern erhielten eine Eigenständigkeit, die es in dieser Weise in anderen Presseorganen nicht gab. Und dabei genossen die Fotografen auch eine außergewöhnliche Freiheit. Deshalb waren viele hervorragende Fotografen bereit, trotz eines vergleichsweise niedrigen Haustarifs für Libération zu arbeiten.

Es bot sich daher an, zum 50-jährigen Jubiläum eine Ausstellung von Titelfotos der Zeitung zu machen. Sie fand statt im cour d’honneur des hôtel de Soubise im Pariser Marais.

Dort ist nämlich der Sitz der Archives Nationales, des Staatsarchivs, dem anlässlich des Jubiläums das Archiv von Libération übergeben wurde.

Nachfolgend ist eine Auswahl der dort präsentierten Bilder wiedergegeben, teilweise mit kleinen Erläuterungen der jeweiligen Fotografen. Dazu kommen einige weitere von mir ausgewählte Aufmacher-Fotos und Titelseiten.

Juli 1973 (Christian Weiss)

Ein Foto der Uhrenfabrik LIP in Besançon. Die Beschäftigten machten 1973 Europa-weit Furore: Im Kampf gegen Entlassungen nahmen sie Produktion und Verkauf von Armbanduhren in die eigene Hand. Sie wurden damit Vorbild für zahlreiche deutsche Unternehmen in Selbstverwaltung, die damals gegründet wurden.  Christian Weiss, ein Gründer des selbstverwalteten Fotolib-Agentur, hatte zu LIP natürlich ein besonders emotionales und professionelles Verhältnis.

11. September 1973: Der Staatsstreich in Chile  (Jean Noël Darde)

Der Eingang des vom Militär gestürmten Präsidentenpalais in Santiago de Chile. Der gewählte Präsident, Salvador Allende, war vom Militär gestürzt worden und hatte Selbstmord begangen.

10. September 1976

Dass Libération Mao, dem Gründer der Volksrepublik China, anlässlich dessen Tod eine ganze Titelseite widmete, ist nicht weiter erstaunlich, waren doch die ersten Mitarbeiter der Zeitung überwiegend militante Maoisten. Erstaunlicher ist schon, dass die ganze Seite chinesische Schriftzeichen verwendet. Die handgeschriebene bzw. -gemalte Schlagzeile bezieht sich auf die Mao verherrlichende Hymne der Kulturrevolution:  Der Osten ist rot. Die zweite Zeile ist allerdings abgewandelt: statt des chinesischen „Die Sonne geht auf“ geht auf der Titelseite von Libération anlässlich des Todes von Mao die Sonne unter… [1]

16.11.1976

„Gabin ist tot. Giscard steckt in der Scheiße. Der Beaujolais ist gut. Frankreich macht weiter“

Der Schauspieler Jean Gabin war am Vortag gestorben, die Auseinandersetzung zwischen dem Prädidenten Valéry Giscard d’Estaing und seinem Ministerpräsidenten Jacques Chirac erreichte mit der Gründung einer neuen rechten Partei, der RPR, einen neuen Höhepunkt, aber wie Libération zu dieser Titelseite schreibt: Der Beaujolais ist süffig und Frankreich ewig…[2]

August 1977 Larzac  (Armand Borland)

Demonstation von Bauern und Pazifisten gegen die seit Beginn der 1970-er Jahre geplante Erweiterung eines Militärgeländes im Larzac, einer Hochebene im französischen Zentralmassiv. Teilweise kamen dort über 100 000 Teilnehmer zu Protestkundgebungen zusammen. Der Kampf dauerte 10 Jahre: Erst als 1981 François Mitterand zum Staatspräsidenten gewählt wurde, wurden die Pläne zum Ausbau des Militärgeländes verworfen.

Mai 1981 (Jacques Torredano)

Das Foto zeigt Giscard d’Estaing auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung. Nach der Niederlage Giscards platzierte Libération das Foto auf der Titelseite mit dem Titel Rideau (Der Vorhang fällt)

17. April 1980:   Sartre geht dahin…

Am 15. April 1980 starb Jean-Paul Sartre, einer der Gründungsväter von Libération. Die Zeitung ehrte ihn mit einem ganzseitigen Foto auf dem Titelblatt: eine Premiere- begleitet von Zitaten aus der autobiographischen Schrift Sartres Les Mots.[3]

17. September 1981

„Todesstrafe für die Guillotine“: Titelseite von Libération anlässlich der Parlamentsdebatte über die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich. Es handelt sich dabei um ein vom damaligen Justizminister Robert Badinter verfolgtes und schließlich -auch gegen erhebliche Bedenken in der öffentlichen Meinung-  erfolgreich durchgesetztes Projekt. Dass der Anfang 2024 verstorbene Badinter 2025 ins Pantheon aufgenommen werden  soll, ist wesentlich auch dieser Initiative zu verdanken.

  1. Dezember 1981

1982 Paris, La Goutte d’Or (Martine Barrat)

Martine Barrat schreibt zu diesem Foto: „Als Aicha Guerma hier gesprungen ist, hatte ich große Angst. Sie sagte mir, sie wolle fliegen. Und danach: Ich wäre gerne ein Schmetterling. 1982 lebte die Familie Guerma in einem Häuschen von 22 Quadratmetern mit ihren sieben Kindern im Goutte d’Or. Herr Guerma verließ um 6 Uhr morgens das Haus und kam spät in der Nacht zurück. Er arbeitete als Spülhilfe in einem Restaurant. Eine größere Wohnung konnte er nicht finden.“

10. Februar 1985, Saint-Ouen (Jean-Claude Coutausse)

Das Foto zeigt den Vorsitzenden der KPF, Georges Marchais, beim 25. Kongress der Partei. Jean-Claude Coutausse zu diesem Foto:  „Ein Foto für die Agence France press (AFP) zu machen, für die ich damals arbeitete, bedeutete, ein gefälliges Foto für Jedermann zu machen, und das nahm man  in Kauf. Bei Libé war das ganz anders. Sie lassen dir eine ungeheure Freiheit des Ausdrucks, um dich an einen dir  bekannten Leserkreis zu wenden. Das machte Bilder möglich, die aus dem üblichen Rahmen fallen. So wie dieses Foto von Marchais, von dem man nur die Augenbrauen sieht.“

11. November 1989, West-Berlin, Fall der Mauer (Raymond Depardon)

Raymond Depardon zu diesem Bild: „Einen Tag nach dem Fall der Mauer hat mich Libération nach Berlin geschickt. Ich habe schnell dieses Foto (rechts unten W.J.) gemacht, das Libé als erste Zeitung veröffentlicht hat. Es gab noch nicht viele ausländischen Fotografen, sie hatten noch nicht genug Zeit gehabt zu kommen. Ich konnte kein Deutsch. Manchmal hatte ich den Eindruck, in einem science-fiction-Film zu sein. Vielleicht war ich weniger sentimental als die deutschen Fotografen. … Man fühlte, dass man einen historischen Augenblick erlebte.“

Tod von Marlene Dietrich Mai 1992

L’ange passe nimmt Bezug auf die Rolle Marlene Dietrichs in dem Film „Der blaue Engel“, der Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“. Un ange passe bezeichnet im Französischen aber auch einen Moment der Stille in einem Gespräch: Ein wunderschönes Foto mit einem dazu passenden Wort…

November 1992 (Alexis Cordessis)

Alexis Cordesse zu diesem Bild: „Laurent war gerade 18 Jahre alt, als er erfuhr, dass er AIDS hatte.  Schwer erkrankt konnte er nicht mehr arbeiten und allein leben und kehrte zu seinen Eltern zurück. Ich habe über die letzten drei Wochen vor seinem Tod im Alter von 22 Jahren eine Reportage gemacht. Er wollte ein letztes Mal das Meer sehen, zusammen mit seinen Nächsten, die einverstanden waren, dass ich sie begleite.“

1995 Grozny. (Laurent van der Stockt)

Dieses Bild wurde aufgenommen während des Tschetschenien-Krieges.  Dazu Laurent van der Stockt:

„Dieses Foto entstand im Keller des Parlaments-Gebäudes, das bis zu seiner Zerstörung durch russische Bomben von tschetschenischen Kämpfern verteidigt wurde. Es sind russische Soldaten, die in Gefangenschaft geraten waren. Sie wussten nicht,  wo  sie waren. Sie hatten  keine Ahnung, wo Tschetschenien liegt. Sie waren nur kleine Räder in einer riesigen Maschine, die über sie hinweg ging: Kanonenfutter.“

26.11.1997  Tod der Sängerin Barbara

Meine schönste Liebesgeschichte, das seid ihr…

13.7.1998 (Charles Platiau)

„La vie en bleu“ : Am 12. Juli 1998 besiegte die  französische Fußball-Nationalmannschaft Brasilien mit 3:0 und wurde damit Fußballweltmeister. Der Spieler auf dem Titelbild ist Didier Deschamps, der Kapitän der Weltmeistermannschaft und spätere Trainer des französischen Nationalteams.

Oktober 1998 (Richard Dumas): Godard dans l’œil de Libé

Der Regisseur Jean-Luc Godard kurz vor einem Interview mit Libération. In einem Raum der Redaktion, rue Béranger, gab es ein großes rundes Fenster mit Blick auf „tout Paris“. Das ist  „das  Auge von Libération“,  l‘œil de Libé.

22.4.2002 (Antonio Ribeiro)

NON mit dem Portrait von Jean-Marie Le Pen. Der hatte im ersten Wahlgang für die französische Präsidentschaft den sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin knapp überflügelt. Damit hatte zum ersten Mal ein rechtsradikaler Politiker die entscheidende Stichwahl (gegen Jacques Chirac) erreicht.

29.4.2002 Paris, Place  de la Nation (Guillaume Herbaut)

Guillaume Herbaut zu dem Foto: „Place de la Nation zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahl. Als ich dieses Foto machte, habe ich zwei Bilder gesehen: la Liberté guidant le peuple von Delacroix und le Radeau de la Méduse von Géricault. Die Darstellung der Republik kurz vor dem Untergang, und wir klammen uns an dem Floß fest. Das Foto  erschien auf der Titelseite  der Ausgabe zum 1. Mai mit der Aufschrift „Marchons“. Ich habe es auf den Demonstrationszügen gesehen.“

Um einen Sieg Le Pens zu verhindern, stimmten im zweiten Wahlgang auch viele linke Wähler für Chirac: So wurde er mit 82,21 % der Stimmen in eine zweite Amtszeit gewählt. Wenn bei den nächsten Präsidentschaftswahlen die Tochter Jean-Marie Le Pens, Marine Le Pen, wieder im zweiten Wahlgang vertreten sein sollte, was zu erwarten ist, wird man kaum wieder mit einer solchen republikanischen Abwehrfront rechnen können…

2003 Das bombardierte Irak (Bruno Stevens)

Bruno Stevens zu dem Foto: „Ich war zum ersten Mal im Oktober 2002 im Irak, dann wieder Ende Januar 2003 während des Krieges und bin bis Ende Mai dort geblieben.  …Dieses Foto habe ich an einem Nachmittag in Bagdad aufgenommen, auf einer Straße, die ein sehr armes und schiitisches Stadtviertel von den anderen Stadtteilen trennt. Ein starkes Bombardement hatte etwa 20 zivile Opfer verursacht. Auf etwa 200 Metern gab es Schäden. Der Himmel war bedeckt wie bei einem Sandsturm. Eine Frau stand unter Schock. Ihr Bruder war gerade getötet worden. Zehn Jahre später, 2013, bin ich nach Bagdad zurückgekehrt und habe genau diesen Ort wieder aufgesucht. Ich wollte wissen, wie der Krieg das Leben der von mir fotografierten Menschen verändert hatte. Ich habe auch den Besitzer des zerstörten Geschäfts getroffen, den man auf dem Foto  hinter seinem Auto sieht. Er war überhaupt nicht zufrieden mich zu sehen, der ich aus dem Westen kam. Der Krieg hatte sein Haus zerstört, vielleicht sein Leben.“

Allerdings hatte sich Frankreich (wie auch Deutschland) damals geweigert, an dem Krieg teilzunehmen, der auf der Grundlage bewusster Falschinformationen von den USA  betrieben wurde.

Oktober 2006: Evacuation du squat de Cachan (Diane Grimonet)

Dazu Diane Grimonet: „Das war damals die größte Hausbesetzung von Frankreich. Etwa 700 Männer, Frauen, Alleinstehende und Familien, wohnsitzlos oder ohne Aufenthaltsgenehmigung (sans-papiers), lebten seit 2003 in einem ehemaligen Studentenwohnheim von Cachan. Seit Anfang August 2006 wurden sie von dort vertrieben.“

14. Juni 2011

2011 feierte der französische Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier sein 35-jähriges berufliches Jubiläum: 1976 hatte er seine erste eigene Kollektion vorgestellt. Zum Anlass seines Jubiläums wurde Gaultier von Libération eingeladen, um dort einige Tage als Modejournalist zu arbeiten. Dabei entstand eine ausgefallene Idee, wie sie wohl auch nur dort entstehen kann: Gaultier stattete nämlich einige Mitarbeiter/innen mit Kleidern aus, die aus Zeitungsseiten von Libération angefertigt waren… : Habiller des Libé en Libé dans Libé.

11. September 2011

10. Januar 2015, Place de la République: Je suis Charlie (Johann Rousselot)

Große Solidaritätsdemonstration nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Terroristen drangen mit Sturmgewehren in die Räume der Redaktion ein, in denen gerade eine Konferenz stattfand. 12 Menschen wurden erschossen, 11 verletzt.

7. Juni 2015 Insel Kos: Der Tourist und die Migranten (Oliver Jobard)

Oliver Jobard:  „Ich war auf der Insel,  um eine syrische Familie bei ihrer Ankunft in Griechenland zu begleiten. Aber die Insel Kos ist ziemlich groß und die Boote kamen nicht immer an der gleichen Stelle an. An diesem Tag war ich an einem sehr touristischen Ort mit Liegen und Sonnenschirmen. Es war früh am Morgen und ein einziger Tourist badete gerade. Als das Boot sich näherte, bekam er Angst und entfernte sich.  Es waren Syrer in dem Boot. Kaum waren sie an Land, streckten sie sich auf den Liegen aus, erschöpft von ihrer Fahrt.“

1.Dezember 2018 Paris: Fièvre jaune  (gelbes Fieber)  Boby

Dazu Boby, der Fotograf: „Ich habe noch niemals so viel Zerstörung gesehen. Und auch nie so viele verschiedene Leute, die sich da zusammengetan hatten: Junge, Alte, man sah, dass das für manche noch ganz ungewohnt war: Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, ohne Helme. Ein Familienvater nahm eine Absperrung und schrie: Vorwärts Leute, wie im Mittelalter. Die Gelbwesten hatten die rond-points (Kreisel) verlassen und die Champs-Élysées gestürmt.“

22. Februar 2019 Place de la République: Greta  (Lucile Boiron)

Greta Thunberg auf einer Klima-Demonstration von Schülern und Studenten auf der Place de  la République in Paris

15. April 2019: „Notre drame“ (Stephane Lagoutte)

Stephane Lagoutte zu dem Foto: „Ich habe mich, wie die Menge, zuerst an das Geländer der Brücke gedrängt, um die brennende Kathedrale zu fotografieren. Als es Nacht wurde, habe ich diese beiden auf dem Trottoir sitzenden Personen gesehen, mit dem Rücken zum Feuer. Ich habe gehofft, die beiden Szenen in einem Bild zu verbinden. Dieses Foto, das am nächsten Tag in Libération veröffentlicht wurde, ging viral. Zwei Jahre später erfuhr ich die Geschichte der beiden. Damals waren sie befreundet. Und genau zu diesem Zeitpunkt haben sie sich zum ersten Mal umarmt. Als Freunde dieses Foto sahen, dachten sie, die beiden wären ein Paar. Aber das kam erst danach. Sie hatten das Foto im musée Carnavalet gesehen, das einen Abzug gekauft hatte. Sie haben mich zu ihrer Hochzeit eingeladen, vier Jahre nach dem Brand von Notre-Dame.“

29. März 2020 Paris (Frédéric Stucin)

Stucin hat während der rigiden französischen Covid- Ausgangssperre Fotos vom menschenleeren Paris gemacht: keine touristischen Orte, sondern Fotos seiner vertrauten, nun geradezu surrealen Umgebung.

2. März 2022 Ukraine (Rafael Yaghobzadeh)

Rafael Yaghobzadeh: Das Foto wurde aufgenommen in Butscha am 2. Mai, einen Tag bevor die Russen die Stadt einnahmen und vor den russischen Massakern. Das junge Mädchen steht mitten auf der völlig verbrannten Straße. Es ist die Bahnhofstraße, die Hauptverkehrsader der Stadt. … Nach der Befreiung der Stadt und der Entdeckung der russischen Massaker bin ich nach Butscha zurückgekehrt. Ich konnte das junge Mädchen nicht finden, um ihr das Foto zu zeigen, das auf der ersten Seite von Libération abgedruckt wurde.

26. Juli 2022: Macrons olympische Bewährungsprobe

26. September 2022: Frau, Leben, Freiheit

„Trotz der Repression lässt die Mobilisation im Iran nicht nach. Und das, was am Anfang eine Bewegung für die Rechte der Frauen war, wird zu einem Aufstand gegen das Regime.“

11. Dezember 2023: Immigration; das Frankreich, das hilft

Anlässlich der heftigen, teilweise von extremer Xenophobie geprägten Debatten um ein neues Einwanderungsgesetz, das an diesem Tag in der Nationalversammlung behandelt wird,  macht Libération seinen Aufmacher mit dem Frankreich, das den exilés à la rue, den auf der Straße lebenden Flüchtlingen, hilft“ – ob  in Schulen, Vereinen, Sporthallen, Wohnungen….

21. Februar 2024: Missak und Mélinée Manouchian werden ins Pantheon aufgenommen

Der Armenier Missak Manouchian wurde am 21. Februar 2024 mit seiner Frau Mélinée ins Pantheon aufgenommen, die höchste Ehre, die Frankreich zu vergeben hat. Manouchian war im Zweiten Weltkrieg  Leiter einer Gruppe von ausländischen Widerstandskämpfern gegen die deutschen Besatzer. Er ist der erste Ausländer und Kommunist im Pantheon. „La France enfin reconnaissante“ – (das endlich dankbare Frankreich) bezieht sich auf die Inschrift auf dem Portikus des Pantheons: la patrie reconnaissante. Das enfin drückt aus, dass es endlich Zeit sei für die Anerkennung des Engagements der ausländischen Widerstandskämpfer.


[1] Libé fête son demi-siècle : 1976, les Mao pour le dire – Libération (liberation.fr)

[2] http://unes.liberation.fr/detail.cfm?idpicture=217572030

[3] Später hat Libération durchaus auch die Schattenseiten von Sartre thematisiert. Siehe die Buchbesprechung des damaligen Chefredakteurs Laurent Joffrin über die Auseinandersetzung zwischen Sartre und Camus: https://www.liberation.fr/debats/2019/04/23/albert-camus-a-la-une_1722938/ Vielen Dank, Herr Schläger, für diesen Hinweis.

Wimmelbild und Suchspiel: Das offizielle Olympiaplakat Paris 2024.  Was zu sehen ist und was nicht….

Anfang März 2024 präsentierte das Organisationskomitee das offizielle Plakat für die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 in Paris.

Im März wurden die beiden Hälften des Plakats -jeweils kurz und alternierend mit anderer Werbung- auf Plakatwänden der Stadt präsentiert.

Die linke Seite bezieht sich auf die Olympischen Spiele (26. Juli bis 11. August),  die rechte -hier gerade auf der Plakatwand zu sehen- auf die Paralympischen Spiele (28. August bis 8. September). Es handelt sich um eine „poetisch-futuristische Darstellung“ (Libération) mit etwa 40 000 Figuren und 47 Wettbewerben, also, ganz anders als die bisherigen offiziellen Olympiaplakate, um ein echtes Wimmelbild.[1]  

Unschwer zu erkennen ist das olympische Logo, und zwar gleich zweimal: auf der linken, olympischen, wie auf der rechten, paralympischen Seite.

Ganz deutlich in der Mitte des Plakats ist auch das olympische Maskottchen zu erkennen.

Es heißt Phryge, in Anlehnung an die phrygischen Mützen aus der Zeit der Französischen Revolution, denen das Maskottchen nachempfunden ist. Die phrygische Mütze gehört zu den Symbolen der Französischen Republik, auch Marianne trägt eine. So sollen Name und Design des blau-weiß-roten Maskottchens mit seinen Sportschuhen das sportbegeisterte Frankreich und seine Spiele repräsentieren.[2]

Das rote Maskottchen ist passender Weise über dem Obelisken auf der place de la Concorde positioniert, wo der letzte französische König Ludwig XVI. und seine Frau Marie-Antoinette guillotiniert wurden… Soll das an die Köpfe enthaupteter tatsächlicher oder angeblicher Feinde der Republik erinnern, die während der Französischen Revolution auf Piken aufgespießt  und triumphierend durch die Straßen getragen wurden? Wohl kaum! Das würde doch nicht zu dem unbeschwerten olympischen Jahrmarktstreiben des Plakats passen. Honni soit, qui mal y pense… Auf der place de la Concorde ist eine große Zuschauertribüne aufgebaut: Auf dem Platz werden ja mehrere neue olympische Straßensportarten ausgetragen: Breakdance, BMX, Skateboard, 3×3-Basketball 

Die olympische Flamme selbst fehlt noch auf dem Plakat. Denn wo die nach dem Fackellauf durch Frankreich letztendlich aufgestellt werden soll, ist noch nicht bekannt. Thomas Bach, der Präsident des IOC, hat in einem Interview mit Le Monde (19.3.2024) versichert, es werde sich um einen würdigen und bedeutsamen Platz handeln, aber den wolle/könne er noch nicht verraten.  Also ist auf dem Plakat nur eine noch nicht erleuchtete Fackel zu sehen. Sie ist im Hafen von Marseille postiert, wo sie am 8. Mai ankommen und dann einen Parcours durch ganz Frankreich bis nach Paris absolvieren wird.

Über den Hafen und die Fackel fliegt die Patrouille Frankreichs – hier allerdings nur mit 8 statt der obligatorischen 9 Flugzeuge. Es gehört zur Tradtion des französischen Nationalfeiertags, dass am 14. Juli diese Formation die Champs-Élysées überfliegt, die französischen Nationalfarben hinter sich hierziehend. Die gibt es allerdings hier nicht. (Dazu später mehr).

Neben dem Obelisken sind auch andere prominente Bauwerke und Wahrzeichen von Paris zu sehen: Natürlich der Eiffelturm, inmitten des Karussell-ähnlichen Stade de France, des Olympiastadions….

…. darüber der Trocadero-Platz, auf dem die Eröffnungszeremonie der Spiele enden wird.

Mitten auf dem Platz eine hochgereckte Hand mit den olympischen Medaillen.

Rechts oben der Arc de Triomphe, auf dem gerade im Rahmen der paralympischen Spiele ein Tennisspiel von Rollstuhlfahrern stattfindet und durch den gerade ein Metro-Zug fährt…

… rechts unten das in den letzten Jahren für die Olympischen Spiele aufwändig restaurierte Grand Palais

Links unten der (ebenfalls frei gestaltete) pont Alexandre III., an dem -coûte que coûte-  die Freiwasser-Schwimmwettbewerbe starten sollen und das Triathlon-Schwimmen. Einen Plan B bei zu großer Wasserverschmutzung gibt es jedenfalls nicht ..[3] Auch Ruderboote sind hier zu sehen– obwohl die Ruderwettbewerbe natürlich nicht auf der Seine ausgetragen werden, sondern im Stade nautique von Vaires-sur-Marne. Der pont Alexandre ist übrigens voll mit Menschen, konkret Läufern. Das ist ein Hinweis auf den für den 10. August geplanten Volksmarathon, der genau auf dem Kurs des olympischen Marathons stattfinden wird.[4]

…. links oben der Invalidendom (zu dem später mehr): Also eine kleine Auswahl illustrer Pariser Sehenswürdigkeiten.

Aber es gibt auch kleine, wenn auch kaum weniger bedeutende Sehenswürdigkeiten auf dem Plakat. So links unterhalb des Grand Palais einen der vielen grünen Wallace-Brunnen, die in Paris seit den 1870-er Jahren kostenloses Trinkwasser spenden. Auf dem Plakat ist er allerdings überdimensioniert, damit man ihn auf dem Wimmelbild überhaupt wahrnehmen kann.

Dazu sind  47 olympische und paralympische Sportarten berücksichtigt worden. Hier eine kleine Auswahl:

Das Klettern

Die Reitwettbewerbe. Die  finden im Schlosspark von Versailles statt, der hier durch die charakteristische Parterre-Gestaltung entsprechend angedeutet ist.

Fußball und zwei Fechter im Rollstuhl auf dem Dach des Grand Palais. Die Fechtwettbewerbe der Olympiade werden zwar nicht auf, aber unter der Kuppel dort ausgetragen.

Boxer und Volleyball unter bzw. neben dem Eiffelturm. Der Ring der Boxer hängt übrigens an  Seilen in der Luft, vermutlich ein Hinweis auf die Seile, die den Boxring umgeben.[5]

Auf dem Dach der Metro, die gerade unter dem Arc de Triomphe durchfährt, findet ein Judo-Wettkampf statt. Der Ort passt sehr gut, weil diese Disziplin für Frankreich sehr medaillenträchtig ist…

Die Surfwettbewerbe finden in Tahiti statt, wo es eine „der schönsten und besten Wellen der Welt“ gibt, die hier eindrucksvoll anrollt.[6]

Entworfen hat das Plakat Ugo Gattoni, der seinen Namen, begleitet von einem Maskottchen, auf einer Aussichtsplattform über dem bunten olympischen Jahrmarktstreiben platziert hat. Getragen wird die Plattform übrigens von einer an ihrer phrygischen Mütze erkennbaren Marianne, dem Symbol Frankreichs.[7]

Bekannt geworden ist Gattoni durch seine quadratischen, seidenen und sehr teuren Hermès-Tücher (les carrés d’Hermès) wie zum Beispiel das Tuch Hippopolis, auf dem auch das Hermès-Logo abgebildet ist.

Gattoni hat seine Arbeiten so beschrieben: „ziemlich realistische Darstellungen in einem surrealistischen Universum“. Das gilt für die Hermès-Tücher und auch für das Olympiaplakat. Und immer sind die Darstellungen so vielfältig, dass der Betrachter zum Promenieren und Erkunden eingeladen wird. [8] Das Olympia-Plakat mit seinen Pariser Sehenswürdigkeiten und 47 Sportarten bietet sich geradezu für ein Suchspiel an. Darauf wurde anlässlich seiner Präsentation denn auch öfters hingewiesen. Das Stichwort dazu: Où est Charly? (deutsche Version: Wo ist Walter?)[9] Das ist eine Serie von Heften mit Wimmelbildern, auf denen jeweils ein Weltenbummler namens Charlie/Walter gefunden werden muss. Auf dem Olympia-Plakat wird man den allerdings nicht finden. Aber auf die Suche nach den über das Plakat verteilten acht Maskottchen kann man durchaus gehen.  Und für das Suchspiel Ich seh‘ etwas, was du nicht siehst eignet sich das Plakat ebenfalls- jedenfalls in seiner Version als Poster – die beiden Teile zu je 29 Euro…. Eine farblose Version zum Ausmalen ist auch im Angebot, und ein -vielfach angeregtes- Puzzle wird es sicherlich bald geben.

Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde das Plakat im Musée d’Orsay. Die Botschaft: Es handelt sich um ein Kunstwerk, das entsprechend eingeordnet werden soll: Der hochrenommierte Sender France-Culture hat denn auch Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel den Älteren als ästhetische Ahnherren des Plakats ausgemacht….[10]

Pieter Bruegel hat ja ein wunderbares Wimmelbild zum Thema Kinderspiele gemalt. Und das hat vielleicht die Zeitschrift Marianne zu folgender satirischer „Richtigstellung“ veranlasst. Danach handelt es sich bei dem verbreiteten Plakat um eine mit künstlicher Intelligenz erstellte Fälschung, die „ein Neffe von Anne Hidalgo beim Spielen mit seinem PC erstellt hatte (…) Um die Software zu starten, gab der Teenager folgende Begriffe ein: „Paris“ / „Olympische Spiele“ / „viel Rosa“ / „Walt Disney“ / „Vergnügungspark“ / „voll inklusiv“ / „wo ist Charlie“ / und schließlich „meiner Tante gefallen“ sowie „dem chinesischen Publikum gefallen“. 42 Sekunden später erhielt der Junge diese schillernde, aber dennoch sehr unterhaltsame virtuelle Kreation, die er über eine Whatsapp-Schleife mit seinen Schulkameraden teilte. Das gefälschte Poster hätte diese private Schleife nie verlassen dürfen, aber durch ein schreckliches Missverständnis konnte es sich unkontrolliert verbreiten.“ [11]

Das Olympiaplakat: Ein Skandal!?

Allerdings gab es auch ganz heftige Reaktionen: „Scandaleux“ urteilte Éric Ciotti, der Vorsitzende der konservativen Republikaner (Les Républicains). Nach Auffassung des Spitzenkandidaten der Partei für die Europawahlen François-Xavier Bellamy werden durch das Plakat Frankreich und seine Geschichte ausgelöscht, seine Wurzeln zerstört. Ins selbe Horn bliesen auch die Vertreter der rechtsradikalen Parteien: Es sei unverzeihlich, „unsere Identität“ unsichtbar zu machen, so einer Vertreter des rechten/rechtsextremen Rassemblement National (RN), und die Spitzenkandidatin der ultrarechten Gruppe Reconquête, Marion Maréchal, ging sogar so weit, den Sinn der Olympischen Spiele in Frankreich anzuzweifeln, wenn sie nur dazu da seien, zu verbergen „was wir sind“.[12]

Was ist es, dass Politiker von rechts und ganz rechts so in Aufruhr versetzt hat? Es ist vor allem ein kleines fehlendes Kreuz auf der Spitze des Invalidendoms:

Manque de drapeau français et de la croix des Invalides... À peine dévoilée  l'affiche des Jeux crée la polémique

Le Figaro 5.3.2025

Dazu Éric Ciotti: Die Kuppel des Invalidendoms sei doch nicht die eines Supermarkts, sondern  einer Kapelle. Indem das Kreuz von seiner Spitze entfernt werde, leugne das offizielle Plakat der Olympischen Spiele die Identität dieses Bauwerks sowie die französische Geschichte. Das sei „scandaleux!“[13]

François-Xavier Bellamy: Sie -also wohl Ugo Gattoni und die Verantwortlichen des Organisationskomittes- seien bereit, die Realität zu verbiegen und damit Frankreich und seine Geschichte zu verleugnen.  Wie könne man vorgeben, ein Land zu lieben, wenn man seine Wurzeln zerstöre?[14]  

Und Gipfel der nationalen Verleugnung und des Skandals: Auf dem ganzen Plakat fehle ausgerechnet die Tricolore, die Nationalfahne.

Da sehnen sich manche wohl  zurück nach 1924 und dem damaligen Plakat, als Frankreich im Vollgefühl des Sieges im Ersten Weltkrieg stolz seine Fahne und die in Reih und Glied aufmarschierenden  olympischen Helden  präsentierte.

Im Gegensatz allerdings zu dem, was in manchen Presseartikeln und in den sozialen Medien  verbreitet wurde, hat das IOC keinerlei Vorgaben für das offizielle Olympiaplakat gemacht. Pflicht ist lediglich, dass das offizielle Logo, die Jahreszahl und Ort und Nummer der Olympiade angeben sein müssen. Ansonsten haben das jeweilige Organisationskomitee freie Hand. Und Ugo Gattoni betonte ja ausdrücklich, er habe etwas Episches, Grandioses und Festliches schaffen und nicht die Realität 1 zu 1 wiedergeben wollen.[15] Und da war Gattoni ja auch sonst im Umgang mit den sogenannten heiligsten Gütern der Nation großzügig: Da fährt ja eine Metro nicht nur durch den Arc de Triomphe, sondern damit auch über die Flamme des unbekannten Soldaten, eine Weihestätte der Republik- wobei da merkwürdigerweise der Aufschrei ausblieb…

Und was die Fahne angeht: Es gibt zwar keine offizielle Regel, aber eine Tradition, keine Landesfahne auf dem offiziellen Olympiaplakat abzubilden. Selbst Hitlerdeutschland hatte 1936 darauf verzichtet, das Hakenkreuz auf dem Plakat der Spiele von 1936 in Berlin zu platzieren. Und das Organisationskomitee für die Pariser Spiele konnte immerhin darauf hinweisen, dass der Dreiklang bleu-blanc-rouge der Tricolore durchaus im Plakat vertreten sei- beispielsweise auf der Cocarde der Maskottchen oder auf den Flugzeugen der Patrouille de France.

Und macht man sich auf die Suche, wird man auch an anderen Stellen die Farben der Tricolore finden…

Außerdem sei als nationales Symbol Marianne auf dem Plakat abgebildet.

Auf der von Marianne getragenen Aussichtsplattform sieht man übrigens ein internatonales Publikum, das wohlwollend und begeistert von oben auf das bunte olympische Treiben herabblickt. Die Dame hält in ihrer Hand einen Ball, vermutlich die Weltkugel symbolisierend, auf dem ein Vogel sitzt; vielleicht eine  Friedenstaube: Die Olmpischen Spiele als Veranstaltung des Friedens für die ganze Welt – schön wärs….

Die Kehrseite der Medaille

Dass da alles friedlich-freundlich zugeht und das Fest durch keine Dissonanzen getrübt wird, ist bei einem olympischen Plakat nicht anders zu erwarten und sollte auch kein Kritikpunkt sein.

Dass es aber durchaus eine Fülle von möglichen Problemen rund um die Olympischen Spiele gibt, wird immer deutlicher, je näher sie kommen: Das betrifft vor allem, angesichts eines schon in Normalzeiten völlig überlasteten und teilweise maroden öffentlichen Nahverkehrs, die Bewältigung eines Massenansturms von Olympia-Gästen, und es betrifft die Frage, wie man die Sicherheit der Spiele garantieren kann: ein Problem, das gerade nach dem blutigen IS-Anschlag bei Moskau noch einmal mehr ins öffentliche Bewusstein geraten ist.

Und dann gibt es auch noch den Wunsch der Verantwortlichen, das frohe Fest nicht durch unangenehme Bilder von aufdringlichen Bettlern, heruntergekommenen Obdachlosen, Drogenabhängigen  oder an den Seineufern oder in Parkanlagen kampierenden Flüchtlingen zu stören. Diesen Wunsch -und daraus folgende entsprechende Maßnahmen- gab es auch schon bei anderen Olympischen Spielen- Paris macht da keine Ausnahme. Und die Tendenz, das strahende Bild der ville lumière nicht von am Rand der Gesellschaft -aber nicht immer am Rand der Stadt-  Lebenden verdunkeln zu lassen,  gibt es ja schon seit den Zeiten des Barons Haussmann.

Die Zeitung Libération hat am 22. März den Unerwünschten  (Les Indésirables) der Olympischen Spiele einen mehrseitigen Aufmacher gewidmet. Menschen ohne festen Wohnsitz, ohne legalen Aufenthaltsstatus (sans-papiers), Prostituierte (travailleurs du sexe– sic!) seien  schon teilweise aus Paris entfernt worden, andere unter verstärkter polizeilicher Überwachung. Es gäbe zahlreiche Opfer der von manchen Organisationen so bezeichneten «sozialen Säuberung» (nettoyage sociale).

„Paris verbirgt sein Elend“ (Libération 22.März 2024)

In ihrem Leitartikel schreibt Libération dazu: „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass vier Monate vor der Eröffnungszeremonie angestrebt wird, alle diejenigen aus Paris und der Region Île-de-France zu entfernen, für die die Straße die letzte Zuflucht ist. Und das sind in diesen Zeiten der Kriege und der wirtschaftlichen Probleme viele. Das führt zu verzweifelten Situationen wie bei der kürzlichen Auflösung des Lagers von Minderjährigen am Ufer der Seine.“[16]   Verzweifelte Situationen auch deshalb, weil es bei vergleichbaren Räumungsaktionen 2023 für die Betroffenen keine längerfristigen alternativen Angebote gab.[17]

Die katholische Hilfsorganisation Secours Catholique de Paris beklagt deshalb, dass der Anspruch der Olympia-Organisatoren, solidarischere, ökologischere und inklusivere Spiele als bisher abzuhalten, nicht eingehalten werde. Die Olympiade werde jedenfalls nicht wie versprochen ein Fest für alle sein.

Es gäbe nämlich noch die vielen „Vergessenen des Festes“, über deren Situation die Organisation eine Informationsbroschüre veröffentlicht hat.[18]

Auch die FAZ hat sich in ihrer Ausgabe vom 27. März des Themas angenommen. Die Paris-Korrespondentin Michaela Wiegel schreibt unter der Überschrift „Die Migranten, die Paris vor Olympia verlassen müssen“:

„Die Regierung hat die Vorstellung zurückgewiesen, dass die Räumungs- und Verlegungsoffensive in Paris im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen steht. Vielmehr würden die Migranten im Namen der nationalen Solidarität in andere Regionen geschleust. (…) Die Hauptstadtregion betreue bereits durchschnittlich 120.000 Menschen in Notunterkünften. Dabei reichen die öffentlichen Aufnahmezentren bei Weitem nicht aus, deshalb werden Hotels zur Unterbringung herangezogen. Doch viele Hotels haben rechtzeitig vor den Olympischen Spielen Eigenbedarf angemeldet. Sie wollen ihre Zimmer lieber lukrativer an Olympia-Besucher vermieten.

Hilfsorganisationen beklagen das Vorgehen der Behörden. Sportlern und Besuchern aus aller Welt solle im Olympia-Sommer ein makelloses Stadtbild vorgeführt werden. ‚Olympia ist ein wunderschöner Lack, der die Armut verbirgt‘, sagte Paul Alauzy für das Aktionsbündnis Die Kehrseite der Medaille.“ (Le Revers de la médaille).

Dies ist ein Zusammenschluss von etwa 80 Hilfsorganisationen, die im Vorfeld der Olympischen Spiele auf die „Vergessenen des Fests“ aufmerksam machen und eine nettoyage sociale verhindern wollen.[19] Zum Beispiel durch Aktionen wie Anfang Februar.

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Da wurden u.a. die Worte Olympische Spiele : „Man ist nicht fertig“ auf den Arc de Triomphe projiziert.[20]

Die Plakate, die dabei hochgehalten wurden, interpretieren auf sarkastische Weise den olympischen Slogan Citius, altius, fortius, communiter. Plus vite, plus haut, plus fort, ensemble. Schneller, höher, stärker, gemeinsam.

Schneller um die notleidende Bevölkerung aus der Île-de-France zu entfernen.  Foto: Frauke Jöckel. Seineufer. März 2024

„Um alle Nationen hier zu empfangen, mussten alle ausgeschlossen werden, die schon da waren.“

Auch an berühmten Pariser Sehenswürdigkeiten wurden von dem Kollektiv Plakate aufgehangen. „Olympische Spiele 2024: Offene Grenzen für die Reichen, soziale Säuberung für die Armen“, steht darauf.[21]

„Höher bei der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen ohne offiziellen Aufenthalts-Status“. Foto: Frauke Jöckel

Auf dem olympische Plakat Gattonis gibt es ebenfalls den olympischen Slogan citius, altius,fortius, communiter, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu erkennen: auf dem Sprungbrett, auf dem ein junger Mann mit einer Taube auf einem ausgestreckten Arm dabei ist, sich in das olympische Gewimmel zu stürzen. (Rechts oben übrigens der grüne Wallace-Brunnen)

Es ist zu hoffen, dass die Pariser Olympiade die fröhlichen, bunten und friedlichen Spiele bieten kann, die das Plakat verheißt. Und vielleicht kann der öffentliche Druck doch dazu beitragen, dass die Situation der oubliés de la fête stärker ins Bewusstsein der Verantwortlichen rückt und schließlich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen beiträgt. Immerhin lässt es sich Frankreich einiges kosten, damit während der olympischen Spiele sozial eitel Sonnenschein herrscht: Die öffentlich Bediensteten erhalten zum Beispiel besondere Olympia-Prämien: Nicht auszudenken, wenn etwa die Bediensteten der Nahverkehrsgesellschaft RATP während der Spiele die Arbeit niederlegten. Aber auch ein eklatanter Widerspruch zwischen dem Anspruch solidarischer, ökologischer und inklusiver Spiele und einer „sozialen Säuberung“ würde einen dunklen Schatten auf die Spiele werfen.


Anmerkungen

[1] https://www.liberation.fr/sports/jeux-olympiques/jo-2024-paris-saffiche-en-mode-poetico-futuriste-20240304_GX6HSQTPEJCUDMK2C5Y4S4JF4I/  und https://www.radiofrance.fr/franceculture/l-origine-de-l-esthetique-de-l-affiche-des-jo-de-paris-2024-4077326 : Hier wird sogar das deutsche Wort „Wimmelbild“ verwendet, um den Charakter des Olympia-Plakats zu beschreiben.

Gesamtansicht des Plakats: https://medias.paris2024.org/uploads/2024/02/Paris2024-Contenus-Affiche_Officielle-2.jpg Die nachfolgenden Detailbilder des Plakats sind teilweise Ausschnitte aus dieser Internet-Seite oder es sind Aufnahmen, die ich mit einiger Mühe an den den Plakatwänden gemacht habe. Deshalb zum Beispiel auch die Spiegelung umliegender Gebäude bei dem Foto mit der olympischen Fackel.

[2] Bild aus: https://shop2.olympics.com/de/paris-2024/paris-2024-olympics-plush-mascot-24cm/t-3477660852+p-5670692888164+z-9-1924114719

[3] https://www.leparisien.fr/jo-paris-2024/natation/le-plan-b-cest-de-nager-dans-la-seine-pourquoi-les-organisateurs-restent-confiants-pour-les-jo-de-paris-06-08-2023-7DD4567RZZAM5GOREK4EA7RWJU.php und

https://www.eurosport.fr/jeux-olympiques/paris-2024/2024/paris-2024-pas-de-plan-b-pour-les-epreuves-des-jeux-olympiques-dans-la-seine_sto10060374/story.shtml

[4] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[5] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[6] https://olympics.com/de/paris-2024/veranstaltungsorte/teahupo-o-tahiti

[7] https://www.lefigaro.fr/fig-data/jo-paris-2024-quinze-curiosites-et-details-insolites-a-decouvrir-sur-l-affiche-officielle-20240304/

[8] „Des dessins assez réalistes, d’un univers surréaliste”. Zitiert in: Ugo Gattoni, scenariste onirique. In: Website von The Socialite Family

 und  https://www.juliahountou.com/blog/2020/5/22/ugo-gattoni  Dieser Seite ist auch das Bild entnommen.

[9] Zum Beispiel: https://www.huffingtonpost.fr/jo-paris-2024/article/jo-de-paris-2024-les-affiches-officielles-sont-dignes-d-un-ou-est-charlie-avec-des-mascottes-cachees_230483.html

https://www.leparisien.fr/jo-paris-2024/jo-paris-2024-des-mascottes-a-trouver-facon-ou-est-charlie-decouvrez-laffiche-officielle-des-jeux-04-03-2024-3RKBNF2ROVHI7COGBN3TKTMN7A.php

[10] L’origine de l’esthétique de l’affiche des JO de Paris 2024 (radiofrance.fr)

[11] https://www.marianne.net/societe/vous-trouvez-l-affiche-officielle-des-jo-de-paris-cata-nous-aussi-retour-sur-une-terrible-erreur

[12] https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/affiche-des-jo-2024-la-droite-et-l-extreme-droite-s-insurgent-contre-la-disparition-d-une-croix_230771.html

[13] https://twitter.com/ECiotti/status/1764971665451073645?

[14] https://twitter.com/fxbellamy/status/1764961702242595162

[15] Zu der Polemik und der Gegenkritik siehe: https://www.liberation.fr/checknews/pourquoi-la-croix-des-invalides-et-le-drapeau-francais-ne-figurent-pas-sur-laffiche-des-jo-de-paris-20240306_IJWOVJZAUNDTFFJIWKOSJTHKAM/  und

https://www.lepoint.fr/sport/polemique-sur-l-affiche-des-jo-l-artiste-explique-pourquoi-il-a-supprime-la-croix-des-invalides-06-03-2024-2554348_26.php#11

[16] Éditorial von Alexandra Schwartzbrod, Inclusifs, vraiment?

[17] https://www.lemonde.fr/sport/article/2024/03/13/paris-2024-a-l-approche-des-jeux-les-associations-de-lutte-contre-la-pauvrete-craignent-un-nettoyage-social_6221713_3242.html

Bild aus: fr.news.yahoo.com

[18] https://drive.google.com/…/1d_CmqzQGe0…/view

Bild aus: https://www.facebook.com/photo/?fbid=812525414247672&set=a.638007431699472

[19] https://lereversdelamedaille.fr/

[20] Bilder der Aktion aus: https://www.20minutes.fr/paris/4074624-20240205-jo-paris-2024-collectif-enflamme-arc-triomphe-denoncer-sort-abris

[21] FAZ 27.3.2024 a.a.O.

Zu den Olympischen Spielen in Paris siehe auch den Blog-Beitrag: