Eine schöne und im wahrsten Sinne des Wortes nahe liegende Ergänzung zu einem Besuch des jardin Jean-Jacques Rousseau in Ermenonville ist die Rousseau-Sammlung im Museum Jacquemard-André in Chaalis.
Zu Ermenonville siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2020/09/01/der-park-jean-jacques-rousseau-in-ermenonville-der-erste-landschaftspark-auf-dem-europaeischen-kontinent-und-die-erste-begraebnisstaette-rousseaus/
Die heruntergekommene ehemalige Klosteranlage in Chaalis war im 19. Jahrhundert von der reichen Familie de Vatry gekauft worden, die daraus „einen der schönsten Adelssitze der romantischen Generation“ machte.[1]
Links das Schloss/Museum, vorne rechts und in der Mitte die Reste der mittelalterlichen Klosteranlage mit der chapelle Sainte-Marie und hinten rechts der Rosengarten
Mme Vatry hatte auch 1874 von den verschuldeten Erben des Marquis de Girardin, auf dessen Einladung hin Rousseau die letzten Tage seines Lebens in Ermenonville verbrachte, den nördlichen Teil des Schlossparks gekauft. Sie war eine Verehrerin Rousseaus, wie wohl auch Nélie Jacquemart, die Witwe des Bankiers Édouard André, die 1902 Chaalis kaufte, wo sie eine Zweigstelle ihres Pariser Museums einrichtete. Zu der dort präsentierten Sammlung von Kunstwerken gehörte auch eine Büste Rousseaus, die der bedeutende Bildhauer Houdon nach der Todesmaske Rousseaus 1778 angefertigt und dem Marquis de Girardin geschenkt hatte.
Auch eine ebenfalls Houdon zugeschriebene Büste Voltaires gehörte zu den Sammlerstücken Nélie Jacquemarts und ist heute in Chaalis ausgestellt.
1924 kaufte dann das Institut de France, inzwischen Eigentümerin des Museums, die Rousseau-Sammlung von Fernand de Girardin, dem letzten Nachkommen der Schlossherren von Ermenonville. Und seit 2012, dem Jahr des 300. Geburtstages von Rousseau, gibt es eine eigene, neu konzipierte Abteilung des Museums, die Rousseau gewidmet ist.
Hier ein Portrait von Rousseau, die Büste Houdons und ein Jean-Baptiste Greuze zugeschriebenes Gemälde, das René de Girardin neben einer Büste Rousseaus zeigt.
Die Ausstellung versucht einen Überblick über das ganze Leben Rousseaus und die immense Spannweite seines Schaffens zu geben, wobei seine Beschäftigung mit der Musik einen Schwerpunkt bildet. Und immerhin war es ja die Musik, die René de Girardin und Rousseau zuerst zusammenführte. Aber natürlich ist die Sammlung vor allem auf die letzten Tage Rousseaus in Ermenonville konzentriert.
Georges- Frédéric Meyer, Die Familie Girardin und Jean-Jacques Rousseau. Aquarell 1778/1779
Der Marquis René de Girardin, der Gastgeber Rousseaus (1735-1808). Ölgemälde 1778/1779, zugeschrieben Georges-Frédéric Meyer
Lithographie der Hütte von Rousseau am Lac du désert nach einer Zeichnung von Charles Guérard
Georges-Frédéric Meyer: Le Petit-Clarens. Aquarell 1778/1779. Es zeigt das Chalet, das der Marquis de Girardin für Rousseau bauen ließ, das dieser allerdings nicht mehr beziehen konnte. Der Name des Chalets bezieht sich auf den im Émile beschriebenen Garten, der Vorbild für die Anlage des Parks von Ermenonville wurde.
Rousseau beschäftigte sich in Ermenonville vor allem mit dem Sammeln und Einordnen von Pflanzen. Georges-Frédéric Meyers Zeichnung des Pflanzen sammelnden Rousseau (Jean-Jacques Rousseau herborisant) hat denn auch wesentlich das Bild des letzten Lebensabschnitts Rousseaus bestimmt. Hier eine nach der Zeichnung Meyers angefertigte Lithografie. [2]
Johanniskraut (Le Millepertuis). Von Rousseau getrocknete Pflanze mit der eigenhändigen botanischen Bezeichnung hypericum humifusum (links)
Von Rousseau getrocknete Pflanze mit der Aufschrift: „Je ne connais pas cette plante à moins que ce ne soit Andromeda Paniculata“ (rechts)
Hierbei handelt es sich ebenfalls um den Teil einer von Rousseau gesammelten und gepressten Pflanze, die der Enkel von René de Girardin 1844 einem Freund geschenkt hatte und das 2019 vom Institut de France für den Espace Rousseau erworben wurde. Es handelt sich um eine Goldrute (Verge d’or), deren heilsame Wirkung seit dem 15. Jahrhundert erkannt wurde.
Portrait von Rousseau an seinem Schreibtisch. Lithografie des 19. Jahrhunderts nach einer Zeichnung von Girardin. (linkes Bild)
Auf diesem Sessel wurde der sterbende Rousseau zu seinem Bett getragen und dort aufgebahrt. (rechtes Bild)
Georges-Frédéric Meyer: Aquarell des Parks von Ermenonville mit der Pappelinsel. (Um 1778) Hier ist noch das provisorische Grabmal mit der Urne zu sehen. Das endgültige Grabmal von Lesueur wurde am 23. Mai 1780 errichtet.
Jacques –Philippe Lesueur: Modell des Grabmals von Jean-Jacques Rousseau. 1791
Diese Lithographie des „Wasserfalls von Ermenonville“ veranschaulicht eindrucksvoll die Überhöhung des Ortes, wo Rousseau gestorben ist und begraben wurde. Der gewaltige Wasserfall der Darstellung hat mit der Realität im Park von Ermenonville wenig zu tun – besonders wenig, wenn man das traurige Rinnsal im Dürresommer 2020 vor Augen hat.
Entsprechend überhöht wird natürlich auch und vor allem Rousseau selbst. Gegenstand dieser Lithografie (Ausschnitt) ist seine „Auferstehung“. Rousseau, von einer freudigen Jugend und Engeln gefeiert und bekränzt, entsteigt gerade dem Grab auf der Pappelinsel.
Die stillende Mutter auf der banc des mères gehört natürlich auch zu den Feiernden.
Sehr schön ist auch die Abteilung mit den Rousseau-Devotionalien.
Teller mit dem Abbild Rousseaus: Porzellan von Nevers, 19. Jahrhundert
Für alle Zwecke und Geldbeutel ist etwas dabei.
Pendeluhr aus vergoldeter Bronze.
Es gibt sogar das Firmenschild eines Schusters: Ein schönes Zeichen für die große Popularität Rousseaus.
Gar nicht zur Überhöhung Rousseaus passt das Verhältnis zu den fünf Kindern, die er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse Le Vasseur hatte, ein Thema, das im Espace Rousseau immerhin nicht ausgespart wird.
Thérèse Le Vasseur. Anonyme Tuschezeichnung (Ausschnitt). Ca 1778/1780
Thérèse kam aus einfachsten Verhältnissen, sie war Wäschefrau in einem Pariser Hotel und konnte kaum lesen und schreiben. Rousseau schätzte sie aber sehr wegen ihres von ihm als „pur, excellent et sans malice“ beschriebenen Charakters. 1768 heirateten die beiden, und nach dem Tod Rousseaus bezog sie das Petit – Clarens, das sie aber nach einem Streit mit Girardin bald wieder verließ. Seine/ihre fünf Kinder gab Rousseau sofort nach ihrer Geburt in eine Einrichtung für Findelkinder (Enfants – Trouvés) ab und interessierte sich in keiner Weise für ihr weiteres Schicksal. In der Ausstellung wird in einem Begleittext verständnisvoll erläutert, der Adel und das Bürgertum hätten sich damals wenig für die Erziehung ihrer Kinder interessiert, und in Paris seien damals 40% aller Kinder der öffentlichen Fürsorge überlassen worden. Aber auch die von Rousseau, dem Autor des Erziehungsromans Émile?! Immerhin wird in dem Begleittext konzediert, dass (der von Rousseau sehr geschätzte) Diderot, der ebenfalls eine Frau aus sehr einfachen Verhältnissen geheiratet hatte, sich sehr wohl um die Erziehung seiner Kinder gekümmert habe.
Rousseaus Umgang mit seinen Kindern gehört offensichtlich zu den Widersprüchen zwischen Denken und Handeln, die es oft bei „großen Männern“ gibt….
Das Kloster Chaalis
Ein Besuch von Chaalis lohnt natürlich nicht nur wegen der Rousseau-Sammlung: Die Ruinen des königlichen Klosters lassen noch etwas von der großen Bedeutung und der Schönheit der im 12/13. Jahrhundert errichteten zisterziensischen Klosterkirche erkennen.
Hier eine Zeichnung der noch voll erhaltenen Anlage aus dem 18. Jahrhundert. Wie bei allen zisterziensischen Klosteranlagen gibt es nur einen kleinen Vierungsturm, aber keine großen Kirchtürme.
Chaalis war auch aufgrund seiner Nähe zur Residenz der Kapetinger in Senlis ein sehr bedeutendes und reiches Kloster. Es hatte großen Landbesitz und Niederlassungen in mehreren Städten, wo landwirtschaftliche Produkte des Klosters gelagert und verkauft wurden – so auch in Paris in der rue François Miron Nummer 68, dem heutigen hôtel Beauvais und Sitz des obersten französischen Verwaltungsgerichtshofs, in dessen Keller noch die gotischen Gewölbe des früheren Klosterhofes erhalten sind. (3)
Im 18. Jahrhundert lösten sich Verfall und Erneuerung des Klosters ab. 1793 wurde die Anlage an einen Privatmann verkauft, der alles, was von der alten Kirche noch erhalten war, zu Geld machte. Auch die Steine wurden als Baumaterial verkauft.
Erhalten ist aber noch die gotische Kapelle Sainte Marie aus dem 13. Jahrhundert, auch chapelle du Roi genannt.
Ein origineller Wasserspeier in Form eines Elefantenkopfes
Besonders bedeutend und schön sind die Deckengemälde des italienischen Malers Primatice aus dem 16. Jahrhundert, nach dem Urteil eines Fachmanns die wohl schönsten italienischen Fresken dieser Zeit in Frankreich.
Auf der Rückseite der Fassade, deren Fensterrose dadurch verdeckt wurde, malte Primatice die Verkündigungs-Szene: Der Erzengel Gabriel mit der Lilie in der Hand verkündet Maria, dass sie ein Kind gebären werde, den Sohn Gottes, dem sie den Namen Jesus geben solle. Dieses Motiv war gerade in der Renaissance besonders beliebt -man denke nur an Leonardo da Vinci und Boticelli- und damit ist wohl auch zu erklären, dass dafür in der Kapelle die Fensterrose über dem Portal innen verschlossen wurde. (Von außen ist sie mit ihrem schönen Maßwerk noch vorhanden, aber eben sozusagen blind.)
Aus der Zeit der Renaissance stammt auch noch die Umfassungsmauer des Klostergartens, die von Sebastiano Serlio entworfen wurde, einem italienischen Architekten, der im Dienste des französischen Königs François Ier stand.
Die Mauer schließt heute einen Rosengarten ein, einen jardin remarquable, der allerdings im Juli 2020, als wir dort waren, einen eher traurigen Eindruck machte- Hitze und Covid 19 hatten daran wohl einen erheblichen Anteil. Im Juni jeden Jahres gibt es dort allerdings die „journées de la rose“ – das wird es sicherlich ähnlich aussehen wie aus diesem dem Internet entnommenen Foto (4) ….
Anmerkungen
[1] Jean-Pierre Babelon und Jean-Marc Vasseur, L’abbaye royale de Chaalis et les collections Jacquemart-André. Éditions du patrimoine, S. 25. Auf dieses Büchlein beziehe ich mich auch im Folgenden.
Bild aus: https://www.1001salles.com/mariage/ABBAYE-DE-CHAALIS.
[2] Zu Meyer und sein Grab an der Pappelinsel siehe den Blog-Beitrag über den Park Jean-Jacques Rousseau.
(3) https://www.musesetmusees.com/lhotel-de-beauvais-marais/5615
(4) https://www.1001salles.com/mariage/ABBAYE-DE-CHAALIS.
Weitere geplante Beiträge:
Dessine-moi Notre – Dame/male mir Notre – Dame: Kinderzeichnungen am Bauzaun
Das Palais Royal (3): revolutionärer Freiraum und Sündenbabel in den „wilden Jahren“ zwischen 1780 und 1830
Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung
Der Garten der tropischen Landwirtschaft (jardin d’agronomie tropicale) im Bois de Vincennes: Ein „romantisches“ Überbleibsel der Kolonialausstellung von 1907
Und wieder erneut ein großartiger Beitrag, zusammen mit Rosseau 1. und vielen Dank für die wunderbaren Aufnahmen der Sammlung und von Park und Schloß, die mich gleich animieren, das Kleinod aufzusuchen. Tausend Dank für diese schöne Anregung! Hubertus Gaßner
LikeLike
Vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar. Und wenn Sie dort sind und noch etwas Zeit und Energie haben, bietet sich ein kleiner Rundgang durch das nahe gelegene Senlis an. Dort gibt es übrigens das musée d’rt et d’archéologie mit einer der naiven Malerin Séraphine Louis gewidmeten Abteilung. Entdeckt und gefördert wurde sie von Wilhelm Uhde, einem deutschen Kunsthändler – eine wunderbare, aber dann auch traurige deutsch-französische Geschichte. Die steht auch auf der Liste meiner geplanten Blog-Beiträge….
LikeLike