Als wir 2009 nach Paris übersiedelten, um dort –mehr oder weniger- unseren Ruhestand zu verbringen, gehörte zu meinen Plänen, eine meiner früheren musikalischen Betätigungen wieder aufzunehmen, nämlich das Cellospiel oder das Singen. Dass die Entscheidung für das Singen fiel, war nicht zuletzt einem Zufall zu verdanken: Kurz nach unserem Einzug in eine Wohnung im 11. Arrondissement entdeckte ich unter dem Scheibenwischer eines Autos, das vor unserem Haus geparkt war, einen Zettel, der dafür warb, sich einem Chor bzw. „Les Chœurs de Paris XIII“ anzuschließen. Als Programm war Mozarts Requiem angekündigt, also ein wunderschönes Stück Musik. Ort für die Chorproben war ein Gymnasium am Cour de Vincennes, das man zu Fuß, mit der Metro oder mit dem Fahrrad gut erreichen konnte und das ich sogar schon kannte, weil eine Pariser Freundin dort Lehrerin war. Also gewissermaßen ein Wink des Schicksals.
In dem nachfolgenden Bericht möchte ich etwas über das Singen berichten, das seitdem ein wichtiger Bestandteil meines Lebens in Paris ist. Insofern fällt der Text etwas aus dem Rahmen dieses Blogs, in dem ja keine persönlichen Geschichten erzählt werden, sondern bestimmte Themen und Orte –wenn auch mehr oder weniger persönlich gefärbt- behandelt werden. Allerdings werden Orte auch hier eine wichtige Rolle spielen: Denn wenn auch das gemeinsame Singen und die Musik im Vordergrund standen: Wichtig waren und sind für mich auch immer die Orte, an denen dann die Aufführungen stattfinden. Und da ist in den 10 Jahren viel zusammengekommen: Die neobarocke Kirche La Trinité in Paris, wo unsere Jahreskonzerte stattfinden, andere Pariser Kirchen wie Saint-Sulpice, die Madeleine, St. Germain-des Prés, St Roch, Saint-Eustache, dazu die Kathedrale von Lisieux, die UNESCO und die Philharmonie von Paris, um nur die für mich wichtigsten zu nennen….
Es soll also nicht einfach nur ein persönlicher Erfahrungsbericht folgen, sondern ein –sicherlich sehr kleiner- Ausschnitt des Pariser kulturellen Lebens anschaulich werden. Vielleicht kann das ja Pariser und solche, die es werden wollen, ermutigen, sich auch entsprechend einzubringen und zu engagieren.
„Mein“ Chor: Les Chœurs Lacryma Voce
Dass ich zu den Chœurs de Paris XIII – inzwischen Les Chœurs Lacryma Voce- gekommen bin, sehe ich als einen glücklichen Zufall, weil er mir nach einer langen Chorpause einen angenehmen Neuanfang und ein begleitendes Erlernen der französischen Musikterminologie ermöglichte. Es handelt sich nämlich um einen Chor, der aus drei „Abteilungen“ besteht: Einem für Anfänger, den chœur de formation, für die es auch zusätzliche musikalische Lernangebote gibt. Mitglieder dieses Chores können aber auch Menschen sein, die zwar gerne singen wollen, sich dafür aber nur begrenzt engagieren wollen oder können. Dann gibt es einen chœur de perfectionnement für „Fortgeschrittene“ und einen Kammerchor, den petit chœur. Am Ende einer Saison, also im Juni, findet immer ein Jahreskonzert statt, an dem alle Choristen teilnehmen, also auch diejenigen, für die das der erste musikalische „Auftritt“ ist. Bei meinem ersten Konzert mit dem Chor war dies im Juni 2010 das Requiem von Mozart, in diesem Jahr (2019) das Magnificat von Bach und die Vesperae von Mozart mit dem wunderbaren Laudate Dominum. 2020 steht das Requiem von Verdi auf dem Programm. Der chœur de formation lässt dann zum Teil manche Teile aus, aber es bleibt für alle das festliche Erlebnis, im Rahmen eines großen Chors, in der Begleitung eines professionellen Orchesters und vor etwa 1000 Zuhörern ein wunderbares musikalisches Programm zu präsentieren. Möglich ist das nur aufgrund des außerordentlichen Engagements zahlreicher Mitglieder, vor allem natürlich des Vorstands des Vereins, als der Organisationsform von lacryma voce, aber auch anderer Ehrenamtlicher, die sich zum Beispiel bei der Organisation der Konzerte engagieren oder bei der Bereitstellung von Audiodateien für alle Stimmen der auf dem Programm stehenden Werke, wodurch die Probenarbeit wesentlich ergänzt und erleichtert wird. Nicht zu vergessen unsere wunderbare „Sekretärin“ und „Managerin“ Suzon und die Musiker, die den Chor leiten und begleiten.[1]
Jaquelin Renouvin, die Leiterin des chœur de formation, und der frühere Leiter des Chors, Pierre Molina, beim Einsingen für ein Konzert in der Krypta von La Trinité
Unser Chorleiter und Dirigent Matthieu Stefanelli, hier (ausnahmsweise) mit seiner kleinen Tochter
Matthieu ist auch Komponist[2], und wir werden im nächsten Jahr mit dem chœur de perfectionnement eines seiner Werke einstudieren und aufführen.
Und hier unser Pianist und Organist Nicolas Jortie
Die wöchentlichen Proben finden in der doppelstöckigen Turnhalle des Gymnasiums statt. Das ist kein sehr anheimelnder Ort, und ich fühle mich dort manchmal an heruntergekommene Frankfurter Gymnasien aus den Jahren meiner Berufstätigkeit erinnert (die aber inzwischen längst renoviert und herausgeputzt sind).
Generalprobe für ein Konzert. Da ist es dann besonders eng
Entscheidend ist aber, dass man sich kennt, versteht und an einem gemeinsamen Projekt arbeitet. An den Chorwochenenden, die einmal im Monat stattfinden, werden dann Sonntag Mittag die Tischtennisplatten aufgeklappt und zu Tischen umfunktioniert für das von den Choristen mitgebrachte Essen.
Die Jahreskonzerte des Chors finden in der Pariser Kirche La Trinité statt. Sie wurde im 19. Jahrhundert im Stil der französischen Renaissance erbaut und ist sehr luxuriös ausgestattet, unter anderem mit zwei Orgeln von Cavaillé-Coll. 1869 wurde dort die Trauerfeier für Hector Berlioz gehalten, und der große Organist und Komponist Olivier Messiaen war 60 Jahre lang Organist der Trinité.[3] Also ein ganz besonderer Ort für die Musik.
Der Kirchenraum mit Zuschauern in Erwartung eines Konzerts
Die Jahreskonzerte unseres Chors sind für mich/uns immer markante Daten in der Planung eines Jahres und sie gehören auch immer zu den jährlichen „highlights“. Alle Konzerte aufzuzählen würde zu weit führen und einige Werke herauszugreifen fällt schwer.
Das Jahreskonzert 2015: Mendelssohns Oratorium Paulus und Carl Goerdeler
Am ehesten vielleicht das Jahreskonzert 2015 mit dem Paulus von Mendelssohn. In diesem Werk geht es um den durch das sogenannte Damaskus-Erlebnis ausgelösten Wandel des Saulus zum Paulus, eine Umkehr, die Paulus mit seinem Leben bezahlt. In der Zeit, als wir das Werk einstudierten, beschäftigte ich mich etwas intensiver mit dem deutschen Widerstand- mit Inès, einer Historikerin und Kollegin meines Chors, bereitete ich eine Veranstaltung zu diesem Thema vor. Und natürlich ging es dabei auch um den 20. Juli 1944. So lag es für mich nahe, eine gewisse Beziehung zwischen der Entwicklung des Saulus/Paulus und Carl Goerdelers zu sehen, zumal Mendelssohn-Bartholdy bei Goerdelers „Damaskus-Erlebnis“ eine wesentliche Rolle gespielt hat. Goerdeler war ja, als die Nazis 1933 an die Macht kamen, Oberbürgermeister in Leipzig gewesen und die Nazis sahen in seinem Fall auch von einer „Gleichschaltung“, also seiner Ablösung durch einen Nazi-Gefolgsmann ab, weil Goerdeler immerhin ein Konservativer war, sich loyal gegenüber den neuen Machthabern in Berlin verhielt; dazu war er in der Stadt sehr beliebt und ein Aushängeschild für die Messestadt. Noch 1936 wurde Goerdeler als Bürgermeister in seinem Amt bestätigt. Anlass für den Bruch mit den Nazis war das große Mendelssohn-Denkmal in Leipzig, das den Nazis natürlich ein Dorn im Auge war, das aber von Goerdeler entschieden verteidigt wurde. Für ihn war Mendelssohn neben Bach einer der großen Söhne seiner Stadt. Die Nazis nutzten aber eine Dienstreise Goerdelers, um Ende 1936 das Denkmal zu zerstören. Goerdeler sah bei seiner Rückkehr nur die Möglichkeit, aus Protest von seinem Amt zurückzutreten. In der Folgezeit näherte er sich dann immer mehr der Opposition gegen das Nazi-Regime an und gehörte zu dem Kreis, der das Attentat vom 20. Juli und den Sturz des Nazi-Regimes vorbereiteten. Goerdeler sollte sogar, als parteiübergreifend anerkannte Persönlichkeit, erster Kanzler eines von den Nazis befreiten Deutschlands werden. Aber tragischer Weise scheiterte das Attentat, Goerdeler wurde mit vielen anderen verhaftet und hingerichtet: So hatte Mendelssohn einen gewissen Anteil an dem Wandel Carl Goerdelers, und wie Paulus bezahlte er seine Überzeugungen mit dem Leben.
Da, wie ich auch anlässlich der mit Inès organisierten Veranstaltung feststellte, die Kenntnis des deutschen Widerstands in Frankreich wenig verbreitet ist, schrieb ich die nachfolgende Parallelgeschichte auf, die auf der homepage unseres Chors veröffentlicht wurde:
„Cent ans après sa mort, Mendelssohn a encore joué un rôle important
et intéressant dans l’histoire de l’Allemagne.
Un épisode un peu parallèle avec le sort de Saulus/Paulus s’est déroulé dans les années 1930, au temps du nazisme. Le « Saulus/Paulus » en question était Carl Goerdeler, maire de la ville de Leipzig à l’époque. Il était conservateur, très populaire et prêt à coopérer avec les nazis, bien que n’étant pas lui-même membre du parti. Il était donc toléré par les autorités.
On ne le remplaça pas par un nazi comme ce fut le procédé normal partout dans le Troisième Reich dans le cadre de la « mise au pas » organisée dès 1933. Goerdeler fut réélu maire de Leipzig en 1936. En plus il reçut un haut poste dans l’administration économique du Reich.
Mais un désaccord apparut entre Goerdeler et les nazis de Leipzig, qui devint vite un bras de fer : c’était le monument de Mendelssohn devant le Gewandhaus dont il avait été le chef d’orchestre. Les nazis demandaient la destruction du monument. Dans leur idéologie raciste, Mendelssohn – même converti – était juif. Goerdeler refusait. Pour lui, Mendelssohn était tout simplement un musicien magnifique et, avec Bach, un des plus grands personnages de la ville.
Das 2008 errichtete Mendelssohn-Denkmal in Leipzig, eine genaue Replik des 1936 zerstörten Denkmals von 1892 (4)
Profitant d’un voyage de Goerdeler à l’étranger à la fin de l’année 1936, les nazis détruisirent le monument de Mendelssohn. A son retour, Goerdeler était furieux. Il protesta, demandant la reconstruction. En vain, naturellement. Fidèle à lui-même, il tira les conséquences de cet affront au maître et démissionna de ses fonctions municipales.
Lui qui avait coopéré avec les nazis se rapprocha de plus en plus de l’opposition
et de la résistance contre Hitler. Il est même devenu membre du cercle qui a préparé et exécuté l’attentat du 20 juillet 1944. Les insurgés avaient prévu qu’après la mort
du Führer, Goerdeler deviendrait chancelier d’une Allemagne libérée par la résistance allemande.
Malheureusement l’attentat a échoué. Goerdeler fut arrêté et assassiné par les nazis.
Tel un Saulus devenu Paulus, Carl Goerdeler s’est sacrifié pour ses convictions. La destruction du monument de Mendelssohn à Leipzig fut sa propre expérience du chemin de Damas.“
Den Paulus habe ich diesem Jahr sogar noch einmal gesungen: Ein ehemaliger Mitschüler hatte mir bei einem Klassentreffen erzählt, er singe im Darmstädter Bachchor und man probe gerade den Paulus, und zwar für ein Konzert ausgerechnet in der Pauluskirche! Das passte ja nun genau: Und zwar nicht nur wegen des Namens. In dieser Kirche wurde ich nämlich konfirmiert und ging auch in den Kindergarten! Und so bat ich darum, den Paulus dort mitsingen zu dürfen, und es wurde akzeptiert.
Ein ganz besonderes Erlebnis!
Konzerte in der UNESCO
Neben den Jahreskonzerten des gesamten Chors gibt es aber zusätzlich auch noch weitere musikalische Veranstaltungen des chœur de perfectionnement und des petit chœur. Auch dazu nur eine kleine Auwahl:
In den letzten Jahren hat unser Chor an mehreren Konzerten in der UNESCO teilgenommen. Träger war „Espoir sans frontière“, eine Nicht-Regierungs-Organisation, die sich vor allem für benachteiligte Kinder in Mittelamerika, aber auch in Frankreich engagiert. Espoir sans frontière ist wohl die einzige NRO, zu der ein Sinfonieorchester gehört. Das hängt damit zusammen, dass auch die musikalische Arbeit mit ihren Zielgruppen zu den Schwerpunkten der Organisation gehört.
Weiterhin veranstaltet das Orchester Konzerte, die dazu dienen, die NRO bekannt zu machen und für sie Geld zu sammeln. Ein Teil des Orchesters besteht aus professionellen Musikern, die sich so für eine gute Sache engagieren, aber es gehören auch nichtprofessionelle Musikliebhaber/Innen dazu. Beim ersten Chorkonzert mit Espoir sans frontière“, an dem ich 2011 teilnahm, wurde das 20-jährige Jubiläum der Organisation im großen Saal der UNESCO mit Beethovens 9. Sinfonie gefeiert, danach gab es weitere Konzerte z.B. mit dem Stabat mater von Rossini , dem Requiem von Verdi oder großen Chören aus italienischen Opern.
Das Gebäude der UNESCO ist ein beeindruckender Bau. Sein Architekt war der Brasilianer Oskar Niemeyer, der auch die neue brasilianische Hauptstadt Brasilia plante. Der nackte Beton des Bauwerks, der heutigen ästhetischen Vorstellungen eher nicht mehr entspricht, wird gemildert durch die reiche künstlerische Ausstattung des Gebäudes, zu der u.a. Picasso, Matisse und Giacometti beigetragen haben, zu der aber natürlich auch Kunstwerke aus aller Welt gehören.
L’homme qui marche von Giacometti
Römisches Mosaik aus Nordafrika
Das Deutsche Requiem von Brahms in der Kathedrale von Lisieux
Das Konzert in Lisieux 2015 war ein weiterer Höhepunkt, und zwar in zweifacher Hinsicht: Denn in einer großen gotischen Kathedrale zu singen, ist ganz wunderbar und für mich etwas Neues und Besonderes. Und dann stand auch noch das deutsche Requiem von Brahms auf dem Programm: ein sehr beeindruckendes Werk, das mit einer ungewöhnlichen Besetzung aufgeführt wurde, nämlich timbales (Trommeln) und Orgel.
Das Konzert, zu dem sich die Sänger/innen des Gabriel-Fauré- Chors von Lisieux und einige Mitglieder unseres Pariser Chors zusammengefunden hatten, war eingebettet in die Erinnerungs-Veranstaltungen an den Ersten Weltkrieg. Das erklärt auch, warum es mit dem Einzug von fahnentragenden und ordensgeschmückten Veteranen eröffnet wurde.
Vor dem Beginn des Konzerts wurde in kurzen Ansprachen an die Situation von Lisieux im Ersten Weltkrieg erinnert: Die Stadt lag gewissermaßen im hinteren Frontbereich, war also nicht direkt von den Kampfhandlungen betroffen, spielte aber eine Rolle bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Verwundeten. Hervorgehoben wurde, dass speziell zum Gedenken an diesen Krieg Brahms deutsches Requiem ausgewählt wurde und dass dies eine Würdigung nicht nur dieses wunderbaren Werkes, sondern auch der deutsch- französischen Freundschaft sei. Dazu passte übrigens auch die gastfreundliche Aufnahme im Hause einer alten Dame, deren Tochter im Sinfonieorchester der Stadt Aachen Violoncello spielte.
Eine Messe zum Gedenken an Camille Claudel in St Roch
Ein weiterer Höhepunkt war die Teilnahme unseres Kammerchors an einer von der Familie Claudel organisierten Messe für Camille Claudel. Diese Totenmesse fand im Oktober 2018 in der Kirche Saint Roch statt: Im Faubourg Saint Honoré in der Nähe des Louvre, der Oper und der Comédie Française gelegen, ist Saint Roch seit 1925 die Paroisse des Artistes, die Künstlerkirche- zunächst nur für die Mitglieder der Comédie Française, inzwischen auch für Künstler anderer Sparten. Es ist eine Kirche im klassischen Barockstil, zu der Ludwig XIV.- damals 14 Jahre alt- den Grundstein legte. Sein Gartenarchitekt André le Nôtre, der Dramatiker Pierre Corneille, der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot und der Rokokkomaler Fragonard sind hier bestattet. Am Todestag von Molière wird in der Kirche in jedem Jahr eine Messe gefeiert.
Die Messe für Camille Claudel war von der Familie inititiert worden und fand im engen Familien- und Freundeskreis statt: Ein Akt der Versöhnung und Wiedergutmachung mit einer genialen Bildhauerin. Camille Claudel war Assistentin und Geliebte Rodins gewesen. Dass ihr Rodin die versprochene Ehe dann doch verweigerte, trug wohl nicht unwesentlich dazu bei, sie aus der Bahn zu werfen. Unmittelbar nach dem Tod des Vaters, ihres familiären Rückhalts, wurde sie in die psychiatrische Klinik von Montdevergues in der Nähe von Avignon abgeschoben, wo sie -von der Familie fallen gelassen- 30 Jahre interniert war, bis sie 1943 starb – eine von mehreren Zehntausenden von psychisch Kranken, die der vom Pétin-Regime praktizierten „extermination douce“ zum Opfer fielen. (4a)
Auf dem Friedhof von Montfavet (Avignon) steht immerhin an der Stelle, wo ihre Überreste in einem Massengrab verscharrt wurden, seit 2008 ein Gedenkstein.
Die Messe in Saint Roch war sehr würdig und eindrucksvoll. Dazu trugen die Nachkommen Paul Claudels bei, vor allem François Claudel; der Priester, der in einer wunderbaren Rede Camille Claudel würdigte und dabei auch nicht die unrühmliche Rolle der Familie aussparte, und last but not least unser Chor, der Teile aus dem Requiem von Fauré und dessen Vertonung der Cantique von Jean Racine beisteuerte.
Begleitet wurden wir dabei von Nicolas Jortie auf der historischen Orgel, die auf die ursprüngliche Orgel von 1751 zurückgeht- der Prospekt stammt noch aus dieser Zeit.
Ein Erinnerungsfoto mit Camille Claudels Portrait aus dem Jahr 1884 im Mittelpunkt
Nach der Messe wurden alle Teilnehmer noch in die chapelle du calvaire eingeladen – ein schöner Ausklang einer bewegenden Veranstaltung [5]
Zu Gast bei anderen Pariser Chören
In den vergangenen zehn Jahren habe ich aber nicht nur mit „meinem“ Chor gesungen, sondern war oft auch Gast bei anderen Pariser Chören. Dass ich diese Chance hatte, beruht auch auf zwei persönlichen Merkmalen: Ich bin ein Mann und ich bin Deutscher. Das mag etwas merkwürdig erscheinen, ist es aber keinenfalls: In den meisten Chören gibt es einen deutlichen Überschuss an Frauen, da ist man also, um in Konzerten wenigstens einigermaßen ein Gleichgewicht herzustellen, als Mann willkommen- gewisermaßen gibt es also hier mal ausnahmsweise eine Männerquote…. . Und außerdem ist es im Bereich der Musik, so mein Eindruck, ein zusätzliches Plus, Deutscher zu sein. Denn die Deutschen verstehen zwar –nach landläufiger und nicht ganz unbegründeter französischer Auffassung- wenig von der haute cuisine und dem savoir vivre, dafür aber durchaus einiges von der Musik. In dem wunderschönen Brahms-Buch L’Automne avec Brahms (Paris 2019) bezeichnet der französische Musikkritiker Olivier Bellamy die Deutschen als „das erwählte Volk“ der Töne. (immerhin in Anführungsstrichen). So wie es eine wunderbare Verbindung zwischen Frankreich und der Litteratur gäbe, so eine entsprechende zwischen Deutschland und der Musik. (S. 60). Von einer derartigen Wertschätzung profitiert man/Mann und so stehen einem manche musikalischen Türen offen. Die Kontakte wurden beispielsweise durch ehemalige Mitglieder unseres Chors hergestellt, die in einen anderen Chor gewechselt sind. Oder ein Chor fragte an, ob es nicht Interessenten gäbe, die an einem geplanten Konzert teilnehmen wollen. Jedenfalls habe ich auf diese Weise als Gast an zahlreichen Konzerten teilgenommen. Für mich war dabei natürlich das erste Kriterium, ob ich das anstehende Werk hinreichend gut kenne, sodass ich ohne längere Probenteilnahmen mitsingen kann. Und ein anderes Kriterium waren die Orte, an denen die „auswärtigen Konzerte“ stattfanden. Das war dann die Kirche Saint Sulpice, die ich besonders liebe, oder die Madeleine, Saint Germain des Prés oder Saint Louis en Ile (auf der Ile Saint Louis). Im Folgenden werden einige dieser Konzerte und Orte vorgestellt.
Zwei Konzerte in Saint Sulpice mit dem Chor Hughes Reiner für die Opfer des islamistischen Terrors
In der Kirche Saint Sulpice zu singen, ist ein ganz besonderes Erlebnis. Nicht von ungefähr gibt es ja zwei Blogbeiträge zu dieser Kirche. Deshalb bin ich froh, im „Verteiler“ des Chors von Hughes Reiner zu sein, dessen Konzerte oft in dieser Kirche stattfinden. Und dazu ist Hughes Reiner, vom Figaro als „célèbre chef d’orchestre“ tituliert, eine der markanten Gestalten der Pariser Chorszene. (6)
Eine Tradition sind die jährlichen Silvesterkonzerte, an denen ich mehrmals teilgenommen habe: Da werden oft das Requiem von Mozart –gewissermaßen als Abgesang auf das alte Jahr- und Dvoraks Sinfonie aus der neuen Welt als Einstimmung auf das neue Jahr aufgeführt.
Besonders beeindruckend, ja geradezu spektakulär, waren die beiden Konzerte aus Anlass der beiden Pariser terroristischen Anschläge vom 7.1.2015 auf die Redaktion von „Charly Hebdo“ und vom 13. November 2015 u.a. und vor allem auf das Konzerthaus „Bataclan“. Dazu wurden Mitglieder zahlreicher anderer Chöre eingeladen, der Eintritt war frei und die Kirche übervoll: Eine wunderbare Möglichkeit, sein Mitgefühl mit den Opfern und seinen Abscheu vor dem islamistischen Terrorismus zum Ausdruck zu bringen und an einem einzigartigen sozialen und musikalischen Erlebnis teilzuhaben.
Bei dem Konzert unter dem Motto „Je suis Charlie“ wurde die Unvollendete Schuberts gespielt und das Requiem von Mozart gesungen. Auch wenn dieses Werk zum Repertoire jedes Chorsängers gehört, war es doch faszinierend, dass nach nur einer einzigen gemeinsamen Probe die etwa 300 Teilnehmer/innen aus etwa 15 verschiedenen Chören in einer bewundernswerten Exaktheit und Differenzierung gesungen haben, die bei anderen Konzerten eher selten erreicht wurde.
Und außergewöhnlich war auch der Kreis der Zuhörer. So waren Menschen -auch aus unserem Pariser Freundeskreis- gekommen, die sonst nicht zu klassischen Konzerten gehen und schon gar nicht in einer Kirche. Aber das war ein Anlass für sie, eine neue und wichtige Erfahrung zu machen. Sehr eindrucksvoll war auch die Regie. Am Ende des Konzerts deutete Reiner mit sparsamen Gesten an, dass auf Beifall verzichtet werden sollte. Dann sang der Chor das Ave Verum von Mozart Und dann kam es zu einer sehr langen, fast gar nicht enden wollenden Schweigeminute, ohne jedes Räuspern und Rascheln, und alle verließen schweigend die Kirche- viele sicherlich wie wir mit den Gefühl, an einem außerordentlichen Ereignis teilgenommen zu haben: Einen Eindruck davon vermittelt die Aufnahme von youtube:
https://www.youtube.com/watch?v=OXeRPhcDx4k&app=desktop
Ähnlich eindrucksvoll dann auch das Konzert für die Opfer der Anschläge unter anderem und vor allem auf das Konzerthaus Bataclan. Dabei kamen auch Vertreter der christlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinde zu Wort, um gegen religiösen Fanatismus und für ein gemeinsames tolerantes Miteinander einzutreten.
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Plakat für das Konzert am 20. November 2015 (Ausschnitt)
Ein weiterer Höhepunkt der Konzerte mit dem Chor von Hughes Reiner fand im November 2016 in der Bourse de Travail in Paris statt – einem der hauts lieux der französischen Arbeiterbewegung.
Anlass war das 100-jährige Jubiläum einer Unterorganisation der Gewerkschaft CGT. Und die engagierte Hughes Reiner, ihre Feier mit Beethovens Ode an die Freude aus der 9. Sinfonie zu krönen. Dass ich da natürlich sehr gerne dabei war, versteht sich.
Hughes Reiner bei den Proben zu dem Konzert vor der Büste von Jean Jaurès, der an diesem Ort eine seiner letzten Reden gehalten hatte vor seiner Ermordung.
Angesichts der Raumverhältnisse in dem historischen Saal waren die vier Stimmen des Chors – etwas ungewöhnlich und schwierig- hufeisenförmig auf drei Seiten des Karrees postiert, Aber alle Beteiligten haben das gemeistert und die Gewerkschaftler haben es uns mit großem Beifall gedankt.
Und immer wieder: Konzerte in der Madeleine
Die weitaus meisten Konzerte, an denen ich in den letzten 10 Jahren teilgenommen habe, fanden in der Madeleine statt. Es ist eine imposante Kirche im Stil eines römischen Tempels auf der Achse zwischen dem Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, und der Place de la Concorde errichtet.
Ursprünglich war der Bau von Napoleon als Ruhmeshalle für seine (in Russland arg zusammengeschmolzene) Große Armee geplant, woraus immerhin nichts wurde. Aber als in der Zeit des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe Napoleon wieder hoffähig geworden war, wurde sein Bild im kaiserlichen Ornat unübersehbar ins Zentrum des Apsis -Gemäldes platziert.
Die Madeleine hat bei vielen Musikfreunden einen schlechten Ruf wegen ihrer problematischen Akustik. Allerdings betrifft das nach meiner Kenntnis/Erfahrung nur die hinteren Ränge. Und ganz so schlecht kann die Akustik eigentlich nicht sein.
Denn es gibt in der Kirche ein musikalisches Prunkstück, und zwar eine 1845/46 von Aristide Cavaillé-Coll gebaute Orgel. Camille Saint-Saëns und Fauré waren hier Organisten, Franz Liszt, Clara Schumann, Anton Bruckner und viele andere haben auf dieser Orgel gespielt und hätten das kaum gemacht, wenn die Akustik wirklich so schlimm gewesen wäre. Auch für zahlreiche Musiker wurden die Totenmessen in der Madeleine gehalten, so -neben Camille Saint-Saëns und Fauré- auch für Frédéric Chopin, Jacques Offenbach und Charles Gounot.
Der im Stil der italienischen Renaissance gestaltete Prospekt der Orgel
Die prominente Lage und das imposante Erscheinungsbild tragen wohl mit dazu bei, dass die Madeleine ein beliebter Ort für Konzerte ist. Besonders häufig steht dabei Mozarts Requiem auf dem Programm – das spielt bei den Chorwerken eine ähnliche Rolle wie Vivaldis vier Jahreszeiten, die auch regelmäßig in Paris präsentiert werden. Mich hat oft erstaunt, dass die große Kirche aber trotzdem immer wieder gut gefüllt war.
Ich vermute, dass es sich bei den Besuchern vor allem um Touristen handelte, die eben gerne einmal ein Konzert in der Madeleine erleben wollten. Das Requiem zu singen, wird mir aber nie langweilig: Es ist ein wunderbares Werk und dazu war es auch noch mein „Einstieg“ in das Chorsingen in Paris.
Und immerhin erschöpft sich mein „Madeleine-Programm“ nicht mit Mozarts Requiem.
Lohnend ist der Besuch der Madeleine übrigens besonders zur Weihnachtszeit, wenn eine beeindruckende Krippe aufgebaut ist.
Und für Fans von Johnny Holiday ist die Kirche sowieso ein Anziehungspunkt. Denn hier fand nicht nur seine Totenmesse statt, sondern es gibt auch weiterhin an jedem 9. eines Monats eine Johnny-Holiday- Messe und sogar rechts hinter dem Eingang einen kleinen Altar für ihn! [7]
Das Mitsingkonzert 2018 in der Pariser Philharmonie
Zufällig hatte ich von Berliner Bekannten erfahren, dass 2018 ein Mitsingkonzert (sing along) in der Pariser Philharmonie stattfinden werde. Es handelt sich dabei um eine Initiative des Rundfunkchors Berlin und seines Dirigenten Simon Halsey. Amateursängern soll die Möglichkeit geboten werden, „einmal im Jahr mit einem Profi-Chor unter professionellen Arbeitsbedingungen proben und singen können.“[8] Die Aufführungen finden immer in einer großen Konzerthalle statt, in der die maximal 1300 Teilnehmer, das Orchester und die Zuhörer Platz finden. Meistens war das die Berliner Philharmonie, aber gesungen wurde auch schon in anderen Städten wie Budapest, Wien, Barcelona… Die Chance, im Rahmen des Mitsingkonzerts 2018 in der Pariser Philharmonie singen zu können, ließ ich mir natürlich nicht entgehen. Seit ihrer Eröffnung 2015 waren wir schon öfters bei Konzerten in der Philharmonie gewesen. Das von dem französischen Stararchitekten Jean Nouvel entworfene Gebäude finden wir zwar teilweise nicht sehr überzeugend, aber der Konzertsaal ist grandios. Von allen Plätzen –selbst den billigsten- hat man einen freien Blick auf die Musiker und hört –wie in diesem Jahr bei Barenboims Mondscheinsonate- jeden sanften Anschlag, als säße man ganz nahe dabei.
Im Gegensatz zu dem traditionellen sing along in der Londoner Royal Albert Hall legt das Berliner Format der Mitsingkonzerte auch Wert auf eine gemeinsame Probenarbeit. In Paris begann die Veranstaltung am Freitag Nachmittag mit einer ersten Probe. Weitere Proben gab es am Samstag und am Sonntag Vormittag, nachmittags war dann die Aufführung.
Begleitet wurden alle Proben von dem professionellen Berliner Rundfunkchor und dann auch von dem Orchester, dem Concerto Köln. Es war ganz deutlich zu hören, dass die Teilnehmer/Innen den Messias, der diesmal auf dem Programm stand, sehr gut kannten. Er gehört ja auch zu den klassischen großen Chorwerken. Und in Berlin gab es, wie ich hörte, zusätzliche vorbereitende Angebote. Die Probenarbeit konnte sich insofern auf die Interpretation konzentrieren und das machte Simon Halsey ganz überzeugend: Sehr klar und zielgerichtet, aber auch mit kleinen informativen Geschichten garniert und mit seinem wunderbaren englischen Humor präsentiert. Dann den Messias mit über 1000 Sänger/innen in dem wunderbaren Raum der Pariser Philharmonie zu singen, war dann natürlich ein ganz besonderes Erlebnis. Einen kleinen Eindruck davon kann der kleine Film auf youtube vermitteln.[9]
Anmerkungen
[1] Näheres auf der homepage des Chors: http://lacrymavoce.com/
[2] http://www.matthieu-stefanelli.com/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/La_Trinit%C3%A9_(Paris)
(4) Bild aus dem Wikipedia-Artikel über das Mendelssohn-Denkmal (Leipzig)
(4a) siehe diesen Beitrag speziell zu Camille Claudel: https://www.midilibre.fr/2013/03/13/vichy-est-responsable-de-la-mort-de-camille-claudel,659049.php und allgemein: http://diagonaledelart.blogs.liberation.fr/2018/04/30/lhecatombe-des-fous/ und https://fr.wikipedia.org/wiki/Extermination_douce
[5] Ein Beitrag über Erinnerungsorte von Camille Claudel (Villeneuve-sur-Fère, Nogent-sur-Seine, Paris, Montfavet) steht auf dem Programm dieses Blogs. Bild der Orgel aus: https://de.wikipedia.org/wiki/St-Roch
(6) Die Kirche Saint Sulpice in Paris (1): Die Musik, die Krypta, Pigalle und die Säulen von Leptis Magna. https://paris-blog.org/2017/07/11/die-kirche-saint-sulpice-in-paris-teil-1-die-musik-die-krypta-pigalle-und-die-saeulen-von-leptis-magna/
Die Kirche Saint Sulpice in Paris (2): Der Gnomon, der Kampf mit dem Engel von Delacroix und das café de la mairie https://paris-blog.org/2017/07/22/die-kirche-saint-sulpice-in-paris-teil-2-der-gnomon-der-kampf-mit-dem-engel-von-delacroix-und-das-cafe-de-la-mairie/
[7] https://www.closermag.fr/people/johnny-hallyday-a-la-madeleine-une-messe-aura-lieu-tous-les-9-du-mois-en-l-ho-771346
[8] https://www.rundfunkchor-berlin.de/projekt/mitsingkonzert/
[9] https://www.youtube.com/watch?v=PBZByKjTx9c
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