Seit 2009, als wir gemeinsam unsere Berufstätigkeit beendet haben, leben meine Frau und ich in Paris. Zunächst war das nur für ein Jahr geplant. Jetzt sind daraus aber schon viele Jahre mehr geworden und es sollen auch noch einige Jahre folgen. Das Leben in Paris –kombiniert mit der Möglichkeit, in vier Stunden auch wieder in der alten Heimat zu sein- ist eine große Herausforderung und Bereicherung. Dieser neue Lebensabschnitt in Frankreich ist die konsequente Fortsetzung einer langen Beziehung zu Frankreich: Meine Frau war Französisch-Lehrerin. Für mich war das Französische zwar nur vierte Fremdsprache, aber ich erhielt schon als Schüler ein Sprach- Stipendium des deutsch-französischen Jugendwerks, um als "Dolmetscher" das Orchester meines Darmstädter Gymnasiums in unsere Schwesterstadt Troyes zu begleiten. Und schon als Schüler besuchte ich - auf abenteuerliche Weise als Tramper- zum ersten Mal Paris. Es folgte während meines Studiums (Germanistik, Geschichte und Politik) ein Aufenthalt an der Universität Besancon. Dort erhielt ich auch die Anregung zu meiner Promotion über den im französischen Exil entstandenen Roman Heinrich Manns über die Jugend und die Vollendung des "guten Königs" Henri Quatre. Als Ausbilder von Lehrkräften aus Staaten der Europäischen Union und Betreuer von französischen Referendar/innen am Studienseminar in Frankfurt hatte ich auch während meiner Berufstätigkeit engen Kontakt zu Frankreich. Und im Laufe der Zeit entstanden viele gemeinsame Kontakte und Freundschaften, so dass Paris der "natürliche" Ort eines neuen Lebensabschnitts war.
Als Historiker interessiere ich mich besonders für die deutsch- französische Geschichte und die wechselseitigen deutsch-französischen Sichtweisen in Vergangenheit und Gegenwart; und natürlich für diese wunderbare Stadt Paris mit ihren vielen Facetten, ihrem historischen und kulturellen Reichtum, aber auch ihren Widersprüchen. Als ehrenamtlicher Stadtführer von „Parisien d’un jour“ versuche ich, Besuchern der Stadt etwas von den in den gängen Reiseführern eher stiefmütterlich behandelten Seiten der Stadt zu vermitteln. Und auch mit diesem Blog möchte ich dazu beitragen, das Interesse an Frankreich und Paris zu befördern und Lust zu machen, auf Entdeckungsreise zu gehen.
Das Grand Palais wird derzeit aufwändig restauriert, der Figaro spricht sogar von travaux pharaoniques, Arbeiten pharaonischen Ausmaßes. 2024, also rechtzeitig zu den Olympischen Spielen, soll das Bauwerk in neuem Glanz erstrahlen und als einer der Austragungsorte der Olympischen und der Paralympischen Spiele dienen.[1]
Während der Bauarbeiten ist das Grand Palais von einem 900 Meter langen Bauzaun umgeben, auf dem mit einem Comic die bewegte Geschichte des Bauwerks dargestellt ist – eine Art der Nutzung, die auch auf dem Bauzaun um Notre Dame angewendet wurde und wird [2]: Immerhin haben Comics in Frankreich als Ausdrucksform der nationalen Kultur Legitimität erlangt. Sie sind ein etabliertes Kulturgut und gelten als „9. Kunst“.[3]
Der verantwortliche Künstler dieses Werkes ist Nayel Zeaiter, in Frankreich bekannt vor allem wegen seiner auf 100 Tafeln aufgezeichneten „Histoires de France“.[4]
Auch für einen so erfahrene Comic-Spezialisten sind 900 m Bauzaun allerdings eine große Herausforderung. Chris Dercon, bis 2022 Président de la Réunion des musées nationaux – Grand Palais“ und als solcher für die Neukonzeption des Grand Palais und wohl auch für die Auftragsvergabe an Nayel Zeaiter zuständig, schreckte sogar nicht vor einem Vergleich mit dem Teppich von Bayeux zurück.[5] Das ist sicherlich gar zu hoch gegriffen. Zumal man manchmal den Eindruck hat, dass sich Zeyaiter bisweilen arg mühsam etwas einfallen ließ, um diese 900 m auszufüllen. Da geht man dann gerne schnell vorbei – etwa wenn es um die -weit ausgebreitete und etwas herbeigeholte Prometheus-Sage geht oder die „Ahnengalerie“ der französischen Kultusminister. Und der historische Hintergrund wird manchmal recht eigenwillig/lakonisch erläutert. Aber es gibt genug interessante Passagen, und insgesamt entsteht ein umfassendes und abwechslungsreiches Panorama der Geschichte des Grand Palais. Hier nun einige Ausschnitte/Eindrücke:
1897 begannen die Bauarbeiten des Grand Palais. Bis zur Weltausstellung 1900 musste es fertig sein, weil das Grand Palais zusammen mit dem gegenüber liegenden Petit Palais zentraler Ausstellungsort war.
„Es gab einen Hafen gleich nebenan.“
Begünstigt wurden die damaligen Bauarbeiten durch die Nähe zur Seine (unten auf der Skizze). Dort gab es den Hafen de la Conférence. links Grundriss des Grand Palais, rechts des Petit Palais. Diese beiden Gebäude wurden erschlossen durch eine neue Verkehrsachse (heute Avenue Winston Churchill) zwischen der Avenue des Champs Elysées und der ebenfalls neu errichteten Brücke Pont Alexandre III.
Die Bauarbeiten begannen damit, dass 3400 angespitzte Eichenpfähle mit Hilfe einer Dampfmaschine in den Boden gerammt wurden.
Die Baumaterialien wurden vor allem auf der Seine per Schiff und auf Kanälen mit Booten herangeschafft. Dafür gab es Treidelpfade und besonders kräftige Pferderassen, die im 19. Jahrhundert für solche Zwecke gezüchtet wurden. Auf diesem Comic-Bild ist es ein „percheron“, ein Kaltblütler aus dem Perche, einer Gegend nord-westlich von Paris.
Auch Dampflokomotiven kamen zum Einsatz. Auf der Baustelle wurden die Wagen aber auch mit Menschenkraft geschoben.
Hier wird ein Kapitell behauen. Während die Fassade aus Stein gebaut ist, ist besteht die Konstruktion der Ausstellunghalle und der riesigen Kuppel aus Eisen und Glas.
Die Metallteile wurden mit Hilfe von Nieten verbunden. Dafür waren spezielle Facharbeiter, die Riveteurs, zuständig.
An den beiden Ecken der Fassade wurden Statuen errichtet. Hier „Die über die Zwietracht triumphierende Harmonie“. „Man nennt sie ‚die Quadrigen‘, weil es von vier Pferden gezogene Wagen sind.“
Das Grand Palais war dem „Ruhm der französischen Kunst“ gewidmet. Zur Eröffnung wurden zwei große Ausstellungen präsentiert: Die Centennale, eine Retrospektive der französischen Kunst im 19. Jahrhundert, und die Décennale zur französischen Kunst des letzten Jahrzehnts.
Die nächste große Ausstellung war die Exposition internationale des Arts et techniques von 1937. Da gab es Pavillons verschiedener Länder, zum Beispiel die der UdSSR und Nazi-Deutschlands (von Albert Speer entworfen) zwischen Eiffelturm und Palais de Chaillot.
Im östlichen Flügel des Grand Palais wurde anlässlich dieser Ausstellung ein Wissenschaftsmuseum (Le palais de la découverte) eingerichtet.
Zur Ausschmückung des Museums erhielt der Maler Fernand Leger den Auftrag für ein monumentales Wandbild.
Sein Titel: Le Transport des forces. Es ging dabei um die Wasserkraft.
Als einziges der für die Ausstellung geschaffenen Werke Legers ist dieses Wandbild erhalten. Der Vergleich mit dem nachfolgend abgebildeten Original zeigt, wie exakt Nayal Zeaiter den Comic gestaltet hat.[6]
Im neuen Grand Palais soll das Bild Legers 2025 ausgestellt werden.
Das nächste große bewegte Kapitel des Grand Palais ist die Zeit der deutschen Besatzung.
„Die Deutschen hatten 1933 die Nazis gewählt. Sie hatten den Ersten Weltkrieg verloren, also beschlossen sie, einen zweiten anzufangen. …. Im Juni 1940 fällt Deutschland in Frankreich ein. Marschall Pétain wird Regierungschef und schließt am 22. Juni 1940 den Waffenstillstand mit den Deutschen“. (Na ja…. eine etwas problematische, auch inhaltlich nicht ganz korrekte Erläuterung… W.J.)
„Als sich die Deutschen in Paris niederließen, benötigten sie einen Platz, um ihre Lastwagen abzustellen. Also haben sie sie im Grand Palais abgestellt. … Das war praktisch“
„Seit Mai 1941 wurde das Grand Palais wieder wie früher genutzt … Es gab mehrere Ausstellungen unter der Leitung von Jacques de Lesdain, einem Geschäftsmann und Journalisten. … Vom 31. Mai bis zum 31. Oktober fand im Grand Palais die von Lesdain organisierte Ausstellung LA FRANCE EUROPÉENNE statt.“
In der Ausstellung wurde die Besetzung Frankreichs als Teil der Konstruktion Europas präsentiert: Gestern (hier: links) ein von Grenzen durchzogenes Europa, morgen (demain: rechts) ein Europa ohne Grenzen. „Lesdain nahm den Schengen-Raum vorweg, auch wenn sich das alles dann etwas anders als ursprünglich vorgesehen entwickelt hat“. (Glücklicherweise – möchte man da gerne hinzufügen).
Auch Reitturniere und Zirkusveranstaltungen fanden in der Besatzungszeit im Grand Palais statt. Und noch im August 1944, zwei Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie (!), wurde eine neue Ausstellung unter der Schirmherrschaft des Marschalls Pétain eröffnet: L’âme des camps: Da sollten die Solidarität und Kreativität der französischen Kriegsgefangenen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern (Stalags) veranschaulicht werden.
Kurz darauf begann die Befreiung von Paris.
Dabei schoss ein Polizist aus dem im Grand Palais installierten Polizeirevier auf vorbeikommende deutsche Soldaten.
Die gingen zum Gegenangriff über. Im Grand Palais brach ein Feuer aus, unter anderem genährt durch das Futter der Zirkustiere. Das Feuer konnte aber bald gelöscht werden. Auf der gegenüberliegenden Seite der Avenue Franklin Roosevelt befindet sich übrigens heute der Sitz der Deutschen Botschaft, vor dem in Erinnerung an den Elysée-Vertrag von 1962 60 Jahre deutsch-französischer Freundschaft gefeiert werden…
Nach der Befreiung von Paris fand im Grand Palais eine erneute Ausstellung über französische Soldaten in Kriegsgefangenschaft statt. Diesmal allerdings mit anderer Tendenz: Es ging um das Leiden der gefangenen Franzosen und die Verbrechen der Deutschen.
Der Einfachheit halber wurden auch Stücke aus der vorherigen Ausstellung übernommen, zum Beispiel ein Wachturm. Auch „das war praktisch“.
Nach dem Krieg gab es viele Diskussionen über die Zukunft des Grand Palais. Der große Architekt Le Corbusier schlug sogar vor, einen Teil des alten Paris abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen, darunter auch das Grand Palais.[7]
Dazu passt sehr schön das (auf dem Foto etwas verkürzt wiedergegebene) Comic-Schild: Périphérique intérieur mit dem Symbol der monuments historiques. Denn nach den Vorstellungen von Le Corbusier sollte eine Stadtautobahn – im Stil der Pariser Ringautobahn boulevard périphérique– das historische Zentrum von Paris durchschneiden… Mit dem Tod von Le Corbusier wurden diese Pläne aber glücklicherweise ad acta gelegt.
Unter de Gaulles Kulturminister André Malraux wurden im Grand Palais flexibel verwendbare Galerieräume für große Kunstaustellungen eingerichtet. Eröffnet wurden sie 1966 mit einer Picasso-Ausstellung, 1970 folgt eine weitere zu Matisse.
Während einer Antiquitätenmesse stürzte im Juni 1993 ein Niet der Glaskuppel zu Boden. Außer einem Nähkästchen waren keine Opfer zu beklagen, aber die Notwendigkeit einer Renovierung war unabweisbar. Erst 2005 konnte das Grand Palais wieder eröffnet werden, jetzt als Teil der Staatlichen Museen. (Réunion des Musées Nationaux).
Aber der Sanierungsbedarf war doch umfassender:
Ursachen waren große Lasten, die man unter der Kuppel aufgehangen hatte, der Brand von 1944 und das Eindringen von Regenwasser. Dazu kamen Probleme mit den Fundamenten: Es gab Bodenverschiebungen wegen der Nähe zur Seine und morsche Eichenpfähle.
Das Grand Palais musste erneut geschlossen werden. Ein provisorischer Ersatzbau. das Grand Palais Éphémère, wurde auf dem Champ de Mars zwischen Eiffelturm und Militärakademie (École Militaire) errichtet.
2024 wird ein Teil des Grand Palais für die Olympischen und Paralympischen Spiele wieder geöffnet werden.
Ein wesentliches Prinzip der Neugestaltung des Grand Palais wird die Öffnung der verschiedenen Bereiche sein, die von einem zentralen Platz aus für die Besucher zugänglich gemacht werden.
2025 wird dann das Grand Palais insgesamt wieder geöffnet werden. Es soll nach dem Konzept der Verantwortlichen nicht der Präsentation des kulturellen Erbes dienen, sondern ein lebendiger Ort von Ausstellungen sein. Im Mittelpunkt sollen nicht Werke und Wissen stehen, sondern die Öffentlichkeit. Man darf gespannt sein….
Die Quadriga an der place Clemenceau strahlt jedenfalls im Mai 2023 schon in neuem Glanz….
[3] Siehe: Stefanie Middendorf, Modernitätsoffensiven, Identitätsbehauptungen.„Bandes dessinées“ und die Nationalisierung der Massenkultur in Frankreich. Zeithistorische Forschungen Heft 1/2012 https://zeithistorische-forschungen.de/1-2012/4601
2024 wird Paris zum dritten Mal nach 1900 und 1924 Austragungsort der Olympischen Sommerspiele sein.
Hemd eines Bademeisters in unserem Pariser Schwimmbad…
Die Ansprüche sind hoch: Immerhin handelt es sich nach den Worten von Staatspräsident Macron um die größte jemals in Frankreich organisierte Veranstaltung. Ein echtes Volksfest sollen die Spiele werden (une vraie fête populaire), auf das Frankreich stolz sein könne. [1] Entsprechend auch Le Parisien in einem Leitartikel vom 15. April 2023, der sich ein allumfassendes Volksfest wünschte: „une fête populaire et totale“. Die Olympischen Spiele von 2024, auf die Frankreich seit 100 Jahren warte, sollten sich im kollektiven Gedächtnis einprägen als „die erfolgreichsten Spiele aller Zeiten“.[2]
Spektakuläre Wettkampfstätten
Auch das Organisationskomittee weckt höchste Erwartungen: Paris sei immerhin nicht eine Stadt wie jede andere und solle während der Spiele mit einem „spectacle total“ in Szene gesetzt werden. Dazu dient vor allem die Auswahl der Wettkampfstätten. Austragungsort vieler Wettkämpfe sind nämlich nicht wie üblich Sportstadien, sondern „spektakuläre Orte im Herzen der Stadt“. Durch die Wettkampfstätten sollen die Wahrzeichen der Stadt und ihre schönsten Monumente in den Blickpunkt der Wettkämpfer und der Zuschauer vor Ort und an den Fernsehschirmen in aller Welt gerückt werden.[3]
Auf dem Marsfeld, zu Füßen des Eiffelturms, finden die Wettkämpfe im Beach-Volleyball statt.
Das Grand Palais wird nach mehrjähriger Renovierung mit den Wettkämpfen im Fechten und Taekwondo wieder eröffnet.[4]
Auf der Place de la Concorde werden Arenen für Straßensportarten wie Skateboard und Breakdance aufgebaut. [5]
Die Champs-Élysées, gerne als „die schönste Avenue der Welt“ gerühmt, werden natürlich -wie ja auch immer zum Abschluss der Tour de France- zusammen mit der place de l’Étoile und dem Arc de Triomphe – Schauplatz des Straßenradfahrens sein.
Und zu diesem Anlass soll auch der erste Abschnitt einer Neugestaltung der Champs-Elysées, mit dem schönen Namen Réenchanter les Champs-Elysées, abgeschlossen sein.[7]
Zu den spektakulären Wettkampforten der Olympiade werden auch die Seine und der Pont Alexandre III gehören.
An bzw. unter dieser Brücke sind nicht nur Start und Ziel der Triathlon-Wettkämpfe, sondern dort wird auch der Wechsel der drei Disziplinen stattfinden. Die Organisatoren versprechen sich davon „ein atemberaubendes Schauspiel“- vor allem natürlich für die 1000 Zuschauer, die das Glück und das Geld haben, die Wettkämpfe von der auf der Brücke aufgebauten Tribüne aus verfolgen zu können.[8]
Ein würdiger und passender Rahmen für die Reitwettbewerbe und den Modernen Fünfkampf wird der Schlosspark von Versailles sein. Versailles war ja berühmt für seinen Großen Marstall: Um 1750 gehörten über 2000 Pferde zum königlichen Hof.
Für die olympischen Spiele wird die von Le Nôtre 1680 geplante allée royale am Ende des Großen Kanals genutzt und ausgebaut werden, die -mit Blick auf das Schloss- 20 000 Zuschauer aufnehmen kann.[9]
Wenn von spektakulären Wettkampforten die Rede ist, dürfen natürlich die zum zweiten Mal bei Olympischen Spielen ausgetragenen Surf-Wettbewerbe nicht fehlen. Die finden nämlich in Tahiti statt![10]
Das gehört zu den überseeischen Departements Frankreichs, die damit auch in die Spiele einbezogen werden. Und auf Tahiti gibt es die „mythische Welle von Teahupo’o“, die bis zu 6 Meter hoch sein kann und die nach den Vorstellungen der Organisatoren ein „atemberaubendes sportliches Schauspiel“ verspricht.[11]
Eine Eröffnungsfeier wie noch nie
Diese spektakulären Wettkampfstätten werden allerdings noch übertrumpft durch den Ort der Eröffnungszeremonie. Die findet nämlich nicht im Olympiastadion (dem Stade de France) statt, wie das bei allen bisherigen Olympischen Spielen der Fall war, sondern vor allem auf und entlang der Seine.
Auf 140 bis 170 Schiffen sollen über 10 000 Athletinnen, Athleten und Delegationsmitglieder am 26. Juli 2024 sechs Kilometer lang vom Pont d’Austerlitz im Defilee den Fluss hinunterfahren. Am Pont d’Iéna werden die Boote anlanden, und auf der Höhe darüber, dem Trodacéro, wird gegen 23.50 Uhr bei der Schale mit dem olympischen Feuer und mit Blick auf den Eiffelturm der Abschluss der Zeremonie stattfinden. Die Spiele werden dann offiziell durch Staatspräsident Macron eröffnet.[12]
Die olympischen Ringe auf dem Trocadéro (September 2017, anlässlich der Entscheidung für Paris als Austragungsort der Olympischen Spiele 2024) REUTERS/Benoit Tessier/File
Dieser Ablauf ist eine enorme logistische Herausforderung, wie der Präfekt der Region Ile-de-France, Marc Guillaume, kürzlich noch einmal betonte: Wenn das um 20.24 Uhr gestartete erste Schiff – traditionsgemäß mit der griechischen Abordnung besetzt- am Trocadéro ankomme, sei das letzte Schiff, nämlich das mit der Delegation Frankreichs, noch nicht einmal am Pont d’Austerlitz losgefahren: Eine höchst anspruchsvolle und durchaus risikoreiche Veranstaltung.
Würde sich zum Beispiel aufgrund von Störungen oder besonderen meteorologischen Umständen der Start jedes der vorgesehenen Boote auch nur um zwei Minuten verzögern, würde die abschließende Zeremonie bis zum frühen Morgen dauern- ein Fiasco für die Zuschauer vor Ort und an den Fernsehschirmen in aller Welt, vor allem aber für die Athleten, die teilweise schon am nächsten Tag mit den Wettkämpfen beginnen. Man will vorsichtshalber im Juli 2023 schon einmal eine -allerdings etwas abgespeckte- Probeveranstaltung durchführen, um mögliche Schwachstellen aufzuspüren…[13]
Trotz solcher und anderer Risiken haben sich die Organisatoren aber für diese außergewöhnliche Eröffnungszeremonie entschieden. „Die Stadt wird“, wie es auf der offiziellen Olympia-Website heißt, „zur lebendigen Kulisse für einen außergewöhnlichen Moment. Die verschiedenen Szenen eines totalen Schauspiels zeigen die Monumente, Brücken und kulturellen Einrichtungen, die an der Seine liegen“ und die Teil des UNESCO-Weltkulturerbes „Seineufer“ sind. Für Tony Estanguet, den Chef des Organisationskomittees, soll das nicht nur ein „grandioses Schauspiel“, sondern sogar das größte spectacle aller Zeiten werden.[14]
Animation des Defilees am Pont Neuf
Damit mag er den Mund vielleicht etwas arg voll genommen haben. Aber bei den (zunächst) eingeplanten „mehr als 600 000 Zuschauern“ allein für die Eröffnungsveranstaltung ist unbestreitbar, dass es sich um die „größte Zeremonie“ der Olympia-Geschichte handeln wird.[15] 100 000 Zuschauer sollen dabei auf den Tiefkais direkt am Fluss Platz nehmen. Die dortigen Plätze kosten zwischen 90 und 2700 Euro.[16]
Auf den Hochkais darüber sollen 500 000 weitere Zuschauer kostenlos das Schauspiel verfolgen können.[17] Damit ist nicht nur dem Anspruch der Grandiosität Genüge getan, sondern auch dem der „volkstümlichen Spiele“: Denn es ist ein Anspruch gerade auch von Präsident Macron, dass die Pariser bei der Olympiade nicht außen vor bleiben sollen, sondern sich mit ihr identifizieren und an ihr teilhaben können. Enttäuschungen gibt es aber trotzdem: Wer überhaupt zu den per Los ausgewählten Glücklichen gehörte, denen die Chance eines Ticket-Angebots für einen Platz auf den Tiefkais eröffnet wurde, musste schon kurz nach Öffnung der Kartenvergabe feststellen, dass – wenn überhaupt- nur noch Plätze ab 1600 Euro verfügbar waren…[18]
Planziel für Olympia: Frankreich unter den Top 5- Nationen!
Als Staatspräsident Macron im September 2021 die französischen Medaillengewinner der Olympischen Spiele von Tokio im Elysée-Palast empfing, stellte er trocken fest, die Medaillenausbeute entspreche nicht den Erwartungen. Frankreich hatte damals mit 12 Goldmedaillen und 32 Medaillen insgesamt den 8. Platz der Nationenwertung erreicht. Für Macron bei weitem nicht genug: „2024 muss es wesentlich besser werden. Frankreich muss sich dauerhaft unter den Top 5 der olympischen und paralympischen Spiele etablieren.“ Der Erfolg der Spiele werde am Erfolg der französischen Sportler gemessen, „car ça marche comme ça“ (weil es so läuft).[19] 2023 bekräftigte die französische Sport- und Olympia-Ministerin Amélie Oudéa-Castéra dieses Planziel: „Man kennt unseren Anspruch: Es ist ein Platz unter den Top 5 der Nationen.“[20] Zum Vergleich: Deutschland lag damals noch einen Platz hinter Frankreich: zwar mit 37 Medaillen insgesamt etwas besser, allerdings einer entscheidenden Silbermedaille weniger. Aber es ist wohl völlig unvorstellbar, dass Bundespräsident Steinmeier und die für den Sport zuständige Innenministerin Faeser solche Vorgaben gemacht hätten oder machen würden wie ihre französischen Pendants: Die Rolle des Staates ist in Frankreich -und zwar nicht nur im Bereich der Wirtschaft- eine andere als in Deutschland, und die des „republikanischen Monarchen“ an der Spitze Frankreichs sowieso eine völlig andere als die des deutschen Bundespräsidenten… Bezeichnend ist auch, dass ein Jahr vor den Olympischen Spielen das Thema Medaillenausbeute in den deutschen Medien -soweit ich das sehe- keine Rolle spielt. Ganz anders in Frankreich, wo es in den Medien allgegenwärtig ist: Sogar die den Sport im Allgemeinen kaum berücksichtigende Zeitung Le Monde hat am 23.3.2023 den Medaillen-Ambitionen und -Aussichten Frankreichs ganze zwei Seiten gewidmet![21]
Inzwischen scheint das Top 5- Ziel Allgemeingut des französischen Selbstverständnisses zu sein. Und die französische Sportpolitik hat dementsprechend auch einiges getan, um die Voraussetzungen zu seiner Erreichung zu schaffen: entsprechende organisatorische Strukturen, die Konzentration auf die Förderung von potentiellen Medaillengewinnern und vor allem natürlich auch erhebliche finanzielle Mittel. Vorbild dabei ist Großbritannien, das nach einem „demütigenden“ Ergebnis 1996 systematisch medaillenträchtige Athleten und Sportarten gefördert hat und seit den Spielen von Peking 2008 fest unter den Top 5- Nationen etabliert ist.[23]
Bei der Beurteilung des französischen Plansolls werden in der Presse immer wieder zwei Olympiaden zum Vergleich herangezogen: Die Spiele von Atlanta 1986, als Frankreich mit 15 Goldmedaillen schon einmal den 5. Platz der Nationenwertung erreichte, und die Spiele von Tokio 2021 mit 10 Goldmedaillen und einem 8. Platz. Dass das politische Medaillen – Ziel erreichbar ist, wird aber immer wieder betont: Auch mit Verweis auf 16 französische Weltmeisterschafts-Gewinner in den olympischen Disziplinen 2022 und 45 Medaillen. Insofern könne man hoffen, in der Medaillenzahl insgesamt (bisher 43 in Peking) und bei den Goldmedaillen (bisher 15 in Atlanta) in Paris einen zweifachen nationalen olympischen Rekord aufzustellen; oder sogar einen dreifachen: Denn die Ergebnisse von 2022 würden Frankreich sogar- auf Olympia übertragen- auf den vierten Platz der Nationenwertung hieven.[24]
2017, als Paris zum Austragungsort der Olympischen Spiele nominiert wurde, gab die damalige Sportministerin Laura Flessel sogar sehr ehrgeizige 80 Medaillen als Ziel an. Die Sportzeitung L’Equipe war da 2022 schon deutlich bescheidener mit einer Zielvorgabe von 50 Medaillen.
Für Claude Onesta, den Chef der französischen Kaderschmiede Agence nationale du sport müssten es allerdings schon 60-70 Medaillen sein, um den 5. Platz zu erklimmen, aber er hielt im März 2023 sogar 107 französische Medaillen für wahrscheinlich! („107 médailles probables“). Wie auch immer… Jedenfalls müssten nach der Prognose von Fabien Canu, dem Direktor des Institut national du sport, 15 bis eher 20 Goldmedaillen dabei sein, um sicher unter die ersten 5 Nationen zu kommen, was er aber für erreichbar hält.[25] Dabei wird gerne auf den motivierenden Heimvorteil verwiesen und es werden französische Goldmedaillen-Favoriten herausgestellt:
Der Zehnkämpfer Kevin Meyer, auf dessen Schultern ein immenser Erwartungsdruck lastet.[26]
Dazu gehören unter anderen und vor allem der Zehnkämpfer Kevin Meyer, Weltrekordhalter, Weltmeister und zweimaliger Silbermedaillengewinner bei Olympischen Spielen…
….der fast schon legendäre Judoka Teddy Riner, Medaillengewinner bei allen Olympiaden seit 2008, davon dreimal Gold, der gerade im Alter von 34 Jahren seinen 11.Weltmeisterschaftstitel gewonnen hat- beste Aussichten also für die Pariser Olympiade, wie Le Parisien vom 14.5. in seiner Eloge schreibt.. [26a]
… und der neue Schwimmsportstar Léon Marchand, der schon als „bester Schwimmer aller Zeiten“ gerühmt wird und dem gleich mehrere Goldmedaillen zugetraut werden; gewissermaßen als Nachfolger von Michael Phelps- und der hatte ja bei den Olympischen Spielen von Peking achtmal das Siegertreppchen bestiegen…[27]
Beste Voraussetzung also auch in dieser Hinsicht für glanzvolle und erfolgreiche Olympische Spiele von Paris.
Das Emblem der Olympischen und Paralympischen Spiele 24, eine Kombination von Goldmedaille, olympischer Flamme und Marianne, der Personifizierung der Französischen Republik und ihrer Ideale.[28]
Aber was ist, wenn…? Die Olympischen Spiele als mögliche Bühne für Proteste gegen Macron und die Rentenpolitik
Eigentlich könnten also die Verantwortlichen beruhigt den Olympischen Spielen entgegensehen und sich auf die noch notwendigen Vorbereitungen konzentrieren. Zumal eine große Mehrheit der Franzosen, nämlich 69%, laut einer Umfrage von Anfang 2023 die Abhaltung der Spiele in Paris unterstützt, auch wenn das ein Rückgang von 5 Punkten gegenüber der Umfrage von Oktober 2021 ist, was auch damit zusammenhängen mag, dass eine noch größere Mehrheit die Ticketpreise für zu hoch hält.[29]
Aber es gibt doch auch Anlass zu Sorgenfalten. Denn der Protest gegen die Rentenpolitik Macrons hat sich ja, wie die Demonstrationen am 1. Mai 2023 zeigten, noch nicht gelegt, auch wenn das französische Verfassungsgericht, der Conseil constitutionnel, die Reform gebilligt hat und die Reform damit sozusagen unter Dach und Fach ist. Schon während der bisherigen Demonstrationen hat sich gezeigt, dass in Teilen der Protestbewegung die Olympischen Spiele als möglicher Hebel des Widerstands gesehen werden und als Bühne für eine öffentlichkeitswirksame Darstellung der colère, der Empörung über das rabiate Vorgehen des Präsidenten, genutzt werden könnten.[30]
„Paris 2024 wird nicht stattfinden“. Foto vom 6. April 2023, dem 11. Tag der Mobilisierung gegen die Rentenreform. Le Monde (18. April 2023)
In den sozialen Medien kursiert seit einiger Zeit der Slogan „Pas de retrait, pas de JO“: Wenn also Macron die Reform nicht zurücknehme, werde es keine Olympischen Spiele geben.
Es handelt sich also um einen Aufruf, die Vorbereitungen und den Ablauf der Olympischen Spiele zu stören, weil man damit Macron an einem schwachen Punkt zu treffen hofft.[31] Solche Aufrufe kommen von einzelnen Aktivisten von rechts und links, sie werden auch von Organisationen wie Attac unterstützt. Ob bzw. inwieweit sie befolgt werden, ist derzeit wohl völlig ungewiss. Laurent Berger, der Chef der mitgliederstärksten Gewerkschaft CFDT, hat sich jedenfalls schon deutlich für ruhige Spiele ausgesprochen: Die Spiele sollten ein Fest werden, ein „magischer Moment für alle, die den Sport lieben“. Derartige Drohungen oder Aktionen sollten also unterbleiben. Und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die die Aktionen gegen die Rentenreform ausdrücklich unterstützte und zunächst auch dem Olympia-Projekt sehr skeptisch gegenüberstand, rief dazu auf, die Spiele nicht als Geisel zu benutzen. Im Umkreis der Regierung erwartet man sogar eine „union sacrée sur les JO“, also die Aussetzung innenpolitischer Auseinandersetzungen während der Olympiade nach dem Vorbild des „geheiligten Bundes“ im Ersten Weltkrieg. Ganz so sicher scheint sich die Regierung aber nicht zu sein und durchaus mögliche Probleme zu befürchten. So will die öffentliche Pariser Verkehrsgesellschaft RATP auf Drängen der Regierung den Bediensteten bei Metro, Bus und RER (S-Bahn) einen Olympia-Bonus gewähren, um Protestaktionen während der Spiele vorzubeugen… Auch die Beschäftigten der Bahn und der Pariser Flughäfen sollen bedacht werden. Ein Fiasco wie die Absage des Antrittsbesuchs des englischen Königs Charles III soll um jeden Preis verhindert werden.[32]
Das Verkehrssystem: Die Achilles-Ferse der Olympischen Spiele
Bei der Bewerbung um die Olympischen Spiele hatte die Stadt Paris als besonderen Vorzug das Transportsystem herausgestellt: 100% der Besucher würden mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Sportstätten erreichen können. Dafür wurde ein ehrgeiziges Ausbauprogramm entwickelt mit dem Ziel, die einzelnen Sportstätten und sonstigen olympischen Einrichtungen wie das Pressezentrum oder das olympische Dorf zu verbinden. Das sind immerhin insgesamt 25 Orte, davon 12 in Paris und 13 im Pariser Umland (petite et grande couronne).
Dazu soll/te das überwiegend marode, überalterte und schon im Normalbetrieb völlig überforderte System der öffentlichen Verkehrsmittel so weit ertüchtigt werden, dass es Millionen zusätzlicher Verkehrsteilnehmer bewältigen kann. Gerechnet wird von den für den Transport Verantwortlichen immerhin mit etwa 500 000 Zuschauern, Teilnehmern und Offiziellen, die während der Spiele täglich befördert werden müssen. Die französische Sportministerin geht sogar von 800 000 täglichen Olympia-Verkehrsteilnehmern aus, 600 000 Zuschauern und 200 000 Akkreditierten, also Sportlern, Pressevertretern, Angestellten, freiwilligen Helfern und Offiziellen. Ob dazu die geplante Ausweitung des bestehenden Angebots um 15% ausreichen wird, sei dahingestellt.[33]
Kein Wunder, dass angesichts solcher immenser Herausforderungen die Sorge vor Protestaktionen hoch ist. Dies auch deshalb, weil 2024 eine weitere Öffnung des Verkehrssystems für private Anbieter auf der Tagesordnung steht. Da können Proteste öffentlich Bediensteter, die den Verlust von Privilegien befürchten, nicht ausgeschlossen werden. Möglicherweise wird es deshalb vorsorglich einen Olympia-bedingten Aufschub geben.
Aber selbst wenn die Olympischen Spiele nicht durch Protestaktionen beeinträchtigt werden, ist das Transportsystem die Achilles-Ferse der Spiele. Schon heute ist absehbar, dass die Mammutaufgabe des Transports kaum zufriedenstellend bewältigt werden kann.
Bauarbeiten für die Olympiade am Pariser Nordbahnhof, 3.2.2023 (Photo by JULIEN DE ROSA / AFP) [34]
Vor allem deshalb, weil zwar viel gebaut wird, zahlreiche für die Olympischen Spiele eingeplanten Verkehrsinvestitionen aber nicht rechtzeitig fertig gestellt werden können. Beispielsweise wird die strategisch wichtige Linie 16, die als „offizielle Linie“ der Spiele bezeichnet worden war, nicht verfügbar sein. Sie sollte die nördlich von Paris im Département Seine-Saint-Denis gelegenen Olympia-Orte wie das Olympiastadion, das daneben neu zu errichtende Schwimmstadion und das olympische Dorf miteinander verbinden. Das Centre Aquatique Olympique sollte ein ökologisches Vorzeigeprojekt werden und dem ärmsten und problembeladenen französischen Departement etwas Glanz verleihen. Aber zwei zentrale Sportstätten wie das Olympiastadion (Stade de France) und das Schwimmstadion direkt nebeneinander mussten ein Albtraum für die Verkehrsplaner sein: Schon bei dem Champions-League-Finale am 28. Mai 2022 kam es bei nur 110 000 Besuchern zu massiven Verkehrsproblemen und daraus resultierenden chaotischen Situationen.[35] Deshalb hat man, um das Verkehrssystem durch die Entzerrung von Großwettkampfstätten zu entlasten (und gleichzeitig Kosten zu sparen), die Schwimmwettkämpfe nach Nanterre in den Westen von Paris verlegt. Sie werden dort in der Défense Arena, dem größten Konzertsaal Europas, ausgetragen, in den nun extra Bassins eingebaut werden müssen. Diese Sportstätte ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln relativ gut erreichbar, unter anderem mit der inzwischen voll automatisierten Métro-Linie 1, die als erste Métro-Linie von Paris für die Olympiade von 1900 gebaut wurde…
Es sind aber nicht nur die nicht rechtzeitig fertig gestellten Verkehrsinvestitionen, die Probleme bereiten. Auch die bestehende Infrastruktur leidet unter massiven Problemen, die Bewohner und Besucher von Paris zur Genüge kennen: Überlastungen, teilweise urtümliche Züge, marode Einrichtungen, die immer wieder zu Störungen des Verkehrs führen. Wir vermeiden es deshalb nach Möglichkeit, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und bewegen uns vorzugshalber mit dem Fahrrad. Aber trotzdem haben wir schon öfters die Erfahrung gemacht- zum Beispiel mit Koffern auf dem Weg vom oder zum Bahnhof, in völlig überfüllten Metro-Wagen eingeklemmt zu sein oder gar nicht erst hineinzukommen…
Besonders anfällig sind die beiden RER- (S-Bahn-) Linien B und D, die zu den Hauptverkehrsträgern der Olympischen Spiele gehören: Schienennetz und rollendes Material sind überaltert, was sich auch bis 2024 nicht nachhaltig ändern wird, wie das renommierte Montaigne-Institut in einem detaillierten Bericht über die Transportprobleme während der Olympischen Spiele schreibt.[36] Einen Vorgeschmack gab es im Sommer 2022, als bei brütender Hitze Züge beider Linien in einem Tunnel stundenlang zum Stehen kamen und evakuiert werden mussten.[37]
Für die Organisation der Spiele ist das eine große Herausforderung. Man ist gezwungen, bei den Planungen die bestehenden Unzulänglichkeiten zu berücksichtigen. Das heißt zum Beispiel, dass -entgegen dem ursprünglichen 100%-Ziel der Bewerbung, nicht nur auf öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad und Fuß gesetzt werden kann, sondern auch Autos und Busse eine große Rolle spielen werden. 1400 Busse sollen für den Transport von Athleten und Offiziellen eingesetzt werden. Für das System von Shuttle-Bussen werden gesonderte Fahrspuren mit einer Länge von 185 Kilometern eingerichtet, die sogenannten voies olympiques.[38] Auch der die Stadt umgebende und fast ständig überlastete Boulevard périphérique, der gerade seinen 50. Geburtstag gefeiert hat, soll eine solche olympische Fahrspur erhalten.
Wenn man bedenkt, wie deutlich und eindrucksvoll die Stadt Paris schon in den letzten Jahren die Fahrspuren für Autos zugunsten von Fußgängern und Fahrradfahrern reduziert hat, kann man sich vielleicht ein wenig ausmalen, was das für den nicht-olympischen Verkehr bedeuten wird. Immerhin finden die Olympischen Spiele zur Ferienzeit statt. Aber viele Pariser und Bewohner des Umlandes werden im nächsten Jahr während der Spiele arbeiten müssen, weil sie für deren Ablauf und den touristischen Massenansturm requiriert werden oder sich dafür zur Verfügung stellen. Und viele Einheimische wollen und sollen ja auch die Wettkämpfe direkt verfolgen können, damit die Spiele nicht ein Fremdkörper in der eigenen Stadt werden, sondern das erhoffte Volksfest. Präsident Macron hat allerdings schon in seiner Rede 500 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele vorsorglich gewarnt: Es sei eine Realität, dass trotz der ausgerufenen Generalmobilmachung „einige unserer Mitbürger“ während der Spiele „ein etwas eingeschränktes Leben haben werden“, was den Transport mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder den Privatverkehr angehe.[39]
Eine besondere und zusätzliche Herausforderung stellen dazu auch noch die Paralympischen Spiele (28. August bis 8. September) dar. Fast 350 000 Teilnehmer und Zuschauer mit eingeschränkter Beweglichkeit werden dazu erwartet. Für sie sind die öffentlichen Verkehrsmittel in Paris kaum geeignet. Selbst für noch einigermaßen bewegliche Menschen ist es ja eine Zumutung, dass an Verkehrsknotenpunkten wie der place de la République keine Rolltreppen, geschweige denn Aufzüge existieren. Wir können davon, wenn wir auf dem Weg von oder nach Paris dort kofferbeladen umsteigen und mehrere Treppen überwinden müssen, ein (trauriges) Lied singen. An einer „normalen“ Metro-Station erwartet man ja schon gar nicht den „Luxus“ alters- oder behindertengemäßer Einrichtungen. Die relativ frühe Entstehungszeit des Pariser Metro-Systems erweist sich hier als Nachteil: Als die Metro gebaut wurde, waren Rolltreppen und Aufzüge noch nicht eine Selbstverständlichkeit. Da kann auch eine Olympiade nicht auf die Schnelle Abhilfe schaffen.
Was kann und wird die Stadt also tun, um auch im Bereich des Transports dem Anspruch behindertengerechter, inklusiver Spiele zu entsprechen?[40] Sie will die Flotte barrierefreier Taxis erhöhen, die voie olympique des Boulevard périphérique auch für den Transport von behinderten Menschen öffnen und -wie auch immer im Einzelnen- dauerhaft die selbstständigen Bewegungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung verbessern. On verra….
Die unsichere Sicherheitslage
Ein Großereignis wie die Olympischen Spiele birgt selbstverständlich auch erhebliche Sicherheitsrisiken. Die zu erwartende außergewöhnlichen Zusammenballung von Menschen wird für Diebe ein gefundenes Fressen sein. Nicht von ungefähr wird schon bisher in den Metro-Zügen ständig vor Taschendieben gewarnt. Wesentlich bedrohlicher sind aber die terroristischen Gefahren. Man hat ja 2015 gesehen, dass ein großes Sportereignis zum Ziel eines islamistischen Anschlags wurde: Damals fand im Stade de France, das 2024 das Olympiastadion sein wird, vor rund 80.000 Zuschauern ein Freundschaftsspiel zwischen der französischen und der deutschen Fußballnationalmannschaft statt, bei dem auch der damalige französische Staatspräsident Hollande und der damalige deutsche Außenminister Steinmeier anwesend waren. Glücklicherweise konnte das geplante Eindringen von drei Selbstmordattentätern in das Stadion verhindert werden. So sprengten sich die Attentäter außerhalb des Stadions in die Luft, wobei ein zufällig vorbeikommender Passant getötet wurde. Nicht auszudenken, wenn der Plan der Terroristen -so wie im gleichzeitigen Bataclan-Anschlag- aufgegangen wäre…
Unter Sicherheitsgesichtspunkten stellt die Eröffnungszeremonie ein außergewöhnliches Gefahrenpotential dar. Darüber scheint bei Sicherheitsfachleiten weitgehend Konsens zu bestehen. Sogar der respektable Cour des Comptes hat im Januar 2023 darauf hingewiesen.[41] Der bekannte Kriminologe Alain Bauer ging sogar so weit, die geplante Zeremonie mit 600 000 Zuschauern als „kriminellen Wahnsinn“ (folie criminelle) zu bezeichnen. Bei dieser Art der Veranstaltung gäbe es nichts, was im Blick auf die Sicherheit von Athleten, Veranstaltern und Öffentlichkeit nicht möglich sei.[42] Das geht von der Schwierigkeit, medizinische Notfalleinsätze durchzuführen, über die Gefahr von Panikattacken bis -natürlich- hin zu möglichen terroristischen Angriffen. Denn ein solches von Milliarden Menschen in aller Welt verfolgtes Ereignis mit einer solch extremen Publikumskonzentration biete sich als Ziel von Anschlägen geradezu an. Nach Einschätzung der Pariser Polizeipräfektur sei da keine absolute Sicherheit zu garantieren, zumal es Anschläge zu Lande, zu Wasser und aus der Luft geben könne. [43]
Inzwischen hat sich das denkbare Spektrum terroristischer Anschläge gegenüber 2015 ja noch wesentlich erhöht: Sicherheitsfachleute sind besonders beunruhigt über die Möglichkeit von Drohnenangriffen. Der Krieg in der Ukraine zeige, wie leicht Drohnen militärisch ausrüstbar und einsetzbar seien. Das französische Militär will deshalb diese Gefahr besonders im Auge behalten und sich entsprechend darauf vorbereiten. Dies gilt auch für mögliche Angriffe durch Unterwasserdrohnen. [44]
Eine Maßnahme zur Gefahrenreduzierung wird auch sein, den Zugang zu den kostenfreien Zuschauerplätzen auf den Hochkais der Seine zu reglementieren: Es sollen, anders als zunächst geplant, 17-20 abgegrenzte und gesicherte Zonen eingerichtet werden, für die Eintrittskarten ausgegeben werden. Es wird also nicht möglich sein, sich frei entlang der Seine zu bewegen.
Und was die Zahl von 600 000 Zuschauern angeht, ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. Da gibt es Forderungen und wohl auch offizielle Überlegungen, die Zahl aus Sicherheitsgründen auf 500 000 oder sogar 400 000 zu reduzieren.[45]
Zur Sicherung allein der Eröffnungsfeier, aber auch für die gesamte Zeit der Spiele, werden mehr als 20 000 private Wachleute benötigt, die es aber derzeit (noch) nicht gibt, zumal sich viel Wachpersonal während der Corona-Krise beruflich anders orientiert hat.
Privates Wachpersonal am Stade de France, dem zukünftigen Olympiastadion. (Franck Fife/AFP)[46]
Bisher ist es jedenfalls nicht gelungen, mit Hilfe der ausgewählten privaten Sicherheitsfirmen auch nur annähernd die genügende Zahl von Wachleuten zu verpflichten. Die Zeitung Le Monde spricht schon, in Bezug auf die Sicherheit der Spiele, von einem Ausnahmezustand. Die Organisatoren versuchen deshalb, unter den Arbeitslosen und Studenten zusätzliches Personal zu finden, das in Schnellkursen ausgebildet und dann „ins kalte Wasser geworfen“ werden soll. Es wird auch überlegt, im frankophonen Ausland auf die Suche zu gehen. Und wenn alle Stricke reißen, wird wohl -wie schon bei den Olympischen Spielen von London- die Armee einspringen müssen.[47]
Die ist allerdings sowie schon seit 2015 im Rahmen der Operation Sentinelle für die Abwehr terroristischer Gefahren mobilisiert. Die schwerbewaffneten matialischen Armeepatrouillen gehören ja fast schon wie selbstverständlich zum Pariser Stadtbild.[48]
Ein besonders heftig diskutiertes Sicherheits-Thema ist die Video-Überwachung. Sie soll für die Olympischen Spiele ausgeweitet werden, womit die Sicherheit erhöht und das Wachpersonal entlastet werden soll. Inzwischen hat ein speziell für die Olympiade erarbeitetes entsprechendes Gesetz alle parlamentarischen Hürden überwunden. Die ursprünglich geplante biometrische Überwachung, die – wie in China praktiziert- die Identifikation von Personen ermöglicht, wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahren fallen gelassen. Die Erfassung soll allerdings „intelligent“ sein (vidéosurveillance algorithmique), also mit Hilfe der verwendeten Algorithmen (potentielle) Gefahrensituationen wie den Ausbruch eines Feuers, verdächtige Gegenstände oder Publikumsbewegungen automatisch identifizieren.
Dieses Überwachungssystem ist gesetzlich als experimentell definiert und bis Ende 2024 terminiert – damit allerdings nicht auf die Zeit der Spiele begrenzt und auch nicht auf diese beschränkt. Es bezieht sich nämlich ganz allgemein auf Veranstaltungen, „die aufgrund ihres Umfangs oder ihre Umstände besonderen Risiken terroristischer Akte oder schweren Beeinträchtigungen der Sicherheit von Personen“ ausgesetzt sind, wie es im Gesetzestext heißt.[49] Manchen, wie dem republikanischen Rechtsaußen und Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, geht diese Regelung der Videoüberwachung nicht weit genug, andere -wie die linken Abgeordneten der NUPES, die gegen das Gesetz stimmten, sehen hier ein Einfallstor für dauerhafte und dann doch noch verschärfte Überwachungsmaßnahmen. Dass die Kosten für die Sicherheit der Spiele in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro im Olympia- Budget nicht berücksichtigt sind, sei nur am Rande noch erwähnt… [50]
Dank Olympia: Baden in der Seine!
Zu den besonderen Attraktionen der Pariser Olympiade gehört die Austragung des Triathlon-Schwimmens und der Freiwasser-Wettbewerbe in der Seine. Das ist geradezu sensationell, denn seit 1923 ist das Schwimmen dort verboten: Die miserable Wasserqualität ließ keine Wahl. 1970 wurde dann auch das Baden in der Marne, dem wichtigsten Nebenfluss der Seine, verboten: eine umweltpolitische Bankrotterklärung. 1988 verkündete dann Jacques Chirac, damals Bürgermeister von Paris, in seiner typischen forschen Kavalleristen-Manier, man werde in fünf Jahren in der Seine baden können: Dans cinq ans, on pourra à nouveau se baigner dans la Seine. Und er werde dabei der erste sein.[51] Aber daraus wurde nichts. Fast 20 Jahre später fand dann zwar der Schwimmpart des Pariser Triathlons in der Seine statt und 4500 Teilnehmer durften (oder mussten…) trotz gesundheitlicher Bedenken am Eiffelturm in die Seine springen. Aber das war es dann auch – und es wäre sicherlich auch ohne die Olympischen Spiele noch lange dabei geblieben. Mit der Nominierung von Paris als Olympiaort setzte man sich aber das ehrgeizige Ziel, jetzt endlich vielen schönen Worten Taten folgen zu lassen, das Baden in der Seine möglich zu machen und olympische Schwimmwettbewerbe im Fluss zu veranstalten. In sieben Jahren wurde erreicht, was sonst noch weitere 30 oder 40 Jahre gedauert hätte – so Pierre Rabadan, der für die Olympischen Spiele zuständige Pariser Dezernent (adjoint à la maire de Paris). Vom Bad in der Seine hätten manche geträumt, viele davon gesprochen, ab 2024 sei es dank Olympiade Realität, twitterte die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo und posierte mit einem passenden Zeitschriftencover an der Seine. Und Präsident Macron stellte zufrieden fest, das Baden in Marne und Seine ermöglicht zu haben, werde zu dem bleibenden Erbe der Spiele gehören. [52]
Die „Rückeroberung der Seine“ war und ist noch ein äußerst anspruchsvolles und aufwändiges Vorhaben. Lange Zeit wurden erhebliche Abwässer ungeklärt in Marne und Seine eingeleitet. Ein besonderes Problem stellten heftige Regengüsse dar, die oft das Abwassersystem überforderten und zum Überlaufen brachten. Jean-Paul Kauffmann berichtet in seinem 2013 erschienenen Buch „Remonter la Marne“, nach Regenfällen würden von der Brücke von Joinville alle möglichen Krankheitserreger in die Marne gespült. Dann erschienen ölige Flecken auf der Wasseroberfläche, auf denen hunderte von toten Fischen trieben. Das macht deutlich, wieviel zu tun war und noch ist, um da Abhilfe zu schaffen. 1,4 Milliarden Euro wurden und werden dafür investiert und es gibt auch schon deutliche Erfolge:
Gab es in den 1990-er Jahren nur noch 3 Fischarten in der Seine, so sind es heute 34 oder -folgt man Netflix- sogar 35: Die amerikanische Streaming Plattform dreht nämlich gerade einen Film, in dem es um einen Hai in der Seine geht, der den Triathlon-Wettbewerb 2024 ins Chaos stürzt…[53] Wenn sich also schon ein Hai in der Seine tummelt…
Der Olympia-Verantwortliche der Stadt Paris kann jedenfalls eine stolze Zwischenbilanz verkünden: Hätten die Olympischen Spiele 2022 zur exakt gleichen Zeit stattgefunden wie 2024, wäre schon damals während 92% der Zeit die Qualität des Seine-Wassers ausreichend oder hervorragend gewesen.[54] Aber natürlich reicht das nicht aus, denn Wettkämpfe können ja nicht einfach verschoben werden, weil gerade ein Starkregen das Wasser verschmutzt hat. Also wird noch weiter intensiv an dem ehrgeizigen Projekt gearbeitet. In Paris trifft man an der Seine an mehreren Orten entsprechenden Baustellen.
„2024 wird man in der Seine baden können“ (Foto: Wolf Jöckel)
Besonders eindrucksvoll ist die Baustelle am Gare d’Austerlitz.[55]
Paris, France, le 12 avril 2023. Construction du bassin d’eau d’Austerlitz.
photo : LP / Olivier Corsan
Hier wird ein riesiges Auffangbecken mit einem Durchmesser von 50 Metern, einer Tiefe von 30 Metern und einem Fassungsvermögen von 50 000 m3 gebaut. Es geht darum zu verhindern, dass bei starkem Regen Abwässer in die Seine gelangen. Bei Starkregen wird das verschmutzte Wasser in dem Bassin aufgefangen und von dort nach und nach in Kläranlagen geleitet – ein wichtiger Beitrag zur weiteren Verbesserung der Wasserqualität.[56]
Geplant ist nun, dass auch die Öffentlichkeit ab 2025 davon profitieren kann. Gegenwärtig werden im städtischen Bereich vier mögliche Standorte für Seine-Schwimmbäder geprüft, von denen einer oder zwei 2025 fertiggestellt sein soll/en. Das werden allerdings -wie bisher schon im Bassin de la Villette- abgegrenzte Bereiche sein: Badnutzung und Schiffsverkehr müssen ja deutlich voneinander getrennt sein und die Strömung des Flusses kann so reduziert werden. Hier eine Animation, wie das vielleicht einmal aussehen könnte[57]:
Allerdings sind da viele Pariser sehr skeptisch und es muss wohl noch einige Überzeugungsarbeit geleistet werden.[58]
Wir freuen uns aber schon sehr auf das Bad in der Seine und werden -wenn es denn so weit ist- damit auch zu denen gehören, für die die Olympischen Spiele von Paris etwas gebracht haben…
Siehe auch: FAZ 2.5.23: „Im Kampf gegen Russland setzt die Ukraine auch auf ziviles Fluggerät. Beladen mit Sprengsätzen kann es zur billigen, tödlichen Waffe werden.“
Das Palais Beauharnais in Paris hat eine mehr als 300-jährige Geschichte. Erbaut im Stil eines klassischen Pariser Stadtpalais (hôtel particulier) zu Beginn des 18. Jahrhunderts erlitt es die Verwerfungen der Französischen Revolution, erlebte aber in der napoleonischen Ära seine Blütezeit. Benannt ist es nach Eugène de Beauharnais, dem von Napoleon adoptierten Sohn seiner Frau Josephine, der zeitweise als sein Nachfolger galt, Vizekönig von Italien wurde, mit einer Wittelsbacher Prinzessin verheiratet war und nach dem Sturz Napoleons nach München übersiedelte, wo er auch begraben ist. Sein Palais verkaufte er an Preußen. Als Sitz der Botschaft Preußens und später Deutschlands wurde das Palais ein bedeutender Ort der deutsch-französischen Beziehungen. Die Brüder Humboldt gingen ein und aus, Bismarck residierte hier 1862 als Botschafter, Herschel Grynspan erschoss 1938 im Palais Beauharnais den Botschaftssekretär vom Rath, was den Nazis als Anlass bzw. Vorwand für das Judenpogrom in der sogenannten Kristallnacht diente. Das nach der Befreiung von Paris 1944 beschlagnahmte Gebäude wurde 1961, im Vorfeld des Elysée-Vertrags, an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben. Es ist jetzt die Residenz des deutschen Botschafters und dient repräsentativen Zwecken. In den letzten Jahren wurde das Palais Beauharnais äußerst aufwändig wissenschaftlich dokumentiert und restauriert. Vor allem aufgrund seiner einzigartigen Innenreinrichtung gilt es als Meisterwerk des Empire, des Stils des napoleonischen Zeitalters. Zur Bedeutung des Palais Beauharnais trägt auch bei, dass im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der sich anschließenden Commune mit dem Schloss von Saint-Cloud und dem Tuilerienpalast zwei Haupterinnerungsorte der napoleonischen Zeit zerstört wurden. Darüber hinaus hat sich von den Innenausstattungen, die während des Baubooms nach der Französischen Revolution in Paris entstanden, kaum etwas erhalten. Auch das macht das Palais Beauharnais so einzigartig und kostbar.[1]
Um diesem in mehrfacher Hinsicht so bedeutsamen Bau wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, widme ich ihm zwei Berichte auf diesem Blog. Der vorausgegangene erste Teil hat sich mit dem Bau und der Geschichte des Palais beschäftigt:
Der nun folgende zweite Teil soll exemplarisch die künstlerische Bedeutung und Schönheit des Baus, aber auch die durch ihn vermittelte politische Botschaft anschaulich machen. Das Palais war ja in seiner Blütezeit für den potentiellen Nachfolger Napoleons bestimmt und das kommt auch in seiner Gestaltung deutlich zum Ausdruck.
Das Palais Beauharnais ist ein „Meisterwerk des Empire“, ein ganz einzigartiges Gesamtkunstwerk. Bereits 1806-1807 schrieb der badische Diplomat Carl C. von Berckheim in seinen Briefen aus Paris über das Haus: „Einer der schönsten Paläste von Paris ist das der Ehrenlegion, in der rue de Lille[2], sowie das in derselben Straße gelegene Haus des Vize-Königs von Italien, dessen Ausstattung, die mehr als eine Million achthunderttausend Francs gekostet hat, all das in sich vereint, was guter Geschmack und Geld an Schönem und Ausgesuchtem herstellen können.“[3]Dieser Eloge schloss sich 2006 Michael Moenninger an, der in der ZEIT das Palais Beauharnais als „einzigartiges Prunkstück“ bezeichnete und es kurz und bündig -wie im Titel dieses Beitrags übernommen- zum „schönsten Haus Deutschlands“ erkor.[4]
Der besondere Reiz des Palais Beauharnais besteht darin, dass man bei einem Rundgang gewissermaßen nicht aus dem Staunen herauskommt. Es gibt immer neue verschiedenartige Eindrücke, ein Höhepunkt folgt auf den anderen. Man hat die Konzeption des im Empire-Stil umgestalteten Baus, wie wir ihn weitgehend auch heute wieder erleben, als eine der zeitgenössischen Architekturtheorie entsprechende Abfolge von tableaux beschrieben, von Bildern also: So wie in einem Theaterstück die Szenen und Bühnenbilder wechseln, so hier die ganz individuell gestalteten einzelnen Räume, die insgesamt dann aber ein harmonisches Ganzes ergeben. Und so ist es ja auch in den zeitgenössischen Landschaftsparks wie dem von Ermenonville, wo die Pappelinsel mit dem Grab Rousseaus eines von mehreren tableaux ist, die der Besucher bei seinem Rundgang bewundern kann und die insgesamt ein großes pittoreskes Landschaftsgemälde ergeben.
In Beschreibungen des Palais Beauharnais taucht -ganz in diesem Sinne- immer wieder der Begriff der Inszenierung auf: Inszeniert, ja gefeiert wird mit allen Mitteln der Kunst, mit Farbe, Licht und kostbaren Materialien, der Glanz und die Macht des Empire, und in Szene gesetzt wird der Hausherr Eugène de Beauharnais, der erfolgreiche Feldherr, der Freund der Künste und der Stief- und dann Adoptivsohn des Kaisers und damit auch dessen potentieller Thronfolger.
Vorhang auf! Der ägyptische Portikus
Die von bzw. für Eugène de Beauharnais vorgenommenen Umbaumaßnahmen bezogen sich vor allem auf den Innenausbau. Eine Ausnahme ist der ägyptische Portikus, der vor den Eingang des Baus gesetzt wurde. Es handelt sich zwar nur um ein in Leichtbauweise aus Holz, Ziegeln und Putz errichtetes Werk: In der Mitte zwei Papyrossäulen, darüber auf dem Frontgiebel eine geflügelte Sonnenscheibe mit den Uräus-Schlangen, Symbol der Pharaonen. Der Portikus ist damit aber ein eindrucksvolles und in dieser Art einzigartiges Zeugnis der Ägypten-Mode, die nach dem Ägypten-Feldzug Bonapartes in Frankreich Hochkonjunktur hatte. Der Feldzug endete zwar mit einer militärischen Niederlage, die archäologische Ausbeute und die künstlerischen Auswirkungen waren aber erheblich, weshalb auch gerne von einer Expedition gesprochen wird. Am und im Palais Beauharnais lassen sich die ägytischen Einflüsse hervorragend beobachten und bewundern.
Einzigartig ist dieser ägyptische Portikus vor allem insofern, als eine eigentlich geplante monumentale „ägyptische Trilogie“ für das napoleonische Paris nicht realisiert wurde. Die sollte bestehen aus einem Riesen-Obelisken auf dem Pont Neuf, einer zentralen Pyramide auf dem Friedhof Père Lachaise und einem von Chalgrin entworfenen ägyptischen Tempel auf der Place des Victoires, der immerhin den Portikus des Palais Beauharnais inspirierte.[6]
Dem deutsch-französischen Pariser Stadtbaumeister Hittorff, der im 19. Jahrhundert das Palais renovierte und modernisierte, war der Portikus allerdings, ungeachtet seiner Einzigartigkeit, ein die Ästhetik der Fassade störender Dorn im Auge. Nicht nur für die Kunstgeschichte im Allgemeinen, sondern auch speziell für die Geschichte des Palais ist der Portikus allerdings höchst bedeutsam: Er verweist demonstrativ darauf, dass das Palais nach einer wechselvollen Geschichte nun einen neuen Besitzer, Eugène de Beauharnais, hat, und er bringt zum Ausdruck, dass dieser neue Hausherr als Adjudant Bonapartes an dem Ägypten-Feldzug teilgenommen hat. Von diesem Feldzug, den Vivant Denon, „der Kunsträuber Napoleons“, begleitete, wurden ja auch zahlreiche archäologische Beutestücke nach Paris gebracht, auch Reliefs der Göttin Mut. Die Figurenreliefs auf den Vorderseiten des Portikus sind Abgüsse entsprechender Originale.[7]
Sie erscheinen gewissermaßen wie Zeremonienmeister, sie begrüßen den Besucher und machen ihm deutlich, dass er nun in eine Kunstwelt eintaucht voller immer neuer Überraschungen, in eine Szenenfolge von tableaux, in ein Theater, in dem der Zuschauer zum Schluss zum Schauspieler wird und sich selbst inszeniert. [8]
Foto: joeruggiero_collection (Instagram)
Blick aus dem Vestibül mit der Büste Alexander von Humboldts in das Treppenhaus mit der einen Kranich tragenden Allegorie der Wachsamkeit, aber auch der Treue und Zuverlässigkeit. „Es handelt sich um eines der wenigen Kunstwerke, das aus der Zeit Eugènes im Haus erhalten geblieben ist.“ (Palais, 42)
Foto: joeruggiero_collection (Instagram)
Eine völlig neue Szenerie öffnet sich im „Grünen Salon“ mit seinen weißen und vergoldeten Holzvertäfelungen, vor allem aber mit seiner Textilausstattung, einem grün gestreiften Seidendamast, der dem Raum seinen Namen gab. (Palais, 29). Der Grüne Salon gehörte zu den offiziellen Räumen des Palais und diente als Empfangsraum.
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Zur Einzigartigkeit des Palais Beauharnais und des Grünen Salons tragen auch Gemälde von Hubert Robert bei: Hier ein in die Holzvertäfelung eingelassenes Wandbild aus dem Jahr 1797 mit einem italienisierenden Landschafts- und Ruinenmotiv aus Tivoli. Hubert Robert war ja besonders als „Ruinenmaler“ bekannt und im Ancien Régime, aber auch in den Zeiten des Konsulats beliebt. Eugène Beauharnais übernahm die Bilder beim Kauf des Palais, und es ist inzwischen das einzige hôtel particulier, das noch mit originalen Gemälden Roberts ausgestattet ist.
Auf der weiß gefassten Holzvertäfelung sind geschnitzte und vergoldete Ornamente angebracht. Die Helme auf den Wandvertäfelungen sind nicht die einzigen militärischen Bezüge in diesem Salon:
Mit Helmen sind auch die Fenstergriffe verziert. Und dann der Kamin:
Auf dem Fries des Kamins sind die Bronzeapplikationen von zwei Siegesgöttinnen befestigt, in ihrer Mitte Jupiter, links davon ein Venus-Medaillon, rechts der Kriegsgott Mars mit Helm und Schwert.
…. und daneben Bronzeapplikationen von Adlern, Löwen und sternbesetzten römischen Standarten.
Die Bedeutung dieses Raumes ist damit unverkennbar: Er verweist den hier auf eine Audienz wartenden Besucher auf die militärischen Verdienste Eugènes.
Und dazu gehören natürlich auch die ägyptischen Bezüge, die sich hier wie auch an vielen anderen Stellen des Palais finden. Sie haben -wie die Lotusblätter und -kelche an den Wandvertäfelungen– nicht nur dekorative Funktion, sondern können, wie schon der Portikus, als Hinweis auf Eugènes Verdienste im Ägyptenfeldzug Napoleons verstanden werden. In diesen Kontext gehört natürlich auch der benachbarte ägyptische Salon mit Portraits von ägyptischen Würdenträgern, mit denen Napoleon auf seinem Feldzug verbündet war.
Der Bezug zu Ägypten wird auch durch die dominierende Farbe des Raums unterstrichen: Es ist das weiche Ocker der „terre d’Egypte“. Und der Bezug zu Eugène wird durch das Portrait des Prinzen ganz direkt und unmissverständlich hergestellt.
Szenenwechsel: Jetzt kommen wir in den „Roten Salon“, auch Salon Amarante genannt.
„Seinen Namen erhielt der Salon wie schon zur Zeit des Empire von dem dunkelroten, als amarant-farben bekannten Farbton der Wandbespannung aus Wollstoff und der seidenen Fenstervorhänge“ (32). Festlich von Kandelabern beleuchtet wird hier das Portrait von Auguste Amalia, der Tochter des bayerischen Königs und Frau Eugènes. Für sie wurde der Salon in ein Schlafzimmer umgewandelt, als Eugène wegen der sich abzeichnenden Niederlage Napoleons Italien verlassen musste.
Die Aufteilung des Roten Salons entspricht der vieler anderer Räume: Auf einer Seite der Kamin, auf der gegenüberliegenden eine Konsole, in der Mitte ein Tisch mit darüber angebrachtem Kronleuchter. Eine Gleichförmigkeit kann aber trotzdem nicht aufkommen: Nicht nur wegen der Unterschiedlichkeit dieser wiederkehrenden Elemente, sondern vor allem auch wegen der unterschiedlichen Farbgebung der Räume.
Nach dem Grünen und dem Roten Salon und dem ockerfarbigen Ägyptischen Salon wird in der Bibliothek „mit einer im Bühnendekor häufig verwendeten Technik des Trompe l’lœil (…) eine Wandvertäfelung aus Mahagoni und gelbem Zitronenholz“ vorgetäuscht. (Palais, 38). Diese Imitationsmalerei war zu Revolutionszeiten einfach und kostengünstig und deshalb sehr verbreitet.
Foto: antoinebn (Instagram)
Der Bibliothek kommt in der Raumfolge des Erdgeschosses eine zentrale Funktion zu. In seiner Mittel gelegen, öffnet sich von hier aus der Blick in den Garten und je nach Jahreszeit auch zu dem auf der anderen Seine-Seite gelegenen Tuilerien-Garten, der zu dem 1871 zerstörten königlichen Tuilerien-Schloss gehörte.
Die ungewöhnliche Positionierung der Bibliothek im Zentrum des Erdgeschosses beruht wohl auf einer persönlichen Entscheidung des bibliophilen Prinzen. „Zeit seines Lebens stand er in engem Kontakt mit zahlreichen Buchhändlern, die ihn mit den neuesten Publikationen versorgten.“ (Meisterwerk, 203)
Dazu gehörten auch die Werke Friedrichs des Großen…
… Das Hauptthema der Ikonographie des Raumes ist der Apollo-Mythos, der auf den Besitzer des Hauses verweist.“ (Palais, 36)
Und zu diesem Apollo-Mythos gehört vor allem der Schwan, Begleittier des Gottes der Künste. Apollos Wagen wird von singenden Schwänen gezogen. Hier dient der Schwan aus vergoldeter Bronze als Türbeschlag auf den monumentalen Bücherschränken aus Mahagoni-Holz.
Auch die apollinische Lyra darf nicht fehlen…
Die Wandleuchter der Bibliothek sind mit Apollo-Masken geschmückt.
Apollo-Bezüge finden sich, nicht nur hier, sondern vor allem auch noch im Musiksalon im ersten Stockwerk: Eugène wird in seinem Palais nicht nur als Feldherr herausgestellt, sondern auch als feinsinniger Freund der Musen: Das ist Teil der Inszenierung.
Danach geht es über die Ehrentreppe an Napoleon vorbei (Portraitbüste in Marmor von Chaudet) in die erste Etage. Dort befinden sich die repräsentativen Salons, zu denen auch der Musiksalon gehört. Er wurde, wie die Bibliothek, speziell für Eugène eingerichtet, der sich besonders für Gesang und Klavierspiel begeisterte.
Die Wände sind mit lebensgroßen Darstellungen der vier Musen dekoriert. Darunter jeweils die hier schon fast obligatorischen apollinischen Schwäne.
Es sind mit Korallenketten geschmückte Schwanenbüsten, über deren Schultern Blumengirlanden aufliegen. Im Zentrum der Girlanden befindet sich eine Maske, die mit ihren jeweiligen Attributen die Götter Bacchus (Tanz), Minerva (Malerei), Helios (Literatur) und natürlich -nachfolgend abgebildet- Apollo (Musik), darstellen. (Meisterwerk, 265)
Sehr elegant auch die Schwanenhälse an den Armlehnen der vergoldeten Sessel[9]
Mit seinen zahlreichen Verweisen auf Apollo „fügt sich der Raum in das ikonographische Konzept des Hauses ein, das den Prinzen Eugène in Analogie zum Musengott der Antike stellt.“[10]
Der bedeutendste Raum der ersten Etage, ja des ganzen Palais ist der Festsaal, der Salon der vier Jahreszeiten. Das ist allein schon an seiner Größe und der zentralen Lage genau im Mittelpunkt der Etage ablesbar. Als einziger Raum des Hauses verfügt er über einen Balkon, von dem aus man einen Blick über den Garten, auf die Seine, den Tuileriengarten und -zu Zeiten Eugènes- auch auf das königliche Schloss der Tuilerien hatte.
Vor allem aber ist es die Innendekoration, die den Salon der Vier Jahreszeiten zu einem der schönsten Räume des frühen Empirestils in Europa machen.[11]
Foto: C. Larit/ passementeries Declercq
Besonders ins Auge springt zunächst auch hier die intensive farbliche Gestaltung, die charakteristisch für den Empire-Stil ist und im Palais Beauharnais allein schon durch die entsprechende Benennung von Räumen zum Ausdruck kommt: Grüner Salon, Roter Salon, Kirschsalon. Im Salon der vier Jahreszeiten ist es die Dominanz der Komplementärfarben Blau und Gelb/Orange: Entsprechend dem im Empire in höchster Konsequenz verwirklichten Stilprinzip der Einheitlichkeit haben alle Textilien im Raum die gleiche Farbigkeit – kombiniert mit der entsprechenden Gegenfarbe.[12]
Photo C. Larit / passementeries Declercq
Seinen Namen hat der Raum durch die ihn besonders prägenden überlebensgroßen Darstellungen der vier Jahreszeiten. Deren allegorische Verkörperung war in der Innenausstattung festlicher Räume, aber auch an Fassaden von Stadtpalais durchaus üblich – man denke nur an das Hôtel Carnavalet oder das Hôtel de Sully im Pariser Marais.
Die Darstellungen der vier Jahreszeiten im Palais Beauharnais sind überlebensgroß gemalt, in unterschiedlichen Positionen und mit Attributen entsprechend der von ihnen verkörperten Jahreszeit versehen.
Allen Darstellungen gemeinsam ist aber, dass sie vor einem wolkigen, eher diffusen Hintergrund erscheinen, aus dem sie -wie Theaterfiguren- heraustreten; so die Allegorie des Herbstes mit einer Fülle von Früchten.
Besonders eindrucksvoll die Darstellung des Winters, der -anders als meist sonst- auch als Frau verkörpert ist. „Vor Frost erstarrt, bedeckt sie schirmend einen Fuß mit dem anderen und zieht die weit umfließende, an ihren Enden schon vereiste und sich in Schneeflocken auflösende Kleidung zum Schutz vergebens an sich.“[13] Die Kälte ist hier unmittelbar spürbar wie die dem Betrachter zufallenden Früchte des Herbstes. So entsteht eine „Atmosphäre der Illusion“[14], zu der auch die Spiegel und Leuchter beitragen.
Durch die hohen gegenüber angebrachten Spiegel -hier über Kamin und Konsoltisch- und zusammen mit dem zentralen Lüster „erscheint das Licht vielfach gespiegelt in unendlich langen Reihen. Der Raum wird zu einer Inszenierung des Lichts.“[15]
Den Wandabschluss des Raumes bildet ein Fries mächtiger goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen und Girlanden: Die „Zeit der goldenen Adler“ hatte Heine das Empire genannt, die Zeit „der offiziellen Unsterblichkeit… des pathetischen Materialismus“…[16]
Einer der napoleonischen Adler im Salon der vier Jahreszeiten
In der Entwurfszeichnung des Raums waren hier apollinische Lyren vorgesehen, die dann aber durch den kaiserlichen Adler ersetzt wurden. Ihm untergeordnet sind die apollinischen Schwäne auf den die vier Jahreszeiten einfassenden Pilastern.
„Dies war allerdings eine ungewöhnliche Kombination von Symbolen, die allerdings von den Zeitgenossen leicht zu entziffern waren: Hier steht der Adler für Kaiser Napoleon, der Schwan (Apollo) für Eugène. In der Verbindung mit dem Adler verweist der Schwan als Symbol Apollos auf dessen Stellung als Sohn Jupiters von der Göttin Latona. Der Schwan symbolisiert im Kontext des Palais Beauharnais also keinenfalls nur das Symbol von Weiblichkeit und Eleganz, sondern ebenso das besondere Verhältnis von Stiefvater und Adoptivsohn und unterstreicht im ‚Grand Salon‘ Eugènes Stellung im Kaiserreich und seinen Anspruch auf die Thronfolge.“ (Meisterwerk, 240). Der Dekor erlaubt also „eine politisch-dynastische Lesart“, die wahrscheinlich von Kaiserin Josephine selbst bestimmt wurde. (Palais, 52)
Dazu gehören natürlich die ägyptischen Motive, die auch in diesem Raum nicht fehlen dürfen : Auch dieser Dekor „bekam im Umfeld Napoleons eine politische Dimension, die den Anspruch Eugènes auf die Nachfolge Napoleons unterstrich“. (Meisterwerk, 182).
In der Ornamentik des Raums war sogar schon vorsorglich der Platz für einen Thronsessel ausgespart!
Damit schließt sich ein Kreis: Beim Betreten des Palais Beauharnais wurde der Besucher von der weiblichen Figur mit dem Kranich empfangen, einer Allegorie der Treue und Zuverlässigkeit, „was mit der Stellung Eugènes als Adoptivsohn von Napoleon und den ehrgeizigen Plänen von der Kaiserin Josephine, ihren Sohn als möglichen Thronfolger Napoleons zu sehen, übereinstimmt.“ (Palais, 42). Hier im Festsaal der vier Jahreszeiten und damit am Ende des offiziellen Durchgangs wird noch einmal demonstrativ die erhoffte Rolle des Prinzen in Szene gesetzt.
Ein weiteres einzigartiges Empire-Ensemble ist das als Gesamtkunstwerk konzipierte Schlafzimmer des Prinzen Eugène mit dem Himmelbett und seinem an die Pariser Commune erinnernden Spiegel. (Siehe Bericht Teil 1). „Es ist das einzige Beispiel eines am originalen Standort erhaltenen Prunkbettes in einem Pariser Stadtpalast des Empire.“ (Palais, 65)
Foto: Drouot Paris, Instagram
Überlegungen von französischer und deutscher Seite, die Einrichtung des Raumes in ein Pariser Museum oder als Schlafzimmer des Bundeskanzlers oder Bundespräsidenten nach Deutschland zu transferieren, wurden glücklicherweise nicht verwirklicht. (Meisterwerk, 300)
Abschluss und Höhepunkt einer Besichtigung des Palais Beauharnais ist der Besuch des Baderaums. Es ist das einzige erhaltene Bad aus der Zeit des Empire in Paris und ein „kostbares Dokument für eine Inneneinrichtung im Europa der Zeit um 1805. (Meisterwerk, 303)
Dazu gehört der mit seltenen Marmorsorten eingelegte Fußboden. Er zeigt nach römischem Vorbild die vom Stier entführte Europa, in den Seitenfeldern Delphine.
Foto: allemagnediplo (Instagram)
Das Bad ist mit einem Grundriss von 3,48 zu 2,80 m sehr klein, aufgrund der raffiniert angebrachten Spiegel entsteht aber die Illusion von sich endlos wiederholenden Bildern. Wer in diesen Raum eintritt, wird damit Teil der Inszenierung und gewissermaßen selbst zum Hauptdarsteller.[17]
Foto: Instagram
Angrenzend an das Badezimmer liegt das Türkische Boudoir, das als Ruheraum diente und ebenfalls zum privaten Teil der repräsentativen Wohnung des Prinzen Eugène gehörte. „Neben einem Divan im Alkoven bilden vier Sitzhocker und ein Konsoltisch die originale Ausstattung des Boudoirs, die in der Einfachheit ihrer Konstruktion den Eindruck von Bühnenmobiliar vermitteln.“ (Palais, 69)
Schon vor der Revolution gab es in Frankreich eine Vorliebe für orientalisierende Boudoirs, die nach dem Ägyptenfeldzug Napoleons besonders befördert wurde. „Das Türkische Boudoir im Palais Beauharnais ist dabei in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zunächst handelt es sich heute um das einzige erhaltene Beispiel der Orientmode aus den Jahren um 1804 in Paris. Darüber hinaus wurde das Thema des Orients hier mit einer intensiven Farbigkeit, stilisierten Blumendarstellungen und dem gemalten Fries unter der Decke neu interpretiert.“ (Meisterwerk, 311)
Der Fries unter der Decke stellt den Weg eines jungen Mädchens von ihrem Elternhaus in den Harem eines Paschas dar.
Hier wird sie auf dem Marktplatz verkauft.
Und hier eine Haremsszene mit ‚exotisch-pikantem Reiz‘ (Meisterwerk, 311)
Dieses orientalische Ambiente hat gerade im Hôtel Beauharnais eine besondere Bedeutung. Denn Eugène hatte während des Ägyptenfeldzugs „weitreichende Eindrücke über die Sitten und Bräuche im Orient sammeln können und im Rahmen einer militärischen Suchaktion in Kairo selbst einen Harem besucht. Daher ist es wohl einer der frühesten orientalischen Räume, dessen Auftraggeber sich auf eine persönlich erlebte Erfahrung im Orient berufen konnte.“ (Meisterwerk, 311)
Und insofern schließt sich auch hier ein Kreis: Man betritt des Palais Beauharnais durch den ägyptischen Portikus und man beendet den Rundgang mit dem Besuch des orientalischen Boudoirs.
Und damit fällt auch der Vorhang nach einer dreifachen glanzvollen Inszenierung:
einer Inszenierung von Räumen, von unterschiedlichen Bildern (tableaux), mit Hilfe von Licht und Farben, von kostbaren Stoffen und Materialien, von antiken und ägyptischen Motiven.
einer Inszenierung von Glanz und Größe, von der Macht des napoleonischen Reichs, das dabei war, ganz Europa zu erobern. Dazu passt auch der Raub Europas als Zentralmotiv in dem Badezimmer des Palais.
und schließlich eine Inszenierung des Hausherrn, Eugène von Beauharnais, der in drei Rollen präsentiert wird: als apollinischer Musenfreund, als tapferer Soldat und Teilnehmer am Ägyptenfeldzug Bonapartes und als treuer Adoptivsohn Napoleons und damit als dessen potentieller kaiserlicher Nachfolger.
Besichtigung
Zweimal monatlich (außer Juli und August) gibt es ganz hervorragende Führungen durch das Palais, die im Allgemeinen von Francoise de Guilhermier-Jacquot, conférencière des Musées Nationaux, durchgeführt werden.
Wir danken Herrn Achim Holzenberger, dem früheren Leiter der Abteilung Presse/Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Botschaft, dass er uns die Möglichkeit für Fotoaufnahmen gegeben hat und uns dabei geduldig begleitete.
Thomas W. Gaethgens, Ulrich Leben und Jörg Ebeling, Palais Beauharnais in Paris- zur historischen Ausstattung. In: Bau und Raum Jahrbuch 2004. Herausgegeben vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 82-91
Claus von Kameke, Palais Beauharnais. Die Residenz des deutschen Botschafters in Paris. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1968
Klaus-Henning von Krosigk, Der Garten des Palais Beauharnais. In: Bau und Raum Jahrbuch 2004. Herausgegeben vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 92- 95
Michael Moenninger, Imperiale Wehmut. Botschaften renovieren, Plätze ausgraben: Warum die Franzosen das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris so schätzen. DIE ZEIT, 10/2006 vom 2. März 2006
[2] Das ist das ehemalige Hôtel de Salm, in dem Eugène de Beauharnais zur Miete gewohnt hatte, bevor er „sein“ hôtel in der rue de Lille erwarb.
[3] Zitiert in Ebeling/Leben, Das Palais Beauharnais, S. 9 Bei dem erwähnten Palais der Ehrenlegion in der rue de Lille handelt es sich um das Hôtel de Salm, das nach der Guillotinierung des deutschen Prinzen von Salm in den letzten Tagen des jacobinischen Terrors von Napoleon zum Sitz der neu geschaffenen Ehrenlegion umgewidmet wurde. Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/07/01/der-cimetiere-de-picpus-ein-deutsch-franzoesischer-erinnerungsort/
[4] Michael Moenninger, DIE ZEIT 10/2006 vom 2. März 2006
[5] Alle Fotos dieses Beitrags -wenn nicht anders angegeben- von Frauke und Wolf Jöckel.
[7] Bei der Zuschreibung der Reliefs folge ich Ebeling/Leben, Meisterwerk des Empire, S. 23. Hammes sieht in ihnen dagegen „ägyptische Phantasiegottheiten“ (S. 62), von Eck/Versluys halten die Mut-Zuschreibung für ungesichert, und vermuten eher, dass es sich weniger um eine ganz bestimmte Gottheit handelt, sondern eher um „Egypt in more general terms.“
[8] Siehe van Eck: „The Hôtel de Beauharnais thus operates as an immersive space, and the portico indicates this very clearly. Based on a the temple portico such as the one at Denderah, it acts (…) as a gateway that signals that the viewer is entering a fictional space…“ und „The sticks held by the two goddesses add to the ceremonial character of the portico; it is as if they are servants with torches inviting you in.“
[11] Siehe den Abschnitt „Salon der Vier Jahreszeiten“ in Ebeling/Leben, Ein Meisterwerk des Empire, S. 240f und Sidonie Lemeux Fraitot, Die malerische Ausstattung des Palais Beauharnais, a.a.O., S. 89 f.
Das Palais Beauharnais in Paris hat eine mehr als 300-jährige Geschichte. Erbaut im Stil eines klassischen Pariser Stadtpalais (hôtel particulier) zu Beginn des 18. Jahrhunderts, erlitt es die Verwerfungen der Französischen Revolution, erlebte aber in der napoleonischen Ära seine Blütezeit. Benannt ist es nach Eugène de Beauharnais, dem von Napoleon adoptierten Sohn seiner Frau Josephine, der zeitweise als sein Nachfolger galt, Vizekönig von Italien wurde, mit einer Wittelsbacher Prinzessin verheiratet war und nach dem Sturz Napoleons nach München übersiedelte, wo er auch begraben ist. Sein Palais verkaufte er an Preußen. Als Sitz der Gesandtschaft/Botschaft Preußens und später Deutschlands wurde das Palais ein bedeutender Ort der deutsch-französischen Beziehungen. Die Brüder Humboldt gingen ein und aus, Bismarck residierte hier 1862 als Botschafter, Herschel Grynspan erschoss 1938 im Palais Beauharnais den Botschaftssekretär vom Rath, was den Nazis als Anlass bzw. Vorwand für das Judenpogrom in der sogenannten Kristallnacht diente. Das nach der Befreiung von Paris 1944 von der französischen Regirung beschlagnahmte Gebäude wurde 1961, im Vorfeld des Elysée-Vertrags, an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben. Es ist jetzt die Residenz des deutschen Botschafters und dient repräsentativen Zwecken.
Im Foyer des Palais Beauharnais: neben den Fahnen die Büste Wilhelm von Humboldts
In den letzten Jahren wurde das Palais Beauharnais äußerst aufwändig wissenschaftlich dokumentiert und restauriert. Vor allem aufgrund seiner einzigartigen Innenreinrichtung gilt es als Meisterwerk des Empire, des Stils der napoleonischen Ära.
Palais Beauharnais: Salon der vier Jahreszeiten. Foto: F. Jöckel
Um diesem in mehrfacher Hinsicht so bedeutsamen Bau wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, werde ich ihm zwei Berichte auf diesem Blog widmen. Dieser erste Teil beschäftigt sich mit dem Bau und der Geschichte des Palais, der zweite, nachfolgende, soll exemplarisch die künstlerische Bedeutung und Schönheit des Baus, aber auch die durch ihn vermittelte politische Botschaft anschaulich machen: Das Palais war in seiner Blütezeit für den potentiellen Thronerben Napoleons bestimmt und das kommt auch in seiner Gestaltung deutlich zum Ausdruck.
Der Bau: ein hôtel particulier in bester Lage als Spekulationsobjekt
Architekt und Bauherr des Palais war Germain Boffrand, einer der erfolgreichsten Architekten seiner Zeit. Zunächst zeichnete er sich als Schüler von Jules Hardouin-Mansard, dem „premier architecte“ Ludwigs XIV. aus. Für Mansard war er u.a. am Entwurf der place Louis-le-Grand, der späteren place Vendôme, beteiligt und war dort als Bauleiter tätig. Er machte sich dann selbstständig und war bei einer hochadligen Klientel äußerst gefragt. Sogar in Deutschland verbreitete sich sein Ruhm: 1724 reiste Germain Boffrand nach Würzburg, um -zusammen mit Balthasar Neuman, den er ein Jahr vorher bei dessen Studienreise in Paris kennengelernt hatte- am Bau der Residenz mitzuwirken.[1]
Als sich die Herrschaft von Ludwig XIV. zum Ende neigte, betätigte sich Boffrand auch als Bodenspekulant. „In weisem Vorausblick auf die Verlegung von Hof und Regierung nach Paris nach dem Tode Ludwigs XIV. im September 1715 entschied er sich für ein Grundstück am linken Seineufer gegenüber dem Garten der Tuilerien. Das Viertel nannte sich La Grenoullière, wohl deshalb, weil damals an dieser Stelle noch Frösche quakten….“[2]
„Ansicht der Tuilerien in Paris“, um 1830. Kolorierter Kupferstich mit Blick aus dem Garten des Palais Beauharnais über die Seine auf Tuilerien und Pont Royal (Ausschnitt).[3] M
Mit der Fertigstellung der Brücke Pont Royal im Jahr 1689 (teilweise hinten rechts im Bild) und der dadurch entstandenen direkten Verbindung zum Tuilerien-Palast (Hintergrund Bildmitte) stieg die Bedeutung des Viertels erheblich an. Ab 1701 wurde auf Befehl des Vorstehers der Kaufmannsgilde Boucher d’Orsay eine zunächst nach ihm benannte Uferstraße errichtet.
Im August 1713 kaufte Boffrand ein weitläufiges Grundstück auf diesem Terrain, das er in drei Parzellen für drei Stadtpalais aufteilte. Zwei Palais baute er selbst. Das größere verkaufte er kurz nach seiner Fertigstellung im November 1715 schlüsselfertig an Jean-Baptiste Colbert de Torcy, Neffe und Patenkind des großen Colbert. Das Palais trug deshalb zunächst auch seinen Namen: Hôtel de Torcy. Es lag, typisch für die damaligen Pariser Stadtpaläste, zwischen dem Ehrenhof auf der einen und dem Garten auf der anderen Seite.
Plan du Palais de S.A. Le Prince Eugène, 1817. Grundriss Erdgeschoss mit Gartenanlagen[4]
Um den Hof waren zwei kleine Eingangspavillons, Remisen und zwei abgetrennte Höfe für Küchen und Stallungen gruppiert. Wie damals üblich, schirmte eine Mauer mit einem schlicht gehaltenen Portal die Anlage zur Straßenseite hin ab.
Das Hauptgebäude (Corps de logis) erreichte man über eine Freitreppe mit 13 Stufen: Das Erdgeschoss war zum Schutz gegen das Hochwasser der Seine leicht erhöht.
Das Hôtel de Torcy vor den Umbauten des 19. Jahrhunderts. Dokumentation von C. Prévotel. Abbildungen der Bauzeichnungen befinden sich im Foyer des Hôtel de Beauharnais[5]
Die Fassade verlieh dem Bau eine „hoheitsvolle Würde“. Sie war klar dreiteilig gegliedert nach dem Rhythmus drei – zwei- drei- zwei- drei. Die Räume im ersten und zweiten Stock waren für die herrschaftliche Familie bestimmt und dienten der Repräsentation und dem Wohnen, im Dachgeschoss war die Dienerschaft untergebracht.Monumentalität trotz Einfachheit oder Monumentalität durch Einfachheit zu erreichen, war ein Grundprinzip Boffrands, das in diesem Bau in besonderer Weise zum Ausdruck kommt.“[6]
Der Garten war mit Sand aufgeschüttet, so dass er terrassenartigen Charakter hatte und einen freien Blick auf die Seine und den gegenüberliegenden Tuilerien-Garten ermöglichte.
Foto: F. Jöckel
Insgesamt ein Bauwerk, das, auch aufgrund seiner kostbaren Ausstattung, von zeitgenössischen Beobachtern als eines der hervorragendsten Bauwerke ihrer Zeit angesehen wurde.
Die Wirren der Revolution: Absturz
Mitte des 18. Jahrhunderts ging das Palais in den Besitz des Herzogs von Villeroy über. Damit änderte es seinen Namen und wurde zum hôtel de Villeroy. Mit der Revolution änderte sich auch die Adresse: Das Stadtpalais lag nun nicht mehr in der rue de Bourbon, sondern in der rue de Lille, so benannt 1792 in Erinnerung an die erfolgreiche Verteidigung dieser Stadt gegen die Österreicher. Villeroy versuchte zwar, sich den neuen Umständen anzupassen und zeigte demonstrativ patriotische Gesinnung, aber vergeblich: 1794 fiel er der Schreckensherrschaft Robespierres zum Opfer und wurde nach einem Urteil des Revolutionstribunals hingerichtet. Nicht viel besser erging es dem hôtel des Herzogs: die bewegliche Habe wurde verkauft, auch weite Teile der festen Einrichtung verschwanden: Die hölzernen Wandverkleidungen wurden ausgebaut, die Wandbespannungen abgerissen, Türen und Fenster fehlten, ebenso große Teile des Parketts. Kamine, Öfen waren einfach nicht mehr vorhanden, das Dach weitgehend abgedeckt. Was blieb, war im Grunde eine Ruine.[7] Nach dem Ende der Schreckensherrschaft verkauften die Erbinnen des Herzogs 1796 das Haus an zwei Spekulanten, die „Bau- , Reparatur-, Verbesserungs- und Verschönungsarbeiten“ vornahmen und das entsprechend aufgeteilte Anwesen vermieteten.
Der neue Besitzer, Eugène von Beauharnais, „ein europäischer Prinz“
Am 20. Mai 1803 kaufte der zweiundzwanzigjährige Eugène de Beauharnais das heruntergekommene Palais, das seitdem hôtel de Beauharnais oder Palais Beauharnais heißt. Eugène war der Sohn von Joséphine de Beauharnais und Alexandre de Beauharnais. Dieser gehörte zu den ersten adligen Abgeordneten der Nationalversammlung, die zum Dritten Stand übertraten, und er war zeitweise Präsident der Nationalversammlung. Dessen ungeachtet wurde er 1794 von einem Revolutionstribunal zum Tode verurteilt. Die Mutter, Joséphine, heiratete 1796 den jungen General Bonaparte, der 1799 zum Ersten Konsul aufstieg und 1804 sich zum Kaiser krönte. Als Frau des Ersten Konsuls suchte Joséphine für ihren Sohn eine standesgemäße Wohnung. Der wohnte damals nämlich noch zur Miete im hôtel de Salm, seit 1804 Sitz der Ehrenlegion. Dieses Stadtpalais war von einem deutschen Prinzen erbaut worden, der mit Alexandre de Beauharnais eng befreundet war und mit dem zusammen er 1794 hingerichtet und auf dem Friedhof von Picpus in einem Massengrab verscharrt wurde.
Eugène war ein gut aussehender, charmanter junger Mann, der die Offizierslaufbahn einschlug. Als Adjudant Napoleons nahm er am Italienfeldzug und dann auch am Ägyptenfeldzug 1798-1801 teil und zeichnete sich schon damals -wie auch im späteren Russlandfeldzug- durch große Tapferkeit aus.
Diese Zeichnung des jungen Théodore Gericault zeigt Eugène, wie er in Russland einen seiner Offiziere befreit, der in die Hände von Kosaken gefallen war.[8]
Eugène stand hoch in der Gunst seines Stiefvaters. Das kam auch in dem Kauf des Palais in der rue de Lille und seiner Renovierung zum Ausdruck. Renovierung und Inneneinrichtung erwiesen sich allerdings als sehr kostspielig, was den Zorn Napoleons erregte. Es sei unsinnig, enorme Summen „für ein so kleines Haus“ auszugeben. Eine daraufhin eingesetzte Kommission anerkannte aber die hohe Qualität der Arbeiten und befand die entsprechenden Kosten als angemessen. Kritisiert wurde allerdings der „Luxus der Ornamente, der Malereien und der Vergoldungen“[9]. Die widersprachen zwar dem revolutionären Dogma der Einfachheit, das Bonaparte damals noch vertrat, trugen allerdings -und tragen heute wieder- wesentlich zum Glanz des Palais bei.
Eugène konnte allerdings aufgrund seines weiteren Aufstiegs diesen Glanz kaum genießen: Im Juni 1805 wurde er zum Vizekönig von Italien ernannt, wo er auch die nächsten Jahre verbrachte. Das Palais wurde nun als Gästehaus genutzt, dessen von Joséphine weiter betriebene noble Ausstattung auch als Schaufenster der -schon damals- blühenden und stilbildenden französischen Luxusindustrie diente.
1806 adoptierte Napoleon seinen Stiefsohn und verheiratete ihn mit der Prinzessin Auguste Amalia von Bayern, der Tochter des bayerischen Königs. Der folgsame Stiefsohn und jetzt auch potentielle Nachfolger des Kaisers konnte sich immerhin vorab durch eine ihm übersandte Tasse von der Schönheit der ihm zugewiesenen Gattin überzeugen.
Aber auch die junge Dame konnte mit dem ihr zugewiesenen Ehemann zufrieden sein. Mit der Eheschließung beendete Eugène sein zeitgemäß freizügiges Junggesellendasein und wurde, gemäß seinem familiären Wahlspruch „Ehre und Treue“, ein treuer und liebevoller Ehemann und Vater. Die Hochzeit fand nicht, wie eigentlich vorgesehen, in Paris, statt, sondern angesichts der Bedeutung der Verbindung mit dem Haus Wittelsbach in München. Für die in Paris gebliebenen Hochzeitsgäste veranstaltete aber Eugènes Schwester Hortense im Palais Beauharnais einen Ball, über den sie ihrem Bruder schrieb: „Alle waren gerührt, sich in der schönen Galerie, in der wir uns so sehr amüsiert haben, einzufinden, und dich nur im Gemälde zu sehen. Dein Portrait von Gérard machte es möglich. Es ist dir so ähnlich! Es wurde mit Myrten gekrönt …“[11] Das von François Gérard gemalte Portrait, das Eugène in der Uniform eines Obersten der Konsulargarde zeigt, ist auch heute noch im Palais zu sehen.
Foto: F. Jöckel
Auch wenn sich Eugène nun überwiegend in Italien (Mailand und Monza) aufhielt, blieb er -über seine verwandtschaftlichen Beziehungen hinaus- auch Deutschland verbunden. 1810 wurde er von Napoleon zum Kronprätendenten des damals geschaffenen Großherzogtums Frankfurt bestimmt [12], 1813 befehligte er die in Deutschland stationierten französischen Truppen.
Nach dem Sturz Napoleons siedelte Eugène mit Frau und Kindern zu seinen Schwiegereltern nach Bayern über, wo er als Herzog von Leuchtenberg und Fürst von Eichstätt „eingebürgert“ wurde. In München ließ er sich von Hofbaumeister Leo von Klenze das Palais Leuchtenberg, ein Pracht-Domizil mit 253 Zimmern, errichten, das allerdings im Zweiten Weltkrieg den alliierten Bomben zum Opfer fiel.[13]
1824 starb Eugène in München. In der Tat: „Ein europäischer Prinz“ – so der Name einer ihm 2022/2023 in Malmaison gewidmeten Ausstellung.[14] Bestattet wurde er in der Münchener Michaelskirche, der Grabkirche der Wittelsbacher.
Auf dem Grabdenkmal ließ Auguste Amalia seinen Wahlspruch „Honneur et Fidélité“ (Ehre und Treue) anbringen.[15]
Goethe sagte über ihn: „Er war einer von den großen Charakteren, die immer seltener werden, und die Welt ist abermals um einen bedeutenden Menschen ärmer. Ich kannte ihn persönlich; noch vorigen Sommer war ich mit ihm in Marienbad zusammen. Er war ein schöner Mann von zweiundvierzig Jahren, aber er schien älter zu sein, und das war kein Wunder, wenn man bedenkt, was er ausgestanden und wie in seinem Leben ein Feldzug und eine große Tat auf die andere drängte. Er teilte mir in Marienbad einen Plan mit, über dessen Ausführung er viel mit mir verhandelte. Er ging nämlich damit um, den Rhein mit der Donau durch einen Kanal zu vereinigen. Ein riesenhaftes Unternehmen, wenn man die widerstrebende Lokalität bedenkt. Aber jemandem, der unter Napoleon gedient und mit ihm die Welt erschüttert hat, erscheint nichts unmöglich.“
Das Palais als Sitz der preußischen und der deutschen Gesandtschaft/Botschaft
Als nach der endgültigen Niederlage Napoleons Eugène de Beauharnais Paris verließ und nach Bayern übersiedelte, stand auch die Zukunft seines Pariser Wohnsitzes auf der Tagesordnung. 1818 verkaufte er das Palais, zu dem er ja keine engere persönliche Beziehung hatte, dem preußischen König Friedrich Wilhelm III., dessen Portrait vor dem Hintergrund des Charlottenburger Schlosses im Palais Beauharnais zu sehen ist.
Paul Ernst Gebauer: Friedrich Wilhelm III. (1833) Ausschnitt. Foto: F. Jöckel
Friedrich Wilhelm kannte das Palais gut, weil er dort schon 1814 nach der Niederlage Napoleons gewohnt hatte und danach noch öfters anlässlich der Inspektion der preußischen Besatzungstruppen. Mit dem Kauf musste die preußische Gesandtschaft nicht mehr an wechselnden Orten Räume anmieten, sondern erhielt ein dauerhaftes repräsentatives Domizil.
Kaufvertrag zwischen dem Prinzen Eugène und dem König von Preußen. Foto: F. Jöckel
Die Zeit der preußischen Gesandtschaft hat im Palais deutliche Spuren hinterlassen: Da sind die das Hauptportal flankierenden Adler ….
…. und die königlichen Wappen über dem Hauptporal und im Foyer:
Fotos: F. Jöckel
An die preußische Vergangenheit des Baus erinnern auch die Büsten von Wilhelm und Alexander von Humboldt, die beide Paris eng verbunden waren. Alexander lebte mit wenigen Unterbrechungen von 1804 bis 1827 in Paris, das damals das bedeutendste künstlerische und wissenschaftliche Zentrum der Welt war, sozusagen der „Nabel der Geisteswelt“. Dort fand Alexander von Humboldt alles, was er für seine wissenschaftlichen Arbeiten benötigte. Einen bedeutenden Teil seiner Werke schrieb er auf Französisch. Im Jahre 1818 stellte Wilhelm von Humboldt sogar fest, sein Bruder habe „aufgehört […], deutsch zu sein“ und sei „bis in alle Kleinigkeiten pariserisch geworden“.[16] 1815 wurde Alexander angeboten, preußischer Gesandter in Paris zu werden, was er aber ablehnte: Die Wissenschaft war ihm wichtiger. Allerdings galt Humboldt manchen wegen seiner engen Beziehungen bis in die höchsten politischen Kreise als „graue Eminenz der preußisch-französischen Diplomatie.“[17]
Büste Alexander von Humboldts im Vestibül des Palais Beauharnais. (Kopie eines Originals von Christian Daniel Rauch) Foto: F.Jöckel
Alexanders Bruder Wilhelm hatte allerdings 1814 die Gelegenheit, als Diplomat nach Paris zurückzukehren, wo er zuvor mehrere Jahre verbracht und wichtige Anregungen für seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten erhalten hatte. Als Vertreter Preußens war er nach der Niederlage Napoleons an den Friedensverhandlungen beteiligt. Gesandter Preußens wollte aber auch er ebenso wenig wie sein Bruder werden.
Wilhelm von Humboldt. Kopie eines Originals von Bertel Thorwaldsen (1808) Foto: Frauke Jöckel
Alexander und Wilhelm von Humboldt: Zwei Persönlichkeiten, die in ganz besonderer Weise die enge Verbundenheit Frankreichs und Deutschlands über alle politischen Trennlinien und historischen Veränderungen hinweg verkörpern.[18]
Und dann gibt es noch eine Kopie der Schadow‘schen Büste der preußischen Königin Luise: sicherlich -aber nicht nur- zur Freude von Anhänger/Innen einer „feministischen Außenpoltik“.
Foto: Frauke Jöckel
Denn Königin Luise war nicht nur eine außerordentlich schöne Frau, sondern auch eine grandiose Diplomatin. Nach der preußischen Niederlage von Jena und Auerstedt kam es in Tilsit zu einer schicksalhaften Begegnung zwischen Napoleon und der 30-jährigen Luise. Für sie war Napoleon „ein Ungeheuer“, für ihn war sie eine „schwertfuchtelnde Amazone“, die den Preußen „so verderblich ist, wie es Helena für die Trojaner war“. Jetzt kam es aber darauf an, von Preußen zu retten, was noch zu retten war. Und tatsächlich war Napoleon tief beeindruckt von der jungen Königin. Man möchte versuccht sein, so meinte er, „anstatt ihr eine Krone zu nehmen … ihr eine andere zu Füßen zu legen.“ Das irritierte Frankreichs Außenminister Talleyrand so sehr, dass er den Kaiser mahnte, „nicht um ein paar schöner Augen willen Ihre größte Eroberung aufs Spiel zu setzen“. Luises Verhandlungsgeschick und natürlich auch der Einfluss des russischen Zaren bewahrten Preußen vor dem Untergang. Zwar erlitt das Land große territoriale Einbußen, behielt aber soviel Substanz, dass der Weg zu entscheidenden gesellschaftlichen Reformen beschritten werden konnte, an denen dann ja auch Wilhelm von Humboldt erheblichen Anteil hatte. [18a]
Hier eine Ansicht der Hofseite des Hôtel de Beauharnais aus dem Jahr 1816 von J. Thibault.[19] Die Figuren der preußischen Soldaten/Ordonanzen im Hof wurden auf Wunsch Alexander von Humboldts von Carle Vernet hinzugefügt. Der war damals der berühmteste Pferdemaler, der auch die auf diesem Blog schon vorgestellte Wandtapete La Chasse de Compiegne entworfen hatte. Die Ansicht schickte Alexander von Humboldt auch dem preußischen König als Souvenir nach Berlin.
Auf dieser Ansicht von 1816 hat das Palais noch zwei Stockwerke und ein Dachgeschoss. Heute gibt es eine zusätzliche Etage, die Teil der umfangreichen Sanierungs- und Umbauarbeiten war, die im Verlauf des 19. Jahrhundert vorgenommen werden mussten. Nachdem die preußische Gesandtschaft das Hôtel Beauharnais bezogen hatte, stellte sich nämlich bald heraus, dass der Bau ganz erhebliche Mängel aufwies: Es handelte sich um ein auf unsicherem Grund errichtetes Spekulationsobjekt, und die Architekten von Eugène hatten sich um das glanzvolle Innere und nicht um die Bausubstanz gekümmert.
Als Architekt für die Sanierung wurde durch Vermittlung Alexander von Humboldts Jakob Ignaz Hittorff engagiert, „ein wahrer Glücksgriff“. Hittorff wuchs in dem 1794 von Revolutionstruppen annektierten Köln als französischer Staatsbürger auf, wurde nach dem Wiener Kongress wieder Preuße, machte aber gleichwohl in Frankreich Karriere und war -vor dem Baron Haussmann- einer der großen Stadtbaumeister von Paris: Die Place de la Concorde, die Place de l’Étoile, die Champs-Elysées und der Pariser Nordbahnhof -um nur einige Beispiele zu nennen- sind dafür eindrucksvolle Belege. Beim Palais de Beauharnais war Hittorff bis zu seinem Tod 1867 „gleichermaßen für die großen Baumaßnahmen wie auch für sämtliche Arbeiten an der Innendekoration verantwortlich. Dazu gehören die von ihm 1843 neu eingeführten Deckengestaltungen aus vergoldetem Pappmaschee in den großen Festräumen des Palais in der ersten Etage.“[19a]
Dabei passte sich Hittorff dem historischen Rahmen des Haues an. Allerdings vergaß er dabei auch nicht seinen Auftraggeber und die neue Funktion des Palais, wie die Decke des roten Salons (Salon Cerise) mit der preußischen Krone und den Initialien des preußischen Königs zeigt.
Hittorffs einschneidendste Änderung war die Aufstockung des Gebäudes.
Historisches Foto der Gartenfront nach der Hittorff’schen Aufstockung [20]
Da die repräsentativen Räume bisher den meisten Platz beanspruchten, fehlte es der immer größer werdenden Gesandtschaft an Büros und an Wohnraum für die Beschäftigten. Insofern war die Aufstockung ein Segen für die 1862 zur Botschaft erhobene Vertretung in Paris. Dass zum Teil sehr radikale weitere Veränderungsvorschläge Hittorffs – wie die Neugestaltung des Portikus oder die komplette Neueinrichtung der meisten Räume- vor allem an der preußischen Knauserigkeit scheiterten, kann man wohl auch als Segen bezeichnen: Sonst wäre das Palais Beauharnais heute kaum noch das Gesamtkunstwerk des Empire-Stils, dessen künstlerische Bedeutung erst nach Hittorffs Tod, Ende des 19. Jahrhunderts, voll erkannt wurde.
Das Bismarcksche Intermezzo
Otto von Bismarck übernahm im Mai 1862 die Pariser Gesandtschaft. Gern ist er nicht nach Paris gegangen, zumal er wusste, dass sein Aufenthalt in der französischen Hauptstadt nur von kurzer Dauer sein würde. Die Mitteilungen über seine Residenz an die Angehörigen in der Heimat waren nicht gerade schmeichelhaft: „Das Haus liegt sehr schön, ist aber dunkel, feucht und kalt. … alles liegt nach Norden, riecht dumpfig und kloakig . Kein einziges Möbel auf, kein Winkel, in dem man gern sitzen möchte (…) So haben Hatzfelds und Pourtalès [21] (frühere deutsche Gesandte W.J.) die ganze Zeit existiert, sind aber auch dabei gestorben, in der Blüte ihrer Jahre, und bleibe ich in dem Hause, so sterbe ich früher als ich wünsche.“ Als einziger Lichtpunkt in solchem Elend erschien ihm der Garten, von dem er seiner Frau mit Wärme berichtete: »Rasen , Rosen und Seine , zwischen den hohen Bäumen Blick auf die Tuilerien; Blätter , Spatzen und lauer Wind , fernes Stadtgeräusch, man ist wie auf dem Lande“ [22]
Fotos: F. Jöckel
Heute hängt im Palais Beauharnais ein Portrait Bismarcks, das allerdings– aus Rücksichtnahme auf französische Befindlichkeiten- erst spät (nach 1968) dort seinen Platz fand, galt Bismarck doch weithin in Frankreich als Verkörperung des Feindbildes Deutschland.[23] Und vielleicht wird das Bild ja demnächst -diesmal aus Rücksichtnahme auf neue deutsche Befindlichkeiten [24]– in ein Hinterzimmer verbannt….
Unter dem Gemälde Bismarcks – gewissermaßen als Ausgleich?- die Büste des Schriftstellers, Kunstkritikers und entschiedenen Nazi-Gegners Wilhelm Hausenstein, der von 1950 bis 1955 zunächst Generalkonsul, dann Geschäftsträger und schließlich erster Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Paris war. Er repräsentierte -in der Tradition der Humboldts- das „andere“ freiheitliche Deutschland, ebenso wie Carlo Schmid, dessen Büste (zu meiner großen Freude) ebenfalls in diesem Raum aufgestellt ist.
Carlo Schmid hatte engste Beziehungen zu Frankreich, er war dort geboren, seine Mutter war Französin, er zeichnete sich -auch- als Übersetzer u.a. von Baudelaire und Malraux aus. Nach dem Krieg setzte er sich entschieden für die deutsch-französische Aussöhnung ein. Dazu war er einer der Väter des Grundgesetzes und an der Universität Frankfurt Professor… Als junger Student besuchte ich -auch wenn ich damals noch gar nicht Politik studierte- immer gerne seine beeindruckenden Vorlesungen im großen alten Hörsaal der Universität….
Das Palais Beauharnais zwischen Krieg und Frieden
Aber zurück ins 19. Jahrhundert… Dreimal in den darauffolgenden Jahrzehnten standen sich Deutschland und Frankreich in Kriegen gegenüber: Im deutsch-französischen Krieg von 1870/1871, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Der Krieg von 1870/1871 hat gewissermaßen indirekt seine Spuren im Palais Beauharnais hinterlassen: Bei den Kämpfen der Commune mit den nach Paris eindringenden Versaillais in der semaine sanglante traf ein Schuss den Spiegel im Schlafzimmer: Das Einschussloch und der Sprung im Spiegel sind heute noch zu sehen.
Foto: F. Jöckel
Eine tragische Geschichte, die in den Jahren zwischen dem deutsch-französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang im Palais Beauharnais nahm, war die Dreyfus-Affaire. In einem Papierkorb des Militärattachés fand Madame Bastian, eine für den französischen Geheimdienst arbeitende elsässische Reinmachefrau der Botschaft, Papierschnipsel. Das war der berüchtigte „bordereau“, der Grundlage der Spionagevorwürfe gegen den capitaine Dreyfus war.[25]
Nach dem Ersten Weltkrieg, der demonstrativen Demütigung der jungen Weimarer Republik durch den Versailler Vertrag und der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen, war das Palais Beauharnais -wie schon in den Jahren nach 1871- ein Ort der Vertrauensbildung. Empfänge, Kammermusik- und Tanzabende für eine kosmopolitische Gesellschaft fanden hier statt, „die zu den herausragenden und schönen Momenten im deutsch-französischen Verhältnis gehören.“ [26] Max Beckmanns Gemälde „Gesellschaft Paris“ (Guggenheim-Museum New York) aus den 1920-er Jahren wird gemeinhin mit einer solchen Abendveranstaltung im Palais Beauharnais in Verbindung gebracht. [27]
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft geriet das Palais Beauharnais vor allem 1938 durch die Ermordung des Botschaftsrates Ernst Eduard vom Rath durch Herschel Grynszpan in den Blickpunkt. Grynszpan wollte die Deportation seiner Eltern und Geschwister in das deutsch-polnische Niemandsland in der sogenannten „Polenaktion“ rächen. Die Tat diente den Nazis als Anlass und Vorwand für das Judenpogrom in der sogenannten „Kristallnacht“ am 9. November 1938. Während der Zeit der Besatzung residierte in dem Palais der Botschafter Otto Abetz, der von einem frankophilen Demokraten und Pazifisten zu einem entschiedenen Nationalsozialisten mutierte. Abetz bemühte sich nach Kräften, das Palais Beauharnais mit geraubten Kunstobjekten aus jüdischem Besitz auszustatten wie dem Prunkschreibtisch des Grafen Metternich aus der Sammlung Edmond de Rothschilds. Als Depots für den Nazi-Kunstraub wurden auch die benachbarten Stadtpalais genutzt.
Nach der Befreiung von Paris wurde das Palais de Beauharnais vom französischen Staat konfisziert, aber 1961 im Zuge der deutsch-französischen Verständigung an die Bundesrepublik zurückgegeben – „sehr gegen den Widerstand des Bundesfinanzministers, der darauf verwies, dass man inzwischen ein von den Meistern der Bundesbaudirektion entworfenes Bürogebäude besitze und für die kostspielige Antiquität keine Verwendung habe. Konrad Adenauer war anderer Meinung.“ Die als Geste Frankreichs gedachte Übergabe des Hauses konnte trotz der absehbaren Kosten aus politischen Gründen ja kaum zurückgewiesen werden.[28]
Das Palais de Beauharnais als Botschaftsresidenz
In der Tat dauerte es bis 1968, bis die nötigsten Renovierungen abgeschlossen waren und das Palais offiziell von den Präsidenten de Gaulle und Lübcke als Residenz des deutschen Botschafters eröffnet werden konnte.
Hier sieht man die beiden am napoleonischen Trommeltisch des Palais.[29]
Fotos: F. Jöckel
De Gaulle zeigt offenbar seinem deutschen Amtskollegen das eingelegte Bildnis Napoleons im Zentrum der Tischplatte. Und Herr Lübcke lächelt wohlgefällig dazu….
Danach allerdings ging die Renovierung -auf der Grundlage penibler kunsthistorischer Forschungen durch das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris- erst richtig los [30].
Das Ergebnis ist grandios, wie Michael Moenninger 2006 in der ZEIT rühmte:
Ältere Franzosen verspürten beim ersten Anblick eher einen psychedelischen Farbschock. Lange Zeit hatten die ausgeblichenen Seidentapeten in anderen Schlössern als Vorbild für Renovierungen gedient, weshalb das Palais zuletzt die Anmutung eines pastellfarbenen Kurhauses der fünfziger Jahre hatte. Nun aber knallen wieder Pompeji-Rot und Olivgrün durch die Enfiladen, altrömische Goldreliefs rieseln von den Wänden, und viele der fast vollständig erhaltenen Originalmöbel mit ihren Schwanenhalslehnen, Löwentatzenbeinen und Sphinx-Gestellen gibt es in dieser Qualität nicht einmal im Louvre. Auch Themenräume wie das türkische Boudoir und Badezimmer sind selten zu sehen. Der renovierte Portikus im Ehrenhof, ein Replikat des ägyptischen Tempels von Dendera, zählt zu den wenigen erhaltenen Erinnerungen an Napoleons Orientexpedition. [32]
Foto: F. Jöckel
Dazu dann mehr -und vor allem viele Fotos!- in dem nachfolgenden zweiten Teil des Berichts:
„Deutschlands schönstes Haus steht an der Seine“: Das Palais Beauharnais in Paris (Teil 2)
Dank
Wir danken Herrn Achim Holzenberger, dem früheren Leiter der Abteilung Presse/Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Botschaft, dass er uns die Möglichkeit für Fotoaufnahmen gegeben hat und uns dabei geduldig begleitete.
Besichtigung
Zweimal monatlich (außer Juli und August) gibt es ganz hervorragende, engagierte Führungen durch das Palais, die im Allgemeinen von Madame Françoise de Guilhermier-Jacquot, conférencière des Musées Nationaux, durchgeführt werden.
Thomas W. Gaethgens, Ulrich Leben und Jörg Ebeling, Palais Beauharnais in Paris- zur historischen Ausstattung. In: Bau und Raum Jahrbuch 2004. Herausgegeben vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 82-91
Claus von Kameke, Palais Beauharnais. Die Residenz des deutschen Botschafters in Paris. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1968
Klaus-Henning von Krosigk, Der Garten des Palais Beauharnais. In: Bau und Raum Jahrbuch 2004. Herausgegeben vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 92- 95
Michael Moenninger, Imperiale Wehmut. Botschaften renovieren, Plätze ausgraben: Warum die Franzosen das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris so schätzen. DIE ZEIT, 10/2006 vom 2. März 2006
[17] Jörg Ebeling, Die preußische Legation und Botschaft. Hittorf und das Palais Beauharnais (1818-1867). In: Ein Meisterwerk des Empire, S. 104
[18] Siehe zum Beispiel: Heinz Balmer, Alexander von Humboldt und Frankreich 1976 ;
Ulrich Päßler, Ein „Diplomat aus den Wäldern des Orinoko“. Alexander von Humboldt als Mittler zwischen Preußen und Frankreich. Stuttgart 2009
Jörg Ebeling, Jacob Ignaz Hittorff und die preußische Gesandtschaft. In: Isabelle Jansen, Friederike Kitschen und Gitta Ho (Hrsgg.), Dialog und Differenzen : 1789-1870 Deutsch-französische Kunstbeziehungen, Berlin 2010, S. 43-56
[21] Die Vorfahren des Grafen Pourtalès gehörten übrigens zu den französischen Glaubensflüchtlingen, die in Preußen aufgenommen worden waren und von denen viele in staatlichen Diensten Karriere machten.
[22] Zitiert bei Hammes, S. 144, dem ich in diesem Abschnitt folge.
[23] Jörg Ebeling, Das Palais Beauharnais zwischen 1933 und 1945. In: Ein Meisterwerk des Empire, S. 150. Siehe dazu z.B. auch: Emmanuelle Gaillard, Bismarck, Le chancellier de fer: L’Allemagne représente plus que jamais l’ennemi, le « barbare ». Bismarck et l’empereur Guillaume en sont les symboles. In: L’histoire par l’image , Mars 2016 https://histoire-image.org/etudes/bismarck-chancelier-fer. Diese französische Haltung zu Bismarck wirkt noch bis heute nach. Siehe: Jean-Luc Mélenchon, Le Hareng de Bismarck (Le Poison Allemand), Paris: Plon 2015
Unter dem Portrait Bismarcks eine Büste von Wilhelm Hausenstein, dem ersten Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg.
[24] Das Bismarck-Zimmer im Berliner Auswärtigen Amt (der Name geht übrigens auf Bismarck zurück) wurde ja kürzlich umbenannt, weil Bismarcks Machtpolitik nicht mehr in unsere Zeit passe…. Siehe den -m.E. sehr tendenziösen- Beitrag von Eckart Conze in der FAZ vom 3.1.2023 Ist Bismarck noch ein Vorbild für deutsche Außenpolitik? (faz.net)
[25] Siehe z.B. Mareike König, „Bitte leeren Sie den Papierkorb, Madame!“ – nochmal zur Dreyfusaffäre
[32] Michael Moenninger, Imperiale Wehmut. Botschaften renovieren, Plätze ausgraben: Warum die Franzosen das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris so schätzen. DIE ZEIT, 10/2006 vom 2. März 2006
Auf den Maler Hans Hartung wurden wir aufmerksam anlässlich der ihm gewidmeten großen Ausstellung 2019/2020 im Musée d’Art Moderne de Paris.[1]
Alle Ausstellungsfotos: Wolf Jöckel
Aufgefallen ist uns vor allem, welche Bedeutung die Farbe Schwarz im Werk Hartungs hat. In seinem Selbstportrait schreibt er, er möge das Schwarz: „Es ist zweifellos meine Lieblingsfarbe. Ein absolutes, kaltes, tiefes, intensives Schwarz.“ (S. 186).
T 1963- E 45
Das erinnerte uns an Pierre Soulages, in dessen Werk ja die Farbe Schwarz in unterschiedlichen Facetten dominiert und dessen großformatige Arbeiten wir in den Museen von Rodez und Montpellier bewundert haben.[2] Und auch Hartung hat die großen Formate geliebt und genutzt. In seinem Selbstportrait spricht er von dem „Bedürfnis, große Bilder zu malen.“
„Ich bin davon überzeugt, dass in der abstrakten Kunst den Dimensionen eines Bildes eine außerordentliche Bedeutung zukommt. … Ein Strich, der quer über eine zwei Meter hohe Leinwand verläuft, drückt Gewalt, Energie und Stärke aus. Ist er nur zehn Zentimeter lang, ist er bedeutungslos. Eine Wut, ein Aufbegehren, eine Begeisterung, eine Leidenschaft von zwanzig Zentimetern, das erscheint lächerlich“. (S. 191)
Und wie bei Soulages gibt es auch bei Hartung keine Titel für seine Werke, sondern nur Nummern. Auch dazu Hartung: „Von Anfang an habe ich meinen Bildern niemals Titel gegeben, sondern Nummern. Denn ich möchte den Betrachter nicht beeinflussen. … Man muss ihnen (den Leuten W.J.) ihre Freiheit lassen. Völlige Freiheit.“ (S. 79)
In der Tat verband Hartung seit 1947 nicht nur eine künstlerische Nähe, sondern auch eine bis zu seinem Tod fortdauernde Freundschaft mit dem 15 Jahre jüngeren Pierre Soulages.[3]
Hartungs Werk ist von einer großen Experimentierfreude und Variabilität geprägt. Immer wieder erschloss er sich neue Gestaltungsmöglichkeiten. Man hat sogar von einer „kopernikanischen Wende“ seines Schaffensprozesses gesprochen, in der die Farbe „zur Triebkraft seines grandiosen Spätwerks wird.“[4]
Es waren aber nicht nur die Bilder, die für uns Anlass waren, uns näher mit Hartung zu beschäftigen, sondern auch seine ganz besondere deutsch- französische Lebensgeschichte, die sicherlich auch eine Grundlage für die Freundschaft mit Soulages war.
Geboren wurde Hartung 1904 in Leipzig. Sein Selbstportrait von 1922, das seinen festen Platz in Antibes hat, zeigt einen jungen Mann, der selbstbewusst, fast von höherer Warte aus, auf den Betrachter und die Welt blickt.
Schon als Kind schien ihm klar zu sein, dass er sich mit der Malerei ausdrücken konnte, dass er Ängste damit in etwas anderes verwandeln konnte. Als Sechsjähriger habe er sich mit dem Malen „von der Angst befreit“. Vor Gewittern zum Beispiel. Ans offene Fenster sei er gelaufen, um „die zuckenden Blitze im Fluge“ einzufangen. „Noch vor dem Donnerschlag mussten sie auf dem Blatt sein, so beschwor ich den Blitz. Mir konnte nichts geschehen, wenn mein Strich so schnell wie der Blitz war.“ Er füllte ganze Schulhefte mit den Zeichnungen von Gewitterblitzen. “Blitzbücher” nannte sie sein Vater.[5]
1955 Tusche auf Papier 19 x 12,5 cm
Und schon seit 1926 hatte er eine enge Beziehung zu Frankreich. Damals fand eine internationale Ausstellung in Dresden statt, bei der er die französische Malerei kennenlernte:
„Daraufhin unternahm ich mehrere Reisen durch Frankreich, und die Vielfalt der Landschaften, die Schönheit und das Klima Südfrankreichs haben mich überwältigt. Es war nicht allein die Malerei, sondern auch die Architektur -die romanische, gotische, die der Loire-Schlösser, der kleinen Dorfkirchen und der Festungen von Vauban- und eine gewisse Art zu leben, die mich faszinierten, ganz zu schweigen von der Küche und den Weinen aus Bordeaux. Hinzu kam die ungeheure Anziehung, die Paris als kulturelles Zentrum auf mich ausübte, mit seinem internationalen Leben, mit Montmartre -Josephine Baker nicht zu vergessen!- und dem außergewöhnlichen Leben, das sich damals zu seiner großen Zeit am Montparnasse abspielte“.[6]
1926 setzte er seine künstlerische Ausbildung in Paris fort, 1935 ging er dorthin ins Exil, weil das Leben im Nazideutschland für ihn unerträglich und als Maler unmöglich war. Die Nazis entzogen ihm denn auch die deutsche Staatsbürgerschaft und machten ihn zum Staatenlosen. Nach Ausbruch des Krieges meldete sich Hartung zur Fremdenlegion, die einzige Möglichkeit, seiner Internierung als „feindlicher Ausländer“ ein Ende zu machen. Als Legionär war Hartung -zusammen mit anderen Nazigegnern und Juden, die in der Legion dienten, in Nordafrika stationiert. Die Stimmung war sehr gut, wie er später berichtete, zumal er als Maler zur Ausgestaltung des Speisesaals abgestellt wurde. Nach dem Waffenstillstand 1940 wurde er entlassen, ohne je einen Feind gesehen zu haben.[7]
Hartung als Fremdenlegionär in Nordafrika
Danach wurde Hartung demobilisiert und kam im unbesetzten Teil Frankreichs unter. Aber im November 1942 besetzte die Wehrmacht auch diesen Teil Frankreichs. Zunächst versuchte Hartung noch, heimlich dort weiterzuleben, doch dann erschien es ihm ratsam, sich in Nordafrika in Sicherheit zu bringen. Das gelang aber nicht, und wieder war die erneute Verpflichtung zur Fremdenlegion die einzige Möglichkeit, Internierung und Gefängnis zu verhindern und stattdessen gegen das faschistische Deutschland zu kämpfen, für das er Scham empfand: Das sei für ihn „eine moralische Frage“ gewesen. „Ich fühlte mich ein wenig verantwortlich. ‚Verantwortlich‘ ist nicht genau das richtige Wort, aber auf jeden Fall sehr betroffen.“[8] Unter dem Namen Pierre Berton nahm Hartung im November 1944 als Sanitäter an den Kämpfen im Elsass teil. In seinem Lebensbericht schreibt er: „Die Kämpfe waren (…) sehr hart, und wie immer stand die Legion in vorderster Linie. Man schickte die Legion voraus, sobald es offensichtlich war, dass es große Verluste geben würde.“ Bei einem solchen -und dazu auch noch sinnlosen- Einsatz wurde Hartung verwundet: Ein Bein musste amputiert werden. Immerhin entging er, wie er lakonisch bemerkt, auf diese Weise einem vielleicht sogar lebenslangen Dienst in der Fremdenlegion und konnte wieder seiner Bestimmung als Maler folgen.[9] Allerdings verlor er bei dem Transport in das Krankenhaus von Toulouse sein Gepäck mit allen Zeichnungen, die seit Spanien entstanden waren. Das traf ihn fast noch mehr als der Verlust des Beins. 1946 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft und wurde in die Ehrenlegion aufgenommen. 1947 präsentierte die Pariser Galerie Lydia Conti Hans Hartung in ihrer Eröffnungs- Ausstellung, der junge Alain Resnais drehte dazu einen Kurzfilm über den Maler: Beginn eines grandiosen Aufstiegs, markiert von internationalen Ausstellungen und Preisen.
Zu der Ausstellung des Musée d’Art Moderne gehörte auch ein Foto mit entsprechender Erläuterung von Haus und Atelier in Antibes, in dem Hans Hartung zusammen mit seiner Frau Anna-Eva Bergman von 1973 bis zu seinem Tod 1989 lebte und arbeitete. Inzwischen ist es für die Öffentlichkeit zugänglich. Grund genug also für einen Besuch.
Das Anwesen liegt oberhalb von Antibes an einer langen Einbahnstraße. Da wir unserem Navi nicht recht vertrauten, baten wir mehrere Anwohner um Auskunft, die aber nur ratlos mit dem Kopf schüttelten: Erstaunlicher Weise hatte keiner von ihnen etwas von der Fondation Hartung-Bergman gehört… Offenbar also ein echter „Geheimtipp“….
Die Fondation Hartung-Bergman in Antibes
In seinem Selbstportrait beschreibt Hans Hartung das Haus in Antibes so:
„Es ist weiß und umschließt zwei Patios, die mich an das Atrium Romanum erinnern, das mir seit meiner Schulzeit nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, und dem ich in Italien und Südspanien wieder begegnet bin. Ein Patio mit freiem Himmel, aber rundum geschlossen, der andere nach Süden hin geöffnet; die Mauern des Gebäudes sind von einfachen Öffnungen durchbrochen; das ganze liegt inmitten eines Olivenhains. Zusammen mit Anna-Eva habe ich dafür die Pläne bis ins kleinste Detail gezeichnet.“ (S. 173)
Das Haus ist auch eine Reminiszenz an die frühe Ehezeit des Paares Hartung-Bergman auf Menorca Anfang der 1930-er Jahre. Dort hatte sich das junge Paar ein Haus auf den Felsen gebaut: „Es war ein großer, weißer Block, sehr schlicht, an der Höhe eines Hügels gebaut, mit weiter Sicht über Meer und Insel.“ (S. 71). Damit erinnerte es an die Häuser der spanischen Fischer: schlichte weiße Würfel mit in die Breite gezogenen Fenstern. … Es war purer Minimalismus und wilde Romantik. Aber das Idyll währte nur kurz: Hartung und Bergman wurden von den spanischen Behörden der Spionage verdächtigt und mussten Fornells verlassen. Das Haus wurde im spanischen Bürgerkrieg zerstört.[10]
Der Bau der Anlage in dem Olivenhain oberhalb von Antibes dauerte insgesamt sechs Jahre – eine Kraftprobe für Hartung und Bergman, bis endlich das Haus so geworden war, „wie wir es uns erträumt hatten.“ (Selbstportrait, S. 175). Von 1973 bis zu ihrem Tod (Bergman 1987, Hartung 1989) lebten und arbeiteten die beiden Künstler hier.
„1994 gingen die Gebäude an die Fondation Hartung-Bergman über. Sie wurde zum Erhalt des Werks beider Künstler gegründet. Die Stiftung verfügt nicht nur über den größten Bestand an Originalwerken von Hans Hartung und Anna-Eva Bergman, sondern ebenso über ein bedeutendes Archiv in Form von Werkkatalogen, Skizzen, Fotografien und Notizbüchern, sowie der beachtlichen Privatbibliothek der Künstler. Bisher war es jedoch nur Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern oder auf Anfrage auch kleinen Gruppen von Privatpersonen gewährt, diesen Schatz sowie die Original-Ateliers der Künstler in Augenschein zu nehmen.“[12] Seit 2022 sind nun auch individuelle Besuche möglich.
Bilder und Texte zu den wichtigsten Lebensstationen der Künstler sind in dem neuen turmähnlichen Eingangsgebäude angebracht, das sich nahtlos in die Ursprungsarchitektur einfügt und als erste Station auf dem Rundgang dient.
Danach gelangt man in den Olivenhain mit den teilweise zweihundert Jahre alten Bäumen. Die Fotos von der Fondation: F. und W. Jöckel
Im Schatten der alten Bäume gibt es Sitzgelegenheiten und einen kleinen Stand mit Getränken und mittags auch mit landestypischen Spezialitäten. Ein wunderbarer Ort der Ruhe und der Einstimmung in den genius loci.
Und dann geht es zum Herzstück der Fondation: den ehemaligen Ateliers der Künstler, die teilweise zu Ausstellungsräumen umgestaltet wurden.
Immer wieder gibt es dort Ausblicke nach draußen: „Die Fenster sind meine Bilder“, schreibt Hartung. „Durch sie zeichnet sich eine unbewegliche Landschaft ab, doch mit einem ständig sich wandelnden Himmel, der durch die silbernen Blätter der Olivenbäume schimmert.“ (Selbstportrait, S. 176)
Im ersten Gebäude befinden sich die ehemaligen Arbeitsräume von Anna-Eva Bergman. Hartung hatte die junge Norwegerin 1929 in Paris auf einem Fest der Skandinavier kennengelernt.
„Auf diesem Ball habe ich mich heftig gelangweilt, weil ich die Sprache der Tänzerinnen nicht verstand. Bis ein zierliches jungen Mädchen mit großen, blauen Augen auftauchte. Sie war zwanzig Jahre alt, hieß Anna-Eva Bergman und sprach fließend deutsch. Ich wich den ganzen Abend nicht mehr von der Seite. Das war am 9. Mai 1929. Am 11. Mai, als wir uns zum zweiten Mal sahen, gestanden wir es uns gegenseitig: wir hatten uns ineinander verliebt. Am 25. Mai bei einem Ausflug nach Versailles kam es durch die Sonne, die zarten Kräuter, den Duft der Liebesgeschichten von einst, der immer noch in dieser Welt der Spiegelgläser und des Reichtums des Palastes schwebt, zu dem, was kommen musste: wir beschlossen, zu heiraten!“ (S.63)
Allerdings wurde die Ehe 1938 wieder geschieden. Einer der Gründe für Bergmans Trennung von Hartung war die Erkenntnis, dass sie sich nur allein, in völliger Unabhängigkeit künstlerisch entwickeln könnte.[13] 1939 heiratete Hartung die Tochter des spanischen Künstlers Julio Gonzáles, in dessen Haus und Atelier bei Paris er damals lebte und arbeitete. 1952 nahmen aber Hans Hartung und Eva-Maria Bergman ihre Beziehung wieder auf. Sie trennten sich von ihren jeweiligen Ehepartnern, vermählten sich 1957 erneut und blieben bis zu ihrem Tod zusammen.
Im ehemaligen Atelier von Anna-Eva Bergman kann man einige ihrer eindrucksvollen Bilder betrachten und bewundern.
Die teils mehrere Meter oder nur handgroßen Gemälde im minimalistisch abstrakten Stil bestechen durch ihre ungeheure Leuchtkraft, die etwas Sakrales hat. Von Horizonten erzählen sie, von den Felsen und vom Licht der norwegischen Landschaften, von den Himmelskörpern und dem Universum. Die norwegische Malerin – immer auf der Suche nach Licht – entwickelte eine ganz eigene Technik, indem sie Blattsilber oder Blattgold auf mit Acrylfarbe bearbeitete Leinwände auftrug und dann die metallisierte Fläche mit Ritzungen und Übermalungen bearbeitete.[14]
Anna-Eva Bergman, Cap d’Antibes 1974 (Acrylfarbe und oxydiertes Kupferblatt auf Leinwand)
Anna-Eva Bergman, La nuit 1959 (Ölfarbe und Metallblatt auf Leinwand)
Anna-Eva Bergman N°42A-1966 Oxydation A (1966) 32×49,5 cm
Von 31. März bis 16. Juli 2023 wird im Musée d’Art moderne de Paris die erste große Retrospektive präsentiert, die Anna-Eva Bergmann gewidmet ist. In der Ankündigung der Ausstellung wird sie als eine „Schlüsselfigur der Nachkriegsmalerei“ bezeichnet, als „freie und visionäre Künstlerin“, und ihr Werk als eine eindrucksvolle Hommage an die Schönheit der Natur, an die Landschaften des Nordens und des Mittelmeers.[15] Zu dieser Ausstellung ist auch ein Blog-Bericht geplant.
Ausstellungsplakat in einer Pariser Metro-Station
Im „Heiligtum der Fondation“
Neben den Ausstellungsräumen Bergmans befindet sich das Atelier Hartungs mit seinen Nebenräumen, die jetzt für Ausstellungen genutzt werden. Anhand selten gezeigter Werke, wie dem Selbstporträt von 1922, lässt sich dort der Weg des Künstlers von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion nachvollziehen.
T 1956-26 (1956) 122 x 180 cm
Hier sind natürlich auch „die ausgefächerten, aus der Ferne an Palmenblätter erinnernden dunklen Formkonstellationen“ zu sehen, „die seine Arbeiten der 1950-er Jahre beherrschen und die zu einer ikonischen Formel für sein Werk wurden.“[16]
T1958-3 (1958) 92 x 73 cm (Ölfarbe auf Leinwand)
Diese großen Gemälde haben unverkennbar ihren Ursprung in kleineren Tuschezeichnungen. Diese Skizzen waren in den langen Jahren großer Armut für Hartung die einzige Möglichkeit künstlerischer Arbeit. In seinem Selbstportrait berichtet er von dem Besuch im Atelier eines englischen oder amerikanischen Malers in Paris, der ihm von Freunden empfohlen worden war:
„Er besaß ein riesiges Atelier mit ausgezeichneten Lichtverhältnissen. Der ganze Boden war übersät mit angefangenen, halbfertigen und sogar fertigen Bildern; überall verstreut lagen Farbtuben – vertrocknet, aufgeplatzt, zerquetscht, eine unglaubliche Vergeudung. Und ich, er ich nach dem letzten kleinsten Tropfen Farbe in meinen Tuben suchte, stand fassungslos, mit einem Würgen im Hals, vor solcher Verschwendung. Ich stammelte schnell ein paar höfliche Worte und sah zu, dass ich von dort fortkam, damit man mir meine Entrüstung und Verzweiflung nicht anmerkte.“ (S.92)
Als Hans Hartung dann genug Geld für den Kauf von Leinwänden und Farben hatte, folgte er dem Rat eines Freundes, seinen Skizzen treu zu bleiben und sie -auch das Zufällige und Unvorhergesehene- auf die Leinwand zu übertragen. „Ihm habe ich zu verdanken, dass ich trotz meiner Armut über die ganze Zeit meiner düsteren Jahre hinweg eine gewisse Anzahl von Bildern ausführen konnte, ohne Gefahr zu laufen, die Hälfte davon zu verderben.“ Das, was so spontan und „gestisch“ erscheint, ist also oft – und oft auch zum Missfallen eines Teils der internationalen Kunstkritik- das Ergebnis einer peniblen maßstabsgetreuen Übertragungstechnik.[17] Die große Bedeutung der Skizzen für sein Schaffen macht insofern auch verständlich, warum ihn der kriegsbedingte Verlust von in mehreren Jahren entstandenen Skizzen so sehr traf.
Direkt-spontan waren aber sicherlich diese Kieselsteine bemalt, die in der Stiftung ausgestellt sind. In den 1950-er Jahren hatte Hartung an der Côte d’Azur „die unbekannte Welt der verzauberten Kieselsteine“ entdeckt, die er sammelte und im Stil dieser Jahre verzierte. (Selbstportrait, S. 176).
Und „schließlich steht man im Heiligtum der Fondation: das vollkommen intakte Atelier, in dem Hartung bis zu seinem Tod arbeitete. Sein Rollstuhl steht vor einem Gemälde, daneben, fein säuberlich geordnet, für ihn angefertigte Pinsel, Bürsten, und die Sprühflasche, mit der er seine großformatigen Bilder direkt auf die Leinwand spritzte. Durch die Boxen tönt Bach, die Wände sind mit mehreren Schichten Farbspritzern bedeckt: Das Atelier wird sie (sic!) Teil eines Gesamtkunstwerks. Es fühlt sich so authentisch an, als würde Hartung gleich selbst erscheinen, um dem Gemälde auf der Leinwand noch schnell den letzten Schliff zu verleihen. Nirgends kann man dem Schaffensprozess von Hartung so nahe kommen, wie in diesem Raum, in dem absolut alles von der ungebrochenen Inspiration des Künstlers zeugt.“ [18]
Fotos des Ateliers: F. und W. Jöckel
Besonders auffällig und beeindruckend ist das gewaltige Arsenal an ungewöhnlichen Malerutensilien- Stahlbürsten, Gummipeitschen, Reisigbesen und Farbwalzen.
Dazu experimentierte Hartung auch mit Druckluftaggregaten: Zunächst mit einem umgebauten Staubsauger, dann mit einer Spritzpumpe, wie man sie auch im Garten verwendet, und schließlich einer Farbspritzpistole.
Die Wirksamkeit dieser technischen Hilfsmittel lässt sich an den zahllosen, nie übermalten Farbspritzern ablesen. „Als Zeichen eines ziemlichen Streuverlustes bedecken sie Boden und Wände, und man kann sich gut vorstellen, wie die Produktion seiner Arbeiten in dieser Alchimistenküche vonstattenging.“[19]
…. „Augenzeugen berichten von den Farbkaskaden, die auf die Bildern herabregneten, und von der Schnelligkeit, in der sich die Gestaltungsprozesse gerade in seinen letzten Lebensjahren vollzogen. 1988 entstehen in kurzer Taktung 216 Gemälde, 1989 (in Hartungs Todesjahr, W.J.) gar 360.“ Malen war also für Hartung nicht nur Experiment, sondern, wie Bettina Wohlfahrt ihren Bericht über die Ausstellung im Musée d’Art Moderne überschrieb, „das beste Mittel, um den Tod zu besiegen“.[20] Natürlich wird Hartung letztendlich dem Tod nicht entgehen, aber es ist doch eindrucksvoll, wie er nach den künstlerischen und körperlichen Verlusten der Kriegszeit mit großer Energie, Neugier und Kreativität weiterarbeitet, ja sich in seinem Alter neu erfindet – ähnlich wie der Matisse der Scherenschnitte oder der späte Monet.[21] Mit den neuen Techniken gibt es keinen direkten Kontakt mehr zwischen der Hand des Künstlers und der Leinwand: Dies bedeutet auch ein Loslassen, eine Vorbereitung auf den Tod: „Peindre pour apprendre, pour nous apprendre à mourir.“[22]
Hartungs neue und experimentelle Mal- und Arbeitsweise bedeutete auch den radikalen „Abschied von jener ‚zeichnerischen‘ Geste, die lange ein Markenzeichen seiner Kunst war, ihn künstlerisch aber auch festgelegt hatte.“[23] Dieses Markenzeichen verlor Mitte der 1960-er Jahre auf dem Kunstmarkt immer mehr an Wert zugunsten der konsum- und medienfreundlichen Pop-Art eines Warhol und Lichtenstein. Nach und nach büßte Hartung den Nimbus des Avantgardisten ein und wurde in den Augen der Kunstkritik und der informierten Öffentlichkeit zum ‚Klassiker‘, zu einer nicht mehr künstlerischen, sondern nur noch kunsthistorischen Größe.
Insofern ist der Wechsel an die Côte d’Azur „auch als eine Art Rückzug zu werten. Er bot allerdings die Chance, sich künstlerisch neu zu definieren, eine Chance, die Hartung eindrucksvoll zu nutzen wusste.“ In seinen letzten Lebensjahrzehnten gelang es sich, sich „vom Mythos der eigenen Person zu lösen und in seinem selbst gewählten Exil eine neue Freiheit zu erlangen.“
T 1989-N10, 73 x 92 cm: Das letzte Bild Hartungs (Fondation Hartung-Bergman)
Das Spätwerk Hartungs ist von einem Paradox geprägt: sein Leben wird immer mühseliger, seit dem Sommer 1987 ist er Witwer, seine Gesundheit ist angegriffen – „und dennoch bringt er eruptive Werke hervor.“[24] Seine letzte Arbeitssitzung fand am 16. November 1989 statt, 3 Wochen später, am 7. Dezember starb er.
Das Schwimmbad
Die Wohnräume des Künstlerpaares sind nicht zugänglich. Es ist aber möglich, bei einem Besuch der Fondation auch einen Blick auf den Swimmingpool Hartungs zu werfen, der im Herzen der weitläufigen Anlage liegt.
Zu Lebzeiten Hartungs war das Wasser sommers wie winters auf 35 Grad aufgeheizt und Hartung zog dort allmorgendlich seine Bahnen. „Umgeben von der blockhaften Architektur seines Anwesens ermöglichte es dem durch eine Kriegsverletzung behinderten Künstler das Eintauchen in eine amorphe Welt, die ihre Analogie in der dampfenden und sprühenden Bildsprache seines informellen Spätwerks findet.“[25]
Hans Hartung: Schwimmbad (Foto, Ausschnitt)
Bettina Wohlfarth schreibt in ihrem Artikel über die Hartung-Ausstellung im Musée d’Art Moderne (FAZ vom 20.10.2019): “Hans Hartungs intensives Schaffen mit fünfzehntausend Werken hat seinem Nachleben nicht nur gutgetan. (…) Es ist an der Zeit, dem deutsch-französischen Maler einer expressiven, lyrischen Abstraktion auf den Grund zu gehen, und seine wie besessene Suche nach der Emotion von Licht, Farbe und der malerischen Geste in den kunsthistorischen Kontext des zwanzigsten Jahrhunderts zu stellen.”
Verwendete Literatur:
Hans Hartung, Selbstportrait. Zusammengestellt und bearbeitet von Monique Lefebvre. Schriftenreihe der Akademie der Künste Band 14. Berlin 1981k
Hans Hartung. La fabrique du geste. Musée d’Art Moderne de Paris. Beaux Arts 2019
Hans Hartung. Malerei als Experiment. Werke 1962-1989. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bonn 2018
Beau Geste. Hans Hartung. Peintre et légionnaire. Paris: Gallimard/Fondation Hartung-Bergman 2016
Christoph Schreier, Das Bild als Ereignis- Hans Hartungs späte Gemälde. In: Hans Hartung. Malerei als Experiment. Werke 1962-1989. Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Bonn 2018
[8] Hans Hartung im Gespräch mit Laurence Bertrand Dorléac. a.a.O., S. 106. In dem Gespräch spricht Hartung sogar vor einer Wahl, die er gehabt habe: nämlich einer Einladung nach New York zu folgen oder in der Legion gegen die Nazis zu kämpfen. Allerdings scheint es so zu sein, dass es diese Alternative für ihn gar nicht gab, sondern dass er erst nach dem Krieg davon erfuhr, dass es die hätte geben können. A.a.O., S. 106, Anm. 10
[9] Lebensbericht, S. 126/7. Siehe dazu auch: Alexis Neviaski, Le légionnaire Hans Hartung …. dit Pierre Berton. In: Hans Hartung, peintre et légionnaire, S. 34 ff. Dort wird Hartung eher als heroisches Mitglied der Fremdenlegion präsentiert und seine Kritik an der Legion heruntergespielt. 1989 wurde Hartung sogar von der Legion als „un légionnaire exemplaire et représentatif“ herausgestellt. (a.a.O., S. 47)
Aus Anlass des 50. Jahrestages von Picassos Tod am 8. April 1973 hat sich das Picasso-Museum in Paris etwas Besonderes, Extravagantes ausgedacht: Es hat dem englischen Designer Paul Smith freie Hand, „carte blanche“, gegeben, die Werke Picassos in neuem Gewand zu präsentieren.
Smith, der für seine farbenfrohe Mode bekannt ist, hat weltweit Geschäfte eröffnet und seine Kollektionen in über 70 Ländern vertrieben, auch Motorrädern und Fahrradtrikots verlieh er sein Design. Für seine Verdienste um die britische Modewelt schlug ihn die Queen im Jahr 2000 zum Ritter. Jetzt hat er zum ersten Mal auch eine Kunstschau gestaltet.
Man wolle Picasso in einem neuen Licht zeigen und ein anderes, jüngeres Publikum anlocken, sagte der 76-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Ausstellungen in weißen Räumen zu präsentieren sei streng und seriös. Die junge Generation sei visuell..[1] In sein buntes Universum hat er nun über 150 Werke des Künstlers getaucht:
Da hängt Picassos „Frühstück im Grünen nach Manet“ (Le Déjeuner sur l’herbe d’après Manet) passend in einem grün ausgemalten Raum. Und die Ziegen werden sich auf dem Grün sicherlich auch wohl fühlen….
Beim sitzenden Akt aus dem Jahr 1906/07, einer Studie für die Demoiselles d’Avignon, nimmt Smith als Wandfarbe die Farbe des Sofas auf.
Und selbstverständlich hängen das Selbstportrait (1901) und La Célestine (1903/04) aus der blauen Phase Picassos vor einem tiefblauen Hintergrund….
Die Wände des dem Stierkampf-Thema gewidmeten Raums sind -wie könnte es anders sein- rot gestrichen. Es handelt sich um eine Lackfarbe, rot „wie frisches Blut“.[2]
Aber natürlich begnügt sich Smith nicht mit monochrom-farbigen Hintergründen, die inzwischen ja in vielen Museen üblich geworden sind.
Es sind vor allem die bunten Streifen, die in Picassos Werken der 1930-er Jahre eine große Rolle spielen und die Paul Smith in seinen Hintergründen aufnimmt. Hier die gelben Streifen im Bild der von Marie-Thérèse Walther inspirierten Lesenden. (La Lecture, 1932)
Die blauen Streifen haben es Picasso und Paul Smith besonders angetan. Sie finden sich nicht nur in den Werken Picassos und an Ausstellungswänden. Picasso posierte auch gerne mit einem blau-weiß gestreiften Pullover, wie in der Ausstellung gezeigte Fotografien von Robert Doisenau zeigen.
Robert Doiseneau, Portrait de Pablo Picasso in seinem Atelier in Vallauris, 1952
Dazu passen dann die darüber aufgehängten Marine-Pullover. Die Verbindung der Farbe Weiß mit etwas Blau ist für Paul Smith Ausdruck der Ruhe: „Es ist die Ruhe des Meeres, der frischen Luft und des Strands.“[3]
Alte Eichenbalken und Smith’sche Streifen im Dachgeschoss des Museums
Streifen sind nicht nur ein wesentliches Moment im Werk Picassos, sondern auch ein Markenzeichen von Paul Smith. Die enge Beziehung zwischen beiden zeigt sich gerade hier und im spielerischen Umgang damit, wie Paul Smith sagt: „Als ich an dem Projekt arbeitete, habe ich gelernt, wie sehr sich Picasso für alles interessierte, dass er spielerisch war wie ein Kind. Das hat man oft auch von mir gesagt, und das hat mich sehr ihm nähergebracht.“
Besonders auffällig präsentiert wird in der Ausstellung Picassos Gemälde seines Sohnes Paul, der die typische Tracht mit dem buntem Rautenmuster eines Harlekins trägt. (Paul en Arlequin, 1924). Nach den Worten von Paul Smith habe er gerade an dem Rautenmuster der Wand besonders intensiv gearbeitet, damit es „nicht perfekt und mechanisch“ werde.
1925 malte Picasso den kleinen Paul im Pierrot-Kostüm (Paul en Pierrot), und auch hier überträgt Paul Smith ein Motiv des Kostüms, die großen Knöpfe, auf die Wand.
Das Zusammenfügen von Alltagsgegenständen oder das Zusammenkleben von Papierausschnitten (papiers collés) sind typische Techniken Picassos. Smith nimmt das hier auf durch die nebeneinander geklebten unterschiedlichen Tapetenbahnen, die gleichzeitig in ihrer zurückhaltenden Farbigkeit zu dem Bild an der Wand passen. Es handelt sich um das 1917/18 entstandene Portrait von Olga, mit der Picasso seit 1918 verheiratet war, der Mutter des kleinen Paul.
Dies ist kein Picasso, sondern ein Paul Smith: Ausschnitt eines im Stil Picassos bemalten großen hölzernen Kubus, der in dem Raum mit Gemälden Picassos und Braques aus der kubistischen Phase aufgestellt ist. Die Straße soll wohl veranschaulichen, dass der Kubismus nur eine Phase in der langen und vielfältigen Entwicklung Picassos ist…
Picasso, Homme à la guitare, 1911 (Ausschnitt)
Georges Braques, Nature morte à la bouteille, 1910 (Ausschnitt)
An den heimischen Wald der Eule erinnert das Sperrholz der Vitrine, in der sie ausgestellt ist. (Chouette, Vallauris, 30. Dezember 1949)
In dem Raum, in dem Werke Picassos aus den 1950-er Jahren ausgestellt sind, hat Smith große 50-er auf die Wand gemalt. Hier rahmen sie „Jacqueline aux mains croiseées“ aus dem Jahr 1954 ein. Es ist ein Portrait von Jacqueline Roque, der letzten Lebensgefährtin Picassos, die er 1961 heiratete.
Bei den bemalten Tellern, die Picasso in den Jahren 1947 bis 1949 in Vallauris herstellte, hat sich Smith als Umrahmung etwas Besonderes einfallen lassen, nämlich einfache industriell hergestellte Teller- eine durchaus reizvolle Gegenüberstellung.
Drei mit Faunsköpfen bemalte Teller Picassos und drei industriell hergestellte Gebrauchsteller
Dieses Werk Picassos aus dem Jahr 1942 ist seine wohl bekannteste Schöpfung, bei der er Gebrauchsgegenstände verwendete, um daraus ein Kunstwerk zu schaffen. Hier handelt es sich um einen Fahrradsattel und einen Lenker, die Picasso auf einer Müllkippe gefunden haben soll. Und entstanden ist daraus ein Stierkopf (tête de taureau) ….
Und was macht Paul Smith- selbst ein begeisterter Radfahrer- damit? Er stellt dem Picasso’schen Stierkopf eine Serie von Lenkern und Sätteln gegenüber, einer davon durch Form und Farbe besonders hervorgehoben… Das surrealistische Meisterwerk Picassos wird dadurch umso mehr ins rechte Licht gerückt.
Dies alles findet statt in einem klassischen Bauwerk im Marais, dem Hôtel Salé, einem Stadtpalais (hôtel particulier) aus dem 17. Jahrhundert.
Nach den auf der Website des Museums zitierten Worten des Kunsthistorikers Bruno Foucart handelt es sich um „das größte, außergewöhnlichste, um nicht zu sagen extravaganteste der große Pariser Stadtpalais des 17. Jahrhunderts“.[4] Sphingen rahmen die Fassade ein. Im oberen Stockwerk mit den repräsentativen Räumen sind die Bewohner und Besucher des Palais fast auf Augenhöhe mit Zeus – ausgewiesen durch Adler und Herrscherstab…
Zentrum und Meisterwerk des Palais ist die große Treppenanlage, die nach dem Vorbild der von Michelangelo entworfenen Treppe der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz errichtet wurde: Durch die vielfältigen Perspektiven und reiche Ornamentik ein „salle de spectacle“.[5] Der breite Aufgang wird von einem hochherrschaftlichen Balkon überragt.
Auf der Rückwand nimmt Picassos Akrobat von 1930 zwischen korinthischen Pilastern einen Ehrenplatz ein. Hier hat Paul Smith auf Eingriffe verzichtet. Seitliche, allein funktionale Treppenaufgänge hat er allerdings etwas farbig eingerahmt….
… und eine Rampe sogar mit einem buntgestreiften Teppichboden belegt.
Auf die Fenster dort sind kleine Figuren gemalt, die vielleicht als Suchspiel für Kinder dienen können.
Ich könnte mir vorstellen, dass Picasso mit der neuen poppigen und auch humorvollen Präsentation seiner Arbeiten durchaus einverstanden gewesen wäre, ja, dass er seine Freude daran gehabt hätte. Denn Humor hatte Picasso, wie in einem Raum mit Blättern aus der Modezeitschrift Vogue vom Mai 1951 gezeigt wird.
Picasso machte sich einen Spaß daraus, Fotos der Zeitschrift mit der Tuschfeder etwas zu verändern. So werden aus Modefotos teilweise groteske Bilder.
Die von der Modezeitschrift vermittelte bourgeoise „heile Welt“ wird so konterkariert.
Sehr gerne fügt Picasso kleine phantastische Figuren hinzu, eine Mischung aus Teufelchen und Faun.
Dieser nähert sich aufdringlich und handgreiflich der jungen Dame im Hochzeitskleid an heiligem Ort…
Hier zeigt Picasso -natürlich wieder im blau-weißen Pullover- im September 1952 in Vallauris dem Fotografen Robert Doisneau die Seite 33 der Ausgabe Mai 1951 von Vogue. Das war für ihn ganz offensichtlich eine wichtige Facette seines Werks.
Insgesamt eine völlig unfeierliche Ausstellung „voll Humor und Frische“ (Le Figaro), wie man sie zum 50. Jahrestag des Todes von Picasso nicht unbedingt an diesem Ort hätte erwarten können. Unbedingt empfehlenswert!
Nach 2021 und 2022 gibt es auch in diesem Jahr wieder eine Ausstellung in der ehemaligen Pariser Handelsbörse.
Außerordentlich ist diese Ausstellung gleich dreifach:
Sie findet statt in einem grandiosen Rund- und Kuppelbau, zunächst ein Getreidelager, dann eine Handelsbörse, gewissermaßen ein Pantheon, das -ganz in der Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts- den Göttern des Kapitalismus und Imperialismus gewidmet war.
Der inzwischen denkmalgeschützte Bau, der neben dem Eiffelturm der französische Beitrag zur gro0en Weltausstellung von 1889 war, wurde in den letzten Jahren von dem japanischen Architekten Tadao Ando aufwändig saniert und zu einem wunderbaren Ausstellungsgebäude umgestaltet. Und das in Nachbarschaft zum Centre Pompidou mitten in Paris.[1]
Blick von der Brasserie Halle aux grains im obersten Stockwerk über das Dach (canopé) von Les Halles auf die Fassade des Centre Pompidou Foto: Wolf Jöckel
Außerordentlich ist auch der Hausherr, der von der Stadt Paris das Gebäude auf 50 Jahre gepachtet hat, um dort Teile seiner immensen Kunstsammlung zu präsentieren. Es ist der französische Multimilliardär Pinault. Der gebietet, wie sein Intimfeind Bernard Arnault (LVHM), über ein Imperium der Luxusindustrie, und er befindet sich auch auf dem Gebiet der Sammlung und Präsentation von Kunst in einem erbitterten Wettstreit mit Arnault. Während dieser in Frank Gehrys ultramoderner Fondation Louis Vuitton am Rande von Paris eher die klassische Moderne präsentiert, präsentiert nun Pinault in einem im Kern klassischen Bau zeitgenössische Kunst.
Höchst zeitgemäß -und gleichzeitig auch außerordentlich- ist schließlich das Thema der Ausstellung, das -wie man liest- von Pinault selbst festgelegt wurde. Es geht dabei um den Klimawandel und um drohende Katastrophen; um zukünftige, aber auch zurückliegende Stürme und die von ihnen verursachten und noch nicht verheilten Wunden wie Tschernobyl und der Vietnam-Krieg… Der aktuelle Krieg in der Ukraine, auch wenn er nicht direkt thematisiert wird, verleiht der Ausstellung noch zusätzliche Brisanz und Aktualität.
Ausschnitt aus dem großen Gemälde Texas Louise (1971) von Frank Bowling, das die Ausstellung eröffnet. Alle Fotos der Auisstellung -mit Ausnahme der schwarzen Fahne von Edith Dekynth- von F. und W. Jöckel
Der nachfolgende Beitrag ist kein Ausstellungsführer. Die Bilder und kurzen Texte sollen lediglich einige persönliche Eindrücke vermitteln. Wichtige Teile der Ausstellung wie die Videoinstallation „Tschnernobyl“ und ein Acht-Minuten-Video Hicham Berradas „von irritierender Schönheit“ (Der Spiegel [2] ) sind nicht berücksichtigt, weil einzelne Fotos ihnen kaum gerecht werden können.
Die große Rotunde, das Zentrum des Baus, bietet den angemessenen Raum für das wohl spektakulärste Werk der Ausstellung: Eine Installation scheinbar wild aufeinandergetürmter gebrochener Eichenbaumstämme und -zweige, die zum Teil am Boden liegen, zum Teil von drei Holzgerüsten gestützt werden.
In dem Gewirr der Stämme, Äste und Gerüste sind Kunstobjekte eingebaut.
Madonna, Deutschland, 14. Jahrhundert
Römische Marmorbüste einer Venus, 1. Jahrhundert nach Christus
Ganz offensichtlich geht es dabei um Verfall, Gewalt, Zerstörung.
Die Installation ist ein Werk des vietnamesisch-dänischen Künstlers Danh Vo. Seine Familie floh mit einem selbstgebauten Boot vor dem Krieg und seinen Folgen aus Vietnam, sie gehörte also zu den sogenannten boat-people. Gerettet wurde die Familie von dem Schiff einer dänischen Reederei- deshalb die dänische Staatsbürgerschaft. Gewalt und Zerstörung gehören damit zu den elementaren Erfahrungen und Themen des Künstlers, der in Kopenhagen und an der Frankfurter Städelschule studierte und inzwischen in Stechlin bei Berlin auf einem großen Bauernhof sein Atelier hat.
Unverkennbar ist auch Danh Vos Auseinandersetzung mit dem Christentum, was auch an diesem Jesus-Torso deutlich wird. Der ist in das Prokrustus-Bett einer Carnation- Milchkiste gezwängt- wobei sich die Assoziation zu In-carnation, also Menschwerdung, aufdrängt. Eine der jungen Kunstführer/innen, die durch die Räume gehen und gerne Informationen zu den Ausstellungsstücken geben, erläuterte uns Hintergründe von Danh Vos Verhältnis zum Christentum: Es habe in seiner Jugend für ihn eine große Rolle gespielt. Das zeigt auch der von Danh Vos Vater in Schönschrift wiedergegebene und an einem Holzgerüst befestigte Brief eines katholischen Priesters, der wegen seiner Missionstätigkeit 1861 zum Tode verurteilt wurde.
Opfer sind auch die Marien- und Christusfiguren in der Installation – so auch der am Holzgerüst befestigte zerstückelte Kruzifix auf dem nachfolgenden Bild.. Aber Danh Vo sei auch selbst zu einem Opfer kirchlicher Gewalt geworden, als er aufgrund seiner Homosexualität ausgegrenzt worden sei.
Dies alles wird präsentiert in einem Raum, in dem der industrielle Fortschritt und der weltumspannende Handel gefeiert werden…. .
…. ebenso wie die (angeblichen) Segnungen des Kolonialismus…
Hier -auf dem großen Wandgemälde unterhalb der Glaskuppel- werden die frisch gefällten Baumstämme im Dienst des Fortschritts zugeschnitten, in der Rotunde sind sie Ausdrucks von Zerstörung und Verfall…
Es gibt aber nicht nur Verfall und Zerstörung in Danh Vos Installation, sondern auch die Kapuzinerkresse -mit lateinischem Namen Tropaeolum- , die im Laufe der Ausstellung das verfallende Holz überwuchern soll und nach der die Installation benannt ist.
Die Tauben auf der Balustrade gehören übrigens zu den sogenannten in-situ- Ausstellungsstücken, die dort schon seit Eröffnung des Gebäudes sitzen…
Vielleicht wird sogar einmal der Blick auf die imposante gläserne Kuppel von der Kapuzinerkresse überwuchert sein. Diese Kuppel ist ein technisches Meisterwerk, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Mitarbeit des deutsch-französischen Architekten Hittorff gebaut wurde und Ausdruck des damals noch ungebrochenen Fortschrittsglaubens ist.
Und dann gibt es die Fotos von Blumen, die Danh Vo im Blumenladen unter seiner Berliner Wohnung gekauft hat. Dass diese Fotos mit grauen Holzleisten eingerahmt sind, erscheint zunächst nicht weiter bemerkenswert. Aber es ist Holz aus einem amerikanischen Wald, den Craig McNamara bewirtschaftet. Und der ist der Sohn des früheren amerikanischen Secretary of defense und „Architekten des Vietnam-Krieges“ Robert McNamara (Begleitheft). Danh Vo ist inzwischen mit der Familie freundschaftlich verbunden, und die Holzrähmchen lassen sich, so Le Monde, als Beginn einer symbolischen Wiedergutmachung verstehen für die Verwüstungen, die die Amerikaner in Vietnam angerichtet haben.[3] „Ein anderer Weg, im Auge des Zyklons, bleibt noch möglich“ – heißt es dazu in dem Begleitheft der Ausstellung.
In dem Umgang der Rotunde, zwischen der alten Umfassungsmauer und dem neuen Betonring von Tadao Ando, hat die belgische Künstlerin Edith Dekyndt in den alten Schaukästen für die Weltausstellung verschiedene Objekte ausgestellt, die an den Kolonialismus und seinen Zerfall erinnern wie dieses von Ratten angefressene Tuch aus Indien:
Gezeigt wird auch ihr Video Ombre indigène aus dem Jahr 2014: Eine im Wind flatternde Fahne aus schwarzen Haaren. Dekynth hatte die damals auf einem Felsen von Martinique aufgestellt, wo 1830 ein Schiff mit Sklaven untergegangen war.
Die Fahne mit den schwarzen Haaren ist inzwischen im Iran zu einem Symbol für den Kampf von Frauen für ihre Freiheit geworden.[4]
Plakat in der rue Rollin im 5. Arrondissement. Foto: Irmgard Hafner
In einer der oberen Galerien ist die Algenlandschaft von Anicka Yi ausgestellt, in der mechanische Insekten herumschwirren und -surren… Vielleicht auch ein Hinweis auf Möglichkeiten des (Über-) lebens für eine immer weiter anwachsende Weltbevölkerung?
Lucas Arruda, Aus der Serie Deserto-Modelo: Ein kleinformatiges gewaltiges Landschafts-Chaos- Vor oder nach dem Sturm?
Filigrane Objekte von Daniel Steegman Mangrané veranschaulichen „die Fragilität unseres Daseins.“ (Der Spiegel)
An den Wänden Bilder der Serie „Coronation of Sesostris“ von Cy Twombly.
Die Barke des Pharaos auf dem Weg ins Jenseits –
…. und damit zu neuem Leben….
Man darf darin aber wohl auch -im Kontext dieser Ausstellung- eine Arche Noah sehen….
Zum Schluss dieses Berichts noch ein Blick in den eindrucksvollen Raum, der von einem weiteren aus Vietnam stammenden Künstler, Thu Van Tran, gestaltet wurde.
Die Wände des Raumes sind -in dunklen Farben- von Spuren der Gewalt gezeichnet.
Im Gegensatz dazu die leuchtenden Farben des großen Wandgemäldes Les Couleurs du Gris (hier Ausschnitte). Aber es sind die Farben von Chemikalien wie Agent Orange, mit denen die amerikanische Luftwaffe den vietnamesischen Wald bombardierte. Ein makabrer Regenbogen des Todes.
Aber „die Schönheit der Stürme der Apokalypse“, von der die Zeitung Le Monde in ihrer Ausstellungskritik schreibt, gehört zu den verstörenden Eindrücken des Besuchs dieser Ausstellung.
„Vor dem Sturm“ ist der Titel der Ausstellung. Aber viele Ausstellungsstücke -wie auch die große Installation in der Rotunde- zeigen eher einen Zustand nach dem Sturm oder das davor und das danach bleiben in der Schwebe, im Ungewissen. Und auch wenn die Stürme vergangenen sind, so sind sie doch gleichzeitig auch die Vorboten von neuen und vielleicht noch gewaltigeren…
[2] Vor dem Sturm. Eine Ausstellung in Paris widmet sich dem Klimawandel auf besondere wie verstörende Weise. Der Spiegel 9/2023 vom 25.2.2023, S. 102
[3] Emmanuelle Lequeux, la beauté des tempêtes de l’apocalypse. À la Bourse de commerce de Paris, „Avant l’orage“ raconte un monde où le dérèglement est devenu la norme. In Le Monde, 14. Februar 2023, S.21
Seit dem 15. Oktober 2022 ist im Pariser Rathaus, dem Hôtel de ville, eine Ausstellung über art urbain zu sehen, die aufgrund der großen Nachfrage noch bis 3. Juni 2023 verlängert wurde.
Der nachfolgende Beitrag soll einen Eindruck von dieser Ausstellung vermitteln und zu ihrem Besuch anregen. Und in jedem Fall handelt es sich um einen schönen Überblick über die Geschichte und die Breite der Pariser Street-Art/art urbain…
Foto: Wolf Jöckel
Mit dem Oberbegriff der art urbain werden die eher anarchistische Graffiti- Produktion und die inzwischen eher arrivierte street-art zusammengefasst. Ziel der Ausstellung ist es, einen Überblick über 60 Jahre Straßenkunst in Paris zu geben, „einem der wichtigsten Schauplätze dieser künstlerischen Bewegung“´, wie es in dem Faltblatt zur Ausstellung heißt. Man wird in der Ausstellung manchen „alten Bekannten“ begegnen, Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken wesentlich dazu beigetragen haben, die Stadt zu bereichern und denen man immer wieder begegnet. Es gibt aber auch viel Neues zu entdecken: Insgesamt eine sehr kompakte, übersichtlich und abwechslungsreich gestaltete Ausstellung!
Hier einige Beispiele aus dem historisch angelegten Parcours:
Die Ausstellung beginnt mit Vorläufern der art urbain wie dem 1940 in Paris geborenen Gérard Zlotykamien, der 1963 als erster Künstler überhaupt begann, im öffentlichen Raum zu arbeiten.
Hier sieht man ihn beim -natürlich illegalen- Sprayen 1984 in der Rue Condorcet in Paris. Bekannt wurde er durch seine Strichfiguren, die sogenannten Éphémères (die Vergänglichen/vom baldigen Verschwinden Bedrohten).
Inspiriert wurden diese Figuren durch die eingebrannten Schatten der Menschen nach dem Atombomenabwurf auf Hiroshima und durch die Shoah. In der Ausstellung wird einer der Éphémères aus dem Jahr 1978 gezeigt.
Die 1980-er Jahre war dann die große Zeit der Schablonenmalerei (pochoir): Vorbereitete gezeichnete und dann zurechtgeschnittene Schablonen werden auf dem ausgewählten Untergrund befestigt. Die auf den Schablonen ausgesparten Flächen werden dann mit einer Farbe oder auch mehreren eingesprüht, die den Untergrund entsprechend färben. Diese Technik kann vor Ort mit großer Schnelligkeit angewendet werden: Gerade bei den meist illegalen Aktionen ist das ein erheblicher Vorteil. Außerdem eröffnet die Verwendung von Schablosen einen beträchtlichen Variationsspielraum: Die Farben können verändert, die Schablonen unterschiedlich kombiniert werden. Paris wurde in den 1980-er Jahren ein Zentrum der Schablonenmalerei: Künstler wie Miss Tic, Mosko, Jeff Aérosol, Jérôme Mesnager und viele andere haben das Stadtbild mit ihren Arbeiten bereichert.
Dies ist ein Selbstportrait von Miss Tic (1985), begleitet von einem programmatischen Satz mit einem für sie typischen Wortspiel (art mur – Mauerkunst- und armour -Rüstung, aber auch amour – Liebe): Ich wappne mich mit Mauerkunst, um Herzensworte an die Wände zu sprühen. Vergleicht man in dem beigefügten Text die mehrfach verwendeten Buchstaben, kann man sehr gut die Verwendung der Schablonentechnik erkennen.
Am 22. Mai 2022 ist Miss Tic gestorben, aber ihre Werke sind inzwischen Bestandteil des Pariser Stadtbildes. Sie werden jetzt auch nicht mehr, wie zum Teil noch in den 1980-er Jahren, als Sachbeschädigung gewertet mit entsprechenden juristischen Folgen, sondern eher gehegt und gepflegt wie dieses mit Glas geschützte Bild in der rue de la forge royal im 11. Arrondissement von Paris.
Foto: Wolf Jöckel
Viele der Pariser pochoristes sind inzwischen arrivierte Künstler, deren Werke in Galerien ausgestellt werden und hohe Preise erzielen. Das gilt z.B. für Jérôme Mesnager.
Bonhomme blanc 1987 (Ausschnitt)
Zwei seiner in einer ausgelassenen Stunde geborene weiße Männer sind im Pariser Rathaus zu sehen: Die sind nicht mehr auf Wände gesprüht, sondern auf handliche und transportable Untergründe. Und der Fonds d’Art Contemporain der Stadt Paris hat sie in seine Sammlung aufgenommen.
Die 1980-er Jahre sind auch die Blütezeit der Graffiti. Voraussetzung für die Graffiti wie auch für die Schablonenmalerei sind die Farbdosen, mit denen die Farbe (peinture aérosol) versprüht wird.
Im Französischen heißt das bombarder – und manchmal schienen früher und scheinen manchmal auch heute noch die graffeurs diese Bezeichnung allzu wörtlich zu nehmen. In Paris und Umgebung waren es besonders oft über und über besprühte Lastwagen, Eisenbahn- und Metro- Züge, die die Verbreitung der jeweiligen Tags/Signaturen garantieren sollten.
Ein Wagen von Marktbeschickern im 11. Arrondissement. Die tags werden nicht mehr entfernt, weil sie sonst sofort wieder neu „dekoriert“ würden. (Fotos: Wolf Jöckel, Februar 2023)
Hier wurde direkt mit Sprühdosen, aber auch mit einer Schablone „gearbeitet“.
Besonders Aufsehen-erregend war eine Aktion, der in der Ausstellung sogar ein eigner Abschnitt gewidmet ist: Am 1. Mai 1991 „bombardierten“ drei graffeurs Wände und Statuen der Station Louvre-Rivoli, der schönsten Metro-Station von Paris, wie die Zeitschrift Télérama damals schrieb. Mehrdeutiger Titel ihres Berichts: „Paris sous les bombes“…
Brian Lucas ancien vandale de la station Louvre. [1]
Einer der „Vandalen“ war der damals 19-jährige Brian Lucas (Pseudonym Oeno), der dafür eine Gefängnisstrafe von eineinhalb Monaten absitzen musste. Inzwischen allerdings gehört Oeno -wie die Schablonenmaler/innen der ersten Stunde- zu den anerkannten und arrivierten Personen der Kunstszene[2]: Street Art und Graffiti sind unter dem Dach der art urbain friedlichvereint.
Als Reminiszenz an die wilden Graffiti-Zeiten und Kunstobjekt wird in der Ausstellung ein Metro-Schild von Nasty präsentiert:
Der wurde schon mit einem Arte-Film gewürdigt, und eine Internet Galerie bietet seine Werke für Preise zwischen 180 und 5998 Euro an (Stand Februar 2023)[3]
Auf seinem zum Verkauf angeboten Metro-Plan bezieht sich Nasty mit der ironischen Frage „can you catch me?“ auf das frühere Katz- und Maus-Spiel mit den Verfolgern der graffeurs…[4]
Diese Zeiten gehören wohl eher der Vergangenheit an: Die Tags sind zum Objekt von Kunstliebhabern und Sammlern geworden:
Vues macroscopiques de tags parisiens. Photographie von Nicolas Gzeley (Ausschnitt)
Es ist ein Vorteil der Ausstellung, auf begrenzten Raum einen Überblick über die Pariser Street-Art/Graffiti-Szene zu geben: Einige weitere Beispiele:
Fotos: Wolf Jöckel
Die Geschöpfe von Kraken, dem „Docteur Octopus du street art“[5], gehören zum Pariser Stadtbild. Hier zum Beispiel einer seiner typischen Oktopusse mit den in sich verschlungenen Tentakeln am Boulevard de Belleville.
Zwei seiner Oktopusse hat er auf die Wände der Ausstellungsräume gezeichnet.
C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten französischen Street-Art-Vertreter. Ihm sind auch schon zwei Beiträge auf diesem Blog gewidmet.[6] Vor allem ist C 215 Portraitist. Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte. Mittels eines beigefügten QR-Codes konnte man an Ort und Stelle Näheres über das Schicksal der jeweiligen Person erfahren.
Zu dieser Aktion gehörte auch ein Portrait von Simone Veil an der Metro-Station Saint-Paul, das im Hôtel de Ville ausgestellt ist. Fotos: Wolf Jöckel
Ein ganz außergewöhnlicher Vertreter der Street-art ist der Portugiese Alexandre Farte, alias Vhils. Er ritzt seine Motive, vor allem Portraits, in weiß verputzte Hauswände. Auf diesem Blog ist er uns schon am Gartenhaus der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles begegnet, aber auch in Paris, natürlich im 13. Arrondissement, war er schon aktiv.
Erst aus dem Abstand ist zu erkennen, was da jeweils mit Hammer und Meißel entstanden ist.[7]
Fotos: Wolf Jöckel
In der Pariser Ausstellung ist er auch vertreten. Allerdings konnte er da ja kaum die Wände des Rathauses entsprechend bearbeiten. Als Alternative nutzte er zusammengepresste Kartons:
Wenn man mit etwas Abstand genau hinsieht, erkennt man das auf diesem Untergrund entstandene Gesicht eines alten Mannes….
Es gibt allerdings auch in Paris ein in den Putz gemeißeltes Wandbild von VHILS: Natürlich im 13. Arrondissement, der der rue du château des rentiers:
Vielleicht ein Portrait von Leonard Cohen?
Ein alter Bekannter der Pariser Street-Art-Szene ist Clet Abraham mit seinen verfremdeten Straßenschildern.
Foto: Wolf Jöckel
Bemerkenswert ist, dass sie -hier eines im 11. Arrondissement- nach meiner Beobachtung doch längere Zeit von der Pariser Straßenverwaltung oder Polizei geduldet werden. Aber ein Verkehrsteilnehmer hätte bei einer Missachtung des Durchfahrtsverbots sich sicherlich kaum mit Erfolg auf diese Version des Schildes berufen können….
Hier handelt es sich um ein vom Rost angefressenes und wohl ausrangiertes Schild, das Clet Abraham dann zu einem Kunstobjekt transformiert hat. Und dies mit einer eindeutigen und angesichts der aktuellen Debatten um Panzerlieferungen an die Ukraine brisanten politischen Botschaft.
Am bekanntesten von allen Street-Art-Künstlern der Stadt ist sicherlich der Invader , der deshalb auch in der Ausstellung entsprechend gewürdigt wird.
Auf einem großen Pariser Stadtplan sind alle seine Werke markiert und mit Nummern versehen. Die über 1000 Pariser Invaders haben die Stadt gewissermaßen in ihren Besitz genommen.
Man hat also gute Chancen, beim Bummeln durch die Stadt auf Spuren des Invaders zu stoßen. Und sie sind auch immer unterschiedlich und oft angepasst an den jeweiligen Ort wie dieser schöne Hinweis auf den nahe gelegenen Gare de Lyon, auf dem die Züge in den warmen Süden abfahren. Entdeckt und aufgenommen habe ich diesen Invader im März 2023: Es gibt also nach so vielen Jahren Paris immer noch/wieder Neues!
Das Mosaikbild aus der rue de Montreuil im 11. Arrondissement, das das Ankleben eines Invaders zeigt, dient als Motiv für das Ausstellungsplakat.
Foto: Wolf Jöckel
Alle bisher angeführten Werke der Pariser art urbain sind, soweit sie nicht direkt für Galeriezwecke entstanden sind, in den Straßen der Stadt auf Augenhöhe angebracht – oft, wie bei dem Invader, kurz oberhalb des Erdgeschosses, um sie vor Vandalismus zu schützen – oder auch vor Souvenirjägern….
Die Street-Art-Szene ist aber nicht nur in diesem Bereich sichtbar, sondern auch darunter und darüber. Schon in den 1980-er Jahren war der Pariser Untergrund ein beliebter Ort für Sprayer.
Diesen Raum haben Jerôme Mesnager und der im Untergrund besonders aktive Alexandre Stolypine, alias Psychoze, ausgestaltet.[8]
Vor allem aber geht es inzwischen hoch hinaus mit der Street Art. Großen Street-Art-Wandbildern begegnet man in Paris sehr oft, vor allem natürlich dort, wo es Flächen gibt, die dazu einladen. Das gilt besonders für das 13. Arrondissement mit seinen Neubauten entlang der Hochbahntrasse der Metro-Linie 6 und den Hochhäusern im sogenannten Chinesenviertel. In der Ausstellung werden mit entsprechenden Erläuterungen versehene Fotos einiger besonders markanter Wandbilder gezeigt.
Eines der ersten großen Wandbilder in Paris stammt von dem Amerikaner Keith Haring. Es schmückt seit 1987 einen Turm im Kinderkrankenhaus Necker in Paris. Auf der Gondel eines Krans postiert malte Haring in drei Tagen ein großes farbiges und zum Ort passendes Fresko auf den Beton.
Foto: Wolf Jöckel
Die großformatigen Wandbilder entlang des Boulevard Vincent Auriol, der sich von der Seine bis zur Place d’Italie hinzieht, gehören inzwischen zu den Attraktionen der Stadt. Mit Recht hat man von einer open-air-Kunstgalerie gesprochen, die auch noch ständig weiterentwickelt wird.
Dieses im Hôtel de Ville ausgestellte Plakat zeigt eine Marianne des amerikanischen Künstlers Shepard Fairey. Bei dem originalen Wandbild im 13. Arrondissement handelt es sich um das größte existierende Marianne-Bild: Ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.
Naheliegend also, dass ein Abzug des Bildes an der Wand eines Arbeitszimmers von Präsident Marcron im Elysée-Palast hängt.
Foto: Wolf Jöckel
Auf dem originalen Gemälde weint die Marianne allerdings eine Träne: Überrest einer Aktion von Aktivisten, die auf den Widerspruch zwischen Ideal und Realität der französischen Republik aufmerksam machen wollten.
Zu den bekanntesten großformatigen Wandbilder von Paris gehört auch Seths gamin de Paris/Kind von Paris im 13. Arrondissement. Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt,
Ecke Boulevard Vincent Auriol/rue Jeanne d’Art Foto: Wolf Jöckel
Für Seth, der im banlieue von Paris aufgewachsen ist, repräsentiert der kleine Junge die Kindheit in den großen Metropolen der Welt. Er habe in seiner Jugend die Farben vermisst, aber sie in seiner Lektüre, seinen Spielen und seinen Phantasiereisen gesucht. Der Junge blicke auf die andere Seite der Mauer und Licht und Farbe strahlten auf die umliegenden Gebäude aus. „Das ist die Macht der Phantasie, die das verändert, was uns umgibt.“[9]
In der Ausstellung wird nicht nur ein Photo des Wandgemäldes gezeigt, sondern auch eine leuchtende, gläserne Version des kleinen Jungens. Und es wird hingewiesen auf ein neues Wandbild in der rue Buot, ebenfalls im 13. Arrondissement, das Seth aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine hergestellt hat.
Sicherllich wird „die Macht der Phantasie“ nicht ausreichen, um diesen Krieg zu beenden, aber sicherlich ist sie auch hier unabdingbar….
Die deutsch-französische Gesellschaft (DFG) Duisburg e.V. hat ein ganz entzückendes deutsch-französisches Gemeinschaftswerk herausgegeben. Ein bunter Fächer französischer Redewendungen wird in einem kleinen Büchlein höchst informativ und unterhaltsam präsentiert: Für alle frankophilen bzw. germanophilen Menschen ein großer Genuss und Gewinn.
Das Buch hat seine Grundlage in der Rubrik „expression de la semaine“ (Ausdruck der Woche) im Newsletter der DFG Duisburg. Dort haben Waltraud Schleser und Pierre Sommet regelmäßig französische Redewendungen erläutert- Schleser auf deutsch, Sommet auf französisch.
Das Büchlein, das daraus nun entstanden ist, hat zwei seitenverkehrte Teile: Je nachdem, wie man es dreht, beginnt es mit dem deutschen oder französischen Abschnitt, dreht man es um und stellt es auf den Kopf, ist der andere Abschnitt an der Reihe. Erläutert werden zwar französische Redewendungen, aber natürlich geht es dabei immer auch um die deutschen Entsprechungen: Das eröffnet interessante Einblicke in die jeweiligen Kulturen.
Nachfolgend zwei Appetithäppchen, ein deutsches und ein französisches. Und zum Abschluss das Vorwort des Büchleins, das hier als Nachwort fungiert…
Viel Spaß beim Lesen/agréable lecture!
Wolf Jöckel
Illustrationen von Cornelius Rinne
Waltraut Schleser: Leben wie Gott in Frankreich- –vivre comme un coq en pâte
Als coq en pâte wurde im 17. Jahrhundert der schönste Hahn auf dem Bauernhof bezeichnet, mit dem sein Besitzer landwirtschaftliche Wettbewerbe gewinnen wollte. Der Hahn wurde mit einem Teig (pâte) bestrichen, der die Federn zum Glänzen brachte. Außerdem wurde er bevorzugt behandelt und besonders aufgepäppelt.
Man fühlt sich wie Gott in Frankreich, wenn man einen coq en pâte auf dem Teller hat.
Die Redewendung hat jedoch nichts mit dieser kulinarischen Köstlichkeit zu tun. Für uns Deutsche bedient Leben wie Gott in Frankreich die positiven Clichés, die wir mit unserem Nachbarland verbinden. Die französische Gastronomie hat einen exzellenten Ruf, französische Weine ebenso. Die Essensabfolge vom Aperitif bis zum Digestif ist ins Weltkulturerbe eingegangen. Dazu kommt noch die Vorstellung von Sonne, Urlaub, schöner Landschaft und Nichtstun.
Leben wie Gott in Frankreich setzt man in Deutschland gleich mit dem savoir-vivre der Franzosen. Vorsicht! Hierbei handelt es sich um einen faux-ami. Die richtige Übersetzung wäre art de vivre. Savoir-vivre umfasst im Französischen das Wissen, wie man sich zu benehmen hat, das Lernen von Anstand und guten Manieren, also eher harte Arbeit als farniente.
Pierre Sommet: Le violon d’Ingres – das Steckenpferd
L’artiste peintre Jean-Dominique Ingres ( 1780-1867 ) doit sa célébrité, principalement, à ses nus féminins (La Grande Odalisque, Le Bain Turc) et à ses portraits.
Grande Odalisque/die große Odaliske, 1814 (Louvre)
Le musée Ingres-Bourdelle, installé dans l’ancien palais épiscopal de Montauban, la ville natale du Prix de Rome 1801, abrite une riche collection d’œuvres de ce peintre, qui était aussi considéré comme le meilleur dessinateur de son temps.
Joseph Ingres, son père, lui aussi artiste peintre, eut la judicieuse idée d’envoyer son fils talentueux, dès l’âge de onze ans, à l‘Académie Royale de Toulouse, où il reçut des leçons de peinture et de violon. Toute sa vie, à ses heures perdues, Ingres s’est adonné à son passe-temps favori, le violon. Ingres avait, pour ainsi dire, plusieurs cordes à son arc. En guise de cordes, des cordes de violon, en guise d’arc, un archet. Et il fut même deuxième violon à l’orchestre du Capitole de Toulouse.
Cette passion du peintre pour la musique se retrouve dans l’expression avoir un violon d‘Ingres pour désigner un hobby pouvant aller de la chasse aux moulins à café anciens ou autres trouvailles sur les marchés aux puces à l’apprentissage du déchiffrage des hiéroglyphes.
Vocabulaire :
judicieuse idée – kluge Idee / à ses heures perdues – in seiner Freizeit / s’adonner à un passe-temps – sich einer Freizeitbeschäftigung widmen / avoir plusieurs cordes à son arc – mehrere Eisen im Feuer haben / en guise de – als / archet – Geigenbogen / apprentissage – das Erlernen
Bon à savoir : avoir un dada – ein Steckenpferd/Hobby haben
Nachwort von Dr. Claudia Kleinert, 2. Vorsitzende der Deutsch-Französischen Gesellschaft Duisburg e.V.
Redewendungen sagen viel über den kulturellen Hintergrund und den Umgang mit der Sprache eines Landes aus. So groß die Unterschiede dabei auch sein mögen, schließt das Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aber keineswegs aus. Redewendungen nehmen immer Bezug auf Erlebtes und Alltägliches, damit sich auch jede und jeder im jeweiligen kulturellen und sprachlichen Kontext wiederfinden kann. Darin liegt auch begründet, dass uns der Ursprung vieler Redewendungen heute nicht mehr geläufig ist, da die Bezugswelt lange zurück liegt.
„Ne pas y aller par quatre chemins“ bezieht sich ursprünglich auf die Zeit der Kutschen und Pferde, als man möglichst schnell von A nach B wollte und dabei regelmäßig an den Wegkreuzungen zwischen vier Richtungen wählen musste. Oder es finden sich Bezüge zu (alten) Essgewohnheiten und Menüfolgen, wie bei „entre la poire et le fromage“. Überhaupt beziehen sich sehr viele französische Redewendungen auf das Essen, sehr viel mehr als bei uns, was die Bedeutung des Essens in Frankreich widerspiegelt. Auch die Wandlung des Sprachgebrauchs spielt eine Rolle. Hat der „Blitz“ früher nur für den Schrecken gestanden, den der Blitzeinschlag hervorruft, wandelte sich der Sprachgebrauch dahingehend, dass der Blitz auf Emotionen übertragen wurde, so dass „wie vom Blitz getroffen“ oder „Liebe auf den ersten Blick“ ihre Bedeutung bekamen, der „coup de foudre“ auch die treffen kann, die ein umwerfend schönes Kleid sieht. Die Bilder in beiden Sprachen sind oft sehr unterschiedlich, aber die Methode der Darstellung ist auffallend ähnlich. Manchmal unterscheidet sich die Bewertung einer Situation grundsätzlich. „Offen und ehrlich“ zu sein – bei uns eine Tugend – wird in Frankreich oft als zu direkt und daher unhöflich empfunden, man fällt sozusagen „mit der Tür ins Haus“ und droht einiges Porzellan zu zerschlagen.
Ausgewählt wurden auch heute noch verwendete Redensarten. Das Format des Wendebuches erlaubt es, das Buch von vorne nach hinten oder von hinten nach vorn zu lesen. Zum leichteren Verständnis sind den französischen Texten Vokabelhilfen nachgestellt.
Der Titel des Buches – Potpourri/Pot-Pourri wurde bewusst gewählt, stehen diese beiden Worte doch für einen Topf, der wohlriechende Pflanzenteile enthält und Wohlbefinden verbreiten soll. So wie in der Musik die Zitate bekannter Melodien zusammengestellt ein Potpourri ergeben, so bietet dieser keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Pot-Pourri eine Fülle von Düften, die langsam aufgesogen werden wollen und nachhaltigen Genuss offerieren: neue Vokabeln, sprachliche Besonderheiten und Gegenüberstellungen, zunächst vielleicht seltsam anmutende Formulierungen und viele geschichtliche Hintergründe.
Herausgeber des Buches sind die Deutsch-Französische Gesellschaft Duisburg e.V. (DFG), ihre Vorsitzende, Waltraud Schleser, und Pierre Sommet, ehemaliger Fachbereichsleiter für Fremdsprachen an der VHS Krefeld. Die aus dem Verkauf dieses Buches erzielten Einnahmen gehen an die DFG Duisburg, die damit weitere Aktivitäten planen und die deutsch-französische Freundschaft so weiter befördern kann –eine Herzensangelegenheit der Autorin und des Autors.
Marlis Franke, die Autorin des nachfolgenden Beitrags, war bis zu ihrer Pensionierung Fachbereichsleiterin für neuere Sprachen an der Carl-Schurz-Schule, einem Gymnasium in Frankfurt/Main mit einem Schwerpunkt im Fach Französisch. Sie hat zunächst als Lehrerin und dann als Mitglied der Schulleitung im Rahmen von Austauschfahrten viele Jahre lang Oradour-sur-Glane besucht, und daraus hat sich eine enge Beziehung, ja Freundschaft mit Robert Hébras entwickelt.[1] Als Marlis Franke 2013 in Frankfurt als Chevalier de l’ordre des palmes académiques ausgezeichnet wurde, waren Robert Hébras und seine Frau Christiane auch dabei.[2] Insofern bin ich meiner ehemaligen Kollegin besonders dankbar für diesen persönlichen Nachruf auf einen Menschen, dessen Schicksal in ganz außerordentlicher Weise die Wunden der deutsch-französischen Vergangenheit verkörpert und der trotzdem oder gerade deshalb sich mit großer Leidenschaft für das Werk der Versöhnung und Verständigung engagiert hat. Robert Hébras konnte am Ende seines Lebens gewiss sein, dass dieses Anliegen, das ihm so sehr am Herzen lag, verwirklicht wurde. Er musste aber auch noch miterleben, dass dies nicht galt für den Wunsch, den er 2005 in der Aula der Carl-Schurz-Schule im Gespräch mit Schüler*innen äußerte: „Ich wünsche mir für euch, eure Kinder, Enkel und Urenkel, dass es nie wieder Krieg gibt“…..[3]
Wolf Jöckel
Am 11. Februar 2023 ist im Alter von 97 Jahren Robert Hébras, ein langjähriger Freund unserer Schule, verstorben. Er hat über zwei Jahrzehnte Generationen von Schüler*innen an der Carl-Schurz-Schule geprägt.
Robert Hébras mit seiner Enkelin Agathe, die die Erinnerungsarbeit ihres Großvaters fortsetzt.[4]
Robert Hébras wurde im Südwesten Frankreichs geboren. Er wuchs auf in Oradour-sur-Glane, einem kleinen Dorf mit rund 700 Einwohnern. Es war ein friedlicher Ort mit Geschäften, Cafés, einer Schule und einer Kirche.
Dieser Ort wurde am 10. Juni 1944 von Einheiten der SS- Panzerdivision Das Reich zerstört und die gesamte Bevölkerung grausam ermordet. Warum die SS-Division „Das Reich“ gerade hier dieses Massaker verübte, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Ernst zu nehmende Résistance-Aktivitäten gab es in dem Ort nicht.
Kinderwagen im Altarraum der Kirche, in der auch 207 Kinder starben.[5]
Die SS-Leute kamen an einem Samstagmorgen. Die Männer wurden in Scheuen zusammengetrieben und dort erschossen oder verbrannt. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche zusammengepfercht und die setzten die SS-Männer dann in Brand. 642 Menschen wurden so ermordet.
Robert Hébras hat diesen Tag nur überlebt, weil er es schaffte, sich trotz schwerer Verletzungen tot zu stellen. Der damals 19jährige verlor innerhalb weniger Stunden seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten, seine Heimat, eigentlich seine ganze Welt.
Nachdem er dem Massaker entkommen war, wurde er heimlich gesund gepflegt, und er schloss sich der Résistance an, um gegen Hitler-Deutschland zu kämpfen. Nach dem Krieg hat er jahrelang sehr wenig über das gesprochen, was passiert war, und es ist auch verständlich, dass er Deutschland und den Deutschen sehr ablehnend gegenübertrat.
Am Ende der 60er Jahre wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Diesem Kanzler war die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit besonders wichtig. Ihm war es ein Herzensanliegen, mit den Menschen zu reden, die besonders unter Hitler-Deutschland gelitten hatten und um Vergebung zu bitten. Und so wurde auch Robert Hébras 1985 nach Deutschland eingeladen.
Robert Hébras ist dieser Einladung nach einigem Abwägen gefolgt, und sie hat sein Leben verändert. Der gelernte Kfz-Mechaniker und Betreiber einer Renault-Werkstatt hatte bis zu diesem Zeitpunkt sämtlichen Kontakt mit deutschen Kunden verweigert.
In Deutschland erkannte er, dass die einzige Art und Weise, die Wiederkehr solcher Dramen zu vermeiden, darin besteht, dass alle – Deutsche, Franzosen, aber auch die Menschen aller anderen Nationen – sich anschauen, was passieren kann, wenn man Hass, Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit zulässt und nicht miteinander redet.
Anschauen sollte man noch heute das „village martyre“, dessen verkohlte Ruinen, die inzwischen vom Verfall bedroht sind, als Mahnmal erhalten blieben.
An diesem Auto in der Garage Desourteaux wurde am 10. Juni 1944 vermutlich noch gearbeitet. Es sollte nie fertiggestellt werden.[6]
Durch diese Ruinenstadt hat Robert von 2002 bis 2020 unsere Schülergruppen geführt, die zum Austauschs nach Niort gekommen waren. Anschließend stand er ihnen noch im großen Saal des Centre de la mémoire für Fragen zur Verfügung. Die Gespräche mit Robert waren sehr emotional und für die Kinder sehr prägend. Viel Übersetzungshilfen waren nicht nötig – die Kinder verstanden den überaus charismatischen Großvater auch so. In dem Tagebuch, das sie während des Austauschs führten, nahm Oradour immer den größten Raum ein. Viele machten Selfies mit Robert, umarmten ihn, schmiegten sich an ihn…
Robert hat häufig die Führungen mit unseren CSS-Klassen damit begonnen, dass er unseren Schüler*innen sagte, was für ein Glück sie hätten, fast mit Selbstverständlichkeit einen Schüleraustausch zu machen. Zu seiner Zeit und bis in die 1960er Jahre wäre dies unmöglich gewesen. Welche Familie hätte denn einen Deutschen aufgenommen oder gar das eigene Kind nach Deutschland geschickt? Deutschland war ein weit entferntes Land und durch die Kriege fehlten in vielen Familien ein Vater, ein Onkel oder ein Bruder. Der Wert des Schüleraustauschs stand nach den Gesprächen mit Robert nie im Zweifel.
Den Austausch mit Niort habe ich 1991 begonnen. Erst 10 Jahre später begann ich dann die Fahrt nach Oradour als Programmpunkt in den zehntägigen Austausch einzubauen. Ich erfuhr damals, dass die 4e- Klassen unserer Partnerschule im Rahmen des Unterrichts histoire-géo regelmäßig nach Oradour fuhren. Mein Vorschlag, diese Fahrt auch unseren Siebtklässlern anzubieten, stieß zunächst auf Unverständnis im französischen Kollegium. Das könne man den deutschen Kindern doch nicht zumuten!
Niemals haben sich die Schüler*innen schuldig gefühlt für das, was inzwischen zwei Generationen vor ihnen passiert war. Genau das war Roberts große Stärke. Er wusste sehr genau das, was passiert war, als ein Versagen der Menschheit herauszustellen. Sein Ziel war es, Menschen zusammenzubringen und durch das Gedenken zum Denken anzuregen. Alle, die dabei waren, haben das gemerkt.
Robert Hébras inmitten von Schüler*innen der Carl-Schurz-Schule in Oradour. Links (mit Umhängetasche) seine Frau, rechts (mit gestreiftem Pullover) Marlis Franke
Die CSS lag ihm besonders am Herzen. Im Jahr 2005 verbrachten Robert und seine Frau Christiane mehrere Tage in Frankfurt. In der großen Aula der CSS sprach er als Zeitzeuge des Massakers vom 10. Juni 1944 vor 700 Schüler*innen. Einen Tag später war er Ehrengast bei unserer Aufführung der Oper Carmen im Rahmen einer französischen Woche in Frankfurt. Mehrfach ist er zu uns an die Schule gekommen, und auch jenseits der 90 hat er, als unsere Schüler*innen in Frankreich waren, die große Mühe auf sich genommen, die Führung durch seinen zerstörten Ort selbst durchzuführen. Bei unseren letzten Austauschen reichten die Kräfte leider nicht mehr.
Robert Hébras ist am Samstag, den 11.02.2023 gestorben. Auch wenn jüngere Schüler*innen ihn nicht mehr kannten, begann der darauffolgende Montag in der CSS mit einer Durchsage und einer Schweigeminute. Die Fachschaft Französisch plant eine Umbenennung der großen Aula in „salle Robert Hébras“ zur Erinnerung an diese Schlüsselfigur der deutsch-französischen Freundschaft.
Ich persönlich habe mit Robert einen lieben Freund verloren, den ich sehr vermisse. Zweimal hat er mich und meine Familie in unserem Ferienhaus in der Bretagne besucht. Wir verbrachten jeweils eine Woche zusammen und machten schöne Ausflüge, lachten viel mit ihm und seiner Frau Christiane. Zu seinem 90. Geburtstag wurde ich eingeladen, anschließend haben wir uns nur telefonisch ausgetauscht, der Tod seiner Frau vor drei Jahren hat ihn sehr bedrückt. Er war bis zum Schluss von erstaunlicher geistiger Klarheit.
[1] Anlässlich seines Besuchs in Frankfurt 2015 sagte Robert Hebras in einem Interview: J’ai d’ailleurs des amis en Allemagne, notamment Marlis Franke, enseignante à la Carl-Schurz-Schule de Francfort, qui a initié un programme de visite d’Oradour il a une dizaine d’années pour ses élèves et avec laquelle il nous arrive mon épouse et moi de passer des vacances dans sa maison de Bretagne. Interview Robert Hebras | lepetitjournal.com