Am 30. Mai veröffentlichte die französische Wochenzeitung Le Point –im Zuge der publizistischen Einstimmung auf die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie – einen Artikel mit der Überschrift:
6 juin 1944 : deux SAS français derrière les lignes allemandes
(6. Juni 1944: zwei französische SAS hinter den deutschen Linien)
… und dazu ein Foto von Rémi Dreyfus, einem der wenigen französischen Beteiligten an der Landung der Alliierten und einem der ganz wenigen heute noch lebenden französischen „Veteranen“ des 6. Juni. Mit ihm hatte die Nachrichtenagentur AFP (Agence France Presse) ein Interview gemacht, das die Grundlage des Artikels ist. [1]
Das allein könnte schon Grund genug sein für einen kleinen Beitrag zu diesem Blog. Dort gibt es immerhin schon zwei Artikel zur Normandie, in denen die Landung der Alliierten eine zentrale Rolle spielt.[2] Aber das ist es nicht allein: Denn Rémi Dreyfus ist ein wunderbarer Mensch, ein Freund des „anderen“ Deutschlands und seit vielen Jahren ein guter persönlicher Freund. Auch davon soll im nachfolgenden Beitrag die Rede sein.
Doch zunächst zur Geschichte und zum Artikel von Le Point/dem Interview Rémis mit AFP. Da ist in der Überschrift die Rede von zwei französischen SAS hinter den deutschen Linien. SAS ist eine Abkürzung für Special Air Service, eine Fallschirmjägereinheit innerhalb der Royal Air Force, in die auch Franzosen („paras tricolores“[3]) integriert waren. Diese Einheit war für besondere Aufgaben bestimmt, von denen im nachfolgenden Artikel dann die Rede ist.
Bekannt sei, dass am D-Day 177 französische Marinesoldaten des Kommandos Kieffer am Sword Beach an Land gegangen seien. (4) Es habe aber auch noch andere Franzosen gegeben, die an der Landungsoperation teilgenommen hätten. Unter ihnen sei auch der 100-jährige Rémi Dreyfus gewesen, der in seiner Pariser Wohnung von seinen Aufklärungsmissionen in der Normandie berichtet.
„Ein Lastensegler… Ich hatte niemals einen Fuß in einen Lastensegler gesetzt. Aber so war es eben. Wir waren 15 an Bord. Am 6. Juni nachmittags hoben wir ab, aber ich wusste nicht, von welchem Flugplatz aus, das hatte man uns nicht gesagt.
Die ganze Luft war voll von Lastenseglern. Schnell überflogen wir tausende von Schiffen, die von hunderten Jagdflugzeugen geschützt wurden, die den Luftraum beherrschten. Kein deutsches Flugzeug weit und breit. Ich hatte das Gefühl, dass wir unbesiegbar seien. Das war es: Ich war im Lager der Unbesiegbaren.“
Der Lastensegler Rémis landete bei einem kleinen Ort nordöstlich von Caen.
„Es ist ganz ruhig, keine Schüsse. Meine offizielle Mission besteht darin, für den (englischen) General Gale zu dolmetschen. Aber schnell stelle ich fest, dass er keinen Dolmetscher benötigt.“
Also gibt er sich selbst den Auftrag, mit einem französischen Kameraden das Niemandsland zwischen den englischen und deutschen Linien zu erkunden. Bei Dunkelheit ziehen sie los, gegen vier Uhr in der Frühe kommen sie zurück.
Wir haben vier oder fünf solcher Erkundungen gemacht. Bei einer von ihnen habe ich etwa zwanzig deutsche Panzer entdeckt, die in einem kleinen Wald verborgen waren. Ich habe ihre Existenz gemeldet und am nächsten Morgen wurden sie von unseren Flugzeugen zerstört.“(5)
Bei seinen heimlichen Patrouillen begegnet Dreyfus auch Franzosen, von denen die meisten begeistert gewesen seien über die blau-weiß-rote Kokarde auf seiner englischen Uniform.
„Aber einige auch weniger, zum Beispiel solche, die ihr Vieh bei den (alliierten) Bombardements verloren hatten.“
Nach der Eroberung von Caen sei er wieder nach England zurückgekehrt und habe Mitte August einen neuen Spezialauftrag erhalten: nämlich die deutschen Truppen daran zu hindern, Kräfte aus dem Süden an die Front im Norden zu verlegen.
„ Dreißig Trupps von jeweils 10 Fallschirmspringern, um 20- 25 Straßenverbindungen auf einer Linie von La Rochelle bis nach Belfort zu blockieren: nicht schlecht als Marschbefehl für ein Bataillon von 300 Personen, nicht wahr? Ich bin am Tag der alliierten Landung in der Provence im Département Saône-et-Loire abgesprungen. Ich hatte 400 Kilometer Vorsprung vor ihnen.“
Rémi Kontakt nahm bei diesem Einsatz Kontakt mit maquisards auf, um gemeinsam seine Aufträge zu erfüllen: Straßenverbindungen zwischen Süd- und Nordfrankreich zu unterbrechen und die deutschen Truppen so weit wie möglich auf ihrem Vormarsch in den Norden anzugreifen. „Ce qui n’était pas toujours évident“.
Im September 1944 sei dann Remis „Kampagne in Frankreich“ beendet gewesen.
Nicht behandelt wird in diesem Interview die Geschichte, wie es dahin kam, wie Rémi also zum französisch-englischen Fallschirmspringer wurde. Aber auch diese Geschichte ist es wert, erzählt zu werden: Vor dem Krieg absolvierte der aus eine Bankiersfamilie stammende Rémi ein Studium an der renommierten Wirtschaftshochschule HEC, einer der französischen Eliteschulen. Im September 1939, als Hitler den Krieg entfesselte, hatte er sein Diplom in der Tasche, aber an eine vielversprechende Berufskarriere war unter diesen Umständen nicht zu denken. Allerdings wurde Rémis Jahrgang erst im März 1940 zu den Waffen gerufen, also kurz vor Beginn des „Blitzkriegs“, in dem Frankreich in kurzer Zeit überrollt wurde und in dem ein großer Teil der französischen Truppen, auch nicht die Einheit Rémis, zum Einsatz kam.
Rémi war nun aspirant, was wohl am ehesten dem deutschen Grad eines Fähnrichs entspricht. Aber das war nicht von Dauer: Rémi wurde nach dem deutsch-französischen Waffenstillstand nicht demobilisiert, aber nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch das Kollaborations-Regime von Vichy als Jude aus der Armee ausgeschlossen: den Antisemitismus mussten sich Pétain und seine Leute nicht von den Deutschen aufzwingen lassen. Für Rémis damaligen Vorgesetzten war diese von oben verfügte Entlassung eine äußerst peinliche Affaire, für Rémi ein Grund zu Freude und Erleichterung. Er war jetzt nämlich gewissermaßen ein freier Mann und konnte sich dem in London um de Gaulle versammelten France Libre anschließen. Der Weg dahin führte über Spanien und Portugal. Als aktiver Soldat hätte Rémi damit rechnen müssen, in Spanien verhaftet und als Deserteur an das Frankreich Pétains ausgeliefert zu werden. Auch für einen Zivilisten bestand die Gefahr der Verhaftung. Viele junge Franzosen mit dem Ziel England, die der spanischen Polizei in die Hände fielen, wurden in das spanisches Internierungslager Miranda eingeliefert. Aber die wurden nicht ausgeliefert und blieben dort auch nicht lange. Dafür sorgte der britische Botschafter in Madrid. Er handelte mit der spanischen Regierung entsprechende „deals“ aus: Jeweils eine Gruppe der Internierten wurde entlassen und konnte nach Lissabon weiterreisen, wo sich ein Repräsentant von France Libre um alles Weitere kümmerte. Dafür lockerte dann die britische Flotte etwas die Blockade Spaniens…. Rémi blieb diese „Zwischenstation“ allerdings erspart. Trotzdem dauerte es insgesamt neun Monate, bis er sich endlich in London den Truppen des Freien Frankreichs anschließen konnte.
Er wurde den SAS zugeordnet und erhielt im Norden Schottlands eine Ausbildung als Fallschirmspringer. Seine Ausbilder waren übrigens Polen, denen es gelungen war, sich nach der Niederlage ihres Landes nach England durchzuschlagen. Wie Rémi erzählt, spielten in der französischen und englischen Armee Fallschirmtruppen keine große Rolle. Da waren also die Polen als Ausbilder hochwillkommen. Und Rémi kennt bis heute noch die wesentlichen polnischen Kommandos, die ein Fallschirmspringer kennen (und befolgen) muss, aus dem Effeff…
Und dann war er natürlich etwas enttäuscht, dass er am 6. Juni in einen Lastensegler verfrachtet wurde… Aber danach kam es ja noch anders….
Bei einer unserer Begegnungen erzählte Rémi einmal davon, dass während seiner Zeit in England mit langen Wartezeiten zwischen Ausbildungsphasen und Einsätzen Rilkes Büchlen „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ eine gemeinsame Lektüre mit seinen Kameraden gewesen sei – natürlich in einer französischen Ausgabe (von 1927).
Man kann (und muss wohl auch) diesen Text ideologiekritisch sehen, insofern als er auch „Projektionsfläche“ für Ideologien diente, „welche schließlich in die Weltkriege mündeten.“ [6]
Aber ist es nicht verständlich, ja anrührend, wenn sich eine Gruppe französischer Widerstandskämpfer, die im Kampf gegen das faschistische Deutschland ihr Leben einsetzen, in diesem Buch wiederfindet? Immerhin geht es dort um eine Truppe von Soldaten aus verschiedenen Ländern, die gemeinsam Europa gegen den Ansturm der Türken verteidigen. Und es geht um Liebe und Tod, Ängste und Hoffnungen. Das spricht diese jungen Männer –jenseits jeder ideologischen Vereinnahmung- an.
Jemand erzählt von seiner Mutter. Ein Deutscher offenbar. Laut und langsam
setzt er seine Worte: Wie ein Mädchen, das Blumen bindet, nachdenklich Blume
um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird -: so fügt er
seine Worte. Zu Lust? Zu Leide? Alle lauschen. Sogar das Spucken hört auf.
Denn es sind lauter Herren, die wissen, was sich gehört. Und wer das Deutsche nicht kann in dem Haufen, der versteht es auf einmal, fühlt einzelne Worte: »Abends« … »Klein war … «
Da sind sie alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus
Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen
und vom Kaiser Leopold. Denn was der Eine erzählt, das haben auch sie erfahren
und gerade so. Als ob es nur eine Mutter gäbe…
Sagt der kleine Marquis. »Ihr seid sehr jung, Herr?« Und der von Langenau, in
Trauer halb und halb im Trotz. »Achtzehn.« Dann schweigen sie. Später fragt
der Franzose: »Habt Ihr auch eine Braut daheim, Herr Junker?« »lhr?« gibt der
von Langenau zurück. »Sie ist blond wie Ihr. « Und sie schweigen wieder, bis
der Deutsche ruft: »Aber zum Teufel, warum sitzt Ihr denn dann im Sattel und
reitet durch dieses giftige Land den türkischen Hunden entgegen?« Der Marquis
lächelt. »Um wiederzukehren. «
Rémi Dreyfuß hatte des Glück wiederzukehren, zu heiraten, Kinder und Enkelkinder zu haben, und in seinem Beruf und seinem politischen Engagement erfolgreich zu sein. Dabei war ihm der Ausgleich zwischen den früheren „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich ein besonderes Anliegen. Mehrmals waren mit unserer Vermittlung Schülergruppen aus Deutschland bei Rémi eingeladen.
Das waren Schüler/innen von Französisch-Leistungskursen oder Geschichts- Abibac- Kursen, die sich auf das Abitur bzw. gleichzeitig auch auf das französische baccalauréat vorbereiteten. Wenn in Rémis Wohnung in der Nähe des Pantheons die Stühle nicht reichten, setzten sich die Schüler/innen auf den Boden, hörten Rémi zu, machten sich Notizen, stellten Fragen.
Rémi zeigte dann auch den Schüler/innen, die sich zum Teil auf ein mögliches Abiturthema „Résistance“ vorbereiteten, Materialien aus der Kriegszeit:
Zum Beispiel dieses Flugblatt für die französische Bevölkerung über die zunehmende Rationierung von Nahrungsmitteln trotz guter Ernten: Immerhin musste ja nach den Bestimmungen des Waffenstillstands die gesamte Besatzungsarmee aus dem Land, also von Frankreich, versorgt und unterhalten werden.
Die Résistance verbreitete auch aktuelle Küchenrezepte aus der Feder von Tante Lucie. Allerdings nicht um zu raten, wie man mit mageren Rationen trotzdem der französischen Küche Ehre machen kann, sondern um darin politische Botschaften zu verbreiten.
Und Rémi zeigte uns auch ein Flugblatt, das nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 für deutsche Soldaten bestimmt war. Dort wurde eine ganze Reihe von hohen Offizieren genannt, die an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren.
Damit sollte gezeigt werden, dass es sich um alles andere als „eine kleine Clique“ handelte- und natürlich war das auch eine Aufforderung an die einzelnen Soldaten, „den Krieg sofort (zu) beendigen“, so wie es die Männer des 20. Juli für Deutschland insgesamt gefordert hätten.
Natürlich erzählte Rémi auch von sich. Es war den Schüler/innen ja wichtig, einen echten Vertreter des Widerstands hören und befragen zu können. Dabei wurde immer wieder deutlich: Rémi war kein „Veteran“ im schlechten Sinne, der nichts anderes im Kopf hat als seine immer wieder zum Besten gegebenen Heldentaten. Wenn er von sich erzählte, geschah das immer mit großer Bescheidenheit, oft mit Humor und einem verschmitzten Lächeln, so wie das ja auch schon in dem oben zitierten Interview erkennbar oder vorstellbar ist.
Heute werden die Franzosen, die an der Landung teilgenommen hatten, gerne als „französische Helden“ bezeichnet.
Titelblatt der Zeitschrift Historia, Ausgabe Juni 2019.
Abgebildet sind rechts ein am 6. Juni bei der Landung umgekommener Soldat des Kommandos Kieffer und unten zwei französische SAS-Mitglieder mit einem Untergrund-Kämpfer
Rémi gab sich nie als Held aus und fühlte sich wohl auch nicht so. – Aber natürlich war er jetzt zu den Feierlichkeiten anlässlich des 75. Jahrestags der alliierten Landung in die Normandie eingeladen und wäre dort sicherlich als Held gefeiert worden. Darauf verzichtete aber der bald 100-Jährige.
Bei den Treffen mit Schüler/innen war Rémi aber trotz seines hohen Alters ein interessierter Gesprächspartner, der Fragen beantwortete, aber auch stellte. Besonders eindringlich waren mehrere Gesprächsrunden mit Schüler/innen von Abibac-Kursen des Romain – Rolland- Gymnasiums aus Dresden. Da traf ein alter Mann des Widerstands, der im Krieg sein Leben im Kampf gegen die Nazis eingesetzt hatte, auf junge Menschen aus einer Stadt, die in ganz besonderer Tragik die Grausamkeit des Krieges erlitten hatte. Und es waren Schülerinnen eines Gymnasiums, das durch seinen Namen und seine Arbeit in besonderem Maße der deutsch-französischen Verständigung verpflichtet ist.
Rémi Dreyfus 2013 mit Schülerinnen des Romain-Rolland-Gymnasiums Dresden Foto: Kristian Raum
Rémi erzählte dann auch gerne, dass er während seiner Zeit in England auch deutsche Antifaschisten getroffen und mit ihnen über die Zukunft eines von den Nazis befreiten Deutschlands gesprochen habe. Und –für uns erstaunlich und überraschend: Seine schlimmsten Feinde seien nicht die deutschen Soldaten gewesen, sondern die Franzosen der Collaboration, vor allem die Milizen, die gegen ihre eigenen Landsleute gekämpft und ihr Land und dessen Ideale verraten hätten.
Diese Begegnungen waren Sternstunden der deutsch-französischen Verständigung. Merci, Rémi!
Anmerkungen:
[1] https://www.lepoint.fr/societe/6-juin-1944-deux-sas-francais-derriere-les-lignes-allemandes-30-05-2019-2315998_23.php
Entsprechend auch in La Croix vom 3. Juni: https://www.la-croix.com/France/6-juin-1944-deux-SAS-francais-derriere-lignes-allemandes-2019-06-03-1301026296
Allerdings ist die Überschrift irreführend: die beiden französischen SAS wurden , wie ja aus dem späteren Artikel auch deutlich wird, am 6. Juni nicht hinter den deutschen Linien abgesetzt.
[2] Normandie (Teil 1): Die allgegenwärige Vergangenheit https://paris-blog.org/2016/04/29/normandie-teil-1-die-allgegenwaertige-vergangenheit/
Normandie (Teil 2): Schattenseiten der Vergangenheit https://paris-blog.org/2016/05/08/normandie-teil-2-schattenseiten-der-vergangenheit/
[3] Siehe: Des Paras Tricolores. In: Historia Nr. 870, Juni 2019, S. 24/25
(4) Stéphane Simonnet, 177 hommes, quatre ans d’attente, une victoire. In: Historia, 870, Juni 2019, S. 30-34
(5) Hier ist der Artikel nicht ganz korrekt: Es war nicht Rémi selbst, der die Panzer entdeckte, sondern ein Bauer, der ihn darauf hinwies. Das richtig zu stellen, war Rémi wichtig- ein schönes Beispiel für seine Bescheidenheit.
[5] https://parapluie.de/archiv/unkultur/cornet/
Weitere geplante Beiträge:
- La Butte aux Cailles, ein kleinstädtisches Idyll in Paris
- „Les enfants de Paris“: Pariser Erinnerungstafeln/plaques commémoratives zur Zeit 1939-1945
- Die Petite Ceinture, die ehemalige Ringbahn um Paris (1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen
- Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“ der ehemaligen Ringbahntrasse
- Aux Belles Poules. Ein ehemaliges Bordell im Quartier Saint Denis