Wenn wir auf der Autoroute de l’Est von Deutschland nach Paris fahren, machen wir gerne einen Halt in der zwischen Ste Menehoult und Reims gelegenen Raststätte Valmy Orbeval/Valmy le Moulin. Von dort aus hat man einen Blick auf die Mühle von Valmy. Hier fand im September 1792 die sogenannte „Kanonade von Valmy“ statt, die einen Wendepunkt der Geschichte der Französischen Revolution markiert. Einen Tag nach dem Sieg der französischen Revolutionstruppen über die verbündeten Truppen der „alten Mächte“ Preußen und Österreich wurde in Paris die Republik ausgerufen.
Goethe war als Begleiter des Weimarer Herzogs, also gewissermaßen „embedded“, Teil des preußischen Heeres und beobachtete das Gefecht. In seinem autobiographischen Text „Campagne in Frankreich“ berichtet er, wie er am Abend danach die deprimierten Begleiter mit diesen Worten getröstet habe: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“[1] – ein berühmt gewordener Satz, der in keiner Darstellung der Kanonade von Valmy fehlen darf.
Es gibt also Gründe genug, sich einmal den Ort des Geschehens genauer anzusehen, zumal es seit 2014 dort auch ein „centre historique“ gibt, also ein Ausstellungszentrum, in dem man am historischen Schauplatz Näheres über die Kanonade von Valmy erfahren kann.
Die Mühle, das Denkmal und das Centre historique
Der historische Erinnerungsort „Valmy“ besteht aus mehreren Elementen: Natürlich zuerst der Windmühle, die allerdings eine neuere Rekonstruktion ist. Die ursprüngliche wurde am Morgen der Kanonade auf Befehl Kellermanns zerstört: Sie bot den auf einem gegenüber liegenden Hügel postierten preußischen Geschützen ein gar zu leichtes Ziel. Immerhin waren die französischen Truppen halbkreisförmig um die Mühle aufgestellt. Der Besitzer der Mühle wurde immerhin entschädigt und baute nach dem Ende der Kampfhandlungen die Mühle wieder auf. Aber im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Windmühlen nicht mehr benötigt, sondern zunächst durch wasserbetriebene, dann durch industrielle Mühlen ersetzt. So verfiel die Mühle von Valmy, bis in den 1930-er Jahren eine neue Initiative für einen Wiederaufbau gestartet wurde. Aufgrund der Kriegsereignisse konnte sie erst 1947 eingeweiht werden. Sie markierte nun wieder als Wahrzeichen das Schlachtfeld von Valmy, als Mühle allerdings diente sie nicht mehr. Aber auch diese Mühle hatte nur eine begrenzte Lebensdauer, denn 1999 fiel sie dem Sturm Lothar zum Opfer. 2005 wurde dann –pünktlich zum 20. September, dem Jahrestag der Kanonade- die jetzige Mühle eingeweiht, die dem ursprünglichen Modell der Mühle von Valmy entspricht und auch voll funktionsfähig ist. Schade allerdings, dass man in der Boutique des centre historique kein Valmy-Mehl kaufen kann….
Neben der Mühle sieht man schon von der Autobahn aus ein hochaufragendes Denkmal. An seiner Spitze ein Soldat mit wehendem Rock, Säbel und hocherhobenem Arm. In seiner Hand hält er einen mit den Farben der Tricolore geschmückten Hut. Die Statue zeigt den General und späteren Marschall und Herzog von Valmy, François-Christophe Kellermann, wie er seine Truppen zum Gegenangriff führt. Die Statue erinnert damit nicht nur an eine entscheidende Situation der Schlacht: Nicht nur wird damit der Angriff der preußischen Truppen abgewehrt, sondern es wird auch der revolutionäre Patriotismus deutlich, der die französischen Truppen inspiriert. Auf Kellermanns Ruf „Vive la Nation!“ antworten die französischen Soldaten mit dem Ruf „Viva la Nation! Vive la France! Vive notre général!“ und sie stimmen das Revolutionslied „ça ira“ an.[2] Das erscheint allerdings insofern etwas merkwürdig, als darin gleich zweifach den Aristokraten der Tod angekündigt wird. (Les aristocrates à la lanterne!… Les aristocrates on les pendra). Für ihren Kommandeur, der immerhin altem sächsisch-elsässischem Adel entstammt, galt das jedenfalls offensichtlich nicht.
Vor dem Denkmal befindet sich ein Obelisk, unter dem –entsprechend seinem Wunsch- das Herz Kellermanns bestattet ist. Der übrige Leichnam ruht im Familiengrab auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris (30. Division). Dass neben Valmy auch Marengo aufgeführt ist, bezieht sich auf den Sohn Kellermanns, des zweiten Herzogs von Valmy, der sich an der Seite Bonapartes in der Schlacht von Marengo (1800) auszeichnete.
In einer kleinen Kapelle auf dem Hügel von Valmy schließlich wird die Asche von Prinzession Ginetti, der Urenkelin und letzten direkten Nachfahrin Kellermanns, aufbewahrt.
Und dann gibt es am Fuß des Hügels noch eine weitere Statue. Es handelt sich um den venezolanischen General Francisco de Miranda.
Was hat ein venezolanischer General mit Valmy zu tun? Der 1750 geborene Miranda war zunächst in die Armee der spanischen Krone eingetreten, zu deren Kolonialreich Venezuela und der größte Teil Südamerikas damals gehörten. Seine Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg weckte in ihm den Wunsch nach einer Unabhängigkeit Südamerikas, für die er sich von nun an engagierte und für die er auf einer Reise durch Europa warb. 1788 kommt er nach Frankreich und erlebt die Französische Revolution mit. Am 11. September 1792 tritt er auf französische Bitten hin in die Revolutionsarmee ein und nimmt dann gleich an der Kanonade von Valmy teil. Dabei zeichnet er sich aus und wird zum Feldmarschall befördert.
Zurückgekehrt nach Südamerika versucht in zwei militärischen Operationen, die Befreiung der südamerikanischen Kolonien zu erreichen. Damit scheitert er zwar, aber seine Wirkung auf die südamerikanische Befreiungsbewegung war beträchtlich. Das wird in Valmy dadurch zum Ausdruck gebracht, dass gegenüber der Statue Mirandas auch eine Büste Simon Bolivars aufgestellt ist.
Seine Verdienste wurden später von Frankreich gewürdigt. Sein Name ist auf dem Arc de Triomphe in Paris eingraviert. Er ist damit der einzige Amerikaner, dem diese Ehre zuteil geworden ist. (2a)
Das 2014 eingeweihte Centre historique ist völlig in den Hügel versenkt, so dass die Topographie des Schlachtfelds und seine Monumente nicht beeinträchtigt werden.
Das Informationszentrum ist ausgesprochen abwechslungsreich gestaltet. Es gibt eine Nachbildung des Schlachtfelds, auf dem die Positionen und Bewegungen der verschiedenen Truppenteile veranschaulicht werden- sogar mit Pulverdampf.
Ein Glanzstück (im wahrsten Sinne des Wortes) der Ausstellung ist eine französische Kanone – effektvoll in Richtung Mühle postiert.
Es handelt sich um das sehr effiziente Gribeauval- Modell, das schon im ancien régime in den 1770-er Jahren eingeführt wurde. Auch nach 1789 wurde es mit entsprechender Aufschrift, wie das nachfolgende Foto zeigt, weiter produziert. Es war die Grundlage die für Überlegenheit der französischen Artillerie in den Koalitionskriegen und den Kriegen Napoleons.[3]
Und es gibt Tafeln mit den Portraits wichtiger beteiligter Personen, die sich, wenn man sich ihnen nähert, zur Kanonade von Valmy und ihrer Rolle darin äußern. Und da fehlt natürlich auch nicht Goethe mit seiner berühmten Äußerung.
Hier spricht er gerade von der Wirkung des Kanonendonners, die er gewissermaßen mit wissenschaftlicher Distanz an sich beobachtet:
„Ich war nun vollkommen in die Region gelangt, wo die Kugeln herüber spielten; der Ton ist wundersam genug, als wär‘ er zusammengesetzt aus dem Brummen des Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels… Unter diesen Umständen konnt‘ ich jedoch bald bemerken, dass etwas Ungewöhnliches in mir vorgehe; ich achtete genau darauf, und doch würde sich die Empfindung nur vergleichsweise mitteilen lassen. Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Orte, und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so dass man sich mit demselben Element in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke, noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte…. mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein. Hieraus erhellet nun in welchem Sinne man diesen Zustand ein Fieber nennen könne. Bemerkenswert bleibt indessen, dass jenes grässlich Bängliche nur durch die Ohren zu uns gebracht wird; denn der Kanonendonner, das Heulen, Pfeifen, Schmettern der Kugeln durch die Luft ist doch eigentlich Ursache an diesen Empfindungen.“ (Campagne, 234)
Zahlreiche Teilnehmer und Beobachter der Schlacht haben den von dem Artilleriefeuer verbreiteten Schrecken bestätigt. Lese man die zeitgenössischen Berichte, werde man, wie Bertrand schreibt, an die Beschreibungen von Kriegsteilnehmern aus dem Ersten Weltkrieg erinnert[4]– auch in dieser Hinsicht ist Valmy der Beginn einer das Grauen noch vielfach potenzierenden neuen Epoche: eine distanzierte Beobachtung wie die Goethes kann man sich von einem Soldaten in den Schützengräben vor Verdun kaum noch vorstellen.
Der geschichtliche Hintergrund
Im Informationszentrum wird natürlich auch der historische Hintergrund der Kanonade von Valmy erläutert, der hier kurz skizziert werden soll:
Gegner im sogenannten ersten Koalitionskrieg waren Frankreich auf der einen und Preußen, Österreich und königstreue französische Emigranten auf der anderen Seite. Ziel der Koalitionäre war die Wiederherstellung der alten Ordnung in Frankreich, auf französischer Seite wurde der Krieg immer mehr zu einem „Kreuzzug für die Freiheit“ mit imperialistischen Zügen.[5] Es handelt sich also um einen aus weltanschaulichen Gründen geführten Krieg. Kommandeur der Koalitionstruppen ist der Herzog von Braunschweig, ein erfahrener Heerführer. Der rückt mit seinen Truppen in Frankreich ein und zunächst lässt sich der Feldzug gut an: Die Festungen Longwy und Verdun fallen, der Weg nach Paris scheint frei. Braunschweig droht schon einmal in einem Manifest der Bevölkerung von Paris. Sie sei verantwortlich für die Sicherheit der königlichen Familie. Vom Niederbrennen der Häuser und schwersten Strafen für jeden „Rebellen“ ist die Rede. Dieses Manifest ist, wie Richard Friedenthal in seiner Goethe-Biographie schreibt, „der erste Schritt zur Niederlage“.[6] Er bestärkt nämlich den Patriotismus der Franzosen. In Paris melden sich Freiwillige zur Verteidigung der Nation. Und unter den altgedienten Berufssoldaten läuft kein einziger Deserteur zu den Alliierten über, während die Emigranten den Übertritt ganzer Armeen als sicher in Aussicht gestellt hatten. Wenige Tage nach dem Bekanntwerden des Manifests werden die Tuilerien gestürmt, der König mit seiner Familie wird gefangen genommen. Die Nationalversammlung berät über seine Absetzung.
Das französische Heer unter Dumouriez, das zum großen Teil noch aus altgedienten Soldaten des ancien régime besteht, soll den Koalitionstruppen den Weg nach Paris versperren und sie im Argonnen-Wald, von Dumouriez schon als seine „Thermopylen“ bezeichnet[7], zum Stehen bringen. zu blockieren. Das misslingt aber. Braunschweig hat nun scheinbar freie Bahn. Aber in Wirklichkeit kann er nicht durch die freie Champagne nach Paris marschieren, denn in seinem Rücken haben sich die Truppen Dumouriez‘, mit denen sich die aus dem Elsass herbeigeeilten Truppen Kellermanns vereinigt haben, strategisch günstig bei Valmy positioniert. Damit können sie die Koalitionstruppen von ihrem lebenswichtigen Nachschub abschneiden: Der entsprechende Bedarf ist beträchtlich: Die Koalitionstruppen rücken mit „schwerer Bagage an. Eine Menge von Fürstlichkeiten: das bedeutet einen Stab von Fourieren, Köchen, Leibdienern, Ordonanzen, Stabsoffizieren…. Verpflegt werden soll das alles aus rückwärtigen Magazinen.“[8] Dazu kommt natürlich die Verpflegung der Truppe und ihr militärischer Nachschub. Umgekehrt sind allerdings auch die Franzosen von ihren Nachschublinien abgeschnitten. Es muss also zum Kampf kommen und das ist die sogenannte Kanonade von Valmy. Diese Bezeichnung hat ihren Grund im massiven und bis dahin –in diesem Ausmaß- kaum bekannten Einsatz der Kanonen. Valmy war, wie François Furet und Denis Richet in ihrer Geschichte der Französischen Revolution schreiben, „eines der ersten Treffen, in denen das Artilleriefeuer eine entscheidende Rolle spielte.“[9] Auf französischer Seite waren etwa 150 Kanonen im Einsatz, auf Seiten der Koalition sogar 200. Deren Kommandeur kein Geringerer als Georg Friedrich von Tempelhoff, der als „Preußens bester Artillerist“ galt.[10] Es wird geschätzt, dass am Tag der Kanonade etwa 20 000 Kanonenkugeln von beiden Seiten verschossen wurden. Allerdings verursachten sie weniger Verluste in den gegnerischen Reihen als man angesichts solcher Feuerkraft vermuten könnte: Die meisten Kugeln versanken im vom tagelangen Regen aufgeweichten Boden, ohne damit großen Schaden anzurichten. Aber die psychologische Wirkung war erheblich und keine Seite wollte die eigenen Truppen dem Dauerbeschuss der feindlichen Kanonen aussetzen. Außerstande, die französischen Kanoniere aus ihren gut postierten Stellungen zu verdrängen, blies der Herzog von Braunschweig also das Gefecht lieber ab und trat angesichts des von den Witterungsbedingungen und um sich greifender Krankheiten zermürbten Koalitionsheeres vorbeugend den Rückzug an, was die Moral der Truppe noch weiter untergrub. Die Bedeutung der Artillerie in diesem Gefecht wird auch daran anschaulich, dass viele der damals im Osten Frankreichs produzierten Teller mit Motiven der Revolution wurden mit den Kanonen und Kugeln bemalt wurden, die den französischen Truppen in Valmy zum Sieg verholfen hatten.
Der Rückzug der Koalitionstruppen mag erstaunlich erscheinen angesichts der tatsächlichen Verluste auf beiden Seiten. Den gut hundert Gefallenen und Schwerverletzten auf Seiten der Koalitionstruppen standen rund dreimal so hohe Verluste der Franzosen gegenüber. Aber trotzdem traf die von Braunschweigs Oberkommando bis zu den gemeinen Soldaten verbreitete Ansicht zu, dass die Koalition „eine vernichtende Schlappe“ erlitten hatte [11]. Die Illusion, als gefeierte Befreier von einer königstreuen Bevölkerung begrüßt zu werden und im Siegeszug nach Paris zu marschieren, wurde in Valmy endgültig zerstört.
Mit dem Rückzug der Koalitionstruppen war ein „kritischer Wendepunkt des Krieges und der Revolution“ erreicht. Vom 20. September, dem Tag von Valmy und gleichzeitig dem Tag der Eröffnung des Nationalkonvent an, sollten alle Staatsdokumente das Datum „Jahr 1 der französischen Freiheit „ tragen. Mit der am 21. September offiziell ausgerufenen Republik begann eine neue historische Ära.[12]
Goethe in Valmy
Goethes legendäre Äußerung über die weltgeschichtliche Bedeutung der Kanonade von Valmy ist anfangs schon zitiert worden. Sie ist historisch so nicht verbürgt und erst 30 Jahre später von Goethe in „Campagne in Frankreich‘ publiziert worden. Aber so ähnlich wird er gedacht haben. Denn immerhin schrieb er direkt vom Schauplatz des Geschehens in einem Brief:
„Es ist mir sehr lieb, dass ich das alles mit Augen gesehen habe und dass ich, wenn von dieser wichtigen Epoche die Rede ist sagen kann: et quorum pars minima fui“ – von all dem war ich ein kleiner Teil.[13]
Goethe war vom Weimarer Herzog Karl August, dem Kommandeur eines preußischen Kontingents, gebeten worden, ihn auf dem Kriegszug zu begleiten. Goethe, Minister und Freund des Herzogs, konnte und wollte sich dem nicht entziehen. Er war hin und her gerissen zwischen dem Verlangen nach Ruhe und Abschirmung und der Neugier, auch Abenteuerlust, bei großen Ereignissen dabei zu sein. Und dass es sich bei der Französischen Revolution um ein großes Ereignis handelte, war gerade im Weimar Wielands und Herders unübersehbar. Goethe, der in Natur und Gesellschaft eher dem Evolutionären als dem Revolutionären zuneigte, sah einerseits in der Französischen Revolution das „schrecklichste aller Ereignisse“, andererseits sah er durchaus das empörende Unrecht, das zu der Revolution geführt hatte und war von dem sie begleitenden Pathos beeindruckt.
In „Herrmann und Dorothea“ heißt es:
„Denn wer leugnet es wohl, dass hoch sich das Herz ihm erhoben,
Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen,
Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob,
Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei
Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit!
Damals hoffte jeder, sich selbst zu leben; es schien sich
Aufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte,
Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt.
Schauten nicht alle Völker in jenen drängenden Tagen
Nach der Hauptstadt der Welt, die es schon lange gewesen
Und jetzt mehr als je den herrlichen Namen verdiente?“
Jetzt hatte Goethe also Gelegenheit, im Gefolge des Herzogs ins Land der Französischen Revolution zu reisen und er war wie die anderen davon überzeugt, dass er bald in der „Hauptstadt der Welt“ sein werde. In einem seiner ersten Briefe vom Feldzug verspricht er Christiane Vulpius, mit der er in Weimar zusammen lebt, ihr das eine und andere Krämchen von dort mitzubringen.[14]
Nach der Kapitulation von Verdun versorgen sich denn auch Goethe und seine Kameraden mit feinen Likören und Drageen, die sie nach Hause schicken, damit sich die Freundinnen „in höchster Beruhigung überzeugen mochten, dass wir in einem Lande wallfahrteten, wo Geist und Süßigkeit niemals ausgehen dürfen.“ (Campagne, S. 211)
Dann beginnt jedoch das von Goethe ungeschminkt wiedergegebene Elend des Feldzugs. Es regnet pausenlos:
„Ich fand auch unsere Zelte aufgeschlagen, aber im schrecklichsten Zustande; man sah sich in grundlosem Kot versenkt, die verfaulten Schlingen der Zelttücher zerrissen eine nach der anderen, und die Leinwand schlug dem über Kopf und Schulter zusammen, der darunter sein Heil zu suchen gedachte.“ (Campagne, S. 216).
„Alles schilt auf den Jupiter Pluvius (also den Regengott. W.J.), dass auch er ein Jacobiner geworden.“[15]
Dazu fehlt es an Nahrung:
„Mitten im Regen ermangelten wir sogar des Wassers, und einige Teiche waren schon durch eingesunkene Pferde verunreinigt; das alles zusammen bildete den schrecklichsten Zustand.“ Dazu macht „die eingerissene Krankheit“, die Ruhr, „den unbequemen, drückenden, hülflosen Zustand trauriger und fürchterlicher.“ (Campagne, S. 236/7)
Keine guten Voraussetzungen also für den Kampf mit den Truppen Dumouriez‘ und Kellermanns. Goethe nutzt die Kanonade auf seine Weise, indem er an sich selbst die Ursache und Wirkung des sogenannten „Kanonenfibers“ erkundet. Und dann zieht er abends Bilanz:
„So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemen Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen aunzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es um zu fluchen oder zu verwünschen.“ Es stürmt und regnet, die Truppen heben provisorische Erdlöcher aus, um darin, mit den Mänteln zugedeckt, die Nacht zu verbringen. „Der Herzog von Weimar selbst verschmähte nicht eine solche voreilige Bestattung.“ (Campagne, S. 235)
In dieser „beschämenden, hoffnungslosen Lage“ (Campagne, S. 236) wird Goethe aufgefordert, zu sagen, was er dazu denke. Und dann spricht er seine berühmten Worte über „eine neue Epoche der Weltgeschichte“, die von hier und heute ausgehe….
Die Konstruktion und Instrumentalisierung des Mythos Valmy
Den viel zitierten Worten Goethes zum Trotz geriet die Kanonade von Valmy bald eher in Vergessenheit: Es war eine der vielen Schlachten in den Revolutionskriegen, die zudem noch etwas kompromittiert war dadurch, dass der damalige Oberkommandierende, Dumouriez, bald danach zu den Österreichern übergelaufen war. Deshalb wurde er in der Erinnerungskultur eher übergangen –heute ist Dumouriez, wie Richard Friedenthal schreibt, „ein halb verschollener Name“.[16]
Der Mythos von Valmy entwickelte sich dann aber sehr schnell und intensiv mit der Thronbesteigung Louis-Philippes nach der Julirevolution von 1830. Louis- Philippe, damals noch duc de Chartres, hatte als junger Offizier an der Kanonade teilgenommen und sich dabei seine ersten militärischen Sporen verdient. Als er 1830 nun zum König der Franzosen ausgerufen wurde, war es sein Bestreben, die revolutionäre Traditionslinie von 1789 und die monarchistische Traditionslinie zusammenzuführen. Was hätte sich da besser geeignet als Valmy, das ja gewissermaßen die letzte Schlacht des Ancien Régime und der erste Sieg der Republik war?
So wird gleich nach der Julirevolution der den Kanal St. Martin in Paris säumende quai Louis-XVIII umbenannt in quai Valmy. Es wird ein großes Kriegsschiff in Auftrag gegeben, das auf den namen Valmy getauft wird – das letzte Segelschiff der französischen Marine. Und im Pantheon wird Valmy als Ausdruck der revolutionären Begeisterung der Jugend gefeiert. Die Nähe zum plastischen Schmuck des Arc de Triomphe ist dabei unverkennbar. (siehe Blog-Beitrag zum Arc de Triomphe)
Und dann stellte Louis-Philippe natürlich seine eigene Rolle in Valmy heraus. Bei dem Maler Mauzaisse bestellte er 1835 die Kopie eines berühmten Gemäldes von Horace Vernet, das für das historische Museum von Versailles bestimmt war. (Da Original befindet sich in der National Gallery in London). Das Gemälde zeigt einen dramatischen Augenblick der Schlacht, als das Pferd Kellermanns –von einer feindlichen Kugel getroffen- zusammenbricht. Und es zeigt – natürlich!- den duc de Chartres hoch zu Ross inmitten des französischen Generalstabs.[17]
Ein Gemälde von Éloi Firmin Feron zeigt den duc de Chartres (zu Fuß) in Begleitung seines Bruders, des duc de Montpesier, nach der Kanonade von Valmy dem Generalstab Bericht erstattet. Rechts hinter der Mühle sieht man die wohlgeordneten französischen Truppen, links die Ortschaft Valmy. Auf beiden Gemälden darf natürlich die Mühle nicht fehlen, auch wenn die zu dem Zeitpunkt, den sie darstellen, schon längst auf Befehl Kellermanns zerstört worden war.
Diese beiden Gemälde hatten für den König Louis-Philippe eine besondere Bedeutung, weil sie ihn als Patrioten und Anhänger der revolutionären Ideale präsentieren.[18]
Darüber hinaus gilt Valmy nun als Ausdruck der nationalen Einheit, als ein Sieg, der mit dem Ruf „Vive la Nation! Vive la France!“ errungen wurde. Und an den Sieg über die preußisch-österreichischen Koalitionstruppen wird vor allem in entsprechenden Konfliktsituationen erinnert. So hofft der junge Rimbaud 1870 in seinem Gedicht Morts de Quatre-vingt-douze auf ein neues Valmy im deutsch-französischen Krieg.[19]
In der 3. Republik wurde der „revolutionäre Heroismus“ der Truppen von Valmy dann besonders herausgestellt. Anlass war vor allem das 100. Jubiläum der Schlacht, das auch Anlass für die Errichtung des monumentalen Kellermann-Denkmals war. Die Beschwörung des siegreichen Kampfs eines geeint zu den Waffen greifenden Volkes hatte in einer Zeit natürlich besondere Konjunktur, in der die Wiedergewinnung des 1871 verlorenen Elsass-Lothringens ein in Politik und Gesellschaft weit verbreitetes Anliegen war. Zu Beginn des Jahrhunderts war diese Sicht auf Valmy in den französischen Schulbüchern weit verbreitet und bereitete die sogenannte „union sacrée“ vor, die dann bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschworen wurde. (19a)
Bei den Sozialisten wird –in der Tradition Michelets- Valmy zum Sieg eines spontan sich erhebenden Volkes, das aufgrund seines Glaubens an die Ideen der Revolution den Eindringling besiegt. Dass damit die in Valmy noch entscheidende Rolle der Linientruppen, also der noch traditionellen Berufssoldaten, –und der meist adligen Kommandeure- heruntergespielt wird, tat diesem revolutionären Valmy-Mythos keinen Abbruch. Zum Erfolg des republikanisch-revolutionären Mythos von Valmy gehörte schließlich auch die internationale Dimension: Valmy wurde zum Symbol eines Befreiungskampfes der Völker gegen ihre Unterdrückung, von den Aufständen und Unabhängigkeitskriegen in Europa und Lateinamerika im 19. Jahrhundert bis hin zu den antikolonialen Bewegung im 20. Jahrhundert.[20]
Aber Valmy wurde auch danach noch genutzt, um politische Botschaften in symbolisch aufgeladener Umgebung zu präsentieren. So 2012 von Arnaud Montebourg im Rahmen seiner Bewerbung für die sozialistische Präsidentschaftskandidatur.[21] Montebourg wurde später ja Wirtschaftsminister unter dem Präsidenten François Hollande und war dabei ein engagierter Herold eines „ökonomischen Patriotismus“ und Protektionismus. Valmy war insofern sicherlich für ihn ein passender Ort….
Verwendete Literatur:
Jean-Paul Bertaud, Valmy, Gallimard folio histoire, 2013
La bataille de Valmy. Le 20 septembre 1792 collection les patrimoines 2017
Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich 1792. In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe Bd 10. Hamburg 1960, S. 188f
Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens. Fischer TB. FFM 2015
Anmerkungen
[1] Campagne in Frankreich, S 235
[2] Bertaud, S. 36/37
(2a) Bild aus: https://venezuelatina.com/2009/10/17/francisco-de-miranda-cote-face-cote-pile/franciso-de-miranda_arco_triunfo/
[3] Bertaut, S. 44. Siehe auch . https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Baptiste_Vaquette
[4] Bertrand, Valmy S. 42
[5] François Furet/Denis Richet, Die Französische Revolution. München 1968, S. 242
[6] Friedenthal, S. 374
[7] Simon Schama, Der zauderne Citoyen. Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution. München 1989, S.638. Siehe auch Campagne S. 215, wo Goethe von einem zweiten Thermopylä spricht.
[8] Friedenthal, S. 373
[9] Furet/Richet, S. 228
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Friedrich_von_Tempelhoff
[11] Safranski, S. 373
[12] Schama, S. 638; entsprechend Furet/Richet, S. 239
[13] Safranski, auf den ich mich im Weiteren wesentlich stütze, S. 373
[14] Safranski, S. 367, 368 und 372
[15] Zit. von Safranski, S. 372
[16] Friedenthal, Goethe S. 375
[17] https://www.histoire-image.org/etudes/bataille-valmy-20-septembre-1792
[18] https://www.histoire-image.org/etudes/bataille-valmy-20-septembre-1792
[19] Siehe La Bataille de Valmy, S. 40
(19a) https://ahrf.revues.org/3933
[20]Louis Bergès, Valmy, le mythe de la République, Toulouse 2001 Siehe auch: http://www.enssib.fr/bibliotheque-numerique/documents/64920-valmy-la-naissance-d-un-mythe-orleaniste-et-republicain-1830-1848.pdf
[21] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/
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