Johann Gottfried Tulla, der Rheindompteur, in Paris

1824 richtete der badische Lokaldichter Dillmann die nachfolgende etwas ungelenke Huldigung an Johann Gottfried Tulla:

„Lob und Dank sei diesem Mann, der durch seinen weisen Plan,

den er nun zu Ende gebracht, uns vom Rhein hat freigemacht.“[1]

Damit rühmte er das Lebenswerk seines Landsmanns, des badischen Wasserbauingenieurs Johann Gottfried Tulla, den damals noch wilden, ungebändigten Rheinstroms zu „bändigen“. Ein Chronist des 19. Jahrhunderts schrieb über den Fluss, er sei „der schreckliche Feind, der nicht nachlässt zu toben, bis er nicht Land und Leute verdorben hat.“[2]

Um dem abzuhelfen, entwarf Tulla den umfassenden Plan einer „Rectification“ des Flusses. Damit sollten die ständigen Gefahren heftiger Hochwasser beseitigt, das natürliche Überschwemmungsgebiet des Rheins landwirtschaftlich und städtebaulich nutzbar gemacht und  am Oberrhein damals noch verbreitete Krankheiten wie Malaria und Typhus bekämpft werden. Die Begradigung und damit auch Verkürzung des Flusses sollte zudem die bessere Nutzung des Rheins als Wasserstraße ermöglichen.

Allerdings gab es auch Widerstand gegen Tullas Pläne: Bauern, die durch die von Tulla geplanten Durchstiche des Rheins ihr angestammtes Land verloren, beschimpften und bedrohten die Bauarbeiter und Ingenieure, sodass sogar das Militär zu deren Schutz eingesetzt werden musste.  Heute sind es vor allem ökologische Argumente, die gegen Tullas fortschrittsgläubiges Eingreifen in die Natur vorgebracht werden, wobei nicht alle Probleme des Rheins – wie zum Beispiel die industriebedingte Wasserverschmutzung- auf Tulla zurückzuführen sind.

Das Wirken Tullas und seine Bewertung erhielten in den letzten Jahren besondere mediale Aufmerksamkeit: 2017 jährte sich der Beginn der Rheinbegradigung zum 200. Mal,  2020  Tullas Geburtstag zum 250. Mal:  Anlässe für Presseberichte, einen Arte-Film und auch ein Buch über

„Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion.“[3]

Gegenstand des nachfolgenden Berichts ist allerdings nicht eine umfassende Darstellung und Würdigung des Tulla’schen Wirkens. Passend zu einem Paris- und Frankreich-Blog geht es hier um die Bedeutung, die Paris für Tulla hatte. Und diese Bedeutung ist sehr erheblich und vielfältig:

  • Tulla hat sich an der École polytechnique in Paris fortgebildet und dort wichtige Impulse für seine weitere Arbeit erhalten.
  • In Paris hat er seine erste große Denkschrift über die „Rectification“ des Rheins erstellt.
  • Die damals in Paris eingeführte nationale Maßeinheit des Meters hat Tulla angeregt, auch in seinem Heimatland Baden ein auf dem Dezimalsystem basierendes einheitliches Längenmaß einzuführen.
  • Es war auch in Paris, wo er sich -letztendlich allerdings erfolglos- von einem international bekannten Spezialisten für Blasenleiden hat behandeln lassen.
  • Im Zuge dieser Behandlung ist Tulla in Paris gestorben und auf dem Friedhof von Montmartre beigesetzt worden.
Der Wasserbauingenieur Johann Gottfried Tulla in badischer Offiziersuniform[4]

Studium an der École Polytechnique

Tulla wurde vor allem an der Bergakademie im sächsischen Freiberg ausgebildet, wo er von 1794 bis 1796 studierte. Danach erhielt er eine Anstellung im badischen Staatsdienst und spezialisierte sich auf den am Rhein besonders wichtigen Bereich des Flussbaus. In diesem Zusammenhang wurde  er 1801 nach Paris beordert. Die Rheinbegradigung war das größte damalige Bauprojekt Europas, ja „die gesamte Begradigung des Oberrheins gilt bis heute als größte, je vom Menschen erbrachte Erdbewegung in Mitteleuropa“! [4a] Und es war ein grenzüberschreitendes Projekt, das nicht nur Baden, Hessen und die zu Bayern gehörende Pfalz betraf, sondern auch Frankreich. Tulla sollte also seine Sprachkenntnisse verbessern, um sich  mit  den  französischen  Kollegen  adäquat auseinandersetzen zu können. Und er sollte an der von Napoleon gegründeten Pariser  École polytechnique, der besten damaligen naturwissenschaftlichen Hochschule Frankreichs, das französische Ingenieurwesen kennenlernen.[5]

Portal des ursprünglichen Sitzes der École Polytechnique placette Jacqueline-de-Romilly (Paris, 5e)  Foto: Wolf Jöckel

Tulla war einer der ersten Auslandsstudenten an der Ecole Polytechnique, zusammen mit dem Naturforscher Alexander von Humboldt und dem italienischen Physiker Alessandro Volta.

Pavillon Joffre am traditionellen Sitz der École Polytechnique (Paris, 5. Arrondissement) mit dem Leitspruch Pour la Patrie, les Sciences et la Gloire. (Für das Vaterland, die Wissenschaften und den Ruhm)

Den Vorlesungen an der École Polytechnique konnte Tulla aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse zur bedingt folgen. Aber er verinnerlichte das an der Pariser Hochschule praktizierte System der Verbindung von Theorie und Praxis, das er später als Vorbild für die von ihm gegründete Karlsruher Ingenieurschule -dem Vorläufer des heutigen Karlsruher Instituts für Technologie (KIT)- nutzte.

Relief am Portal der École Polytechnique  Foto: Wolf Jöckel

An der École Polytechnique begegnete Tulla auch Gaspard Monge, dem damals europaweit bekannten Autor der darstellenden Geometrie und einem der Gründungsväter der Schule.  Angeregt durch seine Pariser Studien übertrug Tulla die mathematischen Regeln auf die Konstruktion von Uferbestigungen (Faschinenbau).  

Johann Gottfried Tulla nutzte für die Vermessungsarbeiten am Rhein die modernsten Messgeräte seiner Zeit. Steffen Schroeder als Tulla im Arte-Film „Der Flussbaumeister. Wie Tulla den Rhein begradigte“  © Foto: arte

Die Einführung eines einheitlichen Maßes in Baden nach französischem Vorbild

Tullas Plan einer Rectification des Rheins hatte eine neue Vermessung und genaue Kartographierung des Landes zur Voraussetzung.  Das war insofern ein Problem, als durch die napoleonischen Neuordnungen Baden um ein Vielfaches erweitert wurde und die verschiedenen Landesteile des neugeschaffenen Großherzogtums unterschiedliche Maßeinheiten hatten. Da gab es – um nur einige zu nennen- den badischen, Mannheimer, rheinländischen, Nürnberger und bayerischen Fuß, den Röttler und den Badenweiler und Hochberger Juchert.. [5a] Deren Vereinheitlichung war unerlässlich und Frankreich diente dabei Tulla als Vorbild.

Dort hatte es nämlich bis zur Revolution von 1789 ebenfalls eine Vielzahl unterschiedlicher Maße und Gewichte gegeben- eine Handel und Gewerbe beeinträchtigende Begleiterscheinung des Feudalsystems. In den Beschwerdeheften (Cahiers de Doléances) für die Abgeordneten der Generalstände von 1789 spielte dieses Thema eine wesentliche Rolle. Die Nationalversammlung nahm denn auch eine Vereinheitlichung als wesentlichen Beitrag zur nationalen Einheit in Angriff. Entsprechend dem universalistischen Geist der Aufklärungsphilosophie, die ja auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte prägte, sollte das neue System allerdings nicht nur für das revolutionäre Frankreich, sondern für alle Länder und Zeiten („à tous les temps, à tous les peuples“) Bestand haben.

Mit Gesetz vom 7. April 1795 (18 germinal an III) wurde eine einheitliche Maßeinheit für ganz Frankreich eingeführt, das mètre étalon. 1796/97 wurden solche von Chalgrin, dem späteren Architekten des Arc de Triomphe, entworfenen Urmeter im ganzen Land an einer Vielzahl von  öffentlichen Orten installiert.[6] In Paris waren es ursprünglich 16 Urmeter, von denen zwei erhalten sind. Das eine befindet sich noch am ursprünglichen Ort in der rue Vaugirard Nummer 36 gegenüber dem Palais du Luxembourg.

Foto: Wolf Jöckel

Das zweite noch erhaltene ist  -vermutlich seit 1848-  am Sitz des Justizministeriums an der Place Vendôme Nummer 13 installiert.[7]

Foto: Wolf Jöckel

Auf diesem Urmeter ist gut zu erkennen, dass es sich bei der neuen Maßeinheit um ein Dezimalsystem handelt, eine revolutionäre Neuerung.  

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Paris wurde der mittlerweile 34­-Jährige zum Oberingenieur ernannt. Es wurden ihm die seinem Rang entsprechenden Aufgaben übertragen. Dazu gehörte auch die Mitarbeit im Gremium zur Vereinheitlichung der Maße und Gewichte im Großherzogtum Baden. Dabei gab es zwei Leitlinien: Das bisher gebräuchliche Doudezimalsystem sollte durch das in Frankreich etablierte Dezimalsystem ersetzt werden, das gerade für die Ingenieure und damit auch die Rheinkorrektur ein erheblicher Fortschritt war. Auch der Meter als Maßeinheit nach französischem Vorbild bot sich an. Allerdings „war die Nachahmung des französischen Vorbildes politisch unerwünscht. Tulla umging die politische Hürde, indem er das neue badische Maß am Meter ausrichtete, diesen jedoch nicht einfach übernahm.“[8] Die neue badische Ruthe, eingeteilt in zehn Fuß, entsprach drei französischen Metern und der neue badische Fuß, eingeteilt in 10 Zoll- entsprach dementsprechend drei französischen Dezimetern.[9]

 Jetzt mussten allerdings die neuen Maße und Gewichte der Bevölkerung vermittelt werden. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte Johann Peter Hebel mit seiner Kalendergeschichte „Des Adjunkts Standrede über das neue Maß und Gewicht“ aus dem Jahr 1812. Der Beamten-Gehilfe steht in einem Wirtshaus auf einem Stuhl und erläutert sehr anschaulich den Anwesenden die Vorteile des neuen Systems:

Erstlich, so war’s bisher in jeder Herrschaft, in jedem Städtlein anders, andre Ellen, andre Schoppen, andre Simri oder Sester, anderes Gewicht. Jetzt wird alles gleich von Überlingen oder Konstanz an, am großen See, bis nach Lörrach im Wiesenkreis und von da durch das ganze Land hinab bis nach Wertheim im Frankenland. Niemand kann mehr irregeführt werden, wie bisher, wenn er an einen fremden Ort kommt und fragt: „Wie teuer die Elle Tuch, oder der Vierling Käs?“ Der Wirt sagt: „So und so viel.“ Wenn er nun meint, hier sei der Käs wohlfeil, und sagt: „Wißt Ihr was? bringt mir lieber ein halbes Pfund“, so bekommt er leichteres Gewicht, und der Käs ist teurer als daheim. Das geht in Zukunft nicht mehr an. Ja es kann alsdann jeder Händler durch das ganze Land seine Elle und seinen Pfundstein selber mit sich führen, ist er in Überlingen probat, so ist er’s auch in Wertheim. [10]

Besonders schön auch die volkstümliche Begründung für die Einführung des Dezimalsystems:

Der große Vorteil aber, der durch die neue Einteilung der Maße gewonnen wird, zeigt sich im Rechnen, weil alles in 10 Teile geht, und keine ungeraden Zahlen oder Brüche im Multiplizieren oder Dividieren zu fürchten sind. Als nämlich noch keine Rechnungstafeln, kein Einmaleins, kein Schulmeister und kein Herr Provisor im Land war, zählten unsere Uraltem an den Fingern. Einmal 10, zweimal 10, dreimal 10; – bis auf zehnmal zehn usw. Daher entstanden die Hauptzahlen 10, 20, 30 und bis auf 100. Item 10 mal 100 ist tausend;
10 mal 1000 ist 10 000 und so weiter. Demnach so ist diese Rechnungsart die natürlichste und ist dem Menschen schon im Mutterleib mit seinen Fingern angewachsen und angeboren und unsere Alten haben’s wohl verstanden mit ihren 3 alten Zahlen, als da sind I und V und X. Solches kommt auch von den Fingern her.

Allerdings dauerte es noch bis 1827, bis das neue System im ganzen Großherzogtum Baden eingeführt war.

Vielleicht trug auch die Erfahrung des revolutionären Frankreichs dazu bei, dass sich Tulla für die Abschaffung der Frondienste einsetzte. Schon 1807, bald nach seiner Rückkehr aus Paris, verfasste er eine Denkschrift, in der er vorrechnete, „dass im Frondienst erstellte Flussbauten um ein Fünftel teurer wären als die im Taglohn ausgeführten Arbeiten. Die Abneigung der zum Frondienst Verpflichteten führe zu unzureichender Arbeitsleistung. In Vorträgen warb Tulla für seine Ansichten, was schließlich zum Erfolg führte.“  In einem Erlass vom14. Mai 1816 wurden in Baden die Flussbaufronden aufgehoben und durch ein vom Land aufgebrachtes Flussbaugeld ersetzt.[11]

1827 Ernennung zum Offizier der französischen Ehrenlegion

Am 21. August 1827 wurde „Jean Godefroi“ Tulla zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt. Gerade für einen Ausländer war dies eine besondere Ehre,  wurden mit der Ehrenlegion doch besondere Verdienste für die Nation  (services éminents à la Nation) gewürdigt. Aber die Rheinkorrektur war ja nicht nur für die angrenzenden deutschen Staaten, sondern auch für das zu Frankreich gehörende Elsass von besonderer Bedeutung. Anlass der Würdigung war der Abschluss eines Grenzvertrags zwischen Baden und Frankreich: Im Zuge der Rheinregulierung musste ja die Grenze neu festgelegt werden, und dies war auch dauerhaft möglich, weil der Lauf des Rheins jetzt den Plänen der Wasserbau-Ingenieure, vor allem Tullas, folgte und nicht mehr den Launen der Natur.

Verleihungsurkunde der Ehrenlegion für Tulla,  colonel,  Directeur des Ponts et Chaussees du Grand-Duché de Bade vom 21. August 1827[12]

Die Ehrenlegion war 1802 von Napoleon, damals 1. Konsul, gegründet worden, wurde aber nach seinem Sturz von dem Bourbonen-König Ludwig  XVIII. weitergeführt. Jetzt allerdings als königlicher Orden. Da wurde dann natürlich das Bild Napoleons ersetzt durch das des ersten Bourbonen-Königs Heinrich IV. bzw. der napoleonische Adler durch die Bourbonen-Lilien.[13]

In der relativ friedlichen Restaurations-Zeit wurden immer mehr bedeutende Zivilisten mit der Ehrenlegion ausgezeichnet, darunter Victor Hugo (im Alter von 23 Jahren!), Lamartine, Chateaubriand und Jean-François Champollion, dem die Entzifferung der ersten Hieroglyphen gelang: Da befand sich Tulla also in bester Gesellschaft.

Auf dem oben abgebildeten Portrait Tullas – hier ein entsprechender Ausschnitt- ist der Orden der Ehrenlegion gut zu erkennen: Er hängt neben dem ganz links befestigten badischen Verdienstorden (dem Orden des Zähringer Löwen), der Tulla noch einen Monat vor seinem Tod von seinem Landesherren verliehen worden war. Die Erfahrung habe „die Richtigkeit Ihrer Vorschläge wegen der Rheinrectification“ bewiesen.[14]  Ganz rechts hängt der Verdienstorden der Bayerischen Krone, halbrechts der russische Orden des Heiligen Wladimir. Den hatte er 1814 erhalten, weil er mit vom ihm geleiteten Straßenbaumaßnahmen den Übergang der im Kampf gegen Napoleon verbündeten Armeen, also auch der russischen, über den Rhein südlich von Straßburg  erleichtert hatte.[15]  

Behandlung bei Dr. Civiale im hôpital Necker und Tod in Paris

Tulla hatte schon seit seinem Pariser Studienaufenthalt mit gesundheitlichen Beschwerden zu tun. Ende der 1820-er Jahre verschlechterte sich aber sein Gesundheitszustand zunehmend. Auch eine längere Arbeitspause und ein Kuraufenthalt konnten daran nichts ändern. Als Ursache  seiner vielfältigen  Beschwerden wurden schließlich Blasensteine  festgestellt und er wurde 1827 zur Behandlung an den damals besten urologischen Facharzt Jean Civiale nach Paris überwiesen. Der arbeitete an dem 1778 gegründeten und sehr fortschrittlichen hôpital Necker: Es war das erste Pariser Krankenhaus, in dem jeder Patient ein eigenes Bett zur Verfügung hatte.[16]

Eingang des Krankenhauses, rue de Sèvres, 15. Arrondissement  Foto: Wolf Jöckel

Civiale hatte eine neue Methode der Beseitigung von Blasensteinen erfunden:  Es handelte sich um eine nicht-invasive bzw. minimal-invasive Technik der Lithotripsie, bei der die Blasensteine in der Harnblase durch ein spezielles durch die Harnröhre eingeführtes Instrument zertrümmert wurden. Civiale war die international anerkannte Kapazität auf diesem Gebiet: 1827 hatte er ein Buch über seine Methode veröffentlicht, das zum Standardwerk  wurde,  1826 und 1827 war er für seine Erfindung und die Vielzahl der mit ihr praktizierten erfolgreichen Operationen (insgesamt etwa 1500) vom Institut royal de France ausgezeichnet worden. [17] Auch aus dem Ausland kamen Patienten nach Paris, um von ihm operiert zu werden. So auch der Astronom Franz Xaver von Zach, Lehrer des Mathematikers Gauß und Alexander von Humboldts, der in einem Brief aus Paris schrieb:

„Ein neuer Beweis, wenn es noch einen bedarf, dass Civiale’s Methode unfehlbar, und unübertreffbar ist, bewährt sich nun abermal, an den Baadischen Ingieurs-Obrist Tulla aus Carlsruhe, welcher auf mein Anrathen und Zureden hierher gekommen ist, um sich von Civiale operieren zu lassen. Er ist mein Nachbar, und logirt in einer Stube neben mir.“

Die ersten Behandlungen zur Zertrümmerung der Steine seien sehr erfolgreich gewesen, bald werde Tulla wieder „ganz hergestellt“ sein. Auch Tulla selbst war sehr überzeugt von der Methode Civiales. Er schickte Operationsbestecke in die Heimat, „dass man nicht genöthigt werden wird nach Paris zu gehen um sich von den Steinen befreyen zu lassen.“ Anfang Februar 1827 schrieb er in einem Brief:

„Ich sehe nun dem Ende meiner Kur getrost entgegen und hoffe, dass solches in künftiger Woche erfolgen dürfte. Nach Beendigung meiner Kur werde ich noch 4 Wochen  hier verbleiben und dann meine Rückreise antreten.“

Dann allerdings verschlechterte sich Tullas Gesundheitszustand und er verstarb am 27. März 1828. „Um den Verdacht, der Tod wäre als Folge der Blasenoperationen aufgetreten, auszuräumen, obduzierte Civiale den Leichnam Tullas und stellte krampfhafte Erstickungsanfälle als Todesursache fest.“ Diese Diagnose übernahm dann auch Philipp Jacob Scheffel in seinem Nekrolog auf Tulla. [18] Durch das Internet geistert auch die Version, Tulla sei der Malariakrankheit erlegen – so sogar in einem professoralen Fachbeitrag des Universitätsklinikums Heidelberg![19]  Es wäre ja auch in der Tat eine Ironie des Schicksals, wenn Tulla gerade an der Krankheit gestorben wäre, die er mit seinem Lebensprojekt bekämpfen wollte.[20]

Heute ist das hôpital Necker eine Kinderklinik. Dazu passend der von Keith Haring bemalte Turm.  Foto: Wolf Jöckel

Das Grabmal auf dem Friedhof von Montmartre 

Tulla wurde auf dem Friedhof Montmartre in Paris beigesetzt und seine Grabstelle kaufte die badische Landesregierung „auf ewig“. Sie liegt, problemlos zu finden, in der ersten Gräberlinie der Avenue Berlioz, an der Ecke der 26. Division. Ganz in der Nähe übrigens, ebenfalls an der Avenue Berlioz, in der 27. Division liegt übrigens das Grab von Heinrich Heine. [20a]

Foto: Wolf Jöckel

Inzwischen steht das Grabmal nicht mehr so frei wie auf der zeitgenössischen Abbildung[21] und die Inschrift auf der Schauseite ist stark verwittert.

Foto: Wolf Jöckel

Nachfolgend der Text der Würdigung auf der Schauseite. Es werden Tullas Rang (Oberst), seine -in französischer Terminologie bezeichnete Funktion (Generaldirektor „der Brücken und Straßen“, was aber in Baden auch den Wasserbau einschloss), seine vier Orden und die Geburts- und Sterbedaten mit den entsprechenden Orten genannt:

JEAN GODEFROY TULLA,

colonel, directeur général / des ponts et chaussées / du grand-duché de bade,

chevalier de l’ordre grand-ducal / du lion de zaehringen / officier de l’ordre royal de la légion-d’honneur,

chevalier de l’ordre impérial de st wladimir de russie/ et de l’ordre royal de la couronne de bavière,

né a carlsruhe le 20 mars 1770

décédé à Paris le 27 mars 1828.[22]

Auf der Rückseite des Grabmals wird mitgeteilt, dass es von den badischen Freunden Tullas errichtet worden sei, um seine „Talente, Redlichkeit und Verdienste“ zu würdigen.

Hommage / rendu à la mémoire / des talents, de la probité  / et du mérite / du défunt / par ses amis/

dans le grand-duché de bade. Foto: Wolf Jöckel

Foto: Wolf Jöckel

Das Relief auf dem Grabstein zeigt einen Plan mit einem wild mäandernden Rheinabschnitt und dem begradigten „Neurhein“. Dabei soll es sich um das „Altriper Eck“ handeln, einen der technisch schwierigsten Abschnitte der Rheinbegradigung nahe dem pfälzischen Dorf Altrip südlich von Mannheim.[23] Es war der letzte Abschnitt der von Tulla geplanten Rheinkorrektur zwischen Basel und Mannheim mit seinen insgesamt 18 Durchtrennungen von Rheinschlingen. Erst 1865, also 40 Jahre nach Tullas ersten Plänen, fand hier der erste Spatenstich statt und erst 1874 war das Werk vollendet: Also gewissermaßen Tullas Vermächtnis.[24]

In einem nachfolgenden Beitrag wird es um das zwischen Mainz und Mannheim gelegene Naturschutzgebiet „Kühkopf“ gehen: Die „Rectificationen“ des Rheins haben nicht nur natürliche Lebensräume zerstört, sondern auch Inseln der ursprünglichen Rheinauen wie den „Kühkopf“ geschaffen.

Literatur

Johann Gottfried Tulla, Ueber die Rektifikation des Rheins: von seinem Austritt aus der Schweitz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogthum Hessen. Karlsruhe: Müller 1825  https://digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/5654478

Franz Littmann, Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion. Neulingen: J.S. Klotz Verlagshaus 2020

Norbert Rösch, Die Rheinbegradigung durch Johann Gottfried Tulla.   
zfv – Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement  4/2009    

Philipp Jakob Scheffel, Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla: gestorben in Paris am 27. März 1828. Karlsruhe 1830  Inhouse-Digitalisierung / Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla (blb-karlsruhe.de)

Nicolle Zerratin und Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. Beiträge zur Stadtgeschichte, Rastatt 2015


Dies ist ein Beitrag von Wolf Jöckel aus https://paris-blog.org/ . Sollte er unter dem Autorennamen Paul Lucas auf der Seite  https://www.voyages-en-patrimoine.com/ veröffentlicht werden, handelt es sich um einen Akt der Piraterie und um einen eklatanten Verstoß gegen das Urheberrecht.

Anmerkungen

[1] Zitiert in: Johann Gottfried Tulla. 20.3.1770 – 27.3.1828  Ansprachen und Vorträge zur Gedenkfeier und Internationalen Fachtagung über Flußregulierungen aus Anlaß des 200. Geburtstages. Karlsruhe 9.-11.1970. Karlsruhe 1970

Beitragsbild: Grabinschrift mit französischen Vornamen vom Friedhof Montmartre. Foto: Wolf Jöckel

[2] https://www.planet-schule.de/wissenspool/lebensraeume-im-fluss/inhalt/hintergrund/mensch-und-fluss/rheinbegradigung-i.html

[3] Franz Littmann, Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion. Neulingen: J.S. Klotz Verlagshaus 2020

Der Flussbaumeister. Wie Tulla den Rhein begradigte. Arte August 2021

[4] Bild aus: https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/stadtmuseum/tulla.de

  Stadtarchiv Karlsruhe 8PBS III 1880

[4a] Informationstafel Umweltbildungszentrum Schatzinsel Kühkopf

[5] Norbert Rösch, Die Rheinbegradigung durch Johann Gottfried Tulla.  Zfv
zfv – Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement  4/2009  134. Jahrgang, S. 242–248

[5a] Eberhard Henze, Technik und Humanität. Johann Gottfried Tulla. Mannheim 1989, S. 16

[6] https://metrologie.entreprises.gouv.fr/fr/la-metrologie/point-d-histoire/histoire-du-metre

[7] http://www.justice.gouv.fr/histoire-et-patrimoine-10050/le-metre-etalon-de-la-place-vendome-restaure-et-reinstalle-33912.html  

[8] Zarratin, S. 16 und Littmann, S. 24

[9] In Hessen übrigens hatte man die politischen Vorbehalte gegenüber dem französischen Maßsystem offenbar nicht: Da entschied der Darmstädter Großherzog „dass das ganze französische Maß und Gewicht System hier eingeführt werden soll, und dass dazu die genauest abgegliechenen Exemplare jetzt aus Paris verschickt sind.“Siehe Zarratin, S. 16/17. Zitiert aus einem Brief von Carl Kroencke, dem Wasserbauingenieur im Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Kroencke setzte in Hessen die von Tulla in Baden begonnene Rheinbegradigung fort.

[10] Text und Bild aus: http:/hausen.pcom.de/jphebel/geschichten/ajunkt_standrede_ma%C3%9F_gewicht.htm

[11]  Zerratin/Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla,  S.18

[12] https://www.leonore.archives-nationales.culture.gouv.fr/ui/  und https://www.leonore.archives-nationales.culture.gouv.fr/ui/notice/363977

[13] https://www.proantic.com/display.php?id=229038

[14] Aus der Begründung der Ordensverleihung. Zitiert bei Zerratin/ Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. S. 28/29

[15] Dieser Orden wurde auch oft an Ausländer -vor allem Preußen- verliehen. Im Verzeichnis der Träger des Ordens von Wikipedia ist Tulla allerdings nicht enthalten. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kategorie:Tr%C3%A4ger_des_Ordens_des_Heiligen_Wladimir&pageuntil=Strantz%2C+Gustav+Adolf+von%0AGustav+Adolf+von+Strantz#mw-pages

[16] https://histoire.inserm.fr/les-lieux/hopital-necker-enfants-malades 30. 8. 2019

[17] Von der Lithotritie oder Zerreibung des Steines in der Blase. Dr. Giviale Paris 1827.

Im Nouveau Dictionnaire de Médecine, Chirurgie etc (2. Band, Paris 1826) wird auf die Publikationen Civiales und seine Auszeichnungen und Erfolge verwiesen.

[18] Zerratin/ Reiner Boos, Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla, S. 26. Dort auch die Zitate von Zach und Tulla.

Philipp Jakob Scheffel, Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla, S. 19

[19]  Kommt die Malaria zurück in den Rhein-Neckar-Raum? – Klinikticker Online   

[20] Ironie du sort, l’ingénieur allemand succombe en 1828 à l’un des ennemis qu’il combattait : le paludisme.   https://www.telepro.be/decouverte/lhomme-qui-raccourcit-le-rhin.html

[20a] Siehe den Blog-Beitrag zu Heine: https://paris-blog.org/2017/10/02/mit-heinrich-heine-in-paris/

[21] Les principaux monuments funéraires/Tulla – Wikisource

[22]  Grabinschriften weitgehend übernommen aus: https://fr.wikisource.org/wiki/Les_principaux_monuments_fun%C3%A9raires/Tulla  

[23] https://wiki.edu.vn/wiki64/2022/02/13/johann-gottfried-tulla-wikipedia/  

[24] http://www.hgv-altrip.de/index.php/heimat-und-geschichte/alle-beitraege/1109-die-kuerzeste-und-schwierigste-korrektur-des-rheins.html

Weitere geplante Blog-Beiträge:

Das Château Rosa Bonheur in By bei Paris

Naturparadies aus Menschenhand: Das Europareservat Kühkopf

Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen, Teil 2: Der Kult der großen Männer

Das Reiterstandbild Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf

Der König der Tiere: Das Labyrinth und die Menagerie Ludwigs XIV. im Park von Versailles

Von der „Notre Dame de Dada“ im Köln der 1920-er Jahre über das Exil im „Zauberkreis Paris“ nach Auschwitz: Das dramatische Leben von Luise Straus-Ernst.

Anlass für diesen Beitrag ist Luise Straus-Ernsts „Zauberkreis Paris“, ein kürzlich zum ersten Mal in Buchform veröffentlichter „Roman aus dem Exil“.  Der Text wurde 1934/1935 in der Exilzeitung „Pariser Tageblatt“ in 38 Folgen als Fortsetzungsroman veröffentlicht und ist jetzt auch einem breiten Leserkreis zugänglich:

Luise Straus-Ernst, Zauberkreis Paris. Roman aus dem Exil. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Armin Strohmeyr. Konstanz: Südverlag 2022

Dass jetzt der „Zauberkreis Paris“ Thema eines Beitrags auf diesem Blog ist, hat mehrere Gründe:

  • Das deutsche Exil in Paris und Frankreich war schon wiederholt Gegenstand dieses Blogs. (Siehe unten die entsprechende Zusammenstellung). Insofern ergänzt und bereichert der nachfolgende Beitrag diesen Themenbereich.
  • Der Roman spiegelt die Faszination wider, die die Stadt Paris auf viele Emigranten ausübte.
  • Er beleuchtet aber auch in aller Deutlichkeit die Probleme, die gerade weniger prominente Emigranten hatten, dort Fuß zu fassen und sich eine neue Existenz aufzubauen.
  • Er ist auch die Geschichte der Emanzipation einer Frau, die gezwungenermaßen ihren eigenen Weg sucht und findet.
  • Und es ist schließlich ein Roman mit vielfachen autobiographischen Bezügen, geschrieben von einer faszinierenden Frau, die als „Notre Dame de Dada“ und erste Frau des Malers Max Ernst in Köln lebte, dann als Jüdin zunächst in Paris, dann in Südfrankreich Zuflucht suchte, aber kurz vor der Befreiung Frankreichs noch verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.

In dem Roman gehören der kommunistisch orientierte Journalist Peter Krimmer und die aus einer jüdischen Familie abstammende Ulla  Frankfurter  zu den deutschen Flüchtlingen,  die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme  „in hellen Scharen nach Paris hereinströmten“ (Traumland Paris, S. 28). Paris übt auf sie eine unvergleichliche Faszination aus:

„Dieses Mal allerdings ging man anders an diese unendliche Stadt Paris heran als bisher in karg bemessenen Ferienwochen. Museen und Ausstellungen, Schlösser und Bibliotheken – dies alles eilte nicht, das blieb ja, dazu kam man immer noch. Dinge, zu denen früher nie Zeit gewesen war, sollten nun endlich an die Reihe kommen. – In Parks zu sitzen und die Stunden verrinnen zu fühlen, umstrahlt von dem unvergleichlichen Licht des Luxembourg-Gartens oder eingefriedet von dem koketten Ruinenzauber des Parc Monceau oder im heiteren Entzücken der Vorstadtromantik in den Buttes-Chaumont. – das war etwas! — “ (Traumland, S. 24/25).  Und dann gibt es ja noch die Rue Mouffetard, die Seine-Quais mit den Bouqinistes und den Clochards,  den Flohmarkt, das Judenviertel oder einen Bal-musette: Fast macht das den Eindruck, als habe Luise Straus-Ernst den deutschen Neuankömmlingen in Paris einige- in das Traumland-Bild passende-  touristische Tipps für die Erkundung der Stadt geben wollen.

Und dazu gibt es noch praktische Hinweise auf französische Besonderheiten. Das passte zu der redaktionellen Linie des Pariser Tageblatts, das sich bemühte, seinen Leserinnen und Lesern Orientierungshilfe im fremden und ungewohnten Pariser Alltag zu geben. [1]

So schreibt Peter in einem Brief an die noch nicht nach Paris emigrierte Ulla:

„Ich sitze hier sozusagen mitten auf der Straße, an einem runden Tischchen, auf dem Kaffee in einem Glase steht, ja, wirklich in einem Glas mit Fuß auf einem kleinen Teller, der den Preis des Getränks gleich aufgedruckt trägt. Wenn es mir Spaß mache, den ganzen Nachmittag und Abend vor diesem einzigen Glas  zu sitzen, wird mich niemand daran hindern, kein Kellner mich schief ansehen. Wenn es mir aber einfallen sollte fortzugehen, dann kann ich das ebenso unbelästigt tun. Ich lege die aufgedruckte Summe und ein kleines Trinkgeld auf den Teller und verschwinde. Niemand außer dem Kellner, den es angeht, wird es sich einfallen lassen, dieses Geld wegzunehmen.“ (Zauberkreis Paris, S. 40)

Und als dann auch Ulla in Paris angekommen ist, wird über deren Café-Erfahrungen berichtet:

„Sie frühstückte auf der Terrasse eines kleinen Cafés an der nächsten Ecke und freute sich am Sonnenschein, bemerkte allerdings zu spät, dass die meisten Leute ihren Café crème und ihre Croissants im Stehen an der Bar einnahmen. Das würde sie von morgen auch tun. Diese eilige eigentlich gar nicht pariserische Art, eine Mahlzeit einzunehmen, gefiel ihr. Übrigens war es auf diese Weise ja auch billiger, und darauf würde man sehr zu achten haben.“ (Zauberkreis Paris, S. 68)

Die Pariser Cafés hatten, das wird hier deutlich, eine eminente Bedeutung gerade für die Emigranten. Denn die meisten wohnten beengt und wenig komfortabel. Man vermochte es also nicht, „die kahlen Wände und kümmerlichen Draperien der Hotelzimmer mit dem Rauschen der Wasserleitungen auf die Dauer zu ertragen.“ (Traumland Paris, S.29). Da waren die Cafés ein willkommener Ausweichort und auch ein wichtiger Treffpunkt: für „Ärzte, Anwälte, Kaufleute“ eher die Cafés der Champs-Élysées, für die ärmeren Intellektuellen die Cafés von Montparnasse. „Von den Cafés beider Gegenden erzählte man den gleichen Witz, es habe sich dort -im Dôme [2] oder im Colisée- ein Franzose erschossen, aus Heimweh.“ (Zauberkreis Paris, S. 30)

Luise Straus-Ernst schildert in ihrem Roman am Beispiel der beiden Protagonisten aber auch die Schwierigkeiten und Nöte der deutschen Emigranten in Paris. Da gibt es Komitees, „die sich zu rascher Hilfeleistung überall aufgetan hatten.“ (Zauberkreis Paris, S. 28)

Das wichtigste Flüchtlingskomitee war das Comité national de secours aux refugiés allemands victimes de l’antisemitisme, das mit französischen, amerikanischen und englischen Spendengeldern finanziert wurde.[3] Vielleicht war es dieses Komitee, von dem in dem Roman die Rede ist:

 „Peter hatte in den ersten Tagen eine solche Stelle aufgesucht in der vagen Hoffnung, man werde ihm hier eine Arbeitsmöglichkeit nachweisen. Aber für die Kenntnisse, die er angegeben hatte, gab es keinerlei Verwendung. Ein Uhrmacher wurde gesucht, mehrere Sattler. Eine wohlmeinende Komiteedame machte auf einen Schriftsetzerposten bei einem hebräisch gedruckten Blatt aufmerksam und war beinahe gekränkt, als Peter ihr den Unterschied zwischen Schriftsetzer und Schriftsteller klarzumachen suchte.“ (Zauberkreis Paris, S. 28)

Bei seinen Versuchen, Beiträge in der französischen Presse unterzubringen, wird er auf vielfache Weise hingehalten:

„Dies alles war nicht einmal Bosheit oder Schikane. Es waren die Höflichkeitsformen eines fremden Landes, an die man sich gewöhnt hatte. Man sagte hier niemals: Nein. Man lehnte nichts ab. Man half sich eben mit mehr oder weniger vagen Versprechungen und dachte gar nicht daran, jemals beim Wort genommen zu werden.“ (Traumland Paris, S. 32/33). Das ist übrigens genau der Hinweis, den uns vor Jahren bei unserer Installation in Paris ein schon lange dort lebender deutscher Freund gegeben hatte. Und seitdem haben wir eine ganze Reihe von entsprechenden eigenen Erfahrungen gemacht….

Dies gilt auch für Ulla, aber sie ist bereit, jede Stelle anzunehmen; und für Frauen, die als Sekretärinnen und Kindermädchen zu verwenden waren, findet sich eher eine Stelle als für junge Männer. Da sie aber keine offizielle Arbeitserlaubnis besitzt, sind das meistens nur kurzfristige Beschäftigungen. (Zauberkreis Paris, S. 120)

Einmal findet sie „eine Ferienvertretung für die Stenotypistin eines großen Herrenmodenhauses“, eine „angenehme und gut bezahlte Tätigkeit“:

„Die Vertretung hatte einen Monat dauern sollen, bot also für die derzeitigen Verhältnisse eine geradezu fantastische Sicherheit. Aber am fünften oder sechsten Tag fragte der Bürovorsteher Ulla  nach ihrer Arbeitskarte. Sie besaß natürlich keine, war erstaunt, dass sie selbst für eine so vorübergehende Beschäftigung verlangt würde. Nun, die Chefs hatten keine Lust, sich für die Gutmütigkeit, mit der sie einen Flüchtling beschäftigten, auch noch strafbar zu machen. Am Abend wurde Ulla ausgezahlt und brauchte nicht mehr wiederzukommen.“ (Zauberkreis Paris, S. 91/93)

Aber Ulla gibt nicht auf, anders als viele Männer, die -im früheren Leben erfolgreiche und respektierte Persönlichkeiten- den sozialen Abstieg im Exil nicht bewältigen können. Zu ihnen gehört auch der ehemals so erfolgreiche Journalist Peter Krimmer, der in Paris nicht Fuß fassen kann, durch eine mysteriöse Russin in eine Spionageaffäre hineingerät und schließlich Selbstmord begeht.

In der Dreieckskonstellation von Peter Krimmer, der verführerischen Russin Borja Toronoff und Ulla Frankfurter hat Luise Straus-Ernst die offenbar unbewältigte Urszene ihres Lebens wiederholt: Die Verbindung von Max Ernst mit Gala Éluard, an der ihre Ehe gescheitert war.[4]

Luise Straus-Ernst hatte Max Ernst 1913 beim gemeinsamen Studium der Kunstgeschichte an der Universität Bonn kennengelernt. Während Max Ernst nach dem Kriegsdienst sein Studium abbrach, um im Kreis des rheinischen Expressionismus um August Macke als freier Künstler zu arbeiten, wurde Luise als eine der ersten Frauen 1917 promoviert, arbeitete am Kölner Wallraf-Richartz-Museum  und übernahm 1919 sogar für ein Jahr dessen kommissarische Leitung, die sie allerdings aufgab, weil sie als Frau nicht die geringste Chance hatte, dauerhaft diese Stellung zu behalten.[5]

Hanns Bolz, Bildnis Louise Straus-Ernst. Vor 1918[6]

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs spielte sie in der dadaistischen Szene von Köln eine wesentliche Rolle. Max Ernst bezeichnete sie als „Amanda von Duldgedalzen, genannt die dadaistische Rosa Bonheur“ (Name einer emanzipierten französischen Tiermalerin des 19. Jahrhunderts [6a]), ihre Biographin Eva Weissweiler nannte sie die „Notre Dame de Dada“.

Zwischen der Kölner und der Pariser Dadaisten-Szene gab es enge Verbindungen: Im November 1921 besuchte Paul Éluard mit seiner russischen Frau Gala das Ehepaar Ernst in Köln. Es begann eine enge Zusammenarbeit zwischen dem französischen Lyriker und dem deutschen Maler. Und es begann eine Liebesbeziehung zwischen Gala Éluard und Max Ernst, der schließlich nach Paris übersiedelte, um in einer offenen Dreiecksbeziehung/ménage à trois mit dem Ehepaar Éluard zusammenzuleben.[7]

Für Luise Straus-Ernst war das ein entscheidender -und traumatischer- Wendepunkt ihres Lebens.  In der Beziehung mit Max Ernst hatte sie „freiwillig und freudig jedes eigene Leben“ aufgegeben. Sie brach den Verkehr mit Freundinnen ab, die Max Ernst nicht mochte. Sie las nur Bücher, die er liebte, sie war „eine abgeschwächte Wiederholung seines eigenen Wesens.“ (Nomadengut, S. 222).   Nachdem sich Max Ernst von ihr getrennt hatte, musste sie sich von nun an, wie die Ulla in ihrem Roman, „tapfer und unabhängig durchs Leben“ schlagen, wie sie selbst in ihrer Autobiographie schreibt. (Nomadengut, S. 211). Und dies mit Erfolg:  In den 20-er Jahren in Köln erreichte Luise Straus-Ernst eine völlig eigenständige Position als Journalistin, vor allem als Kunstkritikerin. Sie spricht in ihren Lebenserinnerungen von einer sehr erfolgreichen Zeit:

„Es war mein ganzes schönes Leben der letzten zehn Jahre, dieses unabhängige Leben voll Arbeit und Erfolg, das ich mir leidenschaftlich und bewusst erkämpft hatte.“  (Nomadengut, S. 226)

Das Exil beendet dieses schöne Leben. Es war eine Trennung nicht nur von der geliebten rheinischen Heimat, sondern auch von ihrem Sohn Jimmy, den sie in der Obhut ihrer Eltern zurückließ.

August Sander, Mutter und Sohn. Luise Straus-Ernst mit Sohn Jimmy. Köln 1928. Die Portraitaufnahme ist Teil von Sanders 1929 publiziertem Photoportrait Deutschlands: Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen[8]

Paris hatte für Luise Straus-Ernst „von jeher einen Zauberklang gehabt“, war für sie eine „Wunderstadt“. Mit der Übersiedlung in „das ersehnte Paris“[9]  veränderte sie auch ihren Vornamen: Nicht mehr Luise, sondern Louise oder Lou, eine programmatische Anpassung an die neue Situation. Die Wirklichkeit hält allerdings diesem Idealbild nicht stand. Dem Leben fehlte, wie sie in „Nomadengut“ schreibt, „die Heiterkeit, die Paris bei vorübergehenden Aufenthalten so reichlich geboten hatte.“ Paris sei „eher eine traurige Stadt geworden.“  Sie kommt zunächst in einem kleinen Hotel in der Nähe des Triumphbogens unter: „Das Zimmer war kahl und unpraktisch. Aus dem Fenster sah ich nur hässliche Fassaden, nicht einmal ein Stückchen Himmel.“[10]  Da es ihr – wie Ulla Frankfurter in „Zauberkreis Paris“-  nicht gelang, eine Arbeitskarte zu bekommen, musste sie sich mit verschiedenen Jobs über Wasser halten, mit Nachhilfeunterricht, Übersetzungen, Schreibarbeiten, Buchhaltung, Museumsführungen, ja sogar Babysitting. Sie konnte aber auch unter verschiedenen Pseudonymen journalistische Arbeiten in den Tageszeitungen der Pariser Emigration, insbesondere aber auch in Schweizer Zeitungen veröffentlichen.

Luise  Straus-Ernst. Paris, um 1936[11]

Bis 1939 lebte sie in verschiedenen kleinen Hotels, unter anderem in einem in der rue Toullier Nummer 11 unweit der Sorbonne, in dem auch Rilke während seiner frühen Parisbesuche gewohnt und seinen „Malte Laurids Brigge“ geschrieben hatte.[12] Ihr Lebensgefährte war damals Fritz Neugass, Kunsthistoriker und Journalist wie sie, der seit 1926 in Paris lebte und erfolgreicher Korrespondent deutscher, seit 1933 dann aber auch englischer, amerikanischer, französischer und Schweizer Zeitungen war. Gemeinsam führten sie das Leben von Bohemiens und Nomaden. Dazu gehörte im Frühjahr 1936 eine mehrmonatige Reise nach Oberitalien, Griechenland und in die Türkei. Den Sommer und Herbst 1938 verbrachten die beiden „an der Mittelmeerküste in Cannes, als wären sie wohlhabende Touristen auf Erholungsreise. Den weltpolitischen Ernst scheint Luise Straus aber noch immer nicht recht wahrhaben zu wollen.“[13]  Anders ihr Sohn Jimmy, der im Mai 1938 nach USA emigrierte. Auf seine Bitte, mit ihm auszureisen, was damals noch möglich gewesen wäre, antwortete sie:

„Wir haben die Vernunft und die Moral auf unserer Seite, und die sind stärker als marschierende Stiefel und hysterische Ausbrüche.“[14]

Dazu kamen Befürchtungen über Amerika, wie sie damals bei Emigranten weit verbreitet waren:

„Was wird mit der Sprache? …. Wer wird meine Arbeiten veröffentlichen? …. Amerika ist etwas für junge Leute, die Städte sind so unpersönlich, und das hochgepuschte Tempo des täglichen Lebens… und es ist so groß, es ist so groß“.[15]

Auch spätere Versuche, sie zur Ausreise zu bewegen, scheitern an ihrer moralisch-politischen Halsstarrigkeit und ihrem unerschütterlichen Optimismus. „Wir glaubten nicht an eine Katastrophe, wollten nicht daran glauben“, schrieb sie. Und selbst wenn Hitler einen Krieg begönne: Er könne ihn nicht gewinnen: „Wenn er so etwas versucht, wird er sehr schnell erledigt sein, und ich will da sein, wenn es passiert.“[16]

Hier wiederholt sich der illusionäre Optimismus, den Luise Straus-Ernst schon im Januar 1933 hatte, als sie, wie ihr Sohn berichtet, davon ausging, dass Hitler bei der nächsten Reichstagswahl durchfallen werde. Nur deshalb habe Hindenburg Hitler zum Reichskanzler gemacht. „Diese Fanatiker fliegen auf die Straße. Da sind sie hergekommen und da gehören sie auch wieder hin.“[17]

Optimistisch endet auch der „Zauberkreis Paris“.  Ulla lernt schließlich den auch aus Deutschland geflohenen jungen Handwerker Hans Remagen kennen, „zu dem sich eine geschwisterliche Freundschaft entwickelt. Hans vermittelt Ulla am Ende auch an eine Landkommune, wo sie Arbeit findet, aber noch mehr: Kameradschaftlichkeit und ein Gegenkonzept zu den zwar gut gemeinten, aber letztlich perspektivlosen Hilfsangeboten der karikativen Einrichtungen. In der Landkommune, die mit dem Ziel der autonomen Eigenversorgung funktioniert, darüber hinaus eine Nische in der Ökonomie des Gastlandes zu nutzen versucht (nämlich die Produktion von Holzspielzeug nach der Tradition des Erzgebirges) wird ein Gegenentwurf zur harten Realität des Exils im Moloch der Großstadt gezeichnet…“[18]

Lutz Winckler hat in diesem Romanende den Ausdruck unaufgearbeiteter Verdrängungen der Autorin gesehen. Am Ende bleibe „eine infantilisierte Heldin zurück, die sich als geschlechtsloses Wesen …. in die patriarchalische Großfamilie des Handwerkerkollektivs einordnet“.[19]  Armin Strohmeyr sieht in seinem Nachwort zum Roman in dessen Ende dagegen eine keineswegs illusionäre Utopie einer „Hilfe durch Selbsthilfe“.

Wie auch immer: Die Realität zerstörte alle Hoffnungen und Gegenentwürfe.  Als Hitler seinen Krieg begann, wurde Luise Straus-Ernst wie die meisten anderen in Frankreich lebenden „feindlichen Ausländer“ interniert -auch wenn sie Flüchtlinge und ausgewiesene Antifaschisten waren. Luise Straus-Ernst wird -auf eigene Kosten- in das Frauenlager Gurs am Fuß der Pyrenäen verfrachtet.  

Das Lager von Gurs. Es bestand aus 382 primi­tivs­ten, etwa 125 m² großen Baracken, in denen jeweils bis zu 60 Personen unter­ge­bracht waren. Es war im Frühjahr 1939 zur Inter­nie­rung der aus Spanien geflohenen Soldaten der Republi­ka­ni­schen Armee und der Freiwil­li­gen der Inter­na­tio­na­len Brigaden auf sumpfigem Gelände errichtet worden.

In „Nomadengut“ schreibt Louise Straus-Ernst dazu:

„… als wir dann auf Lastwagen, stehend wie Vieh, durch eine abendliche Pyrenäenlandschaft gefahren wurden, als plötzlich vor uns in einer großen Ebene die Hunderte von Holzbaracken im dünnen Licht vieler Lampen sichtbar wurden, da sank mir doch das Herz. Es war noch nicht ganz dunkel, als wir durch die Lagerstraße fuhren. Überall drängten sich Frauen ans Gitter, bekannte Gesichter unter ihnen, um uns zu winken, etwas zuzurufen, wurden aber rasch von ihren Aufseherinnen in die Baracken getrieben. Wie Tiere in einem Käfig.

Die Baracken waren unbeschreiblich schmutzig, die hygienischen Einrichtungen in einem Zustand, den niemand in unserem Zeitalter für möglich halten würde. Doch da eine Gruppe junger Lothringerinnen tüchtig zugriff, so war bald ein erträglicher Zustand geschaffen. Sofern man es erträglich nennen will, auf einem dünnen Strohsack am Boden zu schlafen, sich, angesichts der internierten Spanier, die ständig vorüber kamen, unter freiem Himmel zu waschen, nach jedem kleinen Regen bis über die Knöchel im Schlamm einzusinken.“[20]

Allerdings  konnte Luise Straus-Ernst schon nach wenigen Wochen dank der Intervention ihres Lebensgefährten Fritz Neugass wieder das Lager verlassen: Neugass war im November 1939 in dem Lager Les Milles bei Aix-en-Provence interniert worden, wo er auch Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever und … Max Ernst traf.[21] Da er sich als Arbeitssoldat der französischen Armee verpflichtete, wurde er aber entlassen und in Manosque im südfranzösischen Lubéron stationiert, wo  er die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Jean Giono machte.  Manosque lag nach dem Sieg der Wehrmacht über Frankreich in der unbesetzten Zone Frankreichs, schien also ein sicherer Zufluchtsort zu sein.  Dorthin folgte also Luise Straus-Ernst Neugass und arbeitete als Sekretärin und Übersetzerin für Jean Giono.

Über ihn schrieb Luise Straus-Ernst:

„Einen einzigen Menschen kenne ich hier, um den es sich lohnt. Die seltenen Gespräche mit ihm ersetzen mir alles andere- der Dichter Jean Giono.- Als ich ihn das erste Mal aufsuchte, war ich voll Skepsis. Bisher war ich immer enttäuscht worden, wenn ich die Bekanntschaft von Menschen machte, die einen Namen hatten, die ‚arriviert‘ waren. (…) Aber hier bin ich endlich einmal angenehm enttäuscht worden. Ich fand einen großzügigen, hilfsbereiten, weltoffenen Menschen, einen Menschen der versteht.“ (Nomadengut, S. 238)

Aber dann greift das politische Geschehen mitleidlos in das Leben von Luise Straus-Ernst ein und zerstört die letzte Zuflucht Manosque: Am 3. September 1943 kündigt Italien das Bündnis mit Deutschland. Die Italiener, die keine antisemitische Rassenideologie im nationalsozialistischen Ausmaß verfolgen, verlassen Manosque. Die Gestapo zieht ein und mit ihr die Angst.[22]

„… ich habe Angst, seit Monaten schon, eine ganz gemeine Angst. Verfolgt werden ist kein Spaß. Und es wird immer schlimmer statt besser. Wie wird es enden? Ja, was ist denn bis jetzt geschehen? Eigentlich nichts. Ich lebe sozusagen friedlich in einer kleinen provençalischen Stadt in einem Hotel, in einem sogar geheizten Zimmer, bekomme gutes Essen; und ich kann es ohne besondere Sorge bezahlen. Früher hätte ich das wahrscheinlich ideal gefunden.

Nun gibt es eben etwas, was man ‚Ausweisung‘ nennt, nicht nur aus irgendeiner Stadt, was fast jedem Fremden im neuen Frankreich irgendwann einmal geschieht, sondern: des Landes verwiesen. Kein Mensch sagt einem, warum. Man hat friedlich gelebt, hat dieses Land wie eine zweite Heimat geliebt. Aber wer fragt danach?

 Es gibt also diese Besuche von Gendarmen, die sich mit leiser Stimme nach meiner Abreise erkundigen und mit einem halb grausamen, halb entschuldigenden Lächeln von ‚Verhaftung‘ und ‚Konzentrationslager‘ murmeln.  Auch das wäre mit dem Visum für Amerika in sicherer Aussicht gar nicht so schlimm. Doch durch den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg ist alles verzögert, in Frage gestellt und die Wahrscheinlichkeit, in irgendeinem schmutzigen Winkel vor Kälte und Hunger zu verfaulen, sehr groß geworden.“[23]

Am 28. April 1944 ist es soweit: Louise Straus-Ernst wird in dem Hôtel du Nord in Manosque verhaftet.  Der von ihr so verehrte Jean Giono vermerkt dazu lapidar in seinem Journal:

„Heute Nacht hat man Madame Ernst in ihrem Hotel verhaftet. Hier ist gestern scheinbar auch ein Jude mit Maschinengewehrfeuer getötet worden. Grau schimmerndes Wetter. Frühling. In Richtung Rhone ist der Himmel zwielichtig.“[24]

 Über Marseille wird Luise Straus-Ernst in das Sammellager Drancy bei Paris gebracht.

Blick auf die heutige Gedenkstätte des ehemaligen Lagers Drancy. Foto: Wolf Jöckel
Zellenangabe für Louise Straus-Ernst, Drancy Mai 1944[25]

Am 30. Juni 1944, da waren die Alliierten schon in der Normandie gelandet und das Ende des Krieges war in greifbare Nähe gerückt, werden 1156 Insassen des Lagers mit Autobussen zum Bahnhof Bobigny transportiert und dort in bereitstehende Güterwagen verladen. Vier Tage später, am 4. Juli 1944, erreicht der Zug Auschwitz. Bei der Selektion an der berüchtigten Rampe wird die schwer erkrankte Luise Straus-Ernst mit 534 anderen Menschen des Transports sofort in die Gaskammern getrieben und umgebracht.[26]

Heute erinnert noch ein Stolperstein in der Kölner Emmastraße 27 an Luise Straus-Ernst.[27]

In Manosque ist eine Straße nach ihr benannt. Und auf dem jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd gibt es einen Erinnerungsvermerk auf dem Familiengrab.[28]

Und jetzt endlich ist der „Zauberkreis Paris“ einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er entwirft nicht nur ein Bild der deutsche Emigration in Paris, sondern trägt auch dazu bei, die Erinnerung an Luise Straus-Ernst, diese außerordentliche Frau, wachzuhalten, in deren Leben und Tod sich ein tragisches Stück deutscher Geschichte spiegelt: Vom kulturellen Aufbruch der 1920-er Jahre hin zum Zivilisationsbruch des nationalsozialistischen Deutschlands. Beides hat sie intensiv gelebt und erlitten.

Dies ist ein Beitrag von Wolf Jöckel aus https://paris-blog.org/ . Sollte er unter dem Autorennamen Paul Lucas auf der Seite  https://www.voyages-en-patrimoine.com/ veröffentlicht werden, handelt es sich um einen Akt der Piraterie und um einen eklatanten Verstoß gegen das Urheberrecht.

Literatur:

Luise Straus-Ernst, Zauberkreis Paris. Roman aus dem Exil. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Armin Strohmeyr. Konstanz: Südverlag 2022

Louise Straus-Ernst, Nomadengut. Materialien zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben  von Ulrich Krempel. (Mit einem Nachwort von Ulrich Krempel: Lou Straus-Ernst: Ein Leben- revidiert).  Sprengel-Museum Hannover 1999

Annette Bußmann, Luise Straus-Ernst. In: Frauen Biographieforschung  (mit ausführlicher Bibliographie) https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/luise-straus-ernst/

A. Krätz, Luise Straus-Ernst – das bewegte Leben einer Kölnerin  https://museenkoeln.de/portal/bild-der-woche.aspx?bdw=2021_10

Eva Weissweiler, Notre Dame de Dada. Luise Straus-Ernst – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016

Lutz Winkler, Louise Straus-Ernst: Zauberkreis Paris. Erfahrung und Mythos der „großen Stadt“.  In: Frauen und Exil. Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Exilforschung Band 11 1993.  München: edition text + kritik

Verpasster Frühling. Leben und Sterben der Luise Straus-Ernst. Ein Feature von Eva Weissweiler.  © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017  https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-kulturfeature/luise-straus-ernst-116.pdf

Sollst je du sollst du Schwänin auf dem Ozean : Hommage an Lou Straus-Ernst ; 1893 Köln – 1944 Auschwitz / von Ute Remus. Es sprechen Ute Remus u.a. Realisation Joachim Schmidt v. Schwind. CD und Booklet Köln 2003


Das deutsche Exil in Paris und Frankreich war schon wiederholt Gegenstand dieses Blogs . Siehe dazu die Beiträge über Heinrich Heine und Ludwig Börne, die im 19. Jahrhundert in Paris Zuflucht vor der Repression im Deutschland des Vormärz gesucht haben.

Und dann war es der Nationalsozialismus, dessen Rassenwahn und  Unterdrückung Andersdenkender Menschen ins Exil trieben. Und das bevorzugte Land, in dem sie Schutz suchten, war wiederum Frankreich.

Anmerkungen

[1] Winckler, Louise Straus-Ernst: Zauberkreis Paris, S. 89

[2] Die Liste prominenter internationaler Stammgäste des Dôme ist lang. Dazu gehörten auch Wilhelm Uhde,  Otto Freundlich und Max Ernst…

[3] Weissweiler, S. 240

[4] Lutz Winkler, Seite 89f

[5] Siehe: Eva Weissweiler, Notre Dame de Dada, S. 98/100

[6] Bild aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Luise_Straus-Ernst

[6a] Zu Rosa Bonheur siehe z.B. Franz Zelger, „Ich habe keine Geduld mit Frauen, die zum Denken um Erlaubnis bitten.“ In: Neue Züricher Zeitung vom 16.3.2022

[7] Siehe dazu auch: Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939. FFM: S. Fischer 2021, S. 60f

[8] Bild aus: Nomadengut, S. 135 (auch Umschlagfoto des Buchs) und Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 59

[9] Nomadengut, S. 137/138

[10] Nomadengut, S. 142/143/144

[11] Bild aus: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/luise-straus/DE-2086/lido/57c95809e63620.22455007 Auch in: Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 177

[12] Louise Straus-Ernst, Nomadengut, S. 147; siehe auch: Winckler, S. 89.  Es gibt dort auch eine Erinnerungsplakette für Rilke https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Plaque_Rainer_Maria_Rilke,_11_rue_Toullier,_Paris_5e.jpg

[13] Strohmeyr, Nachwort zu „Traumland Paris“, S. 172/174 Zur Beziehung mit Fritz Neugass siehe Eva Weissweiler, Notre Dame de Dada, S. 250f

[14] Aus: Nomadengut, S. 235

[15] Zitiert in Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 176

[16] Aus: Nomadengut, S. 236/237

[17] Zitiert in Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 105

[18] Armin Strohmeyr, Nachwort zu „Zauberkreis Paris“, S. 169

[19] Winckler, Louise Straus-Ernst: Zauberkreis Paris, S. 91/92

[20] Nomadengut, S. 200/201.

[21] Siehe: https://paris-blog.org/2016/04/18/exil-in-frankreich-sanary-les-milles-und-marseille/

[22] Strohmeyer, Nachwort a.a.O., S. 180/181

[23] Aus: Nomadengut, S. 211

[24] Zit.Strohmeyer, Nachwort a.a.o., S. 181

[25] Bild aus: Nomadengut, S. 209

[26] Strohmeyr, Nachwort „Zauberkreis Paris“, S. 181/182

[27] https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Stolpersteine_K%C3%B6ln,_Dr._Louise_Straus-Ernst_(Emmastra%C3%9Fe_27).jpg  © 1971markus@wikipedia.de /

[28] Luise Straus-Ernst – Erinnerungsvermerk auf dem Familiengrab im Jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd (Flur 8 Nr.1-3)  https://de.wikipedia.org/wiki/Luise_Straus-Ernst#/media/Datei:Luise_Straus-Ernst_-_Familiengrab.jpg

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Der König der Tiere: Das Labyrinth und die Menagerie Ludwigs XIV. im Park von Versailles