Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely im Grand Palais (Juni 2025 bis Januar 2026)

Anders als Maximilien Luce, dem der letzte Pariser Ausstellungsbericht gewidmet war, müssen Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely nicht vorgestellt werden. Die Frage ist hier eher, ob es sich denn lohnt, diese Ausstellung zu besuchen, auch wenn man viele Werke der beiden schon kennt. Für mich gibt es vier Gründe, die dafür sprechen:

  • Ort der Ausstellung ist das Grand Palais, erbaut für die Weltausstellung von 1900.  Nach langen Renovierungsarbeiten wurde es für die Olympischen Spiele 2024 in Paris wieder eröffnet. Die Ausstellung bietet also die Möglichkeit, einen Eindruck von dem „neuen“ Grand Palais zu erhalten. Allerdings findet sie leider nicht im großen zentralen Raum unter der gläsernen Kuppel statt, sondern in einem Seitentrakt.
  • In der Ausstellung geht es nicht nur um Saint Phalle und Tinguely, sondern auch um den weniger bekannten Pontus Hulten.  den ersten Direktor des Centre Pompidou, der die beiden Künstler nach Kräften förderte und dazu beitrug, dass Paris zu einem Zentrum des Arbeitens, Schaffens und der Präsentation von Werken Saint Phalles und Tinguelys wurde. Auch insofern war die Ausstellung -für uns jedenfalls- eine Bereicherung.
  • Es gibt eine Reihe von Exponaten Niki de Saint Phalles, die man vielleicht schon kennt, aber gerne wieder sieht.
  • Und es gibt ganz besondere, höchst phantasievolle und mächtige Maschinen und Installationen Tinguelys, die man hier sogar in Betrieb beobachten kann.

Ausschnitt eines Werbeplakats in der Pariser Metro

Ein erster Eindruck vom neuen Grand Palais

Der frisch herausgeputzte Brunnen vor dem Eingang zur Ausstellung

Das neue Foyer mit Boutique und Zugang zu den verschiedenen Ausstellungen

Der Glanz der Belle Époque…

… an dem stellenweise aber noch gearbeitet wird…

Die mächtige Glaskuppel im zentralen Raum des Grand Palais beeindruckt wieder wie ehedem.

Pontus Hulten, Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle

Der Schwede Pontus Hulten (1924-2006) war von 1977-1981 der erste Direktor des Musée national d’art moderne im Centre Pompidou, zuvor seit 1958 Direktor des neu geschaffenen Moderne Museet in Stockholm. 1954 hatte er Jean Tinguely in Paris kennengelernt, 1960 auch dessen neue Partnerin Niki de Saint Phalle. Hulten unterstützte und ermutigte die Beiden nach Kräften, kaufte Werke von ihnen, organisierte Ausstellungen: Am spektakulärsten die Stockholmer Ausstellung „Hon- en katedral“- eine riesige, auf dem Rücken liegende Nana, die das Publikum betreten konnte…

Im Grand Palais ist ein kleines Modell dieses skandalträchtigen Werkes ausgestellt. Es wird auch das Plakat einer Niki de Saint Phalle-Ausstellung in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle gezeigt.

Es ist versehen mit einer Widmung für Pontus Hulten:  mit großer Zuneigung und Dankbarkeit dafür, dass er sie die letzten 32 Jahre lang unterstützt habe. Besonders hebt sie ihre von Hulten organisierte erste öffentliche Schieß-Aktion in Stockholm hervor. Mit ihren Schießbildern (siehe unten auf dem Plakat: shooting paintings) wurde Niki de Saint Phalle ja berühmt. Und Hulten habe La Hon ausgestellt und wichtige Werke wie den -im Grand Palais gezeigten-  King Kong gerettet.

Niki de Saint Phalle: Liebe, Spiel und Gewalt

Hier möchte ich vor allem zwei ausgestellte Werke vorstellen, die mich besonders beeindruckt haben:

Das Künstlerbuch My Love aus dem Jahr 1971 ist ein entzückend illustriertes Leporello, in dem das ganze Spektrum von Niki de Saint Phalles Farben und Formen versammelt sind.

Natürlich denkt man beim Betrachten der Bilder unwillkürlich an ihre Beziehung mit Jean Tingely.

Niki de Saint Phalle und Tingeley hatten  sich zwar 1969 getrennt, arbeiteten aber weiter eng zusammen und heirateten 1971, im Erscheinungsjahr von My Love, und übernahmen damit Verantwortung für die Bewahrung des gemeinsamen künstlerischen Erbes.  

Diese verspielte leuchtende Figur Niki de Saint Phalles (sans titre, um 1980) gehörte zur privaten Sammlung Hultens. Die vermachte er kurz vor seinem Tod zum Teil dem Moderna Museet, wie diese Figur aus Hultens Badezimmer, und zum Teil dem Centre Pompidou.

Le Monstre de Soisy (um 1966) ist benannt nach Soisy-sur-École (Essonne), wo Niki de Saint Phalle und Jean Tingely ein Haus und Atelier bezogen, nachdem sie ihr Pariser Atelier im Impasse Ronsin verlassen mussten. Später schmückte das Ungeheur den Salon im Haus Pontus Hultens an der Loire, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Kurz vor seinem Tod schenkte er es dem Centre Pompidou.

Monster/Ungeheuer spielen im Werk Niki de Saint Phalles eine große Rolle – auch im My love-Leporello gibt es ein menschenfressendes Ungeheuer, das dort allerdings seine Beute wieder ausspuckt…

In Niki de Saint Phalles monumentalem Werk King Kong (1962) gibt es kein Entrinnen. Es thematisiert den nuklearen Holocaust, das Ende der menschlichen Zivilisation.

Der Name des Ungeheuers, King Kong, verweist auf den Film von 1933 und die mit Hasendraht überzogene Käfig-artige Hochhauskulisse, über die er sich hermacht, auf New York.

Ganz unverkennbar handelt es sich hier um ein Schießbild: Niki de Saint Phalle hatte bei diesen Bildern Farbbeutel unter einem Gipsüberzug angebracht. Beim Beschießen des ursprünglich weißen monochromen Werkes platzten dann die Farbbehälter auf und die Farben liefen über das Relief.

Zusammen mit dem urtümlichen King Kong sind es moderne Flugzeuge und Raketen, die die Stadt angreifen- ein durchaus realistisches Szenario nach der Kubakrise von 1961, als die Welt am Rand eines Atomkriegs stand.

Diesen Bezug stellt Niki de Saint Phalle ganz deutlich her: Integriert in das King Kong-Relief sind die Köpfe/Masken von -männlichen- Staatsmännern wie Nikita Chruschtschow, Fidel Castro und John F. Kennedy, den Protagonisten der Kuba-Krise. Damals wurde der große Krieg gerade noch vermieden, aber beim Betrachten des Werks kommt einem wohl unwillkürlich auch 9/11 in den Sinn, und gerade derzeit werden wir ja Zeugen grauenhafter Kriege mit großen Zerstörungen und unermesslichem menschlichen Leid. Insofern hat Niki de Saint Phalles King Kong eine anhaltende bedrückende Aktualität, und es fällt nicht schwer, sich eine entsprechend erweiterte Reihe von Staatsmänner-Masken vorzustellen … 

Niki de Saint Phalle, eher bekannt für ihre lebenslustigen bunten Nanas,  betrachtete King Kong als eines ihre wichtigsten Werke. Mit zwei ausdrücklich so bezeichneten Vorarbeite hat sie das große Relief vorbereitet: Mit den heads of state (study for King Kong) und mit dem Tyrannosaurus Rex (study for King Kong).

© Photographic credit: Fondation Gandur pour l’Art, Genève. Photographer: André Morin © 2024, ProLitteris,   Zurich

Die intensive Beschäftigung mit dem Thema der Gewalt, wie sie sich gerade auch in den übermächtigen Gestalten des King Kong und des Tyrannosaurus Rex ausdrückt, hatte für Niki de Saint Phalle auch eine ganz persönliche Dimension:  Als Kind wurde sie von ihrem Vater sexuell missbraucht, und so war die Kunst für sie -mit ihren eigenen Worten- „Erlösung und Notwendigkeit.“

Die phantastischen Maschinen von Jean Tinguely

Die Ausstellung bietet einen eindrucksvollen Überblick über das Werk von Jean Tinguely. Dazu gehört auch eine entzückende Hommage an Wassily Kandinsky, die auch aus der Tinguely-Sammlung Hultens stammt.

Jean Tinguely, Méta-Kandinsky I (1956), auch Wundermaschine genannt.

Am eindrucksvollsten in der Ausstellung ist aber wohl für Präsentation großer Maschinen:  

Dies ist die eine Ball-Transport- und Wurfmaschine: Rotozaza I aus dem Jahr 1967.  Es ist, nach der beigefügten Informationstafel, „eine verschlingende Maschine, die den Produktionsprozess pervertiert, da sie mit Ballons gefüttert wird, die sie wieder ausspuckt. Sie ist spielerischer Ausdruck der Kritik Tinguelys am kapitalistischen System und seines anarchistischen und rebellischen Geistes. Damit richtet sie sich besonders an Kinder, die für Tinguely seine beliebtesten Adressaten (public préféré) waren.“ Leider war diese Maschine nicht in Betrieb: Kinder hätten sicherlich eine große Freude daran gehabt, die Maschine mit den ausgeworfenen Bällen zu füttern…

Dafür allerdings war dieses gewaltige Fahrzeug im Centre  Pompidou aufgebaut und auch in regelmäßigen Abständen im Betrieb zu sehen  und zu hören:

Auf diesem Foto sieht man Jean Tinguely neben der Maschine (Meta 3, 1970/1971) im gemeinsamen Atelier in Dannemois, Essonne (Foto)

… und hier im Grand Palais.

In regelmäßigen Abständen wird das Ungetüm in Bewegung gesetzt: Ein eindrucksvolles, lautstarkes Schauspiel, das man nicht versäumen sollte.

Im Hintergrund an der Wand eine Vitrine mit Modellen zum Strawinsky-Brunnen. (siehe unten)

End- und wohl auch Höhepunkt der im Grand Palais präsentierten Werke Tinguelys ist seine spektakuläre Hölle (L’enfer, un petit début) aus dem  Jahr 1984.

Es ist eine einen ganzen großen Raum ausfüllende Installation aus verschiedensten Materialen und Objekten, die mit mehreren Elektromotoren in Bewegung versetzt werden und auch die verschiedensten Geräusche erzeugen. Das Centre Pompidou kaufte das in immer neuen Variationen verschiedentlich ausgestellte Werk anlässlich einer Retrospektive Tinguelys 1990 auf.

… wasserspeiende Pinguine…

… bunte, blinkende Jahrmarkts-Lampen….

der präparierte Schädel eines Elches: Wie die Totenschädel Symbole des uns angrinsenden Todes („la mort qui nous fait des grimaces“).

Gemeinsame Projekte:  Der Strawinsky-Brunnen und der Cyklop

In Paris und seinem Umland gibt es zwei monumentale gemeinsame Projekte von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely: Den Strawinsky-Brunnen am Centre Pompidou und den Cyklop im Wald bei Milly-la-Forêt.

Der wunderbare Strawinsky-Brunnen aus dem Jahr 1983 spielt in der Ausstellung nur eine Nebenrolle. Das beruht darauf, das Pontus Hulten bei seiner Errichtung keine Rolle gespielt hat. Initiator des Brunnens war Pierre Boulez, der dabei von Claude Pompidou, der Frau des damaligen Premierministers, und von Jacques Chirac, dem damaligen Bürgermeister von Paris, unterstützt wurde. Zunächst ging der Auftrag für den Brunnen allein an Tinguely, der aber darauf bestand, dass auch Niki de Saint Phalle beteiligt wurde.

In der Ausstellung im Grand Palais sind immerhin in einer Vitrine einige Modelle von Brunnenfiguren ausgestellt:

Der „obligatorische“ Totenkopf: Planskizze und Ausführung

Ende der 1960-er Jahre entwickelte Jean Tinguely zusammen mit Niki de Saint Phalle und dem Schweizer Künstler Bernhard Luginbühl den geradezu wahnwitzigen Plan, bei Milly-la-Forêt, am Rande des Waldes von Fontainebleau, insgeheim, abseits der Öffentlichkeit, den monumentalen Kopf ein gewaltigen Monsters, zu errichten. 25 Jahre lang dauerten die Arbeiten, bis das einäuige Ungeheuer, „sicherlich das Werk seines Lebens“ (F. Taillade) fertig war. Insgesamt fünfzehn befreundete Künstler hatten dabei mitgewirkt. Sein Name -nach der Figur in Homers Odyssee: Cyklop.

In den 1980-er Jahren wurde das im Entstehen begriffene Werk Opfer des Vandalismus. Die Künstler schenkten es daraufhin dem französischen Staat, der die Verantwortung für seinen Schutz, seine Fertigstellung und seinen Betrieb der Gesellschaft Le Cyclop übertrug, deren erster Präsident Pontus Hulten war. Nach dem Tod Tinguelys waren es Niki de Saint Phalle und Hulten, die entsprechend den Plänen Tinguelys das Werk vollendeten. 1994 wurde der 22 ½ Meter hohe und 350 Tonnen schwere Koloss von Präsident Mitterand eingeweiht.

In der Ausstellung sind Entwurfszeichnungen Tinguelys zu sehen.

Auch ein Modell des Cyklopen aus Metall und Glas ist ausgestellt.

Vielleicht animiert die Ausstellung dazu, sich den Cyklopen an Ort und Stelle anzusehen. Es ist ein außergewöhnliches Gesamtkunstwerk, das man im Rahmen von Führungen betreten und besteigen kann. Es gibt viel zu entdecken! Und dann setzen sich auch mit ohrenbetäubendem Lärm die Maschinen in Bewegung…

Nähere Informationen: https://www.millylaforet-tourisme.com/fr/fiche/704420/le-cyclop/ 

Bild des Monats September 2025: Bloquons tout!

Diese Parole auf dem Bürgersteig in der Nähe unserer Wohnung war alles, was wir direkt von dem über die sozialen Medien verbreiteten Aufruf zur Totalblockade des Landes mitbekommen haben. Und in der Tat haben sich die durch die Erinnerung an die massenhafte Gelbwesten-Bewegung der Jahre 2018/19 genährten Befürchtungen nicht bewahrheitet. Es gab in Paris zwar eine kurze Blockade des Autobahnrings, des Boulevard Périphérique, und den Versuch einer Blockade des Nordbahnhofs, aber insgesamt wurde das Leben in der Stadt kaum beeinträchtigt.

Weit spürbarer ist allerdings in Frankreich die derzeitige politische Blockade mit einer Serie von Regierungskrisen und -wechseln, wie sie in der 5. Republik de Gaulles bisher unbekannt waren. In einer Karikatur von Le Monde vom 10.9. ist es gerade Macron, der für die politische Blockade des Landes verantwortlich gemacht wird: „Ich habe mich schon der Sache angenommen“ ruft er den Blockierern zu. Das bezieht sich wohl auf die von ihm 2024 verfügte Auflösung der Nationalversammlung mit anschließenden Neuwahlen, die zu einer gegenseitigen Blockade von drei Parteigruppierungen (linksaußen/links, Mitte/rechts, rechtsaußen) führte. Die sind zwar zum Teil wenig homogen, aber einig in ihrem Unwillen bzw. ihrer Unfähigkeit, Kompromisse einzugehen und so für stabile Regierungsverhältnisse zu sorgen. Um die herzustellen, zukünftige massenhafte „Bloquons-tout“-Bewegungen zu verhindern, aber auch um die öffentlichen Finanzen nicht weiter völlig aus dem Ruder laufen zu lassen, wird Macrons Ziehsohn Lecornu wohl einen deutlichen Politikwechsel („rupture“) vollziehen müssen, wie er ihn auch schon angekündigt hat.

Auf dieser Karikatur von Libération (12.9.) probt Lecornu schon mögliche Avancen an die Sozialisten. (Links im Hintergrund der Vorsitzende der Sozialisten Faure und der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten in der Nationalversammlung Vallaud)

Die für die Duldung einer Minderheitsregierung durch die Sozialisten erforderlichen Maßnahmen müssten wohl drei Bereiche betreffen:

  • Der Verzicht auf die von Bayrou geplante und unpopuläre Abschaffung von zwei gesetzlichen Feiertagen: den Pfingstmontag und den 8. Mai (Ende des Zweiten Weltkriegs/Sieg über Nazideutschland).
  • Eine Rücknahme der höchst umstrittenen, aus deutscher Sicht aber immer noch komfortablen Rentenreform von 2023
  • Die Einführung einer „Reichensteuer“, wie sie der französische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman vorgeschlagen hat und wie sie von den Sozialisten gefordert wird: Besteuerung von Vermögen über 100 Millionen Euro, um die zunehmende Spaltung der französischen Gesellschaft zumindest abzuschwächen. Nach aktuellen statistischen Erhebungen ist das Niveau der Ungleichheit in Frankreich gegenwärtig so hoch wie nie in den letzten 30 Jahren. (Le Monde 11.9.) Ein Allheilmittel gegen das von der Regierung Bayrou auf 44 Mrd Euro bezifferten Haushaltsdefizits wäre die taxe Zucman mit geschätzten Einnahmen von 5- 20 Mrd Euro zwar nicht; aber sie würde dem weit verbreiteten und zutreffenden Gefühl steuerlicher Ungerechtigkeit Rechnung tragen: Tendenziell nimmt mit steigendem Vermögen die prozentuale steuerliche Belastung ab, und die von Zucman vorgeschlagene Besteuerung von 2 % würde nach seinen Berechnungen nur weniger als ein Drittel des durchschnittlichen Zuwachses der betroffenen Vermögen in den letzten Jahren betreffen.

Allerdings war gerade die Abschaffung der Vermögenssteuer eine der ersten Maßnahmen Macrons in seiner ersten Amtszeit. Vorsichtige Ansätze zur Einführung eines Solidarbeitrags der in Frankreich sehr präsenten Superreichen, wie sie Lecornu’s Vor-Vorgänger Barnier ins Auge gefasst hatte, waren von Macron blockiert worden. Und gerade die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf im Allgemeinen 64 Jahre war ein zentraler Bestandteil der Innenpolitik Macrons: unklar also, ob er eine weitere Defizite schaffende Demontage dieses zentralen Reformprojekts tolerieren würde…

Für den 18. September ist eine große Streikbewegung in Frankreich angekündigt. Die bezog sich ursprünglich auf Bayrous Pläne zur Senkung des exorbitanten französischen Haushaltsdefizits, wird nun aber als Warnung an eine neue Regierung dienen. Und da wird die Mobilisierung sicherlich deutlich massiver sein als am 10.9. und die Blockaden (Verkehr, Schulen, Krankenhäuser etc) sicherlich deutlich effizienter… „La France en colère“, das zornige Frankreich, wird sich jedenfalls nicht mit der Rolle eines passiven Zuschauers begnügen…

Der Skulpturenpark von Chaumont-sur-Loire

Das Schloss von Chaumont-sur-Loire gehört eher nicht zu den „ersten Adressen“ unter den Schlössern der Loire wie Chambord, Villandry, Chenonceau oder Azay-le-Rideau. [1] Es ist gleichwohl ein wunderbarer, hoch über der Loire gelegener Bau.

Gebaut wurde das Schloss um 1500 von der einflussreichen Familie d’Amboise. Das war die Zeit von König Ludwig XII., und darauf verweist dessen Wappen, das gekrönte Stachelschwein, am Eingang des Schlosses.

Eine große Rolle in der Geschichte des Schlosses spielte auch Catharina von Medici, die Frau von König Heinrich II. Sie kaufte das Schloss 1550. Als 1559 ihr Mann starb, wurde sie Regentin Frankreichs. Sie nutzte ihre Macht, von Diane de Poitiers, der von ihr gehassten schönen Geliebten ihres Mannes, die Herausgabe des königlichen Schlosses von Chenonceau zu verlangen. Das hatte Henri II Diane geschenkt. Als „Trostpreis“ erhielt sie dafür immerhin das Schloss von Chaumont-sur-Loire, das seine heutige Gestalt wesentlich ihr verdankt.

1875 kaufte Marie-Charlotte-Constance Say, die reiche Erbin der Zuckerraffinerien Say, das Schloss und wurde durch Heirat eine Prinzessin de Broglie. Die Broglies renovierten und modernisierten ihren Besitz beträchtlich und sie ließen in den 1880-er Jahren den großen Schlosspark anlegen, der heute die besondere Attraktion von Chaumont-sur-Loire ausmacht. Das vor dem Schloss liegende Gelände wurde gekauft, die dort stehenden Häuser abgerissen und das Dorf an das Ufer der Loire verlegt. So war genügend Platz für einen großen Landschaftsgarten. [1a] 1938 übernahm der Staat Schloss und Garten. Inzwischen gehören sie der Region Centre – Val de Loire, unter deren Regie die Anlage zu einem Kunst- und Gartenzentrum entwickelt wurde.

Es gibt vor allem den historischen Park (parc historique), auf dem Plan rechts, die Prés du Gualoup, auf dem Plan links unten, und die Jardins du Festival, auf dem Plan links: In Chaumont-sur-Loire findet jedes Jahr ein Gartenfestival statt (Festival international des jardins), das in diesem Jahr unter dem Motto „Il était une fois au jardin“ steht: Die insgesamt 25 kleinen Gärten des dem Festival gewidmeten Arreals haben also einen Bezug zu Märchen aus aller Welt.

Es ist völlig unmöglich, diese Gärten und dazu noch das Schloss mit seinen Nebengebäuden (vor allem die berühmten Pferdeställe) an einem Tag zu anzusehen. Wir haben deshalb -es ist unser erster Besuch in Chaumont- entschieden, uns auf den sogenannten historischen Garten zu konzentrieren. Dies auch deshalb, weil es in diesem Gartenbereich Skulpturen einer Künstlerin und eines Künstlers gibt, die wir ganz besonders schätzen, nämlich Eva Jospin und Miquel Barceló. Deren Beiträge zum Skulpturenpark von Chaumont-sur-Loire wollten wir unbedingt sehen.

Nachfolgend ein kleiner Rundgang durch den Garten mit Fotos von ausgewählten Skulpturen und dabei natürlich vor allem den ganz besonders eindrucksvollen von Jospin und Barceló.

Nicolas Alquin, Bois révélés. (Grange aux Abeilles)

Christian Lapie, La  constellation du fleuve

Im Hintergrund der homme sauvage von Denis Monfleur

Etwas versteckt in einem Gehölz in der Mitte des historischen Gartens befindet sich die Grotte Chaumont von Miquel Barceló. Wir kennen und schätzen Barceló von unseren Besuchen in der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles.

Dort gehören zwei seiner Werke zum festen Bestand: Ein grandioses Unterwasserpanorama und ein sagenhaftes Ungeheuer am Eingang der Villa. [2]

Barcelós 2024 entstandene Chaumont-Grotte sieht auch eher aus wie das weit aufgerissene Maul eines Ungeheuers, eines riesigen gefräßigen Fisches.

Die Zähne des Monsters aber sind wie Stalaktite einer Eiszeithöhle.

Und dazu passt die Zeichnung eines Höhlenlöwen…. Barceló gehörte übrigens der wissenschaftlichen Kommission an, deren Aufgabe es war, nach dem sensationellen Fund der grotte Chauvet-Pont d’Arc (Ardèche) ein originalgetreues Duplikat der Höhle herzustellen.

Nebeneinander: Fisch und Schädel, Leben und Tod. Und der rote Tuchfetzen in den Zähnen des Ungeheuers? Im Begleittext zu der Skulptur wird dazu auf Pieter Lastmans 1621 entstandenes Gemälde Jonas und der Wal verwiesen. [3]

Da entkommt Jonas unversehrt aus dem riesigen Maul des Wals, und höchstens sein blutrotes Tuch bleibt zurück…

Dieser optimistischen Botschaft schien auch das Rotkehlchen zuzuneigen, das sich unerschrocken und neugierig direkt neben dem Höhleneingang auf der Absperrungs-Kordel niedergelassen hatte.

Im Park gibt es immer wieder Ausblicke auf das Schloss. Hier mit Anastazia von Ursula von Rydingsvard im Vordergrund.

Anastazia: Detail

Nikolay Polisky, Les Racines de la Loire

Der freundliche Drache ist aus mehreren hundert alten Weinstöcken zusammengesetzt.

Lionel Sabatté, Chemins croisés. Dahinter eine der Baumhütten (Cabanes dans les arbres) von Tadashin Kaaawamata. Es gibt im Park mehrere Exemplare.

François Méchain, l’Arbre aux Echelles. Méchain hat mehrere Leitern in dem Baum befestigt, die allerdings keinen Kontakt zum Boden haben und sich deshalb auch leicht im Wind bewegen können. Die Installation bezieht sich auf Italo Calvinos Roman Der Baron auf den Bäumen.

Éva Jospins Folie ist für uns ein Höhepunkt des historischen Parks. Ihr im letzten Jahr in der Orangerie von Versailles ausgestelltes Natur- und Architekturpanorama [4] hat uns sehr begeistert, so dass wir auf ihren Beitrag für den Park von Chaumont-sur-Loire besonders gespannt waren.

Hier hat sie ein geheimnisvolles monumentales Werk geschaffen, eine Folie oder fabrique de jardin, wie sie in Landschaftsgärten üblich waren als Blickfang und anregende Stationen auf einem Spaziergang. [5] Ganz untypisch für sie handelt es sich nicht um ein filigranes Werk und zum ersten Mal hat sie hier auch nicht mit ihrem Lieblingsmaterial, dem Karton, gearbeitet, sondern mit massiven Materialien wie dem Beton. Bei der Betrachtung der Außen- und Innenwände drängen sich Assoziationen auf zu den Versteinerungen, die ja gerade im Gebiet der Loire besonders häufig anzutreffen sind.

Der Raum innen wird durch ein Öffnung in der Decke erhellt.

An den Rändern hängen feine wurzelartige Gespinste herab, wie man sie von Jospins Gestaltung der neuen Métro-Station Hôpital-Bicêtre der Pariser Metro-Linie 14 kennt.

Detail der von Eva Jospin gestalteten Außenwand der Metro-Station Hôpital-Bicêtre

Ein Stück Wand des Innenraums der Folie im Park von Chaumont-sur-Loire

Inzwischen ist die Natur dabei, das Bauwerk zu überwuchern und in ihren Besitz zu nehmen. Dabei können sich ganz überraschende Perspektiven ergeben.

Hier kann man sich den Kopf eines grimmig blickenden Tieres vorstellen und darüber einen von Ranken und abgestorbenen Blättern gebildeten Totenkopf.

Ulrich Schläger hat dies an den  Sacro Bosco des Fürsten Vicino Orsini in Bomarzo erinnert, „wo die Monster auf Schritt und Tritt lauern,  wo Fürchten und Staunen die beherrschenden Gefühle sind, wo die steinernen Figuren, von Moos und Flechten überzogen, im Laufe der Jahrhunderte so vollständig zur Natur zurückkehren, dass sie jetzt aussehen, als wären sie vor Urzeiten gemeinsam mit den Bäumen gewachsen oder aus dem Boden gekrochen. Wo ist man hier? Vielleicht im Kopf eines Verrückten, der den Figuren seiner Albträume eine steinerne Form gegeben hat?  Vieles bleibt trotz komplizierter und weit ausholender  Interpretationen rätselhaft, wie das Leben des Menschen, das ja auch voller  ungelöster Rätsel ist.

TU CH’ENTRI QUI CON MENTE PARTE A PARTE ET DIMMI POI SE TANTE MARAVIGLIE SIEN FATTE PER INGANNO O PUR PER ARTE.

»Du, der du hier eintrittst, betrachte alles  Stück für Stück und sag mir dann, ob so viel Wundersames zur Verwirrung gemacht wurde oder nur für die Kunst?« (Fürst Vicino Orsini)

Und dann ist es auch die Natur selbst, die im Park ihre Kunstwerke schafft…

Nach einer kleinen Mittagspause im Café du Parc werfen wir einen Blick in den Prés du Goualoup.

Die stählernen Bögen von Bernar Venet

Marc Nucera, Bancs Sculptés et Fruits fantastiques

Ein Blickfang sind auch die Pflanzenwände (murs végétaux) des Biologen und Gartenarchitekten Patrick Blanc. Er gilt als der Erfinder solcher Wände und hat sie in Frankreich und besonders in Paris populär gemacht. Die Pflanzenwand der Fondation Cartier und die des Musée du quai Branly in Paris wurden von ihm gestaltet.

Frösche fühlen sich gerade in den Zeiten großer Hitze hier sehr wohl…

Andy Goldsworthy, Cairn. [6] Der aus Steinen zusammengefügte Kegel ruht in den ausgetriebenen Ästen einer abgeschnittenen Platane. Allmählich und immer mehr gehen auch hier Kunstwerk und Natur eine reizvolle Verbindung ein.

Vom nördlichen Rand des historischen Parks, in dem auch Goldworthy’s Cairn steht, hat man schöne Ausblicke ins Tal der Loire.

Dies sind drei auf dem Heck stehende Boote: traditionelle gabarres mit niedrigem Tiefgang zum Transport von Menschen und Waren auf der Loire. Eine Installation von El Anatsui.

Manchmal allerdings ist der Wasserspiegel der Loire so niedrig, dass selbst diese -für touristische Zwecke nachgebauten- speziellen Loire-Boote nur begrenzt fahrtüchtig sind.

Auch das Schloss wird für Ausstellungszwecke genutzt.

Die in den Jahren 1498-1511 errichtete Schlosskapelle wurde in diesem Jahr von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger ausgeschmückt: Les pierres et le printemps (Die Steine und das Frühjahr) nannten sie ihre Installation. Die Fenster der Kapelle stammen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hier ein Fenster mit der Abbildung eines Schlossturms:

… und zum Abschied ein letzter Blick von der Schlossterrasse auf die Loire…

Praktische Hinweise:

Chaumont-sur-Loire liegt zwischen Amboise und Blois.

Das Schloss, der historische Park und die Pferdeställe sind während des ganzen Jahres zugänglich, die Gärten des Gartenfestivals und die Prés de Goualoup bis zum 2. November 2025.

https://domaine-chaumont.fr/fr/informations-pratiques

Eintrittskarten und Preise: https://billetterie.domaine-chaumont.fr/

Anmerkungen:

[1] Auf der Seite https://loirelovers.fr/de/schonste-schlosser-loire-tal/ ist Chaumont noch nicht einmal unter den 12 schönsten  Schlössern der Loire aufgeführt.

[1a] Bei Wikipedia.de liest sich das so:  „Das Ehepaar trieb großen Aufwand, um die Schlossanlage umfassend zu restaurieren und einen Abglanz höfischen Lebens zu schaffen. Auch das Dorf profitierte davon: 1882 wurde die Kirche wieder aufgebaut, und die Bewohner erhielten große Schenkungen.“ (!) https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Chaumont (8.9.2025)

[2] Zu den Ausstellungen in der Villa Carmignac (und Miquel Barceló) siehe auch: https://paris-blog.org/2021/08/01/la-mer-imaginaire-die-jahresausstellung-2021-in-der-villa-carmignac-auf-porquerolles/

[3] Billd aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Pieter_Lastman#/media/File:Pieter_Lastman_-_Jonah_and_the_Whale_-_Google_Art_Project.jpg

[4] https://paris-blog.org/2024/08/30/versailles-ein-natur-und-architekturpanorama-eva-jospins-in-der-orangerie-von-versailles/

[5] Siehe dazu den Blog-Beitrag über den Park von Ermenoville, den ersten Landschaftsgarten auf dem europäischen Kontinent: https://paris-blog.org/2020/09/01/der-park-jean-jacques-rousseau-in-ermenonville-der-erste-landschaftspark-auf-dem-europaeischen-kontinent-und-die-erste-begraebnisstaette-rousseaus/

[6] Das schottisch-gälische Wort cairn bezeichnet auf den Britischen Inseln einen meist aus dem Neolithikum stammenden und meist aus Bruchsteinen zusammengesetzten künstlichen Hügel. Das entsprechende bretonische Wort carn (Steinmal) hat dem Ort Carnac seinen Namen gegeben.