Drancy,  das „Vorzimmer des Todes“: Durchgangslager auf dem Weg nach Auschwitz

Annette Kracjer war zwölf Jahre, als sie nach Drancy gebracht wurde. Wenige Tage zuvor hatte man sie brutal von ihrer Mutter getrennt. „Ich hatte den Eindruck in die Hölle zu kommen, die Eisengitter, der schwarze Boden, nirgends Grün, und an den Fenstern …, an diesen Doppelfenstern, wie sie heute noch da sind, diese Masse von Menschen, die uns Ankommende beobachteten.“ Philippe Allouche, Direktor der Stiftung „Mémorial de la Shoah“, ergänzt: „Dieses Gebäude, das war das „Vorzimmer des Todes“.[1]

Dieses Gebäude: Das ist die cité de la Muette, in den 1930-er Jahren ein Pilotprojekt des sozialen Wohnungsbaus in der von ökonomischen und sozialen Umwälzungen gebeutelten nördlichen Banlieue von Paris. Zu dem Projekt gehörten 10 zwei- bis dreistöckige Wohnhäuser, 5 Hochhäuser mit 14 Etagen und ein großer „cour d’entrée“ genannter Platz mit einer hufeisenförmigen Randbebauung: ein damals revolutionäres Konzept, nicht nur wegen der Größe und der Hochhäuser, sondern auch wegen des Baus mit vorgefertigten Teilen. Die Bauarbeiten ziehen sich wegen der Wirtschaftskrise der 1930-er Jahre hin und am Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Wohnungen des Hufeisens noch nicht fertiggestellt. Elektrische und sanitäre Installationen fehlten noch.

Mit Kriegsbeginn wird die Cité de la Muette, auch wenn die hufeisenförmige Anlage noch nicht fertiggestellt ist, von der republikanischen Regierung Daladier als Internierungslager verwendet: Sie bietet dafür beste Voraussetzungen: Es gibt einen großen freien Platz und eine geschlossene Randbebauung von 200 Meter Länge und 40 Meter Breite, so dass nur eine Schmalseite mit Zaun, Stacheldraht und ggf. Wachtürmen geschlossen werden muss. Interniert werden dort Kommunisten, die aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts als potentielle 7. Kolonne und damit Gefahr für die innere Sicherheit angesehen werden. [2]

Nach dem Waffenstillstand mit Frankreich wird das Lager von der Wehrmacht requiriert. Erst werden französische Kriegsgefangene dort provisorisch untergebracht, bevor sie auf Gefangenenlager in Deutschland verteilt werden, dann Briten.

Das Internierungslager für Juden

Im August 1941 wird Drancy zum Internierungslager für Juden: Nach dem Angriff auf die Sowjetunion und dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts setzt der kommunistische Widerstand ein. Für die Nazis war klar: Widerstand=Kommunisten= Juden. Am 20. August findet eine große Razzia im 11. Arrondissement von Paris statt. 4230 Juden, vor allem mit ausländischer Staatsbürgerschaft, werden verhaftet und nach Drancy gebracht, das darauf völlig unvorbereitet ist. Es fehlt an allem, es gibt Krankheiten und -zum ersten Mal wieder in Frankreich seit dem Ancien Régime- Hungertote. Man spricht auch von Drancy-la-Faim, dem Lager des Hungers. [1a] Die Lage ist so katastrophal, dass Anfang November das deutsche Militärkommando entscheidet, tausend Häftlinge zu entlassen. Die verbleibenden Häftlinge dürfen nun Päckchen erhalten, das französische Rote Kreuz ist vor Ort. Die Situation im Lager ist und bleibt trotzdem extrem schwierig. Da gibt es das Problem der ethnischen, sozialen und kulturellen Unterschiede der Häftlinge: Es gibt französische Juden mit hoher Bildung und aus gehobenen sozialen Verhältnissen. Überwiegend stammen die Häftlinge aber aus Osteuropa, ihr kultureller Hintergrund ist yiddisch, ihre Beherrschung der französischen Sprache oft nur mangelhaft. Die Gruppen sind auch in unterschiedlichen Partien des Lagers untergebracht: die einen ironisch „Champs-Élysées“ genannten Bereich, die anderen in „Belleville“ oder „Saint-Paul“, benannt nach eher proletarischen Pariser Vierteln mit starker jüdischer Präsenz. Und es gibt eine Tendenz bei den Bewohnern der „Champs-Élysées“, sich von den als lärmend, schnorrend, undiszipliniert und abscheulich angesehenen anderen abzugrenzen. Durch die Möglichkeit, Päckchen zu empfangen, werden die Gegensätze auch noch deutlicher und größer. [3]

Durchsuchung von Päckchen [4]

Die im Lager eintreffenden Päckchen sind auch Grundlage eines blühenden Schwarzmarkts im Lager. Am 16. Oktober 1941 titelt die Zeitung France-Soir: „Gibt es einen Skandal in Drancy? Im Konzentrationslager bei Paris werden alle Schwarzmarkt-Rekorde gebrochen.“ Das liegt auf der Linie der antisemitischen Propaganda der Nazis und Vichys. Außen vor bleibt dabei natürlich, dass es auch für die Eingangskontrolle der Päckchen zuständige Gendarmen gibt, die den Schwarzmarkt beliefern und davon profitieren. [5]

Und nicht zuletzt schwebt über den Lagerinsassen das Damokles-Schwert der Repressalien: Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gibt es zunehmend im Raum Paris Attentate auf deutsche Militärangehörige. Sie werden mit der Erschießung oder der Deportation zur Zwangsarbeit von Geiseln beantwortet, die vor allem unter den kommunistischen Internierten des Lagers ausgewählt wurden.[6]

Drancy August 1941

Das Transitlager

Eine entscheidende neue Etappe des Lagers beginnt mit der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Drancy spielt nun eine entscheidende Rolle bei der dort beschlossenen sogenannten „Endlösung der Juidenfrage“. Am 16./17. Juli 1942 findet in Paris und dem umliegenden Département de la Seine die große Vel d’Hiv-Razzia statt: Fast 13 000 Juden, zum ersten Mal auch Frauen und Kinder, werden verhaftet.  Drancy wird nun zum Transitlager, dem Sammelpunkt auf dem Weg in die Vernichtungslager.

Ankunft jüdischer Häftlinge in Drancy 1942 [7]

Aus;: Drancy, Zeichnungen von Internierten. Juli 1942.  Ausstellung L‘Art en guerre. Musée d’Art moderne de Paris 2012 Foto: Wolf Jöckel.

Auf Wunsch der Vichy-Regierung werden, anders als zunächst vorgesehen, auch die Kinder deportiert. Im Mai 1943 übernimmt Alois Brunner, der Abgesandte Eichmanns, das Kommando in Drancy.  Er reorganisiert das Lager, steigert noch einmal die Effizienz der Jagd auf Juden, wobei er sich auch skrupellos der Mitwirkung von Juden bedient, und den Rhythmus der Todestransporte. Selbst nach der Landung der Alliierten in der Normandie verlassen noch Konvois nach Auschwitz das Lager: Als der „Endsieg“ selbst für die Verblendetsten kaum noch zu erwarten war, wurde noch umso fanatischer an der „Endlösung“ gearbeitet…

Der Zug der zur Deportation Bestimmten zu den Bussen, die sie zu dem im Bahnhof wartenden Convoi brachten.  Zeitgenössische Zeichnung. Foto Wolf Jöckel. Aus einer Ausstellung zum 80. Jahrestag des Vel d’Hiv Pogroms 2022 am Mémorial de la Shoah in Paris

Die Convois/Züge nach Auschwitz fuhren zunächst vom Bahnhof Le Bourget ab, dann von dem noch näher gelegenen Bahnhof Bobigny, der seit 2023 Erinnerungsort an die Deportation von Juden nach Auschwitz ist.

„Meine Liebste. Hier sind wir auf dem Weg nach X. Ich habe keine Ahnung. Alle möglichen Vermutungen machen die Runde , Deutschland, Polen ebenso wie die Pyrenäen. Wir werden sehen… Es kann sehr lange dauern. Aber wir werden zurückkommen. Ich fürchte nur eines, nämlich dass es euch geht wie uns“. 27. März 1942.  Ein Zettel, der aus dem ersten Konvoi  Drancy-Auschwitz geworfen wurde.  (Briefe aus Drancy)

Für 80% der aus Frankreich deportierten Juden war Drancy das Durchgangslager, vor allem für die aus Paris und Umgebung, insgesamt 63 000. Die meisten davon wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet.[11]

Ausländische Juden, auch viele Deutsche, die in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, gehörten zu den ersten Internierten und Deportierten. Stolpersteine in Frankfurt

2009 wurden bei Renovierungsarbeiten in den  Sozialwohnungen der cité de la Muette an den  Wänden Graffiti von Häftlingen entdeckt, die 2012 im Mémorial de la Shoah Graffiti von Drancy ausgestellt wurden.[6]

„Auf die gekalkten Wände der Zimmer hatten wir Inschriften geritzt“.[7] Sarah Lichtsztejn-Montard – Convoi n° 75 du 30 mai 1944

       Mart Spindel, eingeliefert in Drancy am 27.3.1944, deportiert am 23.4.1944  

Martin Spindel wurde am 6. Oktober 1930 in Vienne (Isère) geboren. 1944 verhaftet, wurde er in Drancy interniert und am 23. April 1944 –zusammen mit den Kindern von Izieu- im Konvoi Nr. 71 nach Auschwitz –Birkenau gebracht. Informationen über das weitere Schicksal des 13-jährigen Jungen gibt es nicht. Das Foto wurde zuerst von Serge Klarsfeld in seinem Buch „Le mémorial des enfants juifs déportés de France. La Shoah en France“ Paris 2001 veröffentlicht und danach auch auf dem Cover des Buchs über die Graffiti des Lagers.

Max Lévy, Fernand Bloch und Eliane Haas,  eingeliefert in Drancy am 27.7.1944, deportiert am 27.7.1944  je reviens (ich komme zurück)  Fernand (Foto Wolf Jöckel 1919 Graffiti-Ausstellung Drancy)

Eliane Haas wurde am 4. August in Auschwitz ermordet, über das weitere Schicksal von Max Lévy gibt es keine weiteren Informationen.

Fernand Bloch wurde am 18. Juli 1944 von der faschistischen „Parti Populaire Français“ verhaftet und über Drancy nach Auschwitz deportiert. 1945 nach Dachau und Österreich verlegt, wurde er am 1. Mai 1945 von der amerikanischen Armee befreit und konnte nach Hause zurückkehren. Im Gegensatz zu den meisten seiner Schicksalsgenossen hat sich bei ihm die Hoffnung zurückkehren zu können erfüllt.

    Ein Graffiti aus dem Lager Drancy. Foto Wolf Jöckel 2019 im Mémorial de Drancy

Am 18. August 1944 wurde das Lager von Soldaten der Forces françaises de l’intérieur (FFI)  und dem amerikanischen Roten Kreuz befreit. 1380 Menschen  wurden dort noch angetroffen. Alois Brunner hatte sich gerade noch rechtzeitig, einen Tag vorher,  mit jüdischen Häftlingen, die als potentielle Geiseln dienen sollten, abgesetzt. Er wurde niemals verhaftet und zur Rechenschaft gezogen.  Im Syrien Assads soll er mit prominenter deutscher Unterstützung Unterschlupf gefunden haben und dort auch gestorben sein.[4]

Schon wenige Wochen nach der Befreiung diente Drancy zeitweise weiter als Internierungslager,  als „centre de séjour surveillé“ für tatsächliche und angebliche Kollaborateure, darunter u.a. der Regisseur Sacha Guitry und -jedenfalls für kurze Zeit- die Schauspielerin Arletty. Im Oktober 1944 waren mehr als 5000 Verdächtige in dem völlig überfüllten Lager zusammengepfercht. Im September 1945 wurde das Lager aufgelöst und die Cité de la Muette wieder zu dem gemacht, wofür sie ursprünglich geplant worden war: zu einem Projekt des sozialen Wohnungsbaus (HLM).

Foto: Wolf Jöckel

Drancy, un lieu de mémoire/ein Erinnerungsort

Foto: Wolf Jöckel

In der Cité de la Muette angebrachte Marmortafeln, die an die Verwendung des Lagers 1940 als Gefangenenlager für britische und französische Soldaten erinnern und von 1941-1944 an seine Bestimmung als Internierungslager und als Durchgangslager für die Transporte von Juden in die Vernichtungslager.

Erinnerungstafel auf dem ehemaligen Lagergelände: „Die Französische Republik ehrt die Opfer der rassistischen und antisemitischen Verfolgungen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen unter der Autorität der sogenannten Regierung des État français“ (d.h. Vichys).

Es waren zwar die deutschen Besatzer, die in Drancy das Sagen hatte: Sie waren dafür verantwortlich, wer hier interniert, als Geisel ausgewählt und wer deportiert wurde. Aber der französische Polizeipräfekt hatte die Verantwortung für das Lager, die Gendarmerie sorgte für die Bewachung und die innere Ordnung, das Département de la Seine für die Versorgung.

Bald nachdem 2009 unser neuer Lebensabschnitt in Paris begann, fuhr ich nach Drancy- hatte doch Serge Klarsfeld 2004  festgestellt,  Drancy sei der in der ganzen Welt bekannteste Erinnerungsort der Shoah in Frankreich. Verabredet war ich dort mit dem aus Tunesien stammenden Raphaël Chemouni, „Président du  Conservatoire historique du Camp de Drancy“.

Hier stehen wir, bei einem Wiedersehen im April 2019 vor der Wand mit den plaques  commémoratives.

Herr Chemouni erklärte, dass auf der ursprünglichen, Anfang der 1950-er Jahre angebrachten mittleren Tafel,  noch nicht angegeben war, dass es sich bei den Insassen des Lagers und den Deportierten um Juden handelte. Das sei von der damaligen kommunistischen Stadtverwaltung bewusst ausgelassen worden. Man entsprach damit der dominierenden staatssozialistischen Lesart der „Opfer des Faschismus“. [12]

Er führte mich zu dem von Shelomo Selinger entworfenen monumentalen Mahnmal, das 1976 am Eingang des ehemaligen Lagers errichtet wurde.[13]

Fotos: Wolf Jöckel

„Am 20. August 1941 wurden 5000 Juden in Paris verhaftet und hier zusammengeführt. So entstand das Lager von Drancy, das Vorzimmer der Todeslager“.

Er zeigte mir auch den 1980 dort aufgestellten Eisenbahnwagen. Solche Wagons wurden für die Konvois von Le Bourget bzw. Bobigny nach Auschwitz benutzt.

Diese Wagen waren für 8 Pferde oder 40 Menschen bestimmt- bei den Auschwitz-Transporten waren es eher doppelt so viele.

Zur Verfügung gestellt wurden die Wagons von der französischen Staatsbahn, auch die Zugführer bis zur deutschen Grenze waren SNCF-Angehörige.

Im Erdgeschoss der cité de la Muette gab es einen kleinen, schäbigen Raum mit ein paar Tafeln über die Geschichte des Lagers, über das auch ein Kurzfilm informierte. Es war Herrn Chemouni offensichtlich unangenehm, dass alles hier so unsäglich trist und heruntergekommen war. Aber immerhin: Jetzt könne man sich hier noch aufhalten, abends sei das überhaupt nicht mehr möglich: Da werde die Szene von Drogendealern beherrscht.  Aber dann zeigte er auf eine große Baustelle gegenüber: Ein mehrstöckiger Rohbau. Dort werde eine Zweigstelle des Mémorial de la Shoah einziehen und dann werde alles besser. 

Im Oktober 2012 wurde die neue Dependence eröffnet. Ein imposantes Gebäude mit einer Glasfront, so dass man immer einen Blick auf das ehemalige Lager und die Gedenkstätte hat. Und eine sehr modern gestaltete interaktive Ausstellung mit vielen Zugriffsmöglichkeiten auf Zeitzeugenberichte.

Plakat zum Mémorial von Drancy: Paris-Drancy 12km; Drancy-Auschwitz 1220 km Foto: Wolf Jöckel Oktober 2018

Bei unserem Besuch der neu eröffneten Erinnerungsstätte hatten wir das große Glück, zwei ehemalige Lagerinsassen zu treffen, die versucht hatten, mit Hilfe eines Tunnels der Deportation zu entgehen.  Die beiden, Serge Bouder und Roger Handschuh, gehörten zu den 70 Internierten, die in drei Schichten mit primitivsten Werkzeugen, z.B. Suppenlöffeln, den Tunnel in die Freiheit gruben.

Unter dieser Allee verlief in 1,3 Metern Tiefe der Fluchttunnel des Lagers Drancy. 70 Internierte arbeiteten Tag und Nacht an  seiner Fertigstellung. Begonnen im September 1943 und 36 Meter lang, wurde er im November 1943 von den Nazis entdeckt und niemals fertiggestellt. Es fehlten drei Meter, um die Freiheit zu erreichen.

Fotos: Wolf Jöckel

Nach der Entdeckung des Tunnels wurden Bouder und Handschuh in einem der Viehwagons deportiert, konnten allerdings bei einem nächtlichen Stopp des Transports durch eine Luke des Wagons entkommen.

Zu Fuß liefen sie etwa 50 km nach Paris zurück, wo sie Freunde/Genossen hatten, bei denen sie Unterschlupf fanden und mit denen sie im Widerstand arbeiteten. Eine faszinierende, abenteuerliche und inzwischen auch unter dem Titel „Les évadés de Drancy“ verfilmte Geschichte.[14]

Im Sommer 2022 wurden am Zaun des jardin du Luxembourg Portraits von Überlebenden des Holocaust ausgestellt, Teil des Projekts Lest we forget/Gegen das Vergessen des deutsch-italienischen Fotografen Luigi Toscano. Eines der Portraits zeigt den inzwischen verstorbenen Henri Zajdenwerger.

Aufgenommen am Zaun des jardin du Luxembourg. Juli 2022. Wolf Jöckel

Der 14-jährige Henri wurde 1942 bei einer Razzia in Angoulême verhaftet, aber als Franzose wieder freigelassen. Am 7. Februar 1944 wurde er erneut verhaftet und im Mai 1944 nach Drancy überstellt, wo er 8 Tage blieb. Am 15. Mai 1944 wurde er mit dem Konvoi 73 in die baltischen Staaten deportiert. Es war der einzige Konvoi, der nicht Auschwitz als Bestimmungsort hatte.  Von den 878 Männern des Konvois überlebten nur 22.  2022 war Henri Zajdenwerger der Einzige von ihnen, der noch lebte und seine Geschichte erzählen konnte. Am 20. Mai 2024 ist er in Paris gestorben. [15]

Praktische Hinweise

110-112, avenue Jean-Jaurès 93700 Drancy

Geöffnet von Sonntag bis Donnerstag 10-18 Uhr. Freier Eintritt

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Metro 5 bis Station Bobigny Pablo Picasso, dann mit Bus 251 bis Place du 19 mars 1962

oder: RER B bis Le Bourget, dann Bus 143 bis Square de la Libération

Informationen über Tage, an denen das Mémorial geschlossen ist, auf der Website des Mémorial: https://drancy.memorialdelashoah.org/

An einem Sonntag im Monat gibt es um 13 Uhr einen kostenlosen Bus vom Pariser Mémorial de la Shoah nach Drancy und zurück. Nähere Informationen auf der Website https://drancy.memorialdelashoah.org/

Literatur

Jacques Fredj, Drancy, un camp d’internement aux portes de Paris. 2015. Éditions Privat 2015

Maurice Rajsfus,  Drancy, un camp de concentration très ordinaire. Aus: Chroniques allemandes 12/2008, S.185-191  https://www.persee.fr/doc/chral_1167-4733_2008_num_12_1_888

Annette  Wieviorka, Michel Laffitte, À l’intérieur du camp de Drancy. Paris 2015

Annette  Wieviorka, Drancy. In: Les lieux de l’histoire de France. Sous la direction de Olivier Wieviorka et Michel Winock. Paris 2019

Collectiv, Les Graffiti du Camp de Drancy. Des noms sur les murs  / sous la direction de Mélanie Curdy, Denis Peschanski, Benoît Pouvreau, Thierry Zimmer. Belgique : Snoeck Publishers, 2014   

Antoine Sabbagh, Denis Peschanski, Lettres de Drancy. Tallandier 2019

Anmerkungen

[1] https://www.deutschlandfunk.de/vorzimmer-zur-hoelle-100.html  Von Ursula Welter | 22.09.2012

Titelbild aus: Drancy, Zeichnungen von Internierten vom Juli 1942.  Ausstellung L‘Art en guerre. Musée d’Art moderne de Paris 2012 Foto: Wolf Jöckel.

[1a] Wieviorka/Laffitte, À’intérieur du camp de Drancy, S. 57

[2] De septembre 1939 à juin 1940, il sert au Gouvernement français de lieu de détention pour les communistes. Le fichier de Drancy. Archives Agence 11. Januar 2022 https://blogs.icrc.org/cross-files/fr/le-fichier-de-drancy/ Entsprechend: Lieu de détention des communistes au cours de la Drôle de guerre, de septembre 1939 à mai 1940  https://museedelaresistanceenligne.org/media4330-La-camp-de-Drancy Es ist aber bemerkenswert, dass in vielen der von mir konsultierten Darstellungen diese erste Phase des Internierungslagers Drancy nicht erwähnt wird. (z.B. Wieviorka, Drancy; https://de.wikipedia.org/wiki/Sammellager_Drancy; https://www.paris.fr/pages/le-memorial-de-drancy-lieu-de-memoire-de-la-deportation-des-juifs-15426 : La cité de la Muette a été utilisée comme camp d’internement de 1941 à 1944.)

Nachfolgendes Bild aus: https://www.paris.fr/pages/le-memorial-de-drancy-lieu-de-memoire-de-la-deportation-des-juifs-15426

[3] Wieviorka/Laffitte, À’intérieur du camp de Drancy, S. 81f

[4] Aus: Drancy, Zeichnungen von Internierten. Juli 1942.  Ausstellung L‘Art en guerre. Musée d’Art moderne de Paris 2012 Foto: Wolf Jöckel.

[5] Wieviorka/Laffitte, À’intérieur du camp de Drancy, S. 75f

[6] Zur Geschichte des Lagers siehe im Einzelnen: Annette Wieviorka, Drancy

Nachfolgendes Foto: https://museedelaresistanceenligne.org/musee/mediatheque/mediatheque.php?r_texte=Drancy&r_Tri=1

[7] Zum weiteren Schicksal Brunners siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Alois_Brunner

[5] Wieviorka, Drancy, S. 568

[9] Der Fond der Zeichnungen kann eingesehen  werden unter: https://www.siv.archives-nationales.culture.gouv.fr/siv/rechercheconsultation/consultation/ir/consultationIR.action?irId=FRAN_IR_053857&details=true&gotoArchivesNums=false&udId=root&auSeinIR=true

[10] https://garedeportation.bobigny.fr/en/107/lannonce-du-depart-etles-derniers-jours-adrancy.htm   sur les murs des chambrées badigeonnés à la chaux, nous avions gravé des inscriptions

[11] https://www.paris.fr/pages/le-memorial-de-drancy-lieu-de-memoire-de-la-deportation-des-juifs-15426

[12] Ein aktuelles Beispiel dafür ist auch „der weite  Weg“ des 2024 ins Deutsche übersetzten „Berichts aus dem Land namens Auschwitz“, „Kaltes Krematorium“ von Jozsef Debreczeni. Siehe FAZ vom 24.1.2025

[13] https://www.paris.fr/pages/le-memorial-de-drancy-lieu-de-memoire-de-la-deportation-des-juifs-15426

[14] https://www.fondationshoah.org/memoire/les-evades-de-drancy-de-nicolas-levy-beff

[15] Weitere Informationen zu Henri Zajdenwerger: Lest We Forget 

Interview mit ihm: https://www.dailymotion.com/video/x866lg4 (Leider mit zwischengeschalteter Werbung)

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424 Stufen: Die Türme von Notre-Dame laden wieder zum Aufstieg ein.

Seit Dezember 2024 ist die durch den Brand schwer gebeutelte Kathedrale Notre-Dame wieder für Besucherinnen und Besucher zugänglich.

Alle Fotos des Beitrags von Frauke und Wolf Jöckel

Der Andrang ist groß. Und seit kurzem gibt es nun auch wieder die Möglichkeit, die Türme zu besteigen. Die wurden zwar durch den Brand in Mitleidenschaft gezogen, aber im Kern verschont. Ein Übergreifen der Flammen vom brennenden Dachstuhl des Hauptschiffs auf das Gebälk der Türme konnte gerade noch verhindert werden. Nach dem Brand wurden auch die Türme restauriert und ihr Zugang durch aufwändige Neubauten im Inneren neu konzipiert. Um die von Präsident Macron vorgegebene 5-Jahresfrist für die Wiederherstellung und Öffnung der Kathedrale einzuhalten, konzentrierten sich die Arbeiten zunächst darauf. Aber jetzt sind auch die Türme empfangsbereit.

Die Türme von Notre-Dame sind uns sehr lieb und nahe, weil wir sie von unserer kleinen Terrasse aus sehen können. Hier (im Oktober 2025) bei Sonnenuntergang- zusammen mit der Kuppel der Kirche Saint-Paul im Marais links, mit dem Paris-Ballon vom Parc André-Citroën darüber, dem wieder aufgebauten spitzen Dachreiter von Notre-Dame, der beim Brand umgestürzt war und den Dachstuhl der Kathedrale durchschlagen hatte, und einem Turm der im Quartier Latin gelegenen Kirche Saint-Sulpice. Auf dem Nordturm der Kathedrale (hier links im Bild) kann man die Gitter erkennen, die für den Besucherverkehr angebracht sind: Ein unfreiwilliger oder auch freiwilliger Sturz vom Turm soll unbedingt -auch auf Kosten der Aussicht- verhindert werden.

Der Zugang zu den Türmen ist neben dem südlichen, rechten Turm.

Da der Eintritt streng reglementiert und begrenzt ist, müssen Karten für ein bestimmtes Datum und Zeitfenster vorab reserviert (und bezahlt) werden. Das soll die früher üblichen langen Schlangen und Wartezeiten verhindern. In unserem Fall hat das allerdings nicht so gut funktioniert: Wir mussten trotz pünktlicher Ankunft eine gute halbe Stunde warten, bis wir eingelassen wurden, die Personen- und Taschenkontrolle passiert hatten und uns an den Aufstieg machen konnten.

Wir haben die Wartezeit genutzt, in Ruhe die grotesken Wasserspeier und anderen Verzierungen des Turms zu betrachten.

So wie im Inneren von Notre-Dame gibt es auch hier einen neuen, festgelegten Parcours. Erste Etappe auf dem Weg nach oben ist die Salle basse. Es ist ein großer Raum, der auch als Zugang zu der Empore der großen Orgel diente.

Heute sind hier Modelle der Kathedrale und zwei originale Chimären-Plastiken aus dem 19. Jahrhundert ausgestellt.

Das Tier mit den gefletschten Reißzähnen wurde durch den Brand zu stark beschädigt, um im Freien wieder aufgestellt zu werden.

Blick nach draußen auf Strebebögen und Baugerüste

Außerdem dient die Salle basse als Souvenir-Boutique – nicht ganz überzeugend am Anfang der Turmbesteigung…

Weiter geht es nach oben…

… meist auf originalen ausgetretenen Stufen…

… für Menschen, denen die Puste ausgehen sollte, bleibt der SOS-Ruf…

Zweite Etappe des Aufstiegs ist die Salle des Quatrilobes. An der Wand werden nacheinander -passend zu dem Namen des Saales-  vier mit Notre-Dame verbundene Daten aus der Geschichte Frankreichs angezeigt: die Generalstände Philipps des Schönen von 1302, die Ankunft des mit Maria Theresia von Österreich frisch vermählten Ludwig XIV. von 1660, die Krönung Napoleons im Jahr 1804 und die Befreiung von Paris 1944, die am 26. August, einen Tag nach der Kapitulation der deutschen Truppen, im Beisein de Gaulles mit einem feierlichen Te-Deum in Notre-Dame gefeiert wurde. (In der ausgestellten Informationstafel wird allerdings nicht mitgeteilt, dass der Erzbischof von Paris, Kardinal Suhart, nicht dabei sein durfte, weil de Gaulle dessen Anwesenheit wegen der Nähe Suharts zu Pétain und Vichy ablehnte).

In dem Raum kann man auch die kunstvolle Holzkonstruktion bewundern. Es sind teilweise noch die alten Balken aus der Entstehungszeit der Kathedrale, vieles ist aber auch -versehen mit den traditionellen Handwerkerzeichen- erneuert.

Ein Blick nach draußen zeigt auch hier, dass die Arbeiten an Notre-Dame noch in vollem Gange sind.

Aber es wird auch eindrucksvoll deutlich, wie viel schon erreicht ist: Die traditionell mit Bleiplatten gedeckten Dächer sind erneuert, die Statuen der 12 Apostel, die den hoch aufragenden Dachreiter Viollet-le-Ducs umrahmen, stehen wieder an ihren alten Plätzen.

 Von der Salle des Quadrilobes gibt es einen Zugang zu einem kleinen Abschnitt der Galerie der Chimären treten.

Die Chimären stammen nicht aus der Entstehungszeit der Kathedrale, sondern stammen aus dem  19. Jahrhundert. Viollet-le-Duc wollte Notre-Dame, damals arg heruntergekommen, zu einer idealtypischen gotischen Kathedrale machen. Und seine Chimären passen denn auch hervorragend zu dem typischen mittelalterlichen Bestiarium.

Hier ein Blick auf die Stadt mit der Kirche Saint-Sulpice

Eiffelturm, der Turm von Saint-Germain-des-Prés und der Invalidendom

Mit dem Blick auf das Pantheon, die Kirche Saint-Étienne-du-Mont und den Tour Clovis des Lycée Henri-IV wartet die Gruppe auf die Freigabe des Aufstiegs an die Spitze des Turms.

Für diese letzte Etappe wurde eine neue doppelläufige Wendeltreppe aus massiver Eiche errichtet.

Nach dem 442-stufigen Aufstieg wird man oben mit einem wunderbaren Panoramarundblick über die Stadt belohnt.

Hier noch einmal der Blick auf den Pantheonhügel von ganz oben.

Die Spitze des Südturms und Sacré-Cœur

Der große Kran, mit 84 m einer der höchsten Europas und natürlich ein französisches Produkt, zeigt an, dass die Außenarbeiten an Notre-Dame noch lange nicht beendet sind.

Die Uhr muss wieder in Betrieb genommen werden. Vielleicht steht sie seit der Brandnacht 22.05 Uhr still: Kurz zuvor war der Vierungsturm eingestürzt und hatte einen Teil des Gewölbes durchschlagen.

Der Vorplatz der Kirche wartet auf die beschlossene und anstehende Umgestaltung und Begrünung. Darunter wird ein großer Eingangsbereich entstehen mit Blick auf die Seine, und in das Hôtel Dieu rechts am Platz soll einmal ein Notre-Dame-Museum einziehen…

Die Zeit oben ist allerdings sehr knapp bemessen: Nach fünf Minuten wird man wieder zum Abstieg gedrängt – die nächste Gruppe wartet schon…

Beim Abstieg führt der Weg in den Nordturm….

…. und zu den mächtigen Glocken der Kirche. Die kann man in aller Ruhe betrachten und bewundern.

Besonders beeindruckend ist natürlich der Bourdon Emmanuel.

Er ist mit seinen 13 Tonnen Gewicht die zweitgrößte Glocke Frankreichs. Sie wurde 1686 gegossen und die „Taufpaten“ waren Ludwig XIV. und seine Frau.

Während der Französischen Revolution wurden alle Glocken von Notre-Dame eingeschmolzen, allein die große Glocke überlebte. Um sie zu schonen, erklingt sie nur zu besonderen Gelegenheiten, vor allem natürlich katholischen Festtagen, aber auch herausragenden historischen Ereignissen wie der Krönung Napoleons, dem Ende der Weltkriege, aber auch dem Fall der Berliner Mauer…

Von hier oben bieten sich noch einmal schöne Ausblicke auf die Stadt: Hier auf das Grand Palais, den Arc de Triomphe und die Bürostadt La Défense mit der Grande Arche.

Und auch hier gibt es wieder zahlreiche Beispiele phantastischer Figuren Viollet-le-Ducs.

Und man kann sogar die Kopie des im Salle basse ausgestellten wilden Tieres mit den Reißzähnen entdecken:

Dann geht es die letzten Stufen hinunter zum Ausgang- ein Weg, den schon viele Besucher gegangen sind. Manche haben im weichen Kalkstein ihre Spuren hinterlassen…

Reservierung von Zugangskarten:

https://tickets.monuments-nationaux.fr/fr-FR/familles?site=2402263094200400187

Es gibt auch eine englische und spanische Version. Ausdrücklich wird auf der Website darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Aufstieg um eine  expérience sportive handelt und eine gute körperliche Verfassung erforderlich ist.

Weitere Blog-Beiträge zu Notre-Dame:

Die neuen städtischen Wälder (fôrets urbaines) von Paris

Paris: Da denkt man an den Eiffelturm, den Arc de Triomphe, Notre-Dame, Sacré-Coeur … Auf diesem Plakat, aufgenommen am 19.10.2025, stellt sich Paris aber ganz anders dar: und zwar als eine „grüne Stadt“! Das mag überraschen, ist doch Paris die am dichtesten besiedelte Stadt Europas und weltweit immerhin noch auf Platz 7!  Pro Quadratkilometer drängen sich hier über 20 000 Einwohner – im Vergleich dazu: In London sind es gut 5000 Menschen, in Berlin etwas über 4000 [1]

Paris ist reich an schönen, ja berühmten Gärten und Parks, man denke nur an den jardin du Luxembourg, den Tuileriengarten, den Garten des Palais Royal, den Park Monceau oder den Parc des buttes Chaumont, um nur einige zu nennen.  Im 19. Jahrhundert begab sich die französische Hauptstadt ja sogar in eine Art Wettbewerb mit London um den Status einer europäischen Gartenhauptstadt.[2]  Aber trotzdem und insgesamt gibt es in Paris einen „grausamen Mangel an Grünflächen“, wie es der Parisien 2023 formulierte. Grausam (cruel) ist dieser Mangel gerade im Blick auf den schon in vollem Gange befindlichen Klimawandel. Und dessen Folgen sind in Paris besonders spürbar. Dazu tragen auch die typischen Zinkdächer bei. Die sind zwar charakteristisch für das Stadtbild und gehören zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO, heizen die Stadt aber bei starker Sonneneinstrahlung weiter auf. Die Zinkdächer können  bei 40 Grad Außentemperatur bis zu 85 Grad heiß werden.[3] So ist Paris, um noch einmal den Parisien zu zitieren, „diejenige europäische Stadt, in der das Risiko, an Hitzefolgen zu sterben, am größten ist“.[4]   

Dass es dringend notwendig ist, die Stadt an den Klimawandel anzupassen und so ihre Lebensqualität zu bewahren, ist weitgehend unbestritten. So überboten sich bei der letzten Kommunalwahl 2020 die Kandidatinnen und Kandidaten geradezu mit ehrgeizigen Programmen, Paris zu „vegetalisieren“  und mit sechsstelligen Zahlen der zu pflanzenden Bäume: Anne Hidalgo und ihre Sozialisten nannten 170 000 als Ziel – allerdings eine auch symbolische Zahl: Für jeden in der neuen Wahlperiode erwarteten Neugeborenen sollte gewissermaßen ein Baum gepflanzt werden. [5] Nach der „revolution du vélo“, der mit großer Energie vorangetriebenen Verkehrswende, wurde nun auch die „Revolution  der Natur in der Stadt“ ausgerufen. Grünanlagen zu schaffen sei notwendig, um angesichts des Klimawandels auch in Zukunft wohnliche Lebensbedingungen in der Stadt zu sichern.[6]

Dass Hidalgo die Wahl gewann und in den letzten Jahren Paris von einer rotgrünen Koalition regiert wird, beruht aber wohl auch darauf, dass man ihr am ehesten zutraute,  den ökologischen Umbau der Stadt mit Energie und Konsequenz voranzutreiben. Die schon von ihrem Vorgänger Delanoë eingeleitete Aufhebung der Autostraßen auf den Tiefkais der Seine war da ein eindrucksvoller Beleg: Zunächst höchst umstritten, heute allgemein anerkannt und unumkehrbar.

Ein wesentliches Element des Stadtpolitik von Anne Hidalgos ist die Zurückdrängung des städtischen Autoverkehrs: Seit 2020 wurden mehr als 10 000 Autoabstellplätze aufgehoben, zahlreiche Straßen wurden begrünt.[7] Diese Politik wurde im Laufe der Zeit noch forciert:  Im städtischen Budget für das Jahr 2025 stehen Mittel für die Umwandlung von 120 Straßen zur Verfügung.

Und im März 2025 stimmten die Bürgerinnen und Bürger der Stadt in einer «votation citoyenne“  der Begrünung und Verkehrsberuhigung weiterer 500 Straßen zu. Wir sind immer wieder von Neuem beeindruckt von der Geschwindigkeit und der Konsequenz dieses Veränderungsprozesses, den wir auch in unserem Pariser Umfeld miterleben.

Zu den besonders auffälligen und ehrgeizigen Programmpunkten des Umbauprogramms gehörte die Einrichtung von 3 sogenannten „Stadtwäldern“, forêts urbaines, in der Stadt. Der Parisien hielt in seiner Ausgabe vom 25.1.2023 dies für „ein unerfüllbares Versprechen“, une promesse intenable. Das Versprechen wurde aber gehalten. 2025 gibt es in Paris drei „Stadtwälder“: Die place de Catalogne in der Nähe des Bahnhofs Montparnasse, der bois de Charonne an der petite ceinture und der Platz vor dem Pariser Rathaus. Auch wenn das eher Wäldchen sind: Es sind Begrünungen von bisher versiegelten Flächen. Und dass dazu auch der prominente Platz vor dem Pariser Rathaus gehört, demonstriert den Stellenwert, den die derzeitige Stadtregierung dem ökologischen Umbau beimisst.

Place de Catalogne

Der erste der der neuen „Stadtwälder“ wurde auf der place de Catalogne im 14. Arrondissement angelegt. Dies war bis vor kurzem ein völlig versiegelter „mineralischer“ kreisrunder Platz. Angelegt wurde er in den 1980-er Jahren und umgeben von neoklassizistischen Gebäuden des postmodernen Architekten Ricardo Bofill. [8]

Die Mitte des Platzes bildete von 1985 bis 2022 der Brunnen „Le Creuset du Temps“, ein Werk des polnischen Bildhauers Shamaï Haber (1922–1995), der ihn „den umgedrehten Brunnen“ nannte. Das Wasser erweckte die Illusion, als würde es zum höchsten Rand einer schrägen, kreisförmigen Platte aus dunklem Granit fließen. Allerdings gab es  bald technische Probleme und seit Anfang der 2000-er Jahre war er nicht mehr in Betrieb. Schon 2018 beklagte eine Stadtverordnete aus dem 14. Arrondissement, der Brunnen sei in seinem aktuellen Zustand „ganz grau, unpersönlich, ohne Wasser, weitläufig, nutzlos“ und erfülle „den ganzen Platz und die Umgebung mit einer immensen Traurigkeit.“[9]

Unter Beteiligung der Anwohner wurde schließlich eine Neuanlage des Platzes beschlossen und der Brunnen- wenn auch gegen den Willen der Erben des Künstlers- 2022 von der Stadt Paris abgerissen. Bei der Planung des neuen Platzes standen drei Ziele im Vordergrund:

  • Eine weitgehende Begrünung des Platzes
  • Eine drastische Reduzierung des bis dahin dominanten Autoverkehrs zugunsten von Fußgängern und Radfahrern
  • Die Schaffung von Ruhe- und Erholungszonen für die Anwohner[10]

25. Januar 2023: Die alten, breiten Fahrbahnen um den Platz werden aufgerissen.  © LP/Paul Abran[11]  

Und im Winter 2023/2024 wurde der größte Teil des Platzes in eine Grünfläche umgewandelt (Plan 1).  

Es wurden insgesamt 470 Bäume gepflanzt: 270 große und mittlere, 200 kleinere von 2-4 Jahren.[12]   Bei den gepflanzten Bäumen  dominieren einheimische Arten wie Hainbuchen und Eichen. Es wurden auch Arten eingeführt, die dem Klimawandel besser widerstehen, wie Steineichen, Mooseichen und Montpellier-Ahorne.

Durch die Verwendung verschiedener Vegetationsschichten, darunter große und kleine Bäume sowie Sträucher und Bodendecker, soll  ein vollständiges Ökosystem entstehen, das die biologische Vielfalt fördert. 

Ein Wald in Entwicklung. Er benötigt Zeit, Ruhe und Schutz

Die Stadt erhofft sich von der Maßnahme eine Verringerung des Hitze-Insel-Effekts um bis zu vier Grad Celsius.

Ruhezone im neuen Stadtwäldchen. Der Weg ist nach Shamaï Haber, dem Schöpfer des Brunnens, benannt.

Granitplatten am Rand des Wegs erinnern an ihn und sein Schaffen.

Die Anwohner des Platzes -zum großen Teil Mieter von Sozialwohnungen (HLM)- können sich über Ruhe, Schatten, viel Grün und bei Hitze auch über etwas kühlendes Nass freuen.

©Guillaume Bontemps/paris.fr

Der Bois de Charonne

Der zweite Pariser forêt urbaine ist der im September 2024 eingeweihte Bois de Charonne im 20. Arrondissement. Er liegt an der ehemaligen Pariser Ringbahnlinie, der petite ceinture.[13] Die wurde zu militärischen und wirtschaftlichen Zwecken 1852-1869,  im 2. Kaiserreich Napoleons III., entlang des Pariser Festungsgürtels gebaut. 1934 wurde der Personenverkehr auf der petite ceinture eingestellt, in den 1990er Jahren auch der letzte Güterverkehr. Seitdem gibt es eine ganze Reihe von ehemaligen Teilstrecken, die als Spazierwege und Naherholungsgebiete eingerichtet wurden. Zu dieser Rückeroberung der petite ceinture gehört auch der neue Bois de Charonne. Er wurde  auf einer 3,5 Hektar großen Brachfläche der ehemaligen Ringbahn eingerichtet, die vollständig bepflanzt werden konnte: So entstand mit über 7500 neuen Bäumen der mit Abstand größte neue Pariser „Stadtwald“.[14]

Aufgang zum Bois de Charonne vom Eingang 105 cours de Vincennes aus

Freigelegte und überwucherte Bahngleise der Petite Ceinture

Plan des Bois de Charonne. Er geht über in den Park des alten  Bahnhofs Charonne. Dort gibt es einen großen Spielplatz, kleine Wasserbecken mit Seerosen, einen Springbrunnen, Liegewiesen… [15]

Blick von den alten Gleisen stadteinwärts…

Blick vom Bois de Charonne auf den Spielplatz

Ein schöner Waldweg vom Bois de Charonne zum Jardin de la Gare de  Charonne

Hotel de Ville

„Unglaublich, aber wahr“[16]:   Seit Juni 2025 gibt es auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus einen dritten „Stadtwald“. Er ist zwar von seiner Fläche  her der kleinste der bisherigen Stadtwälder, aber dafür hat er einen höchst prominenten Platz. Die Stadtverwaltung zeigt damit demonstrativ, welche Bedeutung sie der „Begrünung“ (vegetalisation“) beimisst.[17]

Die Herausforderungen bei der Schaffung dieses „forêt urbaine“ waren besonders groß. Unter dem Platz befindet sich nämlich eine Tiefgarage, und zwischen deren Decke und dem Niveau des Vorplatzes waren es nur 1,50 Meter. Die Pflanzflächen wurden deshalb um 50 cm erhöht, um auch einen Lebensraum für größere Bäume zu schaffen.

Und anders als bei den beiden ersten „Stadtwäldern“ wollte man an diesem prononcierten Ort nicht erst einen „Wald im Werden“ schaffen, sondern es sollte von Anfang an ein „richtiger“ Wald sein, der es mit der umliegenden Bebauung und damit auch der Fassade des Pariser Rathauses „aufnehmen“ kann.

Die größten der auf dem Vorplatz gepflanzten Bäume sind 10 Meter hoch, die kleineren 6 Meter. In den holländischen und deutschen Baumschulen, aus denen sie stammen, wurden sie sorgsam für ihren Einsatz vorbereitet: Bis zu sieben Mal wurden sie umgepflanzt, um ein genügendes Baumwachstum bei reduziertem Volumen der Wurzelballen zu erreichen.[18]

Ausgewählt wurden heimische und exotische Baumarten, die am besten den Herausforderungen des städtischen Umfelds und des Klimawandels standhalten können.

Vor allem geht es natürlich darum, hier im Zentrum der Stadt einen ruhigen, Schatten spendenden Ort für die Menschen zu schaffen.

Auch für besonders heiße Tage ist vorgesorgt. Im Hintergrund des Wasser-Zerstäubers der Tour Saint-Jacques.

Die Mitte des Rathausvorplatzes ist nicht begrünt: Dort ist/bleibt also ein freier Platz, auf dem im Sommer beispielsweise ein Volleyball-Feld installiert wurde.

Foto: Ville de Paris

Es gibt auch Tische und Bänke: Gelegenheit für ein Picknick…

… und natürlich ist da auch Raum für Kundgebungen.

Im August haben hier wohnsitzlose, auf der Straße lebende Migranten/Asylbewerber, vor allem Familien aus Afrika, eine Woche lang lautstark auf dem Rathausvorplatz auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Dann wurde die Demonstration von der Polizei aufgelöst. [19]

Ausblick:

Ein vierter forêt urbaine entsteht gerade auf der place du Colonel Fabien zwischen dem 10. und dem 19. Arrondissement. [20]

Der neue Platz wird gut 14000 qm2 groß sein. Es wird reduzierte Fahrstreifen für Autos geben, aber breite Fahrradwege und einen Bereich für Fußgänger. 1760 qm2 Grünstreifen werden bzw. sind schon angelegt, dazu werden 78 kleine und 43 große Bäume neu gepflanzt.

Und so soll es einmal aussehen. (Animation der Stadt Paris) Die Einweihung ist für Anfang 2026 vorgesehen.


Anmerkungen:

[1] Die Angaben zu Paris variieren und verbessern sich tendenziell auch etwas, weil die Einwohnerzahl der Stadt in den letzten Jahren tendenziell leicht sinkt.  Einwohnerzahl Paris: Entwicklung und aktuelle Trends | Rhein-Main Kurier  10.11.2024: 21.067 Einwohnern pro Quadratkilometer.

En 1921, Paris est à son maximum, à un peu moins de 3 millions de résidents. La densité de la population est alors équivalente à celle que connaît aujourd’hui Calcutta, en Inde.  (Le Monde)

[2]  Hans von Trotha, Deutschlandfunk  11.8.2024 Natur in der Stadt: Die Gärten von Paris

[3] https://fr.euronews.com/green/2024/11/23/a-paris-comment-eviter-que-les-toits-historiques-en-zinc-ne-creent-un-effet-de-four und

https://www.leparisien.fr/paris-75/a-paris-les-toits-en-zinc-sont-une-aberration-un-contresens-climatique-24-08-2022-O52OCSRW45FONGIKF75O55S4EI.php

Frankfurter Rundschau vom 3.7.2025

[4] https://www.leparisien.fr/paris-75/urbanisme-a-paris-en-seize-ans-les-espaces-verts-ont-augmente-de-036-m2-par-habitant-03-06-2023-O6X4YYQJANHSZK5WBGRBD7AKUY.php

[5] So der Pariser Umweltdezernent Christophe Najdovski zit. in Le Monde vom 23.3.2025  Zwischen 2020 und  2024 wurden immerhin insgesamt 113 000  Bäume im Rahmen des Plan Arbres gepflanzt. https://www.geo.fr/environnement/le-bois-de-charonne-deuxieme-foret-urbaine-de-paris-inauguree-par-anne-hidalgo-222134

[6] „révolution de la place de la nature dans la ville“   https://www.lejournaldugrandparis.fr/le-bois-de-charonne-2e-foret-urbaine-de-la-capitale-a-ete-inaugure/

[7] Der Figaro nennt die Zahl 197: https://www.lefigaro.fr/conjoncture/vegetaliser-et-pietonniser-500-nouvelles-rues-en-3-ans-le-defi-tres-onereux-de-la-ville-de-paris-20250322  Le Monde nennt als Zahl 300:
https://www.lemonde.fr/politique/article/2025/03/23/a-paris-derriere-la-promesse-de-170-000-plantations-d-arbres-une-realite-plus-contrastee_6584824_823448.html?lmd_medium=email&lmd_campaign=trf_newsletters_lmfr&lmd_creation=a_la_une&lmd_send_date=20250323&lmd_email_link=a-la-une-articles-H2_titre_3&M_BT=54358834090766    

[8] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Place_de_Catalogne_(Paris)#/media/Fichier:Place_Catalogne,_Paris.JPG

[9] https://www.leparisien.fr/paris-75/paris-la-place-de-catalogne-est-elle-punie-11-11-2018-7940175.php

[10] Nachfolgender Plan aus:  Kamil Bialas,  Stadtwald statt Beton. So wurde der Place Catalunya in Paris zum Leben erweckt

[11] https://www.leparisien.fr/paris-75/planter-des-forets-urbaines-a-paris-la-promesse-intenable-25-01-2023-SCDD3SAKVJHOJHAUYGEJAZTB3A.php

[12] https://www.paris.fr/pages/foret-urbaine-place-de-catalogne-la-concertation-est-lancee-19389

[13] Siehe dazu auch die Bilderstrecke  von Hermann Kollmar und Herbert Boll auf diesem Blog: https://paris-blog.org/2023/07/13/la-petite-ceinture-die-pariser-ringbahntrasse-eine-bilderstrecke-von-hermann-kollmar-und-herbert-boll/

[14] https://www.geo.fr/environnement/le-bois-de-charonne-deuxieme-foret-urbaine-de-paris-inauguree-par-anne-hidalgo-222134 

[15] https://mapcarta.com/W954861500

[16] https://parissecret.com/foret-urbaine-parvis-hotel-de-ville/

[17] Nachfolgende Luftaufnahme (sicherlich bearbeitet) aus: https://parisfutur.com/projets/projet-de-4-forets-urbaines-dans-paris/

[18] https://www.paris.fr/pages/foret-urbaine-de-l-hotel-de-ville-la-plantation-a-commence-ce-qu-il-faut-savoir-29934

[19] Des migrants installés devant l’Hôtel de ville de Paris évacués. Sur l’ordre de la Préfecture de Paris, 200 personnes ont dû quitter le parvis de la mairie, principalement des femmes et des enfants. Le Monde vom 14. August 2025

[20] https://www.paris.fr/pages/une-foret-urbaine-pour-la-place-du-colonel-fabien-30045 vom 22.9.2025 Dort auch die nachfolgend abgebildete Fotomontage

Bild des Monats Oktober 2025: Pariser Honig/miel de Paris

Pariser Honig im Kaufhaus Bon Marché.

Pariser Honig? Honig aus einer der am dichtesten bebauten Städte Europas? Das mag etwas bizarr erscheinen, ist es aber ganz und gar nicht. Der Pariser Honig gilt sogar als besondere Delikatesse. Nahrung finden die Bienen in den vielen Alleen und Parks genug, es gibt beispielsweise hinreichend Akazien und Linden, die Stadt tut viel für mehr Grün, und seit über 10 Jahren werden in Paris keine chemischen Giftstoffe mehr versprüht.

Aus der Werbung für den Pariser Hédène-Honig:

„Als wahres Symbol für die florale Vielfalt der Stadt bietet der Honig von Paris Hédène mit seinen charakteristischen Pflanzenaromen ein einzigartiges Geschmackserlebnis. Der ikonische Nektar, der Honig von Paris, zeichnet sich durch seine leuchtende Farbe, seine Cremigkeit und seine Frische am Gaumen aus. Der Honig von Paris Hédène ist eine einzigartige Kreation, die die Vielfalt und den floralen Reichtum der französischen Hauptstadt widerspiegelt.“

Die „einzigartige Kreation“ hat allerdings auch ihren Preis: Das mittlere Glas Hédène-Honig kostet stolze 19.95 €

Der Pariser Honig hat schon eine lange Geschichte: Im 19. Jahrhundert wurden im jardin du Luxembourg die ersten Bienenstöcke aufgestellt und eine Imker-Schule eingerichtet.

Diese Anlage gibt es immer noch…

Die Bienen scheinen sich im jardin du Luxembourg sehr wohlzufühlen.

An den Bienenstöcken herrscht reger Betrieb. Foto: Wolf Jöckel 15.9.2025

Offizielle Statistiken über die Zahl der Bienenstöcke in Paris liegen nicht vor. Die Schätzungen variieren stark und reichen bis an die 2000 Stück. 1980 wurden Bienenstöcke sogar auf dem Dach der Opéra Garnier installiert. Seitdem schmücken sich nicht nur Parks, sondern auch viele öffentliche Bauwerke damit.

Bienenstöcke im Tuilerien-Park

© Twitter Assemblée nationale

Die Bienenstöcke auf dem Dach des Palais Bourbon, dem Gebäude der Nationalversammlung, sind sogar standesgemäß in den Farben der Tricolore angemalt…

Die Bienenstöcke auf dem nachfolgenden Foto habe ich am Finanzministerium in Bercy entdeckt. Vielleicht versucht man ja auch auf diese Weise, die klammen Finanzen des Staates etwas aufzubessern…

In der Boutique des Pariser Rathauses (rue de Rivoli) gibt es Pariser Honig mit genauen Herkunftsbezeichnungen; also natürlich auch Opernhonig, Marais-Honig oder sogar Champs-Élysée-Honig…. Eine schmackhafte und ökologische Alternative zu den gängigen Paris-Souvenirs….