Georges de La Tour. La Tour, ein Licht in unserer Dunkelheit. Ein Gastbeitrag von Sonia Branca-Rosoff

Sonia Branca-Rosoff kenne ich seit mehreren Jahren. Wir haben einiges gemeinsam:  So ist sie Mitglied des gleichen Pariser Chors, und auch sie unterhält, seitdem sie (als Linguistik-Professorin an der Sorbonne) in Ruhestand gegangen ist, einen sehr empfehlenswerten Blog mit persönlich gefärbten, sehr sachkundigen und anregenden Beiträgen:  https://passagedutemps.com/

Dazu gehört auch ihr Bericht über die Ausstellung George de La Tour. Entre ombre et lumière, die derzeit im Pariser Musée Jacquemard-André zu sehen ist.

Ich freue mich deshalb, ihren Beitrag -ins Deutsche übersetzt- in diesen Blog aufzunehmen.

Wolf Jöckel

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Auch wenn Kunsthistoriker Malraux (den französischen Kultusminister zu Zeiten des Generals de Gaulle, W.J.) kritisieren mögen, war er doch ein großartiger „Betrachter”. Auf jeden Fall hat er mir in seinem Buch Les Voies du silence beigebracht, den Maler nächtlicher Bilder zu lieben, als sich noch kaum jemand für ihn interessierte.

Gorges de La Tour ist auch für seine hellen Bilder bekannt. Es sind Szenen der Täuschung, in denen die Schönheit der Körper, die unschuldigen Gesichter und die kostbaren Gewänder nur dazu dienen zu täuschen. Keine krampfhaften Bewegungen wie bei Caravaggio, sondern eingefrorene Gesten und spähende Blicke… doch Hände bereiten sich darauf vor, eine Geldbörse zu stehlen, eine Goldkette durchzuschneiden, Gewinnkarten zu verstecken. Auch unsere Blicke werden zu Voyeuren, zu Komplizen von Dieben und Betrügern. Aber diese Bilder sind in der Ausstellung nicht zu sehen. So auch nicht das nachfolgend abgebildete: Le Tricheur à l’as de carreau (Der Betrüger mit dem Karo-Ass) aus dem Louvre.

Die Ausstellung beginnt mit Porträts armer Menschen, die er zu Beginn seiner Karriere gemalt hat. Hätte er nur die Apostel von Albi, die Vielleurs oder die vom Hunger geplagten Erbsenesser (1620) dargestellt, wäre er Velasquez oder Louis Le Nain, ein Maler der Würde der Demütigen, und das wäre schon sehr schön.

Le Vielleur au chien,  vers 1620. (Der Drehleierspieler mit seinem Hund). Musée du Mont-de-Piété de Bergues

So ist sein blinder Musiker weder erbärmlich noch grotesk, und der kleine Hund mit den flehenden Augen, der ihn führt, weckt nur noch mehr Sympathie.

Aber La Tour ist bereits der Maler des Dialogs zwischen Licht und Schatten. Und das schon sehr früh, denn „Die Frau mit dem Floh“ stammt aus dem Jahr 1632: Eine Frau, die sich entkleidet hat, um sich zu entlausen, taucht aus der Dunkelheit auf, halb beleuchtet von einer Kerze. Kein Dekor, außer einem roten Stuhl, kein Hintergrund.

La Tour hat zweifellos seine Themen und dunklen Hintergründe von Caravaggio übernommen, lehnt jedoch bereits die Farbenpracht und die Gestik der Figuren ab.

Ein Kind, ein Engel, Jesus

Die unvergesslichen Gemälde sind jedoch diejenigen, in denen der Wechsel zwischen Licht und Schatten mit der Darstellung des Unsichtbaren verschmilzt.

Das berühmteste Gemälde ist das mit dem Titel „Das Neugeborene“: Zwei Frauen schweigen, vereint in der Betrachtung des Neugeborenen. Einige Teile ihres Körpers heben sich dank des Lichts der Kerze ab, die von der Hand der älteren Frau verdeckt wird: Der Blick der Älteren ruht auf der jungen Frau. „Ist sie es, meine Tochter, die Mutter geworden ist?“ Die Augenlider der jüngeren Frau senken sich über ihr Kind. Ihre Formen sind schematisch dargestellt: die Rundungen der Schultern, der Brust, des Gesichts; der Winkel des Ellbogens und der Nase, das Dreieck des bestickten Saums des Hemdes. Die Farben sind auf jeder Ebene gleichmäßig verteilt. Rot umhüllt den Körper, und das Baby ruht auf dem pyramidenförmigen Hintergrund dieses vereinfachten, homogenen Rots.

La Tour Georges de (1593-1652). Rennes, musée des Beaux-Arts

Quignard schreibt: „Man weiß nicht, ob es ein Kind oder Jesus ist. Oder besser gesagt: Jedes Kind ist Jesus. Jede Frau, die sich über ihr Neugeborenes beugt, ist Maria, die über einen Sohn wacht, der sterben wird“ (1991, S. 48). Nichts trennt die heilige Welt von der profanen Welt.

La Tour hat mehrere Magdalena-Gemälde geschaffen. Die Magdalena/Madeleine, die in der Ausstellung präsentiert wird, sitzt allein mitten in der Nacht in einer Zelle. Ein Nachtlicht beleuchtet einige fromme Bücher und einen Schädel. Die Büßerin hat noch das glatte Gesicht und die langen, dunklen Haare der Jugend, und doch steht sie außerhalb der Zeit des Lebens. Sie bewegt sich nicht. Sie starrt auf die Flamme und wartet nur auf die Erlösung. Der Schädel erinnert an den Tod am Ende des irdischen Lebens, aber alles ist ruhig in diesem Bild, das dazu einlädt, sich aus der Welt zurückzuziehen, um nur das Unsichtbare zu betrachten.

Trösterin oder grausame Spötterin?

Das Gemälde, das mir am besten gefällt, ist eine Szene, die durch das Missverhältnis zwischen einer riesigen Frau und einem alten Mann an Traum- oder Alptraumszenen erinnert.

Die Frau beugt sich zu einem verzweifelten Mann hinunter. Sie ist so groß, dass sie nicht in das Bild passt und sich vorbeugen muss, um nicht aus dem Rahmen der Komposition herauszutreten. Ihr weites, unter den Brüsten eng anliegendes Kleid betont ihre Formen noch zusätzlich. Ist sie eine Trösterin oder die Frau Hiobs, die ihren vom Unglück gebeutelten Mann zum Fluchen auffordert? Im Museum ist der Titel eindeutig. Es handelt sich um Hiob, der von seiner Frau verspottet wird; auf dem Boden sieht man übrigens die Scherbe, mit der der magere und fast nackte Hiob seine Geschwüre kratzt.

In Epinal hieß das Gemälde „Der Gefangene“, und unter diesem Titel beschrieb René Char während des Krieges diesen roten Engel mit dem bauschigen Gewand, der eine Metapher für die Poesie ist.

„Die Worte, die aus dieser irdischen Gestalt eines roten Engels fallen, sind wesentliche Worte, Worte, die sofort Hilfe bringen.  (…) Das bauschige Gewand füllt plötzlich den ganzen Kerker aus. Das Wort der Frau bringt das Unerwartete besser zur Welt als jede Morgendämmerung.“ (Anerkennung für Georges de la Tour, der die Finsternis Hitlers mit einem Dialog zwischen Menschen bezwang. Feuillets d’Hypnos, um 1944, S. 76-77)

Pascal Quignard hingegen schwankt zwischen der bedrohlichen Frau Hiobs und der monumentalen Gestalt der Philosophie, die dem inhaftierten Boethius zu Hilfe kam (1991, S. 58). Während der Herrschaft Theoderichs, um 524, wurde der Philosoph Boethius, Übersetzer von Aristoteles und Platon und Meister der Senatsämter, beschuldigt, ein Bündnis mit Byzanz anzustreben. Der Kaiser ließ ihn ins Gefängnis werfen und foltern. Als er vom Unglück niedergeschlagen war und in seiner Zelle auf den Tod wartete, erschien ihm die Philosophie, um ihn zu trösten. Sie hatte eine majestätische Statur und beugte sich zu ihm hinunter. Er kauerte auf seinem Hocker, blickte zu ihr auf und gestärkt durch die Kraft ihrer Weisheit, die von überragender Schönheit strahlte, schrieb er „Der Trost“, einen der bedeutendsten Texte des Mittelalters.    

Es ist seltsam, welche Macht ein Gemälde auf uns ausüben kann. La Tour hat als Magier des Lichts* ein Bild geschaffen, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: der verlassene Mensch, der Angst und Schrecken ausgesetzt ist; die Poesie oder Philosophie, die Hilfe bringen und die Dunkelheit besiegen.

 * Im französischen Original findet sich hier der Ausdruck grand imagier. Da ich das Wort imagier nicht kannte, habe ich nachgeschlagen und als Übersetzung Bilderbuch (für Kinder) gefunden. Das passt offensichtlich nicht. Ich hatte darauf die Idee, imagier als eine schöne Wortschöpfung anzusehen, zusammengezogen aus image (Bild) und magicien (Zauberer, Magier) und daraus dann den Magier des Lichts gemacht. Sicherheitshalber bei der Autorin nachgefragt erhielt ich die Auskunft, dass das Wort imagier im Mittelalter einen Bildhauer oder Maler bezeichnete. Sie habe mit dem grand imagier zum Ausdruck bringen wollen, dass das besprochene Bild wie etwa auch „Die Freiheit führt das Volk” von Delacroix Ikonen sind, die die Menschen im Kopf haben. Nicht alle Künstler seien in der Lage, Bilder von einer solchen Kraft zu schaffen. Da Sonia Branca-Rosoff meine Interpretation von imagier aber sehr schön fand, habe ich den Magier des Lichts beibehalten.

***

Die Besuchsbedingungen im musé Jacquemard-André sind mittelmäßig. Die acht Räume sind zu klein für die Menschenmassen, die sich vor den Gemälden drängen. Sie ermöglichen keinen Abstand zu den größten Werken. Dennoch sind wir hier. Wenn man kleinlich sein wollte, könnte man sich fragen, warum der Louvre nicht „Der Betrüger” oder „Die Anbetung der Hirten” ausgeliehen hat… Aber um nichts in der Welt würden wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen, 23 Gemälde eines der seltensten Maler zu sehen. Die zusätzlich ausgestellten Gemälde von Zeitgenossen ermöglichen es Liebhabern vielleicht, den Einfluss Italiens (eine ohnmächtige Magdalena von Finson, ein Heiliger Petrus von Saraceni…) und den Einfluss des Nordens (wunderschöne Stiche von Callot und Bellange) in dem Wunder zu erkennen, das die meditative Einfachheit des Meisters des Hell-Dunkel für den Betrachter darstellt.  

Praktische Informationen

Dauer der Ausstellung bis 25. Januar 2026

Musée Jacquemart-André, 158 boulevard Haussmann 75008 Paris

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Metro Linien 9 und 13, Stationen Saint-Augustin, Miromesnil oder Saint-Philippe du Roule

Öffnungszeiten Montag bis Donnerstag 10-18 h; Freitag bis 22h, Samstag und Sonntag bis 19 h

Ticket-Reservierung: https://www.musee-jacquemart-andre.com/fr/tickets/68418c5d3d96ad850fa9ebe8

Literatur

CHAR René, Feuillet d’Hypnos, Paris Gallimard.1946.
VANPETEGHEM E. (éd. et trad.), BOÈCE, La Consolation de Philosophie, Paris, 2008.
MALRAUX André, Les Voies du silence Paris, Gallimard, 1951.
QUIGNARD Pascal, La Nuit et le Silence : Georges de la Tour, Flohic, 1991.

Anmerkung zum Museum (von Wolf Jöckel):

Das Musée Jacquemart-André befindet sich in einem denkmalgeschützten feudalen Stadtpalais (hôtel particulier) aus dem Jahr 1875, einem der glanzvollsten von Paris (Le Monde). Es wurde von dem Bankier und Politiker Édouard André (* 1833; † 1894) und seiner Frau Nélie Jacquemart (1841-1912) errichtet, um die von ihnen seit den 1860-er Jahren gesammelten Kunstwerke aufzunehmen. (André war übrigens zusammen mit den Rothschilds wesentlich daran beteiligt, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 im Vertrag von Frankfurt auferlegte gewaltige Reparationssumme von 5 Mrd. Francs aufzubringen.) Die Sammlung Jacquemart-André reicht von Meisterwerken der italienischen Renaissance und des niederländischen „goldenen Zeitalters“ bis zu französischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts. Ausgesuchte Gäste konnten anlässlich von Bällen, Empfängen oder Galadiners die Kunstwerke sehen und bewundern. In ihrem Testament verfügte Nélie Jacquemart, dass die Sammlung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Sie vermachte 1912 das Stadtpalais und ihren Sommersitz, die königliche Abtei von Chaalis, dem Institut de France, das beide Häuser bis heute als Museen betreibt.

Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely im Grand Palais (Juni 2025 bis Januar 2026)

Anders als Maximilien Luce, dem der letzte Pariser Ausstellungsbericht gewidmet war, müssen Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely nicht vorgestellt werden. Die Frage ist hier eher, ob es sich denn lohnt, diese Ausstellung zu besuchen, auch wenn man viele Werke der beiden schon kennt. Für mich gibt es vier Gründe, die dafür sprechen:

  • Ort der Ausstellung ist das Grand Palais, erbaut für die Weltausstellung von 1900.  Nach langen Renovierungsarbeiten wurde es für die Olympischen Spiele 2024 in Paris wieder eröffnet. Die Ausstellung bietet also die Möglichkeit, einen Eindruck von dem „neuen“ Grand Palais zu erhalten. Allerdings findet sie leider nicht im großen zentralen Raum unter der gläsernen Kuppel statt, sondern in einem Seitentrakt.
  • In der Ausstellung geht es nicht nur um Saint Phalle und Tinguely, sondern auch um den weniger bekannten Pontus Hulten.  den ersten Direktor des Centre Pompidou, der die beiden Künstler nach Kräften förderte und dazu beitrug, dass Paris zu einem Zentrum des Arbeitens, Schaffens und der Präsentation von Werken Saint Phalles und Tinguelys wurde. Auch insofern war die Ausstellung -für uns jedenfalls- eine Bereicherung.
  • Es gibt eine Reihe von Exponaten Niki de Saint Phalles, die man vielleicht schon kennt, aber gerne wieder sieht.
  • Und es gibt ganz besondere, höchst phantasievolle und mächtige Maschinen und Installationen Tinguelys, die man hier sogar in Betrieb beobachten kann.

Ausschnitt eines Werbeplakats in der Pariser Metro

Ein erster Eindruck vom neuen Grand Palais

Der frisch herausgeputzte Brunnen vor dem Eingang zur Ausstellung

Das neue Foyer mit Boutique und Zugang zu den verschiedenen Ausstellungen

Der Glanz der Belle Époque…

… an dem stellenweise aber noch gearbeitet wird…

Die mächtige Glaskuppel im zentralen Raum des Grand Palais beeindruckt wieder wie ehedem.

Pontus Hulten, Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle

Der Schwede Pontus Hulten (1924-2006) war von 1977-1981 der erste Direktor des Musée national d’art moderne im Centre Pompidou, zuvor seit 1958 Direktor des neu geschaffenen Moderne Museet in Stockholm. 1954 hatte er Jean Tinguely in Paris kennengelernt, 1960 auch dessen neue Partnerin Niki de Saint Phalle. Hulten unterstützte und ermutigte die Beiden nach Kräften, kaufte Werke von ihnen, organisierte Ausstellungen: Am spektakulärsten die Stockholmer Ausstellung „Hon- en katedral“- eine riesige, auf dem Rücken liegende Nana, die das Publikum betreten konnte…

Im Grand Palais ist ein kleines Modell dieses skandalträchtigen Werkes ausgestellt. Es wird auch das Plakat einer Niki de Saint Phalle-Ausstellung in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle gezeigt.

Es ist versehen mit einer Widmung für Pontus Hulten:  mit großer Zuneigung und Dankbarkeit dafür, dass er sie die letzten 32 Jahre lang unterstützt habe. Besonders hebt sie ihre von Hulten organisierte erste öffentliche Schieß-Aktion in Stockholm hervor. Mit ihren Schießbildern (siehe unten auf dem Plakat: shooting paintings) wurde Niki de Saint Phalle ja berühmt. Und Hulten habe La Hon ausgestellt und wichtige Werke wie den -im Grand Palais gezeigten-  King Kong gerettet.

Niki de Saint Phalle: Liebe, Spiel und Gewalt

Hier möchte ich vor allem zwei ausgestellte Werke vorstellen, die mich besonders beeindruckt haben:

Das Künstlerbuch My Love aus dem Jahr 1971 ist ein entzückend illustriertes Leporello, in dem das ganze Spektrum von Niki de Saint Phalles Farben und Formen versammelt sind.

Natürlich denkt man beim Betrachten der Bilder unwillkürlich an ihre Beziehung mit Jean Tingely.

Niki de Saint Phalle und Tingeley hatten  sich zwar 1969 getrennt, arbeiteten aber weiter eng zusammen und heirateten 1971, im Erscheinungsjahr von My Love, und übernahmen damit Verantwortung für die Bewahrung des gemeinsamen künstlerischen Erbes.  

Diese verspielte leuchtende Figur Niki de Saint Phalles (sans titre, um 1980) gehörte zur privaten Sammlung Hultens. Die vermachte er kurz vor seinem Tod zum Teil dem Moderna Museet, wie diese Figur aus Hultens Badezimmer, und zum Teil dem Centre Pompidou.

Le Monstre de Soisy (um 1966) ist benannt nach Soisy-sur-École (Essonne), wo Niki de Saint Phalle und Jean Tingely ein Haus und Atelier bezogen, nachdem sie ihr Pariser Atelier im Impasse Ronsin verlassen mussten. Später schmückte das Ungeheur den Salon im Haus Pontus Hultens an der Loire, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Kurz vor seinem Tod schenkte er es dem Centre Pompidou.

Monster/Ungeheuer spielen im Werk Niki de Saint Phalles eine große Rolle – auch im My love-Leporello gibt es ein menschenfressendes Ungeheuer, das dort allerdings seine Beute wieder ausspuckt…

In Niki de Saint Phalles monumentalem Werk King Kong (1962) gibt es kein Entrinnen. Es thematisiert den nuklearen Holocaust, das Ende der menschlichen Zivilisation.

Der Name des Ungeheuers, King Kong, verweist auf den Film von 1933 und die mit Hasendraht überzogene Käfig-artige Hochhauskulisse, über die er sich hermacht, auf New York.

Ganz unverkennbar handelt es sich hier um ein Schießbild: Niki de Saint Phalle hatte bei diesen Bildern Farbbeutel unter einem Gipsüberzug angebracht. Beim Beschießen des ursprünglich weißen monochromen Werkes platzten dann die Farbbehälter auf und die Farben liefen über das Relief.

Zusammen mit dem urtümlichen King Kong sind es moderne Flugzeuge und Raketen, die die Stadt angreifen- ein durchaus realistisches Szenario nach der Kubakrise von 1961, als die Welt am Rand eines Atomkriegs stand.

Diesen Bezug stellt Niki de Saint Phalle ganz deutlich her: Integriert in das King Kong-Relief sind die Köpfe/Masken von -männlichen- Staatsmännern wie Nikita Chruschtschow, Fidel Castro und John F. Kennedy, den Protagonisten der Kuba-Krise. Damals wurde der große Krieg gerade noch vermieden, aber beim Betrachten des Werks kommt einem wohl unwillkürlich auch 9/11 in den Sinn, und gerade derzeit werden wir ja Zeugen grauenhafter Kriege mit großen Zerstörungen und unermesslichem menschlichen Leid. Insofern hat Niki de Saint Phalles King Kong eine anhaltende bedrückende Aktualität, und es fällt nicht schwer, sich eine entsprechend erweiterte Reihe von Staatsmänner-Masken vorzustellen … 

Niki de Saint Phalle, eher bekannt für ihre lebenslustigen bunten Nanas,  betrachtete King Kong als eines ihre wichtigsten Werke. Mit zwei ausdrücklich so bezeichneten Vorarbeite hat sie das große Relief vorbereitet: Mit den heads of state (study for King Kong) und mit dem Tyrannosaurus Rex (study for King Kong).

© Photographic credit: Fondation Gandur pour l’Art, Genève. Photographer: André Morin © 2024, ProLitteris,   Zurich

Die intensive Beschäftigung mit dem Thema der Gewalt, wie sie sich gerade auch in den übermächtigen Gestalten des King Kong und des Tyrannosaurus Rex ausdrückt, hatte für Niki de Saint Phalle auch eine ganz persönliche Dimension:  Als Kind wurde sie von ihrem Vater sexuell missbraucht, und so war die Kunst für sie -mit ihren eigenen Worten- „Erlösung und Notwendigkeit.“

Die phantastischen Maschinen von Jean Tinguely

Die Ausstellung bietet einen eindrucksvollen Überblick über das Werk von Jean Tinguely. Dazu gehört auch eine entzückende Hommage an Wassily Kandinsky, die auch aus der Tinguely-Sammlung Hultens stammt.

Jean Tinguely, Méta-Kandinsky I (1956), auch Wundermaschine genannt.

Am eindrucksvollsten in der Ausstellung ist aber wohl für Präsentation großer Maschinen:  

Dies ist die eine Ball-Transport- und Wurfmaschine: Rotozaza I aus dem Jahr 1967.  Es ist, nach der beigefügten Informationstafel, „eine verschlingende Maschine, die den Produktionsprozess pervertiert, da sie mit Ballons gefüttert wird, die sie wieder ausspuckt. Sie ist spielerischer Ausdruck der Kritik Tinguelys am kapitalistischen System und seines anarchistischen und rebellischen Geistes. Damit richtet sie sich besonders an Kinder, die für Tinguely seine beliebtesten Adressaten (public préféré) waren.“ Leider war diese Maschine nicht in Betrieb: Kinder hätten sicherlich eine große Freude daran gehabt, die Maschine mit den ausgeworfenen Bällen zu füttern…

Dafür allerdings war dieses gewaltige Fahrzeug im Centre  Pompidou aufgebaut und auch in regelmäßigen Abständen im Betrieb zu sehen  und zu hören:

Auf diesem Foto sieht man Jean Tinguely neben der Maschine (Meta 3, 1970/1971) im gemeinsamen Atelier in Dannemois, Essonne (Foto)

… und hier im Grand Palais.

In regelmäßigen Abständen wird das Ungetüm in Bewegung gesetzt: Ein eindrucksvolles, lautstarkes Schauspiel, das man nicht versäumen sollte.

Im Hintergrund an der Wand eine Vitrine mit Modellen zum Strawinsky-Brunnen. (siehe unten)

End- und wohl auch Höhepunkt der im Grand Palais präsentierten Werke Tinguelys ist seine spektakuläre Hölle (L’enfer, un petit début) aus dem  Jahr 1984.

Es ist eine einen ganzen großen Raum ausfüllende Installation aus verschiedensten Materialen und Objekten, die mit mehreren Elektromotoren in Bewegung versetzt werden und auch die verschiedensten Geräusche erzeugen. Das Centre Pompidou kaufte das in immer neuen Variationen verschiedentlich ausgestellte Werk anlässlich einer Retrospektive Tinguelys 1990 auf.

… wasserspeiende Pinguine…

… bunte, blinkende Jahrmarkts-Lampen….

der präparierte Schädel eines Elches: Wie die Totenschädel Symbole des uns angrinsenden Todes („la mort qui nous fait des grimaces“).

Gemeinsame Projekte:  Der Strawinsky-Brunnen und der Cyklop

In Paris und seinem Umland gibt es zwei monumentale gemeinsame Projekte von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely: Den Strawinsky-Brunnen am Centre Pompidou und den Cyklop im Wald bei Milly-la-Forêt.

Der wunderbare Strawinsky-Brunnen aus dem Jahr 1983 spielt in der Ausstellung nur eine Nebenrolle. Das beruht darauf, das Pontus Hulten bei seiner Errichtung keine Rolle gespielt hat. Initiator des Brunnens war Pierre Boulez, der dabei von Claude Pompidou, der Frau des damaligen Premierministers, und von Jacques Chirac, dem damaligen Bürgermeister von Paris, unterstützt wurde. Zunächst ging der Auftrag für den Brunnen allein an Tinguely, der aber darauf bestand, dass auch Niki de Saint Phalle beteiligt wurde.

In der Ausstellung im Grand Palais sind immerhin in einer Vitrine einige Modelle von Brunnenfiguren ausgestellt:

Der „obligatorische“ Totenkopf: Planskizze und Ausführung

Ende der 1960-er Jahre entwickelte Jean Tinguely zusammen mit Niki de Saint Phalle und dem Schweizer Künstler Bernhard Luginbühl den geradezu wahnwitzigen Plan, bei Milly-la-Forêt, am Rande des Waldes von Fontainebleau, insgeheim, abseits der Öffentlichkeit, den monumentalen Kopf ein gewaltigen Monsters, zu errichten. 25 Jahre lang dauerten die Arbeiten, bis das einäuige Ungeheuer, „sicherlich das Werk seines Lebens“ (F. Taillade) fertig war. Insgesamt fünfzehn befreundete Künstler hatten dabei mitgewirkt. Sein Name -nach der Figur in Homers Odyssee: Cyklop.

In den 1980-er Jahren wurde das im Entstehen begriffene Werk Opfer des Vandalismus. Die Künstler schenkten es daraufhin dem französischen Staat, der die Verantwortung für seinen Schutz, seine Fertigstellung und seinen Betrieb der Gesellschaft Le Cyclop übertrug, deren erster Präsident Pontus Hulten war. Nach dem Tod Tinguelys waren es Niki de Saint Phalle und Hulten, die entsprechend den Plänen Tinguelys das Werk vollendeten. 1994 wurde der 22 ½ Meter hohe und 350 Tonnen schwere Koloss von Präsident Mitterand eingeweiht.

In der Ausstellung sind Entwurfszeichnungen Tinguelys zu sehen.

Auch ein Modell des Cyklopen aus Metall und Glas ist ausgestellt.

Vielleicht animiert die Ausstellung dazu, sich den Cyklopen an Ort und Stelle anzusehen. Es ist ein außergewöhnliches Gesamtkunstwerk, das man im Rahmen von Führungen betreten und besteigen kann. Es gibt viel zu entdecken! Und dann setzen sich auch mit ohrenbetäubendem Lärm die Maschinen in Bewegung…

Nähere Informationen: https://www.millylaforet-tourisme.com/fr/fiche/704420/le-cyclop/ 

Der Skulpturenpark von Chaumont-sur-Loire

Das Schloss von Chaumont-sur-Loire gehört eher nicht zu den „ersten Adressen“ unter den Schlössern der Loire wie Chambord, Villandry, Chenonceau oder Azay-le-Rideau. [1] Es ist gleichwohl ein wunderbarer, hoch über der Loire gelegener Bau.

Gebaut wurde das Schloss um 1500 von der einflussreichen Familie d’Amboise. Das war die Zeit von König Ludwig XII., und darauf verweist dessen Wappen, das gekrönte Stachelschwein, am Eingang des Schlosses.

Eine große Rolle in der Geschichte des Schlosses spielte auch Catharina von Medici, die Frau von König Heinrich II. Sie kaufte das Schloss 1550. Als 1559 ihr Mann starb, wurde sie Regentin Frankreichs. Sie nutzte ihre Macht, von Diane de Poitiers, der von ihr gehassten schönen Geliebten ihres Mannes, die Herausgabe des königlichen Schlosses von Chenonceau zu verlangen. Das hatte Henri II Diane geschenkt. Als „Trostpreis“ erhielt sie dafür immerhin das Schloss von Chaumont-sur-Loire, das seine heutige Gestalt wesentlich ihr verdankt.

1875 kaufte Marie-Charlotte-Constance Say, die reiche Erbin der Zuckerraffinerien Say, das Schloss und wurde durch Heirat eine Prinzessin de Broglie. Die Broglies renovierten und modernisierten ihren Besitz beträchtlich und sie ließen in den 1880-er Jahren den großen Schlosspark anlegen, der heute die besondere Attraktion von Chaumont-sur-Loire ausmacht. Das vor dem Schloss liegende Gelände wurde gekauft, die dort stehenden Häuser abgerissen und das Dorf an das Ufer der Loire verlegt. So war genügend Platz für einen großen Landschaftsgarten. [1a] 1938 übernahm der Staat Schloss und Garten. Inzwischen gehören sie der Region Centre – Val de Loire, unter deren Regie die Anlage zu einem Kunst- und Gartenzentrum entwickelt wurde.

Es gibt vor allem den historischen Park (parc historique), auf dem Plan rechts, die Prés du Gualoup, auf dem Plan links unten, und die Jardins du Festival, auf dem Plan links: In Chaumont-sur-Loire findet jedes Jahr ein Gartenfestival statt (Festival international des jardins), das in diesem Jahr unter dem Motto „Il était une fois au jardin“ steht: Die insgesamt 25 kleinen Gärten des dem Festival gewidmeten Arreals haben also einen Bezug zu Märchen aus aller Welt.

Es ist völlig unmöglich, diese Gärten und dazu noch das Schloss mit seinen Nebengebäuden (vor allem die berühmten Pferdeställe) an einem Tag zu anzusehen. Wir haben deshalb -es ist unser erster Besuch in Chaumont- entschieden, uns auf den sogenannten historischen Garten zu konzentrieren. Dies auch deshalb, weil es in diesem Gartenbereich Skulpturen einer Künstlerin und eines Künstlers gibt, die wir ganz besonders schätzen, nämlich Eva Jospin und Miquel Barceló. Deren Beiträge zum Skulpturenpark von Chaumont-sur-Loire wollten wir unbedingt sehen.

Nachfolgend ein kleiner Rundgang durch den Garten mit Fotos von ausgewählten Skulpturen und dabei natürlich vor allem den ganz besonders eindrucksvollen von Jospin und Barceló.

Nicolas Alquin, Bois révélés. (Grange aux Abeilles)

Christian Lapie, La  constellation du fleuve

Im Hintergrund der homme sauvage von Denis Monfleur

Etwas versteckt in einem Gehölz in der Mitte des historischen Gartens befindet sich die Grotte Chaumont von Miquel Barceló. Wir kennen und schätzen Barceló von unseren Besuchen in der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles.

Dort gehören zwei seiner Werke zum festen Bestand: Ein grandioses Unterwasserpanorama und ein sagenhaftes Ungeheuer am Eingang der Villa. [2]

Barcelós 2024 entstandene Chaumont-Grotte sieht auch eher aus wie das weit aufgerissene Maul eines Ungeheuers, eines riesigen gefräßigen Fisches.

Die Zähne des Monsters aber sind wie Stalaktite einer Eiszeithöhle.

Und dazu passt die Zeichnung eines Höhlenlöwen…. Barceló gehörte übrigens der wissenschaftlichen Kommission an, deren Aufgabe es war, nach dem sensationellen Fund der grotte Chauvet-Pont d’Arc (Ardèche) ein originalgetreues Duplikat der Höhle herzustellen.

Nebeneinander: Fisch und Schädel, Leben und Tod. Und der rote Tuchfetzen in den Zähnen des Ungeheuers? Im Begleittext zu der Skulptur wird dazu auf Pieter Lastmans 1621 entstandenes Gemälde Jonas und der Wal verwiesen. [3]

Da entkommt Jonas unversehrt aus dem riesigen Maul des Wals, und höchstens sein blutrotes Tuch bleibt zurück…

Dieser optimistischen Botschaft schien auch das Rotkehlchen zuzuneigen, das sich unerschrocken und neugierig direkt neben dem Höhleneingang auf der Absperrungs-Kordel niedergelassen hatte.

Im Park gibt es immer wieder Ausblicke auf das Schloss. Hier mit Anastazia von Ursula von Rydingsvard im Vordergrund.

Anastazia: Detail

Nikolay Polisky, Les Racines de la Loire

Der freundliche Drache ist aus mehreren hundert alten Weinstöcken zusammengesetzt.

Lionel Sabatté, Chemins croisés. Dahinter eine der Baumhütten (Cabanes dans les arbres) von Tadashin Kaaawamata. Es gibt im Park mehrere Exemplare.

François Méchain, l’Arbre aux Echelles. Méchain hat mehrere Leitern in dem Baum befestigt, die allerdings keinen Kontakt zum Boden haben und sich deshalb auch leicht im Wind bewegen können. Die Installation bezieht sich auf Italo Calvinos Roman Der Baron auf den Bäumen.

Éva Jospins Folie ist für uns ein Höhepunkt des historischen Parks. Ihr im letzten Jahr in der Orangerie von Versailles ausgestelltes Natur- und Architekturpanorama [4] hat uns sehr begeistert, so dass wir auf ihren Beitrag für den Park von Chaumont-sur-Loire besonders gespannt waren.

Hier hat sie ein geheimnisvolles monumentales Werk geschaffen, eine Folie oder fabrique de jardin, wie sie in Landschaftsgärten üblich waren als Blickfang und anregende Stationen auf einem Spaziergang. [5] Ganz untypisch für sie handelt es sich nicht um ein filigranes Werk und zum ersten Mal hat sie hier auch nicht mit ihrem Lieblingsmaterial, dem Karton, gearbeitet, sondern mit massiven Materialien wie dem Beton. Bei der Betrachtung der Außen- und Innenwände drängen sich Assoziationen auf zu den Versteinerungen, die ja gerade im Gebiet der Loire besonders häufig anzutreffen sind.

Der Raum innen wird durch ein Öffnung in der Decke erhellt.

An den Rändern hängen feine wurzelartige Gespinste herab, wie man sie von Jospins Gestaltung der neuen Métro-Station Hôpital-Bicêtre der Pariser Metro-Linie 14 kennt.

Detail der von Eva Jospin gestalteten Außenwand der Metro-Station Hôpital-Bicêtre

Ein Stück Wand des Innenraums der Folie im Park von Chaumont-sur-Loire

Inzwischen ist die Natur dabei, das Bauwerk zu überwuchern und in ihren Besitz zu nehmen. Dabei können sich ganz überraschende Perspektiven ergeben.

Hier kann man sich den Kopf eines grimmig blickenden Tieres vorstellen und darüber einen von Ranken und abgestorbenen Blättern gebildeten Totenkopf.

Ulrich Schläger hat dies an den  Sacro Bosco des Fürsten Vicino Orsini in Bomarzo erinnert, „wo die Monster auf Schritt und Tritt lauern,  wo Fürchten und Staunen die beherrschenden Gefühle sind, wo die steinernen Figuren, von Moos und Flechten überzogen, im Laufe der Jahrhunderte so vollständig zur Natur zurückkehren, dass sie jetzt aussehen, als wären sie vor Urzeiten gemeinsam mit den Bäumen gewachsen oder aus dem Boden gekrochen. Wo ist man hier? Vielleicht im Kopf eines Verrückten, der den Figuren seiner Albträume eine steinerne Form gegeben hat?  Vieles bleibt trotz komplizierter und weit ausholender  Interpretationen rätselhaft, wie das Leben des Menschen, das ja auch voller  ungelöster Rätsel ist.

TU CH’ENTRI QUI CON MENTE PARTE A PARTE ET DIMMI POI SE TANTE MARAVIGLIE SIEN FATTE PER INGANNO O PUR PER ARTE.

»Du, der du hier eintrittst, betrachte alles  Stück für Stück und sag mir dann, ob so viel Wundersames zur Verwirrung gemacht wurde oder nur für die Kunst?« (Fürst Vicino Orsini)

Und dann ist es auch die Natur selbst, die im Park ihre Kunstwerke schafft…

Nach einer kleinen Mittagspause im Café du Parc werfen wir einen Blick in den Prés du Goualoup.

Die stählernen Bögen von Bernar Venet

Marc Nucera, Bancs Sculptés et Fruits fantastiques

Ein Blickfang sind auch die Pflanzenwände (murs végétaux) des Biologen und Gartenarchitekten Patrick Blanc. Er gilt als der Erfinder solcher Wände und hat sie in Frankreich und besonders in Paris populär gemacht. Die Pflanzenwand der Fondation Cartier und die des Musée du quai Branly in Paris wurden von ihm gestaltet.

Frösche fühlen sich gerade in den Zeiten großer Hitze hier sehr wohl…

Andy Goldsworthy, Cairn. [6] Der aus Steinen zusammengefügte Kegel ruht in den ausgetriebenen Ästen einer abgeschnittenen Platane. Allmählich und immer mehr gehen auch hier Kunstwerk und Natur eine reizvolle Verbindung ein.

Vom nördlichen Rand des historischen Parks, in dem auch Goldworthy’s Cairn steht, hat man schöne Ausblicke ins Tal der Loire.

Dies sind drei auf dem Heck stehende Boote: traditionelle gabarres mit niedrigem Tiefgang zum Transport von Menschen und Waren auf der Loire. Eine Installation von El Anatsui.

Manchmal allerdings ist der Wasserspiegel der Loire so niedrig, dass selbst diese -für touristische Zwecke nachgebauten- speziellen Loire-Boote nur begrenzt fahrtüchtig sind.

Auch das Schloss wird für Ausstellungszwecke genutzt.

Die in den Jahren 1498-1511 errichtete Schlosskapelle wurde in diesem Jahr von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger ausgeschmückt: Les pierres et le printemps (Die Steine und das Frühjahr) nannten sie ihre Installation. Die Fenster der Kapelle stammen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hier ein Fenster mit der Abbildung eines Schlossturms:

… und zum Abschied ein letzter Blick von der Schlossterrasse auf die Loire…

Praktische Hinweise:

Chaumont-sur-Loire liegt zwischen Amboise und Blois.

Das Schloss, der historische Park und die Pferdeställe sind während des ganzen Jahres zugänglich, die Gärten des Gartenfestivals und die Prés de Goualoup bis zum 2. November 2025.

https://domaine-chaumont.fr/fr/informations-pratiques

Eintrittskarten und Preise: https://billetterie.domaine-chaumont.fr/

Anmerkungen:

[1] Auf der Seite https://loirelovers.fr/de/schonste-schlosser-loire-tal/ ist Chaumont noch nicht einmal unter den 12 schönsten  Schlössern der Loire aufgeführt.

[1a] Bei Wikipedia.de liest sich das so:  „Das Ehepaar trieb großen Aufwand, um die Schlossanlage umfassend zu restaurieren und einen Abglanz höfischen Lebens zu schaffen. Auch das Dorf profitierte davon: 1882 wurde die Kirche wieder aufgebaut, und die Bewohner erhielten große Schenkungen.“ (!) https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Chaumont (8.9.2025)

[2] Zu den Ausstellungen in der Villa Carmignac (und Miquel Barceló) siehe auch: https://paris-blog.org/2021/08/01/la-mer-imaginaire-die-jahresausstellung-2021-in-der-villa-carmignac-auf-porquerolles/

[3] Billd aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Pieter_Lastman#/media/File:Pieter_Lastman_-_Jonah_and_the_Whale_-_Google_Art_Project.jpg

[4] https://paris-blog.org/2024/08/30/versailles-ein-natur-und-architekturpanorama-eva-jospins-in-der-orangerie-von-versailles/

[5] Siehe dazu den Blog-Beitrag über den Park von Ermenoville, den ersten Landschaftsgarten auf dem europäischen Kontinent: https://paris-blog.org/2020/09/01/der-park-jean-jacques-rousseau-in-ermenonville-der-erste-landschaftspark-auf-dem-europaeischen-kontinent-und-die-erste-begraebnisstaette-rousseaus/

[6] Das schottisch-gälische Wort cairn bezeichnet auf den Britischen Inseln einen meist aus dem Neolithikum stammenden und meist aus Bruchsteinen zusammengesetzten künstlichen Hügel. Das entsprechende bretonische Wort carn (Steinmal) hat dem Ort Carnac seinen Namen gegeben.

Das Théâtre des Champs-Élysées oder die Hervorbringung einer Inkunabel der ‚Nationalen Moderne‘. Von Ulrich Schläger

…Ich werde einen ganzen Band brauchen, um die wahre, wundersame, trostlose Geschichte der Errichtung „meines Theaters“ zu erzählen. Gabriel Astruc

Vorwort

Ja, ein ganzes Buch ließe sich zur komplizierten und auch verwirrenden Geschichte des Théâtre des Champs-Élysées schreiben. Hier wollen wir uns nur auf seine Architektur beschränken. Musikgeschichtliche Aspekte werden in diesem Zusammenhang nur gestreift. Auch auf die sicherlich interessante Nutzungsgeschichte nach 1913 können wir nicht eingehen. Sie würde den Rahmen unserer Betrachtung sprengen.    

Im ersten Teil werden wir die Konzeption des Theaters bis hin zu seiner Realisierung inmitten des Ringens um eine nationale französische Architektur der Moderne verfolgen und mit seiner zeitgenössischen Rezeption schließen. Im zweiten Teil stellen wir den Bau und seine  Dekoration selbst mit besonderem Gewicht auf seine Fassade, sein Foyer und den großen Saal vor. Den Abschluss bildet die eigene Bewertung. (Lesezeit 60 Minuten)

I. Teil: Konzeption des Theaters bis hin zu seiner Realisierung

Kapitel I:  Gabriel Astruc hat eine Vision

Gabriel Astruc [1]

Alles beginnt mit Gabriel Astruc (1864–1938). Ohne ihn gäbe es das Théâtre des Champs-Élysées nicht. Astruc, Sohn des Großrabbiners von Belgien, ist eine schillernde Persönlichkeit: Stammgast im Bohème-Kabarett Le Chat Noir in Montmarte, Kolumnist, Herausgeber des Musikmagazins Musica, Dramatiker, Booking-Agent und Impresario. Die von ihm 1905 gegründete Société Musicale G. Astruc et Cie organisiert die „Grande Saison de Paris“, die jedes  Jahr von April bis Juni eine große Anzahl von Musikveranstaltungen bot, die eine große Vielfalt an Genres, Stilen und Musiktraditionen umfassten und bei denen einige der berühmtesten Künstler aus aller Welt auftraten. Astruc bringt auch Sergei Diaghilevs Ballets Russes und Strawinsky auf die Pariser Bühnen. Und Strawinskys „Sacre du Printemps“-Aufführung im Mai 1913 gerät zum wohl legendärsten aller Theaterskandale, der fast das Ende des gerade erst erbauten Theaters bedeutet hättet.

1906 beginnt der leidenschaftliche Musikliebhaber und Gründer der Société musicale Astruc, unterstützt von Komponisten wie Claude Debussy, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré und Paul Dukas, seinen Plan zu verwirklichen, in Paris einen philharmonischen Palast zu errichten. Die Ideen hierzu reichen schon auf das Jahr 1902 zurück. In der Musikzeitschrift Musica hatte Charles Joly, enger Freund von Astruc, im Artikel Un Théâtre de musique idéal auf die Notwendigkeit eines neuen Musiktheaters in Paris hingewiesen. Für Joly verkörperten zwei Theater die idealen Bedingungen sowohl für Oper als auch für symphonische Musik, „intelligent gestaltet: das von Bayreuth und das des Prinzregenten in München“.[1a]

Beiden Theatern, Otto Brückwalds von 1872-1875 erbautes Festspielhaus in Bayreuth und das Prinzregententheater Max Littmanns, 1900/01 errichtet, sind die äußerste Zweckmäßigkeit bei von Zuschauerraum und Bühne mit Konzentration auf das aufgeführte Werk gemeinsam. Ein amphitheatralisch ansteigendes Auditorium bietet gute Sicht von allen Plätzen und durch die Einbeziehung eines Proszeniums, das sowohl eine Erweiterung des Bühnenraums zu den Zuschauern hin als auch einen Orchestergraben einschließt, verbessern sich die Sicht- und Hörbarkeit der Sänger.

Astrucs teilt Jolys Wertschätzungen wie auch dessen Bewunderung der Musik Richard Wagners. Später, 1933, in der nationalistisch aufgeheizten Stimmung, muss er sich gegen den Vorwurf verteidigen, er habe das Théâtre des Champs-Élysées gebaut, um „Wagnersche Klänge“ aufzuführen.[2] Astrucs Vorstellungen gehen über die Jolys hinaus. Er strebt danach, die  Grande Saison an einem einzigartigen Ort zu veranstalten. Sein Palais Philharmonique soll ein Mehrzwecktheater sein, das wegen der angestrebten Genre- und Stilvielfalt mehrere Säle unterschiedlicher Größe umfassen soll. Frühe Entwürfe des Projekts zeigen, dass das Theater drei Säle umfassen sollte: Der Grande Salle, in dem hauptsächlich Orchestermusik, Oper und Ballett aufgeführt werden sollten, bot Platz für 2500 Zuschauer. Der Salle Moyenne, der für Kammermusik (bis zu 50 Musiker) und Virtuosen bestimmt war, fasste bis zu 1200 Personen. Der Petite Salle schließlich war so konzipiert, dass etwa 800 Personen kleinere Konzerte und Kunstausstellungen genießen konnten.

Herrschte in Paris, wie Astruc und Joly meinten, zu Anfang des 20. Jahrhundert bezogen auf die Vielfalt und Fülle des Musik(theater)programms ein veritabler Mangel an modern ausgestatteten Aufführungsstätten? Die Frage wird kontrovers beantwortet. Leila Zickgraf [3] bejaht diese Frage: Kammermusikkonzerte und Recitals mussten in den Salons der Klavierbauer, wie im La salle Pleyel der Klaviermanufaktur Pleyel, abgehalten bevor sich die Situation durch die Eröffnung der Salle Gaveau etwas verbesserte.  Für Symphoniekonzerte war der einzige Saal mit einer guten Akustik die Salle du Conservatoire, ausschließlich für die etwa 24 Konzerte der Société des concerts du Conservatoire pro Jahr reserviert. Andere Säle und Häuser konnte Astruc zu selten anmieten, wie das Théâtre du Châtelet, das  Sarah-Bernhardt-Theater oder die Opéra Nationale de Paris.

Cesar A. Leal [4] hingegen meint, dass im gesamten 19. Jahrhundert in den Pariser Theatern große dramatische Werke erfolgreich aufgeführt wurden und sich „während der  Grande Saison de Paris vor 1913 …nicht allzu sehr vom Repertoire des Théâtre des Champs-Élysées während seiner Eröffnungssaison unterschieden.“ [5]

Die genannten Konkurrenz-Theater werden, wie wir sehen werden, später noch eine Rolle spielen, als es um die Genehmigung für den Standort von Astruc neuem Theater an den Champs-Élysées geht.

Kapitel II: Das Theater soll an den Champs-Élysées gebaut werden

Astruc hat für sein Musiktheater, das auf den ersten Plänen als Palais philharmonique firmiert, einen prominenten Platz auserkoren: am Standort des ehemaligen, von Jakob Ignaz Hittorff erbauten Sommerzirkus im Carré Marigny an den Champs-Élysées, nahe am Rond Point. Der Zirkus war um 1902 abgerissen worden.

Projekt eines Palais philharmonique im Jardin des Champs-Élysées [[5a]]

Mit dem Bau des Palais philharmonique wird zunächst der Schweizer Architekt Henri Fivaz (1856-1933) beauftragt. Fivaz hatte am Polytechnikum in Zürich studiert. Er hatte sich 1877 in Frankreich niedergelassen. Sein Architekturbüro baute Wohngebäude, das Hotel Bedford und das Restaurant Victoria in Paris, entwarf mehrere Theater-, Kasino- und Hotelprojekte außerhalb von Paris, und war auch international tätig.

Schon am 8. Juni 1906 teilt Astruc der Stadtverwaltung mit, dass die Pläne für das Theater fertig seien:  „… Ich habe Herrn Bouvard, dem Leiter der Architekturabteilung der Ville de Paris, im Voraus fünf Pläne des Projekts für den Philharmonie-Palast geschickt, den ich auf dem Gelände des alten Cirque d’Eté errichten möchte.“ [6]

Nicht realisiertes Projekt der Fassade des Théâtre des Champs-Élysées [6a]

Mit „Herrn Bouvard“ ist Joseph-Antoine Bouvard gemeint, der Adolphe Alphand als Direktor der Architektur-, Promenaden- und Gartenbehörde von Paris nachfolgte. In seinem Büro arbeitet auch sein Sohn Roger Bouvard als Architekt. Schon bald wird der junge Roger Bouvard Fivaz zur Seite gestellt. Man kann nur vermuten, dass durch diesen Schachzug, die Genehmigung der Theaterpläne befördert werden soll. 

Interessanterweise findet sich auf den Plänen mit dem Datum „April 07“, für das Palais philharmonique im Archiv des Théâtre des Champs-Élysées nur noch der Name „R. Bouvard“, aber  nicht ein Einzelplan mit dem Namen Fivaz allein oder mit Fivaz & Bouvard. Nur eine von Astruc präsentierte Zusammenstellung zeigt in drei Grundrissen und einem Längsschnitt von Henri Fivaz die Verteilung der drei Säle. Fivaz tritt schon früh von der Planung zurück oder wird herausgedrängt. Wann dies geschieht (1906 oder 1908), wird unterschiedlich angegeben. Bouvard nimmt die Studien zunächst allein wieder auf. Seine Pläne zeigen einen Bau im Louis-seize-Stil.

Kapitel III: Astrucs „elysischer Traum“ scheitert

Die Gründe sind vielfältig, warum das Projekt an den Champs-Élysées trotz Unterstützung mächtiger Mäzene, bedeutender Musikerpersönlichkeiten und Musikkritikern wichtiger Pariser Zeitschriften scheitert: Künstlerische Veranstaltungsorte wie die Opéra, die Opéra Comique, das Châtelet, das Théâtre Sarah Bernhardt und die Salle Pleyel empfinden Astrucs Projekt, die kulturellen Veranstaltungen der Grande Saison de Paris an einem Ort zu konzentrieren, als finanzielle Bedrohung. Gleiches gilt auch für Konzertveranstalter, für die Astruc mit seinem Musiktheater an diesem exponierten Ort eine unliebsame Konkurrenz darstellt und die deshalb bei der Stadt dagegen opponieren. Wiederstand kommt auch von den Anwohnern, die ein erhöhtes Verkehrsaufkommen durch die Theaterbesucher befürchten. Gegnern des Theaters führen an, dass sein Bau sich negativ auf die „schönste Promenade der Welt“ auswirken würde. Für den Bau müsste man auch „einige der schönsten Bäume der Champs-Élysées zerstören“. [7] Die stärkste Opposition kommt von der Seite des Pariser Stadtrates. „Gegen mich“, schreibt Astruc in seinen Memoiren, „richtet sich der Antisemitismus eines von La Libre Parole [8] unterstützten Stadtrats und die offene Feindseligkeit eines Stadtrichters, eines engen Freundes der Musik, aber eines noch engeren Freundes der Oper.“[9]

Seit Oktober 1907 ruht das Projekt mehr als ein Jahr lang. Im Stadtrat nimmt die Zahl der Gegner zu. Den Schlusspunkt in der Debatte setzt André Hallays, Anwalt, Journalist und Verfechter des französischen Erbes, der Commission du Vieux Paris, mit der Forderung, die Reste des alten Paris zu bewahren, d.h. auch das Gelände des ehemaligen Sommerzirkus nicht wieder zu bebauen. Auch die verspätete Vorlage einiger der angeforderten Finanzunterlagen durch Astruc dient den Gegnern des Projekts als juristisches Argument.

Im Jahr 1909 wird die 1906 an Astruc erteilte Genehmigung zum Bau seines Théâtre des Champs-Elysées am Standort des alten Cirque d’Eté vom Pariser Stadtrat offiziell zurückgezogen. Sein Kommentar im Le Figaro vom 7. Juli 1909: „Gott hat es mir gegeben, Gott hat es mir weggenommen! Die Stadtverwaltung hatte mir die Konzession für das Gelände an den Champs-Elysées versprochen. Der Stadtrat hat sein Versprechen zurückgezogen.“[10]


Kapitel IV: Das Théâtre des Champs-Élysées wird an der Avenue Montaigne gebaut

Der Stadtrat hatte seinen „elysischen Traum“ zunichte gemacht, doch Astruc gibt nicht auf: „Der Zyklon zog vorüber, ich sammelte die zerbrochenen Steine ​​ein, bekam wieder Mut und begann wieder zu bauen.“[11]

Cesar A. Leal kann in seiner Dissertation anhand von Archivmaterial in der Sammlung von Astruc-Papieren zeigen, dass es der Société du Théâtre des Champs-Elysées unter der Leitung von Astruc schon Anfang 1910 gelingt, ein neues Grundstück in der Avenue Montaigne 13-14 für 2.000.000 F zu erwerben. Astruc konnte hierzu die meisten seiner  bisherigen Investoren und Unterstützer mobilisieren. Die Situation nach dem Scheitern des Projektes an der Champs-Elysées wird in der Dissertation von Colin Nelson-Dusek [12] ganz anders darstellt und macht die Schwierigkeiten sichtbar, Licht die Geschichte des Theaters zu bringen. Nach Colin Nelson-Dusek sei Astruc seines Postens als Projektleiter enthoben worden, Gabriel Thomas sei zum neuen Leiter des neu organisierten Theaterkomitees gewählt worden und es sei die Entscheidung von Thomas gewesen, den endgültigen Standort in die Avenue Montaigne zu verlegen. Unter seiner Leitung, nach seinem künstlerischen Geschmack sei das Theater erbaut worden. Wie auch immer, Astruc verliert an Einfluss. Thomas, der reiche Finanzier und Kunstmäzen, drängt Astruc mehr und mehr aus der Société heraus.

Geradezu genial ist die Idee, das Theater nach dem ursprünglich geplanten Standort zu benennen. Sie könnte dem Gehirn von Astruc wie dem von Thomas entsprungen sein. Im Namen Théâtre des Champs-Elysées spiegelt sich prestige- und werbewirksam Kosmopolitismus, Eleganz und Kultiviertheit von Paris wieder. „Vielleicht“, so mutmaßt Cesar A. Leal, „stellte die Beibehaltung des Namens den Sieg über die bedrohlichen antisemitischen und politischen Kampagnen verschiedener Pariser Gruppen dar“. [13]

Roger Bouvard übernimmt zunächst allein die Planung für das gesamte Projekt in der Avenue Montaigne. Seine Entwürfe fügen den Bau in Fluchtlinie der bestehenden Bebauung ein und legen die innere Organisation der Räume fest, und finden hier die Zustimmung der Société. Bemängelt aber werden in den von Bouvard im Frühjahr 1910 vorlegten Studien die Ästhetik des Gebäudes und die ungenügende Einbindung des großen Saals in das Gesamtgefüge des Baus. Sie stehen im Widerspruch zur angestrebten Modernität und Funktionalität des Musiktheaters sowie zum Repräsentationsbedürfnis des Pariser Publikums.

Kapitel V: Henry van de Velde wird berufen

Nicola Perscheid – Henry van de Velde 1904

Ob von Gabriel Thomas oder von Gabriel Astruc die Initiative ausging, Henry Van de Velde in die Theaterplanung einzubeziehen, muss angesichts widersprüchlicher Darstellungen[14] offenbleiben. Über den Maler Maurice Denis, der später die Kuppel des großen Saals des Théâtre des Champs-Élysées gestalten wird und  sowohl Freund von Thomas wie von Astruc ist, wird Kontakt zu dem belgischen Designer und Architekten Henry van de Velde, dem Direktor der Kunstgewerbeschule in Weimar, aufgenommen. Van de Velde wird im Juni 1910 eingeladen, nach Paris zu kommen.

In seinen unvollendet gebliebenen Memoiren, erschienen unter dem Titel, „Geschichte meines Lebens“: schreibt er: „Die Chance, ein großes Theater zu bauen, lockte mich unwiderstehlich, nachdem zwei Möglichkeiten in Weimar fehlgeschlagen waren und sonst keine Aussicht bestand, meine Pläne und Modelle für ein Theater des neuen psychologischen Dramas zu verwirklichen. Trotzdem muss ich sagen, dass ich ohne mein Zutun, ja fast gegen meinen Willen zur Mitarbeit an dem Pariser Projekt veranlasst wurde. Es sollte in einem Land verwirklicht werden, von dem ich annehmen musste, dass es weit davon entfernt war, meine Ideen und Neuerungen zu akzeptieren. In dieser Situation begab ich mich auf Einladung von Gabriel Thomas nach Paris.“[15]

Man muss wissen, dass die Memoiren unter dem Eindruck seines Scheiterns in Paris geschrieben wurden und sicherlich begründen sollten, warum dies geschah.

Van de Velde, von der Malerei kommend, ist bislang eher als Produktdesigner und Raumgestalter, weniger als Architekt hervorgetreten. Er ist mit der Programmatik des Deutschen Werkbunds und mit „dessen generellem Ziel, über die ‚Dekoration des Lebens‘ eine ‚harmonische Kultur‘ zu schaffen“, verbunden und geht „weitgehend konform mit dem volkserzieherischen Leitgedanken des Jugendstils. Die Architektur wurde demgemäß als „öffentlicher Dienst“ erachtet, hatte entsprechend in erster Linie soziale und funktionale Aufgaben zu erfüllen.“[16] In diesem Sinne entsprach sie auch Positionen der französischen Art nouveau um 1900.

In Weimar hatte Van de Velde 1903 ein Reformtheater geplant, inspiriert durch ein Gastspiel des Ibsen-Ensembles der Schauspielerin Louise Dumont. Nach dem Vorbild und in Konkurrenz zu Bayreuth plante er ein Mustertheater in den Formen des Jugendstils. Schon hier hatte er versucht die theaterreformatorischen Ideen mit einer emotional wirkenden Raumgestaltung und Linienführung zu verbinden. Er scheiterte an Hofintrigen und am Klassizismus, dem Weimar sich verpflichtet fühlte.

Henry van de Velde: Perspektive des Entwurfs für das Dumont-Theater in Weimar, 1903. [16a]

Seine Beteiligung am Neubau des Weimarer Hoftheaters wusste der verantwortliche Architekten Max Littmann zu verhindern.[17] Erst 1914 wird er auf der Werkbundausstellung in Köln einen eigenen Theaterbau errichten, der aber die Ausstellung nicht überlebt.

Als Van de Velde nach Paris kommt, hat er sich zwar theoretisch mit den Anforderungen eines modernen Theaters und seiner künstlerischen Gestaltung auseinandergesetzt, aber für seine Konstruktion, die für ihn nur einen dienenden, untergeordneten Charakter hat, fehlt ihm die technische Kompetenz. Das wird zu seinem Scheitern auch in Paris betragen.

Weil er in Paris mögliche Konflikte befürchtet, lässt er sich zuvor die Zustimmung von Bouvard zu seiner Mitarbeit zusichern. Am 3. Dezember 1910 unterzeichnet Van de Velde den Vertrag mit der Société als beratender Architekt. Seine Einschätzung von Roger Bouvard, mit dem er zusammenarbeiten soll, spricht Bände: „Während unseres Gespräches hatte ich keinen Augenblick den Eindruck, mit einem Künstler, einem Architekten zu verhandeln, viel eher mit einem Verwaltungsrat oder einem Bankdirektor.[18] Diese Arroganz Bouvards gegenüber wird sich rächen.

Zu Van de Veldes Team gehört Eugène Milon, ein ehemaliger Mitarbeiter von Gustav Eiffel beim Bau des Eiffelturms, da zunächst ein Eisenskelett als tragende Konstruktion für das Theater vorgesehen ist, und  Marcel Guilleminault, ein junger Absolvent der École des Beaux-Arts zur Ausarbeitung seiner Skizzen. Die  drei reisen durch Deutschland, studieren Anlagen der Zuschauerräume, technischen Ausrüstungen der Bühnen und Beleuchtung nicht nur Bayreuth und München. Van de Velde berät Bouvard nicht nur, wie anfangs von der Baugesellschaft vorgesehen, sondern verändert die Baupläne in Absprache mit seinem Kollegen umfangreich, sodass er schließlich die gesamtgestalterische Leitung des Projekts übertragen bekommt.

Van de Velde wird von Gabriel Thomas massiv unter Druck gesetzt, einen Zuschauerraum zu schaffen, der van de Veldes Überzeugungen diametral entgegengesetzt ist: „Wir verlangten eine Zusammenfassung der Zuschauer und die Konzentration der Blickrichtung auf die Bühne. Alle, die Vertreter der privilegierten Klasse wie die bescheideneren Besucher, sollten in gleicher Weise den szenischen Vorgängen folgen können.“  Thomas hingegen meinte, „dass das französische Publikum keine andere Form des Zuschauerraumes akzeptiere als den Typus italienischer Tradition, der das gesellschaftliche, das mondäne Element eines Theaterabends betonte. Das französische Publikum,…wolle in erster Linie im Theater gesehen werden; er gab zu, dass dadurch ein großer Teil der Zuschauer einer guten Sicht auf die Bühne beraubt würde“.[19]

Stilbildend für den Theatertyp in „italienischer Tradition“ war das Gran Teatro La Fenice in Venedig, das sich nach dem Brand des ersten Theaters 1774 Phoenix-gleich, von 1790-1792 neu erbaut, aus der Asche wieder erhoben hatte.  

Da war die große Zeit Venedigs als Handelsmacht vorüber, aber die Stadt war mit dem Karneval, ihren Bällen, Konzerten, Opern und mit der Freizügigkeit der Sitten zum angesagten und eleganten Vergnügungsort Europas geworden.  Das glanzvolle Logentheater wurde Zentrum für ein Publikum, das selbst Teil dieser Lustbarkeiten war, von denen es angezogen wurde.

Der Journalist und Kunsthistoriker Jacques Mesnil, der sich kritisch mit dem  Théâtre des Champs -Élysées auseinandergesetzt hat, pointiert diese konträren Ansichten von Thomas und Van de Velde zur Aufgabe eines Musiktheaters: „Er [Gabriel Thomas] wollte ein Theater „de bien-être“ (des Wohlbefindens) schaffen, das auch, um es mit den üblichen Worten zu sagen, ein „Tempel der Musik“ sein sollte. Für diejenigen, die verstehen, was damit gemeint ist, gibt es aber einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Ansichten. Ein Tempel der Musik wäre ein Theater im Geiste Bayreuths, wo man kommt, um in ehrfürchtiger und gedämpfter Stille wahren Kunstwerken zu lauschen, die die Aufmerksamkeit des Publikums ganz in Anspruch nehmen. Das Theater „de bien-être“ wäre ein Theater, in dem die internationalen Snobs, auf deren finanzielle Unterstützung man sich sehr freut, die Toiletten ihrer Frauen oder Mätressen vorführen würden.“[20]

Auch der Kunsthistoriker, -kritiker und Museumskurator Paul Jamot, Propagandist des  Théâtre des Champs Élysées und von August Perret, meint „Ein Theater ist kein Konferenzraum. Die Show, die wir sehen wollen, findet auf der Bühne statt; aber es gibt auch eine im Saal. … Zumindest in Frankreich wäre es den Frauen und vielen Männern verdorben, wenn wir die besten Chancen, sich zu zeigen und gesehen zu werden, abschaffen würden.“[21]

Van der Velde versucht, den widersprüchlichen Bedürfnissen gerecht zu werden: Anstelle eines rechteckigen Grundrisses für den Saal, der allen Zuschauern ein gutes Sehen und Hören ermöglicht hätte, wählt einen runden Raum in „italienischer Tradition“, um eine maximale dekorative Wirkung zu erzielen.

Henry van de Velde – Ansicht des Raumes, entsprechend dem unausgeführten Entwurf. [21a]

Van de Velde löst dabei die ästhetische Schwierigkeit die Verbindung zwischen dem quadratischen Raum der Bühne und dem runden Zuschauersaal herzustellen, indem er die bogenförmige Verlängerung der Bühnen- und Proszeniumswände den geschwungenen Linien der Balkone des Saals entgegensetzt und dabei sich auf sein Rhythmusgefühl als Zeichner verlässt.

DE L’ENTRÉE SUR SCENE. Skizze zum ‘Théâtre des Champs-Elysées’ in Paris. Abb. aus Henry Van de Velde, Geschichte meines Lebens

Die Gestaltung erfolgt nicht aus konstruktiven Überlegungen, sondern aus einer ästhetischen Sensibilität heraus:

 „Die Gesetze und Bedingungen der Schönheit währen ewig – die Verhältnisse der Linien zu einander, der Farben zueinander und des verschiedenen Materials zueinander kann man verschiedenartig empfinden. Aber die Natur dieser Sensibilität bleibt dieselbe. Sie schöpft aus dem Mächtigsten und Reinsten, was in uns ruht – aus der Wollust, mit der wir uns in direkte Verbindung mit dem setzten, was das innerste Wesen aller Dinge ausmacht – mit dem Rhythmus. Durch die Wollust, mit dem wir diese Verhältnisse der Linien, der Farben und des Materials empfinden, sind wir zum Begriff der Schönheit der Architektur gelangt (…).“[22]

Die für offizielle Persönlichkeiten bestimmten Proszeniumslogen lässt er fort. Stattdessen nutzt er die weit vorgezogenen offenen Loggien der Proszenium-Segmente für die Zu- und Ausgänge zu beiden Seiten der Bühne und für die Theaterbesucher,  die dort während der Pausen promenieren, in den Zuschauerraum sehen und von dort gesehen werden konnten.

Henry van de Velde et R. Bouvard: Nicht ausgeführter Plan auf der Höhe der ersten Logen (Ende März 1911) .[22a]

Erst jenseits dieser Proszeniums-Segmente soll der eigentliche Zuschauerraum beginnen.  Bei weiter nach vorne gezogenen Balkonen und von den höheren Galerien wäre das Sichtfeld auf die Bühne unzureichend gewesen. Diese Form der Balkons und Loggien in van de Veldes Plänen von Dezember 1910 und von März 1911 sollte die Grundlage für die spätere Bauausführung sein.

In genannten Plänen erkennt Christian Freigang [23] auch ein Proszenium, in dem ein Orchestergraben geplant ist und die – in abgedeckter Form – zugleich eine bespielbare Vorderbühne bildet, also ein von Littmann inspiriertes Bühnenmodell.

Kapitel VI: Auguste Perret tritt hinzu

Was nun folgt, entwickelt sich zur Kontroverse über die Urheberschaft des Théâtre des Champs Elysées.

Ursprünglich war, wie gesagt, eine Eisenkonstruktion als Grundgerüst für das Theater vorgesehen. Wegen des dazu hohen finanziellen Aufwandes zieht van de Velde selbst aus Kostengründen eine Konstruktion aus Stahlbeton (béton armé) in Betracht. Sein Freund, der Maler Théo van Rysselberghe weist ihn auf Auguste Perret hin, der sich auf Betonkonstruktionen spezialisiert hat und zusammen mit seinen beiden Brüdern Gustave und Claude die Firma „Perret Frères-Architectes-Constructeurs-Béton Armé“ führt.

Auguste Perret (1874-1954) vor Entwuirfszeichnungen der Kirche von Raincy und des Theaters der Ausstellung von 1925 [23a]

Die Firma Perret geht auf den Steinmetz Claude Marie Perret zurück,  der als 20-Jähriger in Paris mit revolutionären Ideen in Berührung kommt. Er schließt sich dem Aufstand der Kommune 1871 an und wird nach dessen Niederschlagung beschuldigt, an der Brandlegung der Tuileries beteiligt gewesen zu sein. Um den Repressionen zu entgehen, flieht er mit seiner Frau nach Brüssel. Hier gründet er seine erste Baufirma, und dort werden seine drei Söhne (Auguste, Gustave und Claude) geboren. Die Firma floriert, doch 1880 nach der Amnestie für die Aufständischen der Kommune, kehrt er nach Paris zurück. In seine Baufirma von 1883 treten nach und nach seine Söhne ein. Das Unternehmen firmiert von 1897-1905unter dem NamenEntreprise Perret et Fils, dann – nach dem Tod des Vaters – von 1905-1954als Entreprise Perret Frères – Architectes – Constructeurs – Béton Armé.

Das Haupt dieser Firma ist Auguste Perret, der wie dann auch sein Bruder Gustave an der École des Beaux-Arts in Paris studierte. Beide wurden von dem Architekten und Architektur-theoretiker Julien Guadet nachhaltig beeinflusst. Nach Guadet sollten sich Respekt vor der Tradition mit einer modernen, rationalistischen Konzeption und Funktion von Gebäuden, neue Materialien und technische Konstruktionen berücksichtigend, verschmelzen.

Ab 1894 ist Auguste Perret im väterlichen Bauunternehmen tätig. Seit 1900 beschäftigt er sich mit Bauten in Eisenbeton und wird zu einem der Pioniere des Stahlbetonbaus (parallel zu François Hennebique und Eugène Freyssinet). In seinem Büro arbeitet zwischen 1908 und 1909 u.a. Le Corbusier (noch unter seinem eigentlichen Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris). Perrets erste Stahlbetonbauten sind 1904 das Wohnhaus 25-2, Rue Franklin, Paris und 1907 die Auto-Garage in der Rue Ponthieu, Paris (nicht mehr erhalten).

Bedeutende Bauten nach dem Théâtre des Champs-Élysées (von 1911-1913) sind 1923 die Pfarrkirche Notre-Dame in Le Raincy, ein dreischiffiger Hallenbau in Sichtbeton unter Verwendung standardisierter Bauelemente, 1924 der „Tour Perret“ in Amiens, das erste Stahlbeton-Hochhaus in Europa, 1932 das Wohngebäude 51-55 rue Raynouard, Paris, 1936  das Mobilier national (staatliches Möbellager für Behörden und Ministerien), Paris und  1939  das Musée des Travaux Publics (heute das Palais d’Iéna) in Paris. Von 1945-1954 war er hauptverantwortlicher Stadtplaner für den Wiederaufbau des von den Alliierten völlig zerstörten Le Havre, das 2005 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde.

Ein Exkurs

Wir unterbrechen hier die Chronologie des Theaterbaus, um in einem Exkurs die Kontroverse um die Urheberschaft am Théâtre des Champs-Élysées und seine architekturgeschichtliche Einordnung  zu verstehen. Dazu begeben wir uns in das Frankreich am Ausgang des 19. und in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

  • Der Weg aus der Krise des Architektenberufs

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zeichnet sich eine Krise des Architektenberufs ab. Nach Auffassung des Architekten und Ingenieurs Emile Trélat, Eleve der École Centrale, der bedeutenden Pariser Ingenieurschule,  hatte „der Architekt die Fähigkeit verloren, die Anforderungen einer Epoche zu erfüllen, die ihrerseits dem Architekten das Recht verweigerte, im Namen der Kunst ihr Interpret zu sein. Die Situation sei umso schlimmer, als es keine systematische Ausbildung gebe und die Architekten gezwungen seien, verschiedene Materialien zu verwenden, deren wissenschaftliche Eigenschaften sie nicht kennen würden. Infolgedessen fühlten sie sich den Ingenieuren gegenüber relativ ohnmächtig und unterlegen.“[24] Die Ursache sieht Trélat in einer fehlenden technischen Ausbildung. Wie Eugène Viollet-le-Duc, der 1863 sich vergeblich bemüht hatte, den Ausbildungskanon der École des Beaux-Arts zu reformieren,  wandte er sich gegen deren Lehrmonopol. Deshalb gründet Trélat zusammen mit Viollet-le-Duc 1864 die École Spéciale d’Architecture nach dem Vorbild der École Centrale, aus der u.a. Gustave Eiffel hervorging. Die École Spéciale sollte versuchen, ein neues Profil für den Architekten zu definieren, das auf der Aneignung bestimmter Fähigkeiten des Ingenieurs beruhte.

Wenn Architektur als „Kunst der Raumgestaltung“ untrennbar mit der Idee der Konstruktion verbunden ist und ihre Wurzeln im rationalistischen Denken hat, dann musste  der Architekt wieder zum Baumeister werden. „Im Sinne dieses rationalistischen Ideals des Baumeisters versuchten die Brüder Perret die Integration von Architektur und Bauwesen: Pläne, Berechnungen, Ausführungen lagen in derselben Hand. Perret beanspruchte ausdrücklich den Titel des Baumeisters, der für ihn die eigentliche Kompetenz des Architekten bedeutete. In einem Interview, das er 1926 der Zeitschrift Comoedia gab, stellte er den offiziellen, an der École des Beaux Arts ausgebildeten Architekten dem Bauarchitekten gegenüber, dessen Ziel nicht so sehr darin bestand, nach Rom, in die Villa Médici, sondern auf die Baustelle, in die Fabrik und in die Werkstatt zu gehen, um die Bedingungen des Bauens zu studieren. Der Architekt ist nicht nur ein Künstler, ein Träumer der Form; die Linien eines Projekts müssen von ihm ausgeführt werden, er muss bauen, konstruieren, erreichen“.[25] Jakob Ignaz Hittorff, der, wie sein Gare du Nord und die kühnen Dachkonstruktionen des Panoramas und der Zirkusbauten zeigen, zugleich Architekt und Ingenieur war,  hätte diesen Satz auch  unterschreiben können.

Aber die Krise des Architektenberufs lag nicht nur beim Reformunwillen der École des Beaux-Arts, sondern an der zunehmenden Arbeitsteilung in den industriell fortgeschrittenen Ländern. „Die Firma der Gebrüder Perret, die den gesamten Produktionsprozess von der ersten Skizze bis zu den Arbeiten auf der Baustelle kontrollierte, war schon zu einer Ausnahme im französischen Bauwesens des zwanzigsten Jahrhunderts geworden.“ [26]

Nach dem Gesagten wird klar: Mit dem Selbstverständnis von Auguste Perret war beim Bau des Théâtre des Champs-Élysées eine Begrenzung nur auf die technische Seite der Betonkonstruktion nicht zu machen. Er griff mit eigenen Vorstellungen in die archi-tektonische Gestaltung ein, was zwangsläufig zu einem Konflikt mit van de Velde führen musste.

  • Die Konstruktion einer nationalen architektonischen Identität

Die Forderung nach einer nationalen architektonischen Identität in Frankreich beginnt bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Im Zuge eines wachsenden Nationalismus in Frankreich Anfang des 20. Jahrhundert, nicht nur ausgelöst durch die Niederlage im Krieg 1870/71, sondern auch durch innerfranzösische gesellschaftliche Auseinandersetzungen, richtet sich die Kritik zunächst gegen den art nouveau, den Jugendstil, insbesondere den im deutschen Kunsthandwerk, das als unliebsame Konkurrenz erlebt wird, und weitet sich auch auf die Architektur aus.  Ein Wortführer dieser Kritik ist der Kunstschriftsteller André Vera.  Eine vollständige Reform der »angewandten« Künste Architektur, Gartenkunst und des Kunsthandwerks, werde sich nur im Zuge der nationalen Erneuerung vollziehen. „Die vorangegangene Epoche sei mit ihrer Betonung des »Gefühls«, von Pazifismus und Sozialismus (…) beherrscht gewesen. Die Regierung habe wegen ihres Antimilitarismus und Atheismus die nationale Tradition nicht bewahrt.“ [27] „Nunmehr aber würden wieder Klarheit, Maß und Harmonie in allen Kompositionen Einzug halten. Gemeinsames Wirken der Künstler würde die frühere individualistische Entäußerung ablösen.“ (André Vera) [28]

 „Dem mystisch-irrationalen, geschmackslosen, aber effizient organisierten Deutschen wurden bestimmte nationale Charaktere gegenübergestellt, eben diejenigen von clarté, simplicité und raison. …. So paare sich das herausragende französische Wesensmerkmal, die Vernunft und Logik in der Konstruktion und Wahrnehmung der Umwelt, mit deren gefühlsmäßig erfahrbarer Beseeltheit. Dieser Grundsatz bildet auch das maßgebliche Fundament der späteren Kritik an der Maschinenästhetik der Internationalen Moderne.“[[29]]

In den Auseinandersetzungen um eine nationale architektonische Identität, die die Form eines Kulturkampfes annahmen, schlugen sich also deutliche volkspsychologische Klischees und ein Chauvinismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nieder.

In der Einforderung einer neuen Formensprache mit Vereinfachung und Typisierung historischer Bauformen, hergeleitet aus der französischen Architekturtradition und den genannten französischen Wesensmerkmalen, wird sie zum Modell einer zeitgemäßen nationalen französischen Moderne.

 „Nicht mehr der Dekorateur und Skulpteur, sondern der Architekt dominiere nunmehr wie die Baukonzeption. Er lasse Ornament nur als Relief an markanten Stellen zu, komponiere ansonsten durch richtig proportionierte Oberflächen…Der neue Stil sei symmetrisch, ruhig und sichtbar gelassen, im Gegensatz zur Bewegtheit der Fassaden zuvor…Die Abwendung vom internationalistischen Jugendstil werde die besonderen Merkmale der französischen race zum Ausdruck bringen: Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie.“[30]

Dies sei der Kern des zivilisatorischen Wirkens der französischen Nation, das von der griechischen Antike, dann über Rom und seit der Christianisierung im Mittelalter schließlich auf Paris übergegangen sei. „Der griechische Geist, von Logik, Schönheit und Einfachheit geprägt, habe zunächst die orientalischen Barbaren zivilisiert und sei anschließend die Grundlage Europas und insbesondere Frankreichs und Paris geworden… Die erfolgreiche Fortsetzung des uralten antiken Erbes stellt eine essentielle Verpflichtung für die Zukunft und somit einen wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität dar.“ [31] Dieser  moralisch und historisch vermittelte Zivilisationsauftrag war Grundkonsens innerhalb der katholischen, laizistischen, monarchistischen und demokratischen Lager. In den Bauformen und –motiven Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie einzufordern, stiftete nationale Identität.

Nach dem Großen Krieg wendet sich diese Forderung nach einer nationalen Architektur zunehmend gegen die sog. Internationale Moderne und ihren Protagonisten Le Corbusier.  Das aktuelle französische Bauen müsse darauf zielen, Zeitgemäßes mit der Bewahrung nationaler Traditionen zu  verbinden. Als Hauptprotagonist dieser Auffassung gilt fast unangefochten der Architekt Auguste Perret (1874-1954),  der beansprucht, das moderne Material Eisenbeton in eine schlichte, klassizistische Form zu überführen.

Eine Schlüsselstellung hierin nehmen das 1911-13 vom  Atelier Perret ausgeführte Théâtre des Champs-Elysées in Paris  und die in seinem Zusammenhang geführten Diskussionen ein.

Kapitel VII: Auguste Perret greift in die architektonische Gestaltung ein und verdrängt van de Velde

Van de Velde lernt Perret am 26. Januar 1911 kennen und lässt Perret drei Tage später seine Pläne zukommen mit der Bitte um einen Kostenvoranschlag für eine Ausführung des Rohbaus in armiertem Beton. Wenige Tage später antwortet Perret, dass man die Ausführung übernehmen wolle und dass mit einer bedeutenden Einsparung gerechnet werden könne.Was jetzt folgt, ist die überaus geschickte Strategie Auguste Perrets, van de Velde aus der Planung des Theaters heraus zu drängen und die Urheberschaft für den Bau zu beanspruchen:

Im März 1911 bittet Perret van de Velde die Stützen der Halle zur besseren Druckverteilung und Tragfähigkeit zu verändern. Van de Velde gibt dieser rein technischen Bemerkung nach, deren Richtigkeit er nicht überprüfen kann, und passt seine Pläne entsprechend der Stahlbetonbauweise an. Diese Verbesserungen finden sich in den von Bouvard und Van de Velde unterzeichneten Plänen vom 30.März 1911. An diesem Tag wird die Firma Perret mit der Ausführung des Rohbaus betraut.

Aus der Sicht des Instituts Auguste Perret wird dieser Vorgang völlig anders dargestellt: Auf der Grundlage von Van de Veldes Plänen sei das Theater in Stahlbeton nicht baubar gewesen und man habe mit der Untersuchung der Struktur des Gebäudes begonnen.

A. et G. Perret 1910-1913. Stahlbeton-Skelett des Théâtre des Champs-Élysées [31a]

In einem Artikel des Institut Auguste Perret liest sich das so [32]: „Innerhalb weniger Tage nach ihrer Beratung entwickelten die Brüder Perret eine innovative Konstruktionsmethode. Sie legten ihren Zirkel, ihre Reißschiene (T-Schiene) und ihr Winkelmaß auf den Entwurf von Bouvard und Van de Velde und begannen, nach dem geeignetsten Gerüstraster zu suchen. Nach mehreren Versuchen entwickelten sie einen Plan, der die großen Räume des Theaters (Empfang, Saal, Bühne) durch ein System aus einem viereckigen Raster und zwei konzentrischen Kreisen (der eine bestimmt die Hülle des Saals, der andere seine Zugänge) miteinander verband. Der Schnittpunkt der Kreise und des Rasters ergab vier Gruppen von Pfosten, die die vier Pylonen der Primärstruktur des Theaters bilden sollten.“ 

Die Brüder Perret hätten dadurch das vorherige Projekt umgewälzt. Gleichzeitig wird behauptet, dass van de Veldes Plan vom 30. März 1911 ohne Kenntnis des Rahmenplans von Perret und die Lösung mittels der „Pylone“ undenkbar sei.

„Die Herren Perret behaupten“, wie Jacques Mesnil in seiner kritischen Auseinandersetzung [[33]] mit Perret schreibt, „dass die gesamte Konstruktion und alle architektonischen Formen des Theaters aus dem von ihnen angewandten Bausystem hervorgehen.“  Und er zitiert hier aus einem Brief von Auguste Perret vom 8. Oktober 1913: „Sie schreiben uns (es wäre wirklich schwierig, dass es anders sein könnte) die Gruppe der vier Zweiergruppen oder Pylonen im Raum zu.“ Nun, aber es ist vorbei, es ist entschieden, das ganze Theater ist da (sic) … Aus diesen vier Gruppen von zwei symmetrischen Punkten, die auf zwei großen Balken ruhen und zwei Träger stützen, leitet sich die Architektur des gesamten Gebäudes ab.“[34]

„Perret,“ so Christian Freigang, „legitimierte diese Übernahme vor allem mit ästhetischen Argumenten: Sein Betongerüst habe in konsequenter Anwendung rationalistischer Grundsätze eine klassizistisch regelhafte und rektanguläre Komposition zur Folge. (…) Die Bautechnik als entscheidende Determinante, eine streng logische Geometrisierung und die Referenz auf die Tradition ergänzten sich zu einer ästhetischen Werkeinheit, hinter die bloße funktionale Erfordernisse oder subjektiv-sensualistische Wahrnehmungsaspekte zurücktraten. Der décoration wird die construction als essentielle Eigenschaft der neuen klassizistischen Moderne entgegengesetzt.[35]

Perrets Behauptung, sein Konzept bezüglich der Stützenpaare determiniere  logisch die gesamte Architektur des Theaters, ist für Jacques Mesnil eine „unglaubliche Verwirrung in den heutigen Kunstbegriffen“: „Das heißt für die Herren Perret, ein Bausystem und ein architektonisches Kunstwerk sind dasselbe! Sie scheinen nicht zu begreifen, dass ein vollkommen solides und robustes Gebäude völlig ohne Schönheit und künstlerischen Wert sein kann. [36]

Van de Velde, der „ausführlich auf die wirkungs-ästhetischen, sensualistischen Qualitäten der äußeren Erscheinung seiner Architektur abhob“ (Christian Freigang), verlor nicht nur zunehmend seine Position als beratender Architekt, auch die Bewertung und Bedeutung seiner Theaterentwürfe wurden herabgewürdigt, obwohl auf formal architektonischer Ebene Perrets Änderungen wenig tiefgreifend waren.

Mit Billigung von Gabriel Thomas und einigen Mitgliedern des Verwaltungsrates der  Société du Théâtre des Champs-Elysées hatte sich Auguste Perret über die Fertigung der Beton-Konstruktion hinausgehend auch in die architektonische Gestaltung hineingedrängt. Von seinen Änderungen sollen nur zwei herausgegriffen werden: die des großen Saals und der Fassade.

Der große Saal wird durch Wegfall der Loggien und Verlängerung der Balkone bis zum Bühnenpfeiler verändert.  Die Balkonvergrößerung erfolgt auf Kosten der Sichtverhältnisse und der Schönheit der Linienführung und wird von van de Velde in seinen Memoiren so beklagt: „…die Linien der Balkone [waren] in einer Weise verändert, daß jede Spannung verschwunden und dass sie zu weichen, leeren Formgebilden geworden waren, die mühsam bis zum ersten Pfosten des Betonskelettes führten. Die Brüder Perret waren skrupellos vorgegangen. Sie scheuten sich nicht, meinen Entwurf frevlerisch zu verstümmeln, um dadurch die Platzzahl des Theaters – im Programm waren achtzehnhundert Sitze festgelegt – auf zweitausend zu erhöhen! Den Verwaltungsrat hatte Gabriel Thomas dazu gebracht, alles zu torpedieren, woran wir monatelang mit größtem Eifer gearbeitet hatten und was die Grundlage für jedes Theater, welchen Stils auch immer, bleibt: die gute Sicht für jeden Zuschauer.“ [37]

A. & G. PERRET- Théâtre des Champs Elysées, Skizze der Halle, nach der Natur gezeichnet [37a ]

Wegen dieser Änderungen ist Leila Zickgraf der Meinung, dass das Théâtre des Champs-Élysées heute weniger als eine Manifestation der Reformforderungen zu betrachten [ist], als vielmehr als ein Rückzug von ihnen.“[38]

Besonders deutlich wird der Eingriff Perrets bei der Fassade. Ihre Gestaltung stellt für den Architekten eine besondere Herausforderung dar, denn sie ist sozusagen das Gesicht des Gebäudes, sie bestimmt sein äußeres Erscheinungsbild, in ihr spiegelt sich der architektonische Stil wider.

Hier beim Théâtre des Champs-Elysées ergab sich ein zweifaches Problem. Erstens konnte die Fassade die innere Konstruktion des Theaters nicht aufnehmen, da ein kleinerer Theatersaal (die Salle de Comédie) oberhalb des Foyers und zwischen großem Saal und Fassade quer zur Hauptachse des Gebäudes eingefügt war. Der mittlere Teil der Fassade fiel somit mit der Seite dieses kleinen Theaters zusammen.

Zweitens musste der Bau und d.h. auch seine Fassade, die auf einer Seite direkt an weitere Häuser angrenzte, in die Fluchtlinie der bestehenden Bebauung und ihrer Geschosshöhe eingefügt werden. Henry van de Velde hat diesen Problemen Rechnung getragen und dem Komitee verschiedene Entwürfe vorgelegt.

Henry van der Velde – Fassade des Théâtre des Champs-Élysées.[38a] 

In diesen Fassaden-Entwürfen ist die Grundstruktur der späteren Fassade schon erkennbar, sie unterscheidet sich aber durch die Fortsetzung der Linie der benachbarten Häuser.

„Ende März 1911“, schreibt van de Velde in ‚Geschichte meines Lebens‘, „hatte das Komitee noch keine Entscheidung über die Ausgestaltung der Fassade getroffen. Ich legte im weiteren Verlauf verschiedene Skizzen vor, die nicht angenommen wurden. Mit der Zeit wurde ich mir klar darüber, daß hier ein System vorlag. Die Sache roch nach Intrige.“[39]

Auch ein neuer Entwurf einer steinernen Fassade im Mai 1911 mit einem Aquarell von Emile Antoine Bourdelle, auf dem dieser die Reliefs für den oberen Fries und die jetzt abgesenkten Seitenflügel eingezeichnet hat, wird vom Verwaltungsrat abgelehnt.

Étude de la façade de Bourdelle [39a]

Auguste Perret hat zunächst als Fassade einen großen Kasten mit einen blinden Aufsatz entworfen, überragt von einem gebogenen Giebel. Der Entwurf wird vom Bauherrn verworfen.

Perrets Entwurf passt sich dann den letzten Skizzen von Bourdelle an und präsentiert im Juli 1911 zur Überraschung van de Veldes eine  Zeichnung der Fassade, die angenommen wird. „Dieses unqualifizierbare Verhalten,“ so van de Velde, „das offenbar mit dem Präsidenten und einigen Mitgliedern des Verwaltungsrates als Komplicen abgesprochen war, machte mich rasend.“[40]

Théâtre des Champs, Fassadenentwurf Auguste Perret – Élévation de la façade principale, solution réalisée selon les esquisses d’Antoine Bourdelle (Rand beschnitten)

Daraufhin verlangt Van de Velde die Auflösung des Vertrags, bleibt aber zunächst noch nominal ‘Architecte Conseil’ (beratender Architekt). Die weitere Entwicklung zeigt, dass Gabriel Thomas seine Zusicherung, keine weiteren wesentlichen architektonischen Änderungen zuzulassen, nicht einhält. Dies führt zum endgültigen Bruch van de Veldes mit der Société du Théâtre des Champs-Elysées.

Kapitel VIII: Die Rezeption des neuen Theaters

Wie nationalistisch und chauvinistisch die damalige Atmosphäre war, zeigte sich daran, dass selbst das nun 1913 fertig gestellte Theater als „architecture germanique“ bezeichnet wurde und wie in der Zeitschrift Le Moniteur zu lesen ist, Kritiker, die „architecture boche“ anprangerten und „dem Gebäude den Spitznamen „zeppelin de l’avenue Montaigne“ gaben. „Glücklicherweise“, heißt es im Le Moniteur, „entdeckten einige aufgeschlossene Menschen den Modernismus und billigten ihn, wie beispielsweise die Zeitschrift ‚Art et Décoration‘, die 1913 schrieb: „Die Arbeit der Architekten und Dekorateure des neuen Theaters zeigt in gewisser Hinsicht, was in unserem Land versucht und erreicht werden kann, wenn die Republik die Renaissance-Rathäuser und neogriechischen Postämter endgültig satt hat.“ [41]

Weitaus wirkungsvoller und nachhaltiger als die Kritiker aus der nationalistischen Ecke und auch die Kritik von Mesnil, der mehr dem Sozialismus und Anarchismus nahe stand, erweist sich das hohe Lied auf Perrets Théâtre des Champs-Elysées, das der Louvre-Abteilungsleiter und Kunstkritiker Paul Jamot, singt: 

Perrets Konzept habe sich aus antiken Architekturprinzipien abgeleitet. „Ohne antike Bauten oberflächlich zu imitieren, sei hier analog zum griechischen Bauen die Logik der Konstruktion in eine perfekte ästhetische Form eingebunden, Proportionskanons wirkten, ohne sie überbrachten akademischen Prinzipien zu entlehnen.“[42]

Jamot spannt in seiner Eloge auf das Théâtre des Champs-Elysées den Bogen noch weiter: „…nicht die Vetternwirtschaft eines demokratischen Wettbewerbs [habe] regiert, sondern in erster Linie ein quasi adeliger Mäzen, eben Gabriel Thomas. Erst dadurch sei ermöglicht worden, den Einfluss der schädlichen Jugendstil-Architektur auszuschalten, welche die nationale „Blut- und Geistestradition“ von Einfachheit, Vernunft und Klarheit unterbrochen habe. Im antidemokratischen Lob des heilbringenden Einflusses monarchischer Mäzene und vor allem in der Beschwörung der „Bluts- und Geistestradition“ argumentiert Jamot unmissverständlich aus der Perspektive jener „Konservativen Revolution“, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert und in der Dreyfus-Affäre verstärkt hatte.[43]

Die monarchistische Tendenz entspricht den politischen Zielen von Charles Maurras und seiner politischen Gruppierung Action française, die gerade im  Vorfeld des Ersten Weltkriegs mit ihren antirepublikanischen, antiparlamentarischen und antisemitischen Attacken und Aktionen eine erste Hoch-Zeit erlebten. Tatsächlich finden sich sämtliche Protagonisten dieses Theaterbaus – Jamot, Thomas und Denis – in entsprechenden Zirkeln wieder, insbesondere im Umfeld der Zeitschrift L’Occident.   „Charakteristika des in der französischen Zivilisation gipfelnden Okzidents seien – so das von ihr propagierte Programm- die ewig unumstößlichen Eigenschaften des „Konstruktiven“, der Dauer, Logik und Eleganz.Kunst sei höchster Ausdruck der Nation, kein republikanisches Propagandainstrument zur Verführung der Massen; entsprechend müssten sich Denken und Religion der Nation in ihren Kunstwerken einfach und logisch manifestieren. (…) Vor diesem Hintergrund gewinnt das Théâtre des Champs-Élysées eine eminente politische Bedeutung als programmatischer Bau einer antidemokratischen modernen Architektur  Frankreichs. Architektonische Qualitäten – Proportioniertheit, Logik, Komponiertheit – werden unter den vorgenannten Prämissen zu Abbildern gesellschaftlich-hierarchischer Ideale.“[44]

Der Satz des antiken Grammatikers Terentianus Maurus, Pro captu lectoris habent sua fata libelli” („Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale.“) gilt auch, wie wir gesehen haben, für Bauwerke, die je nach Zeit und Umständen unterschiedlich „gelesen“, das heißt verstanden und benutzt werden.

Für die Mehrzahl der heutigen Besucherinnen und Besucher des Théâtre des Champs-Élysées liegen aber die angesprochenen geistigen und politischen Strömungen soweit zurück, dass die architektur-geschichtliche Perspektive hinter der Frage zurücktritt, was den Bau auszeichnet, dass er zur Ikone der französischen Moderne wurde. Die Antwort wollen wir im zweiten Teil unserer Betrachtung geben, die sich mit dem aktuellen Erscheinungsbild beschäftigt.

II. Teil Beschreibung von Bau und Dekoration

Kapitel I:  Die äußere Erscheinung

Insbesondere dank der Hauptfassade an der Avenue Montaigne wird das Théâtre des Champs Elysées – bald wegen ihrer schlichten Strenge und Geometrie als Vorläufer des Art déco beschrieben – zur gefeierten Inkunabel der französischen Moderne. Die Fassade gliedert sich in einen nur leicht vorgesetzten, dominierenden Mittelrisalit und abgesenkte Seitenteile. Der linke Seitenteil mit den Zugängen zu den Theaterrestaurants grenzt direkt in gleicher Fluchtlinie an den Gebäuden der Avenue. Der rechte Seitenteil in Form eines Viertel-Zylinders mit drei Eingängen zu den beiden  kleinen Theatersälen (Comedie und Studio) geht an der Impasse des Douze Maisons in die Seitenfassade über, die unverhüllt mit der Ziegelfüllung in Betonrahmen die Konstruktion des Gebäudes zeigt.

Théâtre des Champs-Elysées, 2025 Foto: Wolf Jöckel

Die mit hellem Marmor verkleidete Hauptfassade, zeichnet sich durch eine feierliche Gestaltung und Ordnung aus, die in der nächtlichen Beleuchtung besonders zur Geltung kommt.

Foto: Wolf Jöckel

Den zentralen Hauptkörper begrenzen zwei hohe paarige Pilaster-artige Lisenen, die bis zum Gesims reichen und den Rahmen für drei Fensterachsen und die Haupteingänge und insbesondere für die drei Flachrelief-Metopen im Gebälk von Antoine Bourdelle bilden. Die Fensterachsen und Reliefs sind durch Pilaster abgegrenzt, sodass sich eine vorherrsche vertikale Gliederung der Fassade ergibt. Das dreiteilige zentrale Relief mit dem Titel „Meditation des Apollo“ zeigt in der Mitte Apollo mit einer Leier, begleitet von Gloria, der geflügelten Künderin des Ruhms, und die neun Musen, die herbeieilen, um den Gott der Künste zu begrüßen.

Fassade: Bourdelles Apollo-Fries Foto: Wolf Jöckel

Die Fenster und Eingänge an den Seitenteilen zeigen die gleiche Gliederung; die Reliefs sind aber hier direkt oberhalb der Türen angeordnet.

Die Themen der Reliefs sollten dem Betrachter zeigen: Hier im Théâtre des Champs-Elysées, das auch eine Kunstgalerie beherbergte, ist ein Ort der Musen an dem sich Skulptur & Architektur, Musik, Tanz, Tragödie und Komödie versammeln. Die Kunstgalerie wird 1923 in das heutige Studio umgewandelt.

1910 hatte Émile-Antoine Bourdelle (1861-1929), Bildhauer, Maler, Illustrator und Kunst-lehrer, von Thomas den Auftrag für die Gestaltung der Fassade des Théâtre des Champs-Elysées erhalten.  

Bourdelle travaillant aux fresques du Théâtre des Champs-Elysées [44a]

Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein fehlender Dialog zwischen Architektur und Bildhauerei dazu geführt hatte, dass sich „beide Kunstformen eher abschwächten, als dass sie sich gegenseitig aufwerteten“[45], will er ein Theater schaffen, „das Architektur und Bildhauerei in großem und eindrucksvollem Maßstab miteinander verbindet; ein Theater, das auch als weltliche Kathedrale fungieren sollte. (…)  Ebenso wie die Aufführungen auf der Bühne sollten auch die Wandmalereien im Inneren und die Skulpturen außerhalb des Theaters moderne Ästhetik und Theorien widerspiegeln. Das fertige Gebäude sollte zu einem Schaufenster für das klassische Revival der französischen Kunst zu Beginn des 20.Jahrhunderts werden.“[46]

Programmatisch für diese Einbindung der Skulptur in die Architektur ist Bourdelles Metope, die ganz links über einem Seiteneingang des Theaters zu sehen ist und den bezeichneten Titel Sculpture et Architecture trägt. Sie zeigt die Personifizierungen der beiden Bereiche, die nach Bourdelles Ansicht zusammenwirken müssen, um große monumentale Kunst zu schaffen und ist so von einem hohen symbolischen Wert.

Sculpture et Architecture.  Links die Personifikation der Skulptur, in ihrer Hand den geflügelten Genius haltend, rechts die der Architektur, die eine Säule oder Stele, Grundelement eines Bauwerks umfasst. Foto: Wolf Jöckel

Die Bas-Reliefs Bourdelles zeichnen sich durch klare, z.T. kräftig betonte, oft auch dynamische Linien und eine Vereinfachung der Form aus. Durchgehend ist die Plastizität reduziert. Bewusst ist das Figurative flach gehalten, damit es mit der Architektur besser harmoniert. Klar sind Einflüsse der von Bourdelle bewunderten archaischen Metopen der griechischen Tempel in Selinunt auf Sizilien, aber auch der griechischen Vasenmalerei erkennbar. Schon 1905 wurde „Bourdelles Werk als „hellenisch“ bezeichnet und speziell mit der antiken griechischen und römischen Skulptur in Verbindung gebracht“.[47]

„Die Marmorverkleidung, die Großflächigkeit, das klare Mauerrelief, die anschaulich gestaltete Tektonik und die diszipliniert der Architektur untergeordneten Reliefs entsprachen der Forderung nach Vereinfachung und Klarheit und dem „purifizierenden griechischen Geist“ (….) Wesentlich für den Erfolg der Theaterfassade war wohl die Art, wie die historischen Referenzen eingesetzt wurden. Die Marmoroberfläche, das Verhältnis von Mauer und Reliefs, die Anordnung des zentralen Fenstertriplets und der Pilaster lassen sich auf Gestaltungsprinzipien der Antike und des französischen 17. und 18. Jahrhunderts zurückführen, ohne dass sie als Stilzitate begriffen werden könnten.“ [48] 

Bourdelle war wie Auguste Perret der Ansicht, „dass Skulpturen die flachen Wandflächen nicht durchbrechen, sondern nur dort installiert werden sollten, wo sie nicht von der Architektur ablenken. (…) Die Skulptur trug (…) zur Schönheit und Monumentalität des Theaters bei, ergänzte die geometrischen Formen und schuf eine visuelle Harmonie zwischen Architektur und Skulptur, die beide Medien hervorhob. Durch eine synkretistische Beschwörung heidnischer, griechischer und christlicher Göttergestalten kennzeichnete Bourdelle das Theater als einen besonderen, ja heiligen Ort. “[49]

Die ekstatischen Bewegungen und Gesten auf den Reliefs der Musen, aber auch auf jenen, die die Musik, den Tanz und die Tragödie zum Thema haben, wurden von der von Bourdelle bewunderten Isadora Duncan mit ihrer Wiederbelebung des Tanzes der Antike inspiriert.

 In der Tanz-Metope ist links der russische Tänzer Waslaw Nijinsky von den Ballets Russes dargestellt. Nijinsky, bekannt durch seine Auftritte  in Stravinskys Le sacre du printemps und seine Rolle eines Fauns in Claude Debussys Nachmittag eines Fauns, umstritten wegen unorthodoxe Choreographie und sexueller Gesten, wurde von Bourdelle bewundert. „Ordnung und Chaos sind laut Bourdelle die beiden Pole, die Duncan und Nijinsky jeweils bewohnen.“[50]

Im Relief der Tragödie werden die Figuren Agamemnon und Iphigenie dargestellt, angeregt von dem Theaterstück Iphégenie à Aulide (Iphigenie in Aulis) seines Freundes Jean Moréas. (Foto: Wolf Jöckel)

Im Relief der Komödie (Foto: Wolf Jöckel) tauschen zwei Frauen lächelnde Masken aus, wobei die Frau rechts den geflügelten Helm des Hermes trägt. Hermes ist aber nicht nur Götterbote, sondern auch Gott der Wissenschaft, eng verbunden mit der Alchemie und Zauberkunst, und damit auch Gott der Magier und Gaukler und selbst ein „schelmischer Tunichtgut“, ein Komödiant.

Insgesamt zeichnet sich die Fassade, von der Auguste Perret behauptete, dass sie die Konstruktion des Gebäudes wiederspiegle, durch eine klare Ordnung und schlichte Eleganz aus. Aber erst  Bourdelle macht sie durch die skulpturale Dekoration in Metopen-Form, in der die Figuren hineinkomprimiert sind, sodass sie  in den architektonischen Rahmen passen, und mit der Thematik dieser Reliefs zu einem Tempel der Kunst. Hier wurden kompositorische und typologische Grundprinzipien aus dem französischen Klassizismus, hervorgegangen aus der Latinité, der lateinischer Identität, dem griechisch-römischen Erbe, fortgesetzt.

Eine Bausünde oder wie mit Geld alles zu machen ist

Ohne Respekt vor der Integrität des Baus ließ die Caisse des Dépôts et Consignations, seit 1970 Eigentümerin des Theaters, bei der Renovierung des Théâtre des Champs-Elysées Mitte der 1980er Jahre kurzerhand ohne eine Baugenehmigung [51] auf dem Dach des Gebäudes ein verglastes Restaurant setzen. Von der Architektenkammer verklagt, gab der Bauherr nicht zu, die Gedanken und den Stil der Architekten verraten zu haben, und gewann im Wesentlichen den Prozess, der mit einer geringen Geldstrafe endete.  Das Restaurant wurde nicht abgerissen. Aus dem ersten Dach-Restaurant, dem Maison Blanche, ist inzwischen ein italienisches Restaurant, das Gigi geworden.

Von der Avenue Montaigne aus ist es nicht zu sehen, wohl aber von den Ufern der Seine aus es ins Auge und sogar „an die Gurgel“, wie der damalige Kulturminister Jack Lang bemerkte.

Dachrestaurant auf dem Théâtre des Champs-Élysées [51a] 

Kapitel II:  Das Foyer und die Galerie

Im Sinn einer Wiederbelebung von Hellenismus und Klassizismus ist auch das Foyer als Peristyl, d.h. als ein von Kolonnaden umgebender rechteckiger Raum, gestaltet, in dem eine Mezzaningalerie eingefügt ist, die über zwei  gegenüberliegende Treppen erreichbar ist. (Foto: Wolf Jöckel)

Foto: Wolf Jöckel

Acht rechteckige Pfeiler und sechzehn Säulen ohne Sockel oder Kapitell bilden die Kolonnade. Die gleiche Strenge und Nüchternheit zeichnet auch die aufliegenden Deckenbalken aus, die quadratische oder rechteckige Felder bilden und ein Muster ergeben, das sich auf den Marmorplatten des Fußbodens widerspiegelt. Trotz der Strenge der reduzierten Formelemente wirkt das Foyer nicht kalt, sondern durchströmt eine Feierlichkeit und Erhabenheit.

Inschrift im Foyer über dem Zugang zum Zuschauerraum:

Le Theâtre des Champs-Élysées. Gegründet von Gabriel Astruc wurde es 1913 von Auguste und Gustave Perret errichtet.

Mit dieser Geometrie und Ausgestaltung folgt auch das Foyer der Konzeption der Vereinfachung der Formen und Typisierung und der Forderung nach Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie als Kennzeichen des modernen nationalen Stils. Auch hier ist die Dekoration im Erdgeschoss des Foyers sehr zurückhaltend.

Nur am Fuß der zur Mezzaningalerie führenden Treppen hat Antoine Bourdelle jeweils ein zweiteiliges Marmor-Bas-Relief-Paar geschaffen:

Foto: Wolf Jöckel

Unter den Bas-Reliefs nackter weiblichen Figuren, Allegorien der „heroischen Seele“ (L’âme héroïque) und der „leidenschaftlichen/pathetischen Seele“ (L’âme passionnée/pathétique) hat Bourdelle jeweils ein kleines Relief mit einem kleinen geflügelten Genius gesetzt, der eine Maske aus dem griechischen Theater in den Armen hält. Die Anspielungen auf das antike Erbe sind unverkennbar.

In der Galerie schmücken eine Reihe von Fresken von Antoine Bourdelle die Wände. Er malte diese Fresken in seinem Atelier nach traditionellem Verfahren auf frischem Mörtel auf den Betonplatten, die Perret ihm geliefert hatte. Sie zeigen Szenen aus der griechischen Mythologie: Pan mit seiner Flöte aus Schilfrohr, der Syrinx verfolgt, Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, Psyche, die von Eros entführt wird, hier ist Leda, die die Menschen den Göttern vorführt, Ikarus, der die Flügel, die ihn stürzen ließen, an seine Brust drückt; hier ist Maja, Apollon auf dem Rücken des Pegasus, der seine Leier, d.h. die Musik, die Kunst,  auf die Erde bringt; hier ist der Tod des Zentauren, des letzten Lehrers der Helden und hier ist die Delphische Sybille.

Leda und der Schwan. Foto: Wolf Jöckel

In anderen Bildern will Bordelle Adam und Eva und die Geschichte der Menschen nach der der Götter darstellen. Auch hier wird in der Verknüpfung der griechisch-römischen Antike mit dem christlichen Abendland auf die Wurzeln und die Tradition der nationalen Kultur als Bestandteil der französischen kulturellen Identität verwiesen.

Über zwei Treppen von der Galerie aus erreichen die Besucher das Vestibül.

Lalique-Leuchter im Vestibül. Foto: Wolf Jöckel

Auch die bandförmigen, fast monochromen Fresken im Vestibül über den Türen der Logen zum großen Saal stammen von Bourdelle. Sie zeigen einen Bilderzyklus aus mythologischen Figuren mit dem Titel „Les Temps fabuleux“.

Muse und Pegasus – Fresko über der Logentür im Vestibule d’Entrée  des Théâtre des Champs-Élysées (Ausschnitt)

Auf einem feinen Grau-Rot, Rot-Grau, in dem nur selten ein paar Nuancen von Gelb und Azur durchscheinen, heben sich die Figuren ab oder verschmelzen in kaum unterschiedlichen Rot- und Grautönen miteinander. Die Fresken gleichen mit ihrer reduzierten Plastizität und ihren dynamischen, kräftigen Linien dem Stil der Bas-Reliefs an der Fassade.

Ganz anders sind die Bilder von Edouard Vuillard, die das Foyer der Comédie schmücken.Édouard Vuillard (1886-1940) stand den Impressionisten nahe und gehörte wie Pierre Bonnard und Maurice Denis der Künstlergruppe Les Nabis an. Mit ihren kräftigeren Farben, einer klareren kompositorischen Struktur und der lebendigen Darstellung von Szenen auf dem Theater unterscheiden sie sich von dem klassizistischen Bilderzyklus Bourdelles.

Théâtre des Champs-Elysées, le foyer de la Comédie, Le Petit Café, par Edouard Vuillard

In Vuillards Bildern sind hier anders als bei anderen Künstlern wie Paul Gauguin, Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Georges Seurat und Paul Signac, die wie Vuillard dem Post-Impressionismus zugeordnet werden, noch keine Tendenzen zur Flächigkeit, Abstraktion, neuen Maltechniken oder Vereinfachung der Formen, erkennbar.

Édouard Vuillard, Le malade imaginaire‘ . Wandbild im Foyer der Comédie des Théâtre des Champs Élysées

Der begrenzte Raum dieses Beitrages lässt keine ausführliche Darstellung der Werke von  Jacqueline Marval, Ker-Xavier Roussel und Henri Lebasque zu, die ebenfalls zur Ausstattung des Theaters beigetragen haben. Unter diesen Werken soll aber zumindest der Theater-Vorhang von Ker-Xavier Roussel für die Salle de la Comédie gezeigt werden.

Vorhang des Théatre de la Comédie des Champs-Elysée von Ker-Xavier Roussel

Im „Festzug des Bacchus“ – so der Titel des Vorhangbildes – verschmilzt eine idyllisch- arkadische, mediterrane Landschaft mit mythologischen Figuren: Im Zentrum der in Rot gehüllte Gott des Weines, des Rausches, und der Ekstase, Girlande schwingend und tanzend wie die ihn umgebenden Bacchanten und Bacchantin, in beschwingter, fröhlicher, harmonischer Eintracht mit wilden Tieren. In einer voyeuristischen Szene am Rand des Zuges liegt die nackte schlafende, von einem Faun beobachtete, Diana.

Abgesehen von diesem Bühnenvorhang sind der Saal der Comédie (mit 500 Sitzplätzen) und das noch kleinere Studio (mit 150 Plätzen) architektonisch gesehen eher unbedeutend. Das Studio entstand übrigens erst 1923, als der ganz oben hinter der Fassade gelegene Ausstellungssaal, die Galerie Montaigne, von Louis Jouvet  in einen kleinen Theatersaal umgewandelt wurde.

Kapitel III:  Der große Saal

Architektonisch und dekorativ ist der große Saal, sieht man von der  monumentalen zentralen Leuchte ab, eher ein Kontrapunkt zur Fassade und dem Foyer. Anders als in der Fassade  und im Peristyl des Foyers ist hier die Struktur des Baus kaum ablesbar, weil die tragenden Elemente teils verdeckt sind, teils außen liegen. Anstelle der geraden dominieren hier die geschwungenen Linien der freitragenden Balkons – ein Erbe van der Veldes.

Der große Saal des Theaters. Photo: Asseline Stéphane

Bei dem gigantischen Kronleuchter von René Lalique, der schon ins Art-déco weist,  bilden die in eine Schmiedeeisenstruktur des Kunstschmieds Perrassy eingefassten Glasplatten einen Strahlenkranz um eine zentrale Wolkenformation.

Foto: Wikipedia

Um den  diesen Kronleuchter umgebenden Ring hat Maurice Denis (1870-1943) einen Zyklus allegorischer Gemälde geschaffen, die die Histoire de la Musique präsentieren.

Die Darstellung wurde stark von Paul Marie Théodore Vincent d’Indy, einem französischen Komponisten, Musiktheoretiker, Schüler von César Franck und überzeugter Wagnerianer, beeinflusst.

Die Geschichte der Musik besteht aus vier großen rechteckigen Tafeln: La Danse (Griechischer Tanz), der die Ursprünge der Musik darstellt (der Bühne zugewandt), mit L’Opéra und La Symphonie auf beiden Seiten und, gegenüber dem griechischen Tanz, Le Drame lyrique (das lyrische Drama. Diese großen Tafeln werden durch vier kleinere „Kameen“ mit den Titeln le Chœur, l’Orchestre, la Sonate und l’Orgue getrennt.

Scale Model for the Cupola of the Théâtre des Champs-Elysées; Musée d’Orsay, Paris

Eine eingehende Beschreibung und Analyse von Mauris Denis Werk im Théâtre des Champs-Élysées findet sich bei Rachel Coombes.[[52]] Der Auftrag zur Bemalung der Kuppel an Denis war von Gabriel Thomas ausgegangen. Beide waren nicht nur freundschaftlich verbunden, sondern auch von der gleichen politischen Ideologie durchdrungen, „die auf einer Synthese der katholischen Wurzeln Frankreichs mit Visionen seines griechisch-lateinischen Erbes basierte.“[53]

Angesichts der inneren Zerrissenheit Frankreichs, wie sich in der Dreyfus-Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts und bei der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 zeigte, glaubte Denis mit der Wiederherstellung der Latinité, die in den Zeitschriften L’Ermitage und L’Occident propagiert wurde, die nationale Identität Frankreichs zu erneuern. In der Latinité sah er die Manifestation  der (vermeintlich) typisch französischen Tugenden der Einfachheit, Klarheit und der zugrunde liegenden harmonischen Konstruktion. Diese „innige(n) Verbindung zwischen griechischer Form und christlichem Geist“[54] bestimmt auch die Ikonographie der Geschichte der Musik.

Maurice Denis, La Danse, Tafel aus der Geschichte der Musik, und Bronze-Reliefs „Gesang“ und „Tanz“, 1912 [54a]

Denis hilft uns beim Verständnis der vier großen allegorischen Tafeln mit darunter verlaufenden Inschriften. Bei der Tafel La Danse (Griechischer Tanz) heißt es in der Inschrift: «Aux rythmes dionysiaques unissant la Parole d’Orphée, Apollon ordonne les jeux des Grâces et des Muses» (Zu den dionysischen Rhythmen, die das Wort des Orpheus vereinen, ordnet Apollo die Spiele der Grazien und Musen an).

Wir sehen in dieser Szene Apollo im Zentrum einer mediterranen Landschaft, wie er die frei um ihn herum tanzenden Grazien dirigiert. Im Hintergrund ist ein dorischer Tempel auf einem Hügel zu erkennen. Auf der linken Seite der Szene führt Dionysos seine Tänzer, während Orpheus auf der rechten Seite, begleitet von Eurydike, mit seinem Gesang wilde Tiere zähmt – ein Thema, das wir schon in ähnlicher Weise bei Ker-Xavier Roussels Vorhang der Salle de la Comédie gesehen haben.

Einbezogen in dieses Thema sind auch die beiden Flachreliefs aus Bronze, „Gesang“ und „Tanz“ von Denis seitlich der Orgel des großen Saals. „Die Basreliefs von Denis erinnern an Bourdelles stilisierte Steinchoreografie auf der Außenseite des Theaters und sind gleichermaßen von Erkenntnissen beeinflusst, die aus den jüngsten Wiederentdeckungen antiker griechischer Tanzformen stammen.“ [55]

Am Ende der Bilder zur Geschichte der Musik steht das lyrische Drama mit „Wagners Transformation der Symphonie- und Operntraditionen durch ihre Vereinigung.“ [56]

Das lyrische Drama ist voller Anspielungen: Im Zentrum Verweise auf Wagners Opern mit Parsifal und dem Gral, Tristan und Isolde und  Brünnhilde auf ihrem Pferd Grane, an den Seiten Hinweise auf die Ballets Russes und auf César Franck und seine Schüler, die Franckisten. Denis schrieb ihnen eine musikalische Renaissance zu, und Vincent d’Indy erkannte in Francks Musik „eine Verschmelzung von Wagnerscher Großartigkeit und französischer Klarheit.“ [57]

Maurice Denis, Das lyrische Drama [57a]

Bildunterschrift: «Sur les cimes dans l’angoisse et le rêve, drame lyrique ou poème, la Musique s’efforce vers un pur idéal». „Auf den Gipfeln von Angst und Traum, lyrischem Drama oder Gedicht strebt die Musik nach einem reinen Ideal.“

 „Sowohl für Denis als auch für Wagner bedeutete die Erneuerung der Künste nicht nur eine Rückkehr zum Ideal des griechischen Gesamtkunstwerks, sondern auch zu seinen heiligen Ursprüngen, wie sie in der christianisierten Allegorie des Parsifal zum Ausdruck kommen. (…) Die Erhebung des Theatererlebnisses auf eine fast spirituelle Ebene war in den Köpfen von Denis und den französischen Symbolisten eng mit dem spirituellen Ehrgeiz verbunden, den Wagner in Religion und Kunst (1880) als „Pflicht der Kunst zur Rettung der Religion“ ausdrückte. Er argumentierte, dass mit der modernen Säkularisierung der Gesellschaft alle Künste im Niedergang begriffen seien. Allein die Künste hätten die Fähigkeit, religiöse Gefühle zu vermitteln, eine Ansicht, die völlig mit Denis‘ Sinn für künstlerische Absichten übereinstimmte.“ (…) Denis‘ „Traum“, (…) eine „innige Verbindung zwischen griechischer Form und christlichem Geist“ zu schaffen, kommt in der Symbolik des lyrischen Dramas und tatsächlich in der gesamten Erzählung der Geschichte der Musik zum Ausdruck.

Die Tatsache, dass Wagners musikalische Leistungen am „Endpunkt“ der Erzählung platziert werden, untergräbt nicht die Treue zu einer angeblich französischen Ästhetik. Vielmehr sollte damit das Theaterpublikum darauf hingewiesen zu werden, in welche Richtung sich die französische Musik (…) entwickeln sollte und dass die Heimat des französischen Gesamtkunstwerks nun hier, im Théâtre des Champs-Elysées, lag.“[58]

 

Schlusswort

Das Théâtre des Champs-Élysées –   Gemeinschaftswerk und Gesamtkunstwerk

Mit Maurice Denis‘ Geschichte der Musik kehren wir zum Anfang unserer Betrachtung des Théâtre des Champs-Élysées zurück. Hat sich Astrucs Idee eines modernen Musiktheaters erfüllt? Was sein musikalisches Programm anbetrifft, ist diese Frage zu bejahen. Mit „Benvenuto Cellini“ von Hector Berlioz eröffnete es am 30. März 1913 seine Pforten.  Am 2. April 1913 brachte in einem außergewöhnlichen Konzert die großen Komponisten der Zeit, Vincent d’Indy, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré und Claude Debussy zusammen. Und am 29. Mai 1913 in einem Ballettabend die Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ statt.

Bei der architektonischen Umsetzung wurde ein Kompromiss gefunden zwischen  einem rein auf die Musik ausgerichteten Bau und einem Theater, das auch dem Repräsentationsbedürfnis dem Pariser Publikum genügt. Das Theater ist ein Gemeinschaftswerk: An seiner Gestaltung waren eine ganze Reihe von Personen beteiligt, die die künstlerischen und geistig-politischen Strömungen der Zeit in unterschiedlicher Weise teilten.

Gabriel Astruc konzipierte an prominentem Ort einen Bau mit modernen Einrichtungen, der der angestrebten Genre- und Stilvielfalt der Musik mit mehreren Sälen unterschiedlicher Größe Raum bot und wählte mit Fivaz und Bouvard die ersten Architekten aus. Roger Bouvard entwarf für den neuen Standort an der Avenue Montaigne trotz des begrenzten Volumens die Aufteilung der benötigten Räume. Van de Velde gelang trotz der Kompromisse, die er eingehen musste, mit seinen geschwungenen Balkons des großen Saals eine maximale dekorative Wirkung und mit dem Proszenium ein modernes Bühnenmodell. Auch die Grundzüge der Fassade, zusammen mit Antoine Bourdelle, sowie die Idee den Bau in Stahlbeton auszuführen,  gehen auf ihn zurück. Den Brüder Auguste und Gustave Perret schufen eine sinnreiche Konstruktion in béton-armé und durch Reduktion architektonischer Elemente und durch eine strengere Formgebung  konnten sie das klassizistische Erbe in ein modernes, ausdrucksstarkes Bauwerk verwandeln, das seine Ära nachhaltig prägte. Und nicht zuletzt in der von Gabriel Thomas zur Gestaltung der Dekoration eingeladenen Künstlergruppe (Antoine Bourdelle, Maurice Denis, Édouard Vuillard, Jacqueline Marval, Ker-Xavier Roussel, Henri Lebasque), die die Thematik der Musen vielfältig variierten, erscheint das Théâtre des Champs-Élysées mit Recht auch als ein Gesamtkunstwerk.

Benutzte/zitierte Literatur:

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Astruc, Gabriel (1864-1938): Important Typed Letter, defending the ‘French-ness’ of the Théatre des Champs Elysées https://www.schubertiademusic.com/products/4313-astruc-gabriel-1864-1938-important-typed-letter-defending-the-french-ness-of-the-theatre-des-champs-elysees

Cité – de l’Architecture & du Patrimoine – Auguste Perret Huit chefs d’œuvre Architectures du béton armé https://expositions-virtuelles.citedelarchitecture.fr/exposition_virtuelle_perret/02-PROJET-01-DOC07.html

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Leila Zickgraf: Igor’ Stravinskijs Theater der Zukunft – Das Choreodrama Le Sacre du printemps im Spiegel der ‚Theaterreform um 1900;© 2020 bei der Autorin. Verlegt durch Wilhelm Fink Verlag. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846764596 . Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2017/18 von der  Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. .

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Théâtre des Champs Élysées – Petit histoire en images. https://www.calameo.com/read/003045515070cd8851f72 (französich) Petite histoire TCE pour Calameo Version GB-V2025-PAP (englisch)

Theâtre des Champs-Elysées. Les archives. 100 ans d’histoire à votre disposition https://www.tce-archives.fr/

Théâtre des Champs-Élysées (Paris, 8e arrondissement) Dossier d’œuvre architecture IA75000247 | Réalisé par Faure Julie ; Abram Joseph (Rédacteur) https://inventaire.iledefrance.fr/dossier/IA75000247


Anmerkungen:

[[1]] Bildquelle https://www.forumopera.com/cd-dvd-livre/gabriel-astruc-un-prodigieux-animateur-myriam-chimenes/. (Ausschnitt)

[[1a]] Cesar A. Leal, „RE-THINKING PARIS AT THE FIN-DE-SIÈCLE: A new vision of  Parisian musical Culture from the  Perspective of Gabriel Astruc (1854-1938)“ (2014) hier: “intelligemment conçus: celui de Bayreuth et celui du Prince Régent a Munich”; S.228-283. University of Kentucky,Theses and Dissertations–Music. 30. https://uknowledge.uky.edu/music_etds/30

[[2]] Astruc, Gabriel: Important Typed Letter, defending the ‘Frenchness’ of the Théatre des Champs Elysées

[[3]] Leila Zickgraf: Igor’ Stravinskijs Theater der Zukunft – Das Choreodrama Le Sacre du printemps im Spiegel der ‚Theaterreform um 1900;© 2020 bei der Autorin. Verlegt durch Wilhelm Fink Verlag. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846764596 . Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2017/18 von der  Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. .

[[4]] Cesar A. Leal, ebd.

[[5]] Cesar A. Leal, ebd.

[[5a]] Projet d’un Palais philharmonique (Theatre de musique et salles de concert), Jardin des Champs-Élysées, Henri Fivaz, Théâtre des Champs-Élysées Archives (Ausschnitt)

[[6]] zitiert nach Cesar A. Leal, ebd.

[[6a]] Projet pour le Théâtre des Champs-Élysées (non realisé) Façade principale. Théâtre des Champs-Élysées Archives

[[7]] Cesar A. Leal, ebd.

[[8]] La Libre Parole war eine 1892 von dem Journalisten und Polemiker Édouard Drumont gegründete politische Tageszeitung, die wie kaum eine andere Zeitung dazu beitrug, dass vor und während der Dreyfus-Affäre in Frankreich eine antisemitische Atmosphäre geschaffen wurde. Sie vertrat die Linie eines Antikapitalismus auf der Basis, dass der Kapitalismus von Juden beherrscht sei.

[[9]] Cesar A. Leal, ebd.

[[10]] zitiert nach Cesar A. Leal, ebd.

[[11]] zitiert aus Astrucs Memoiren (Le Pavillon des Fantômes: souverniers) nach Cesar A. Leal, ebd.

[[12]]Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020.https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[13]] Cesar A. Leal, ebd.

[[14]] z.B. bei Cesar A. Leal ebd. und Colin Nelson-Dusek ebd.

[[15]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens. https://www.dbnl.org/tekst/veld006gesc01_01/veld006gesc01_01_0011.php

[[16]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Originalveröffentlichung in: Cohen,Jean-Louis (Hrsg.): Interferenzen / Interférences: Deutschland-Frankreich; Architektur 1800 – 2000; […erscheint aus Anlass der Ausstellung „Interferenzen. Interférences. Architektur, Deutschland – Frankreich 1800 – 2000“ …], Tübingen 2013, S. 50-57

[[16a]] Bildquelle: Stefan Applis on X. JuevesDeArquitectura History of Bauhaus Weimar Kunstgewerbeschule Architecture. Theater Louise Dumont by Henry van der Velde (1902/3) 19. November 2020

[[17]] Umfangreiche Darstellung hierzu bei Christian Hecht: „Ein Streit um die richtige Moderne. Henry van de Velde, Max Littmann und der Bau des Weimarer Hoftheaters“;  Zeitschrift für Kunstgeschichte, 69. Bd., H. 3 (2006), pp. 358-392. https://www.jstor.org/stable/20474361

[[18]] Henry Van de Velde ebd.

[[19]] Henry Van de Velde ebd.

[[20]] Jacques Mesnil: Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs; Onze Kunst. Jaargang 13 (1914). [tijdschrift] Onze Kunst. Geïllustreerd maandschrift voor beeldende en decoratieve kunsten. https://www.dbnl.org/tekst/_onz021191401_01/_onz021191401_01_0043.php

[[21]] zitiert nach Jacques Mesnil, ebd.

[[21a]] Abb. aus: Mesnil, Jacques (1872-1940)  Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées

[[22]] Henry van der Velde: Der neue Stil; Die neue Rundschau, Sechstes Heft Juni 1906

[[22a]] Henry van de Velde et R. Bouvard: Plan à la hauteur des premières loges. Projet non exécuté.(Fin mars 1911) Abb. aus Jacques Mesnil: Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées (Ausschnitt)

[[23]] Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die ‚Konservative Revolution‘ in Frankreich 1900–1930, München 2003

[[23a]] Auguste Perret (1874-1954) posant devant une perspective de l’église du Raincy et coupe du théâtre de l’Exposition de 1925. Henri Manuel Nd. [vers 1925] © Fonds Perret. CNAM/SIAF/CAPA/Archives d’architecture contemporaine/SAIF. 535 AP 663 (Ausschnitt)

[[24]] zitiert nach Joseph Abram: An Unusual Organisation of Production – the building firm of the Perret Brothers, 1897-1954. https://www.arct.cam.ac.uk/system/files/documents/article6_1.pdf

[[25]] zitiert nach Joseph Abram, ebd.

[[26]] Joseph Abram, ebd.

[[27]] Anmerkung von mir: Hier ist deutlich das Argumentationsmuster der politischen Rechten, d.h. das Lager der Nationalisten, Traditionalisten, ultrakonservativen Katholiken und Monarchisten, gegen die „Dreyfusards“, die Anhänger von Hauptmann Dreyfus, das sind vor allem Personen der politischen Linken (Sozialisten und liberale Republikaner) erkennbar, denen Untergrabung der Autorität der Armee und der staatlichen Ordnung vorgeworfen wurden.

[[28]] Christian Freigang „JULIUS MEIER-GRAEFES ZEITSCHRIFT L’ART DECORATIF Kontinuität und Subversion des Art Nouveau.“ Originalveröffentlichung in: Becker, Ingeborg ; Marchal, Stephanie (Hrsgg.): Julius Meier-Graefe : Grenzgänger der Künste, Berlin 2017, S. 214-227; hier S.223.

[[29]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte: Retour à l’ordre und nationale Repräsentativität in der Art déco-Architektur der Zwischenkriegszeit in Frankreich“. Originalveröffentlichung in: Purchla, Jacek; Tegethoff, Wolf (Hrsgg.): Nation, style, modernism : [proceedings of the International Conference under the patronage of Comité International d’Histoire de l’Art (CIHA) … ], Krákow 2006, S. 257-274 (CIHA conference papers ; 1)

[[30]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[31]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[31a]] A. et G. Perret 1910-1913. Théâtre des Champs-Élysées avenue Montaigne, Paris 8e Axonométrie éclatée de l’ossature en béton armé. 1913 © Fonds Perret, Auguste et Perret frères. CNAM/SIAF/CAPa/Archives d’architecture du XXe siècle/Auguste Perret/UFSE/SAIF/2014. 535 AP 911/4

[[32]] Théâtre des Champs-Élysées, Paris – Auguste Perret https://architectona.wordpress.com/oeuvres-dauguste-perret/paris/theatre-des-champs-elysees-paris/

[[33]] Jacques Mesnil: Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs. Onze Kunst. Jaargang 13 (1914)– [tijdschrift] Onze Kunst. Geïllustreerd maandschrift voor beeldende en decoratieve kunsten

[[34]] Zitiert nach Jacques Mesnil ebd.

[[35]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Originalveröffentlichung in: Cohen,Jean-Louis (Hrsg.): Inter-ferenzen/Interférences: Deutschland-Frankreich; Architektur 1800 – 2000; […erscheint aus Anlass der Ausstellung „Interferenzen. Interférences. Architektur, Deutschland – Frankreich 1800 – 2000“ …], Tübingen 2013, S. 50-57

[[36]] Jacques Mesnil, ebd.

[[37]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens.

[[37a ]] Abb. aus: Mesnil, Jacques (1872-1940) – Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées – 04a

[[38]] Leila Zickgraf, ebd.

[[38a]] Abb. aus: Jacques Mesnil, Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs

[[39]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens.

[[39a]] Bildquelle www.theatrechampselysees.fr

[[40]] Henry Van de Velde ebd.

[[41]] Catherie Sabbah: Le Théâtre des Champs-Elysées – Le scandale fait partie de son charme; Le Moniteur, 03 novembre 2000. https://www.lemoniteur.fr/article/le-theatre-des-champs-elysees-le-scandale-fait-partie-de-son-charme.280079

[[42]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Ebd.

[[43]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Ebd.

[[44]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“, ebd.

[[44a]] Bildquelle: https://www.bourdelle.paris.fr/explorer/collections/un-musee-des-collections/fonds-photographique/bourdelle-travaillant-aux-fresques-du-theatre-des-champs-elysees

[[45]] Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020. https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[46]] Colin Nelson-Dusek ebd.

[[47]] Colin Nelson-Dusek ebd.

[[48]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[49]] Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020. https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[50]]Colin Nelson-Dusek, ebd.

[[51]] siehe hierzu: Catharine Sabbah: „Das Champs-Elysées-Theater – Skandal ist Teil seines Charmes“. Le Moniteur, 03 novembre 2000. https://www.lemoniteur.fr/article/le-theatre-des-champs-elysees-le-scandale-fait-partie-de-son-charme.280079 und Nicolas Jaillard: „Le restaurant du théâtre des Champs joue à «qui perd gagne»“. Libération, publié le 21 décembre 1994 https://www.liberation.fr/libe-3-metro/1994/12/21/le-restaurant-du-theatre-des-champs-joue-a-qui-perd-gagne_116550/

[[51a]]  Foto aus Le Moniteur, 03 novembre 2000 (Ausschnitt) https://architecture-history.org/architects/architects/PERRET/OBJ/1913,Th%C3%A9%C3%A2tre%20des%20Champs-Elysées,

[[52]]  Rachel Coombes: MAURICE DENIS’S THE HISTORY OF MUSIC: ALLEGORISING CULTURAL TRADITION IN EARLY TWENTIETH-CENTURY FRANCE, in: Belonging, Detachment and the Representation of Musical Identities in Visual Culture, 2023, pp. 395-422 (28 pages) https://doi.org/10.2307/jj.5211766.19 

[[53]]  Rachel Coombes, ebd.

[[54]] Rachel Coombes, ebd.

[[54a]] Photo Asseline Stéphane  https://inventaire.iledefrance.fr/illustration/IVR11_20207500909NUC4A

[[55]] Rachel Coombes, ebd.

[[56]] Rachel Coombes, ebd.

[[57]] Rachel Coombes, ebd.

[[57a]] Lyric Drama, panel of The History of Music frieze, 1912. Catalogue raisonné Maurice Denis, photo Olivier Goulet.

[[58]] Rachel Coombes, ebd.

Maximilien Luce im Musée Montmartre: Politisch engagierter Neo-Impressionist, Landschaftsmaler, aber auch Rebell, Anarchist und Maler des Proletariats

Auf Maximilien Luce bin ich vor Jahren bei meiner Beschäftigung mit der Pariser Commune  aufmerksam geworden….

… und zwar aufgrund seines Im Musée d’Orsay ausgestellten Gemäldes Une rue de Paris en mai 1871 (zwischen 1903 und 1905).[1] Es illustriert die Massaker in der sogenannten „semaine sanglante“ vom 21. bis 28. Mai 1871, der 10 bis 20 000 Communarden zum Opfer gefallen sind. Luce hat diese „blutige Woche“ als Jugendlicher miterlebt und sie hat seine politische Entwicklung wesentlich beeinflusst.[2]

Dieses berühmte Gemälde wird in der Ausstellung nicht gezeigt, aber immerhin eine um 1900 entstandene Lithografie mit dem gleichen Motiv. Und es wird auch das politische Engagement des Malers beleuchtet: Luce hatte enge Beziehungen zum Anarchismus, der gerade in künstlerischen und intellektuellen Kreisen der Dritten Republik einige Anziehungskraft hatte.

Der Luce künstlerisch und politisch nahestehende Paul Signac fertigte dieses Portrait seines Freundes an, das im Juli 1890 auf der Titelseite von Les Hommes d’aujourd’hui veröffentlicht wurde. Es zeigt Luce bei der Lektüre von La Révolte, die damals als die bedeutendste  anarchistische Zeitschrift Frankreichs galt.

Luce, der für zahlreiche anarchistische Publikationen arbeitete, wurde von den Sicherheitsbehörden als „gefährlich“ eingestuft und im Juli 1894 nach einem Attentat auf den Staatspräsidenten Carnot verhaftet. Im berüchtigten Pariser Gefängnis Mazas [3] verbrachte er 42 Tage: Ein Album von Lithografien über diese Zeit entstand, herausgegeben mit Texten von Jules Vallès.[4]

Ausgestellt ist im Musée Montmartre auch der Verschluss einer Zellentür des Gefängnisses, den die Familie Luce offenbar 1898 als Erinnerungsstück erworben hatte, als das Gefängnis abgerissen wurde.

Dass das musée Montmartre Maximilien Luce derzeit eine höchst sehenswerte Ausstellung widmet, liegt nahe:  Luce wohnte nämlich von 1887 bis 1900 in der rue Cortot, einer kleinen Seitenstraße von Montmartre,  in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen Museums, und Montmartre lieferte ihm eine Fülle von Motiven….

… So der schöne Garten der rue Cortot: Le jardin sous la neige, 1891. 

Luce ist nicht der einzige Maler, der den Garten der rue Cortot gemalt hat. Auch Auguste Renoir, der 1875/76 in dem heutigen Gebäude des Museums wohnte:

Auguste Renoir, Le Jardin de la rue Cortot à Montmartre (1876)[5]

Später wohnte hier die Malerin Suzanne Valadon mit ihrem Sohn Maurice Utrillo.

Ihr Atelier ist Teil des heutigen Museums.

Den von ihr gemalten Pavillon im Garten gibt es noch.

Und es gibt auch noch den berühmten Weinberg von Montmartre, hier allerdings -im August 2025- sorgsam verpackt, um die kostbaren Trauben vor gefräßigen Schnäbeln zu schützen.

Das sympathische Café Renoir mit schattigen Sitzplätzen ist ein Ort der Ruhe, nur wenige Schritte entfernt von der von Touristen überquellenden place de Tertre und der Kirche Sacré-Cœur.

In letzter Zeit ist ja immer mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten, dass es in Paris und vor allem auch in Montmartre einen „surtourisme“ gibt – der französische Ausdruck für den overtourism. Le Monde widmete kürzlich der „Disneylandisation de Montmartre“ sogar einen Aufmacher.[6] Die Mieten stiegen, Tourismusunterkünfte machten sich breit, Geschäfte des täglichen Bedarfs schlössen und würden ersetzt von profitableren Souvenirshops. Immerhin führt Paris „mit 418 280 Gästen pro Quadratkilometer die europäische Massentourismus-Rangliste an.“[7]

Vom Garten des Museums kann man bei genauerem Hinsehen ein Banner erkennen: Die Bewohner von Montmartre sind zornig. Allerdings ist es –mit anderen ähnlichen Bannern-  an einem stattlichen Gebäude befestigt, das am nördlichen Abhang des Hügels, also abgewandt von der Stadt, liegt: eine bisher noch eher von Touristen verschonte Gegend.

1900 malte Maximilien Luce diesen Blick von der rue Cortot auf Saint-Denis, das nördliche Umland von Paris.[8]

Ich finde, dass dieses -leider nicht ausgestellte- Bild geradezu ein Schlüssel zu seinem Werk ist. Es zeigt sehr schön seinen pointillistischen Malstil, den er zusammen mit seinen Freunden Paul Signac, Georges Seurat und Camille Pissarro pflegte. Vor allem verweist das Motiv auf das breite Spektrum des Schaffens von Luce: Da gibt es im Vordergrund die Idylle, das Grün der Gärten der rue Cortot, und dahinter die graue Masse von Saint-Denis: der bis heute verschrieenen proletarischen Vorstadt von Paris, dem Inbegriff der banlieues, der Bannmeile, um die man besser einen weiten Bogen macht… [9]  Beides ist im Werk von Luce vertreten: Er hat die Idylle gemalt, aber auch den Arbeitern, die in dieser grauen Masse von Stein wohnen, ein Gesicht gegeben.

In der Ausstellung sind diese beiden Seiten seines Schaffens berücksichtigt, auch wenn ihr Untertitel  „l’instinct du paysage“ nur auf den Landschaftsmaler Luce abhebt.

Bevorzugte Motive fand der Landschaftsmaler an der Seine wie hier in Herblay.

Sein farbenfrohes Bild Seine à Herblay (1890) wurde für das Ausstellungsplakat verwendet. Typisch für ihn ist hier und in vielen anderen seiner Bilder die intensive Verwendung die Farbe violett, gewissermaßen sein Markenzeichen.

Auch die Stadtlandschaften von Paris, wo Luce einen großen Teil seines Lebens verbrachte, boten ihm unerschöpfliche Motive für sein Schaffen.

Zum Beispiel dieses Ölgemälde von Notre-Dame aus dem Jahr 1899, sicherlich inspiriert durch Monets Bilderserie über die Kathedrale von Rouen. Aber anders als bei Monets „steinernem Felsen ohne jede menschliche Präsenz“[10] geht es bei Luce nicht nur um die Architektur: Zu Füßen der Kathedrale wimmelt es von Menschen, es herrscht eine Harmonie zwischen ihnen und der Architektur.[11]

Vor allem in den Jahren seit 1917, als Luce Rolleboise entdeckte, malte er mit großer Freude die neue Umgebung und kehrte zu seinen neo-impressionistischen Ursprüngen zurück.[12]  Rolleboise liegt an der Seine, nur wenige Kilometer entfernt von Giverny, wo er Monet regelmäßig besuchte, ebenso wie Pierre Bonnard, der ebenfalls in der Nähe wohnte.[13]

Dieses Bild aus dem Jahr 1930, Rolleboise, La route en bord de la Seine, zeigt den alten Leinpfad entlang der Seine. Luce malte gerne die wilden Ecken der Inseln und die Altarme des Flusses, aber  er interessierte sich auch für ländliche Aktivitäten. Hier stehen die Silhouetten eines Mannes, der sich neben seinem Lastkahn ausruht, und eines anderen, der eine Schubkarre schiebt, neben denen eines Autos und einem Schlepper auf der Seine mit rauchendem Schlot: alles Zeichen, die auf die Bedeutung verweisen, die die Arbeit im Werk von Luce hat.

Das Interesse an den arbeitenden Menschen und seine Sympathie mit ihnen ist ein durchgehendes Kennzeichen des Werkes von Luce und sicherlich auch eine Grundlage seines politischen Engagements.

Studie eines Arbeiters (1907)

Gießerei in Charleroi (1896)

Dies sind Arbeiter in einer belgischen Gießerei. Luce war zum ersten Mal 1892 in Belgien, um an einer Ausstellung in Brüssel teilzunehmen. Eingeladen von belgischen Freuden und einem Sammler kehrte er, zusammen mit seiner Frau, mehrfach zurück, zutiefst beeindruckt von Charleroi, dem Zentrum des belgischen Kohlebergbaus und der Stahlindustrie.  „Le pays noir“ war für Luce ein Schock. „Es ist so schrecklich und so schön, dass ich Zweifel habe, ob ich wiedergeben kann, was ich sehe“, schrieb er an seinen Malerkollegen Henri-Edmond Cross.

Fabriken bei  Charleroi (1897)

Diese Faszination wird in manchen der im Musée Montmartre ausgestellten Bilder mit Motiven des belgischen Industrieviertels deutlich. Hier präsentiert Luce geradezu ein „pyrotechnisches Schauspiel der Industrie“. Die Bilder sind „ein Triumph der Farben“.[14] Luce vergisst dabei auch die Arbeiter nicht. Aber er stellt sie, anders als in seinen Beiträgen in anarchistischen Publikationen, nicht mit antikapitalistischer Militanz dar und auch ohne „miserabilisme“, nicht Mitleid-erregend.[15]

Dies gilt auch für die Bilderserie von Pariser Großbaustellen, die Luce im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. Das sind vor allem radikale Straßendurchbrüche, die im Zuge des Haussmann’schen Stadtumbaus das Gesicht von Paris grundlegend veränderten und es sind die gigantischen Metrobaustellen.

Percement de l’avenue Junot à Montmartre (1910)

Luce entwickelt hier einen neuen malerischen Stil  jenseits des Pointilismus. Und er stellt Bilder mit riesigen Gerüsten geradezu in Serie her.

Le Chantier (1911)

Luce ist in dieser Zeit der Maler des Pariser Stadtumbaus. Dabei geht es um mehr als eine Dokumentation des Geschehens: Für ihn als Anarchisten hat das Thema des Abreißens und des Neuaufbaus eine allgemeine, symbolische Bedeutung.

Les Batteurs des pieux  (Musée d’Orsay)

Dieses Gemälde aus dem Jahr 1903 zeigt Bauarbeiter bei der Herstellung von Fundamenten. Sein Untertitel „quai de Billancourt“ verweist auf Paris als Schauplatz. Das Bild hat monumentale Dimensionen (154,0 x L. 196,0 cm) und ist sehr bewusst komponiert. Im Vordergrund zwei pausierende Arbeiter, in der Mitte ein Gruppe von Arbeitern, die einen schweren Eisenhammer hochziehen, mit dem dann die pfählernen Fundamente in den Boden gerammt werden. Auf der anderen Seite der Seine ein imaginiertes Paris: rechts das Paris der Arbeit, Fabriken mit rauchenden Schloten; links das Paris der Kultur, monumentale eingerüstete Bauten, die also im Entstehen begriffen sind; in der Mitte angedeutet Wohnhäuser, das Paris des Alltags.

Das Bild wurde 1903 auf dem Salon de la Société des artistes indépendants ausgestellt und zum zweiten Mal 1906 auf der Ausstellung der Berliner Secession – ein Beleg für „das zunehmende Interesse, das in Deutschland den neuesten Entwicklungen in der französischen Malerei entgegengebracht wurde“. [16]

Die Arbeiter im Zentrum des Bildes verkörpern die gemeinschaftliche Anstrengung bei der Schaffung einer neuen Welt. Mit ihren ausgeprägten Muskelpartien sind sie,  wie in dem Begleittext angemerkt wird, wie Atelierstudien vom lebenden Objekt gemalt.  Man hat sogar -ob zu Recht kann ich nicht beurteilen- „diesen Luce“ als Ahnherrn eines sozialistischen Realismus gesehen, der die Malerei im Dienste einer Ideologie habe verarmen lassen.[17]

Maximilien Luce stellt sich aber nicht in den Dienst einer solchen Ideologie. Er zieht sich in die Seine-Idylle von Rolleboise zurück und lässt seine jahrzehntelangen politischen Kämpfe hinter sich. Dafür engagiert er sich als Kopf der Société des Artistes Indépendants, und er zögert nicht, demonstrativ unter Protest von diesem Amt zurückzutreten, als das Regime von Vichy ein Ausstellungsverbot für jüdische Künstler verfügt… [18]  

Selbstportrait (um 1910)


Praktische Hinweise:

Musée de Montmartre 12, RUE CORTOT 75018 PARIS

Ende der Ausstellung 14. September 2025

https://museedemontmartre.fr/

Öffnungszeiten: täglich geöffnet von 10 bis 19 Uhr

Das Café Renoir ist täglich geöffnet von 11 bis 18 Uhr

Anmerkungen:

[1] https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/une-rue-de-paris-en-mai-1871-661

[2] Bernard Gallinato,  Une Rue de Paris en mai 1871 de Maximilien LUCE (1858-1941). Academie Montesquieu  8. November 2021   https://www.academie-montesquieu.fr/wp-content/uploads/2022/04/14-B.Gallinato-finalPDF.pdf

[3] Das Gefängnis war nach dem Panopticon-Prinzip gebaut, so wie das Gefängnis der Petite Roquette, die als Vorbild diente: https://paris-blog.org/2016/06/14/wohnen-auf-historischem-boden-la-grande-et-la-petite-roquette/

[4] https://maitron.fr/luce-maximilien-jules-dictionnaire-des-anarchistes/

[5] Bild aus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pierre-Auguste_Renoir_-_Jardin_de_la_rue_Cortot.jpg

Siehe auch das Gemällde Conversation au jardin, das ebenfalls den jardin Cortot als Rahmen hat.

[6] https://www.lemonde.fr/economie/article/2025/07/22/a-paris-montmartre-face-a-une-pression-touristique-galopante-en-tant-qu-habitants-on-se-sent-comme-les-personnages-d-un-parc-d-attractions_6622885_3234.html      

[7] Merkur vom 17.8.2025

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Maximilien_Luce#/media/Datei:Maximilien_Luce_-_’Montmartre,_de_la_rue_Cortot,_vue_vers_saint-denis‘,_oil_on_canvas_painting,_c._1900.jpg

[9] Im Rahmen der olympischen Spiele 2024 wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, das Bild des Viertels und die realen Lebensbedingungen darin deutlich zu verbessern. Siehe z.B. https://paris-blog.org/2024/10/01/die-verlangerte-metro-linie-14-von-saint-denis-zum-flughafen-orly-technische-architektonische-kunstlerische-superlative-und-stadtebauliche-und-soziale-veranderungen/ und https://paris-blog.org/2023/05/15/in-einem-jahr-die-olympischen-spiele-von-paris/  

[10] https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/le-quai-saint-michel-et-notre-dame-231

[11] Begleittext: „Luce élargit la perspective pour montrer le monument vibrant de  lumière et de couleurs, au pied duquel le peuple parisien s’affaire. L’harmonie  règne entre les personnages et l’architecture.“

[12] https://www.millon.be/createurs/maximilien-luce

[13] https://collections.musees-normandie.fr/ark:/16418/mdig240222010

[14] Begleittext zur Ausstellung. Dem ist auch das Zitat von Luce aus seinem Brief an Cross entnommen.

[15] Jeanne Paque, Maximilien Luce,  Artiste   https://impressionnismes.fr/personalite/maximilien-luce/  (Eine sehr intensive Darstellung des Lebens und der Werks von Luce)

Interessant wäre sicherlich ein Vergleich dieses Gemäldes mit Adolph von Menzels Eisenwalzwerk aus dem Jahr 1875. Siehe: https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/adolph-menzel-eisenwalzwerk-moderne-cyklopen-1875

[16] Ron Manheim, Die Berliner Sezession Eine Geschichte. Rezension des Buches von Peter Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland (aus dem Amerikanischen von D. Jakob), Berlin, Verlag Severin und Siedler, 1981. In: journals.ub.uni-heidelberg.de

[17] https://www.latribune.fr/journal/edition-du-1208/la-tribune-de-l-ete/culture/1011443/maximilien-luce-du-reve-au-realisme.html: Il devient aujourd’hui, à nos yeux, l’ancêtre de ce réalisme socialiste qui appauvrira la peinture au début du XXe siècle au service d’une idéologie qui demandait une autre puissance créatrice.

[18]  https://www.arts-in-the-city.com/2025/03/20/on-a-vu-pour-vous-lexposition-maximilien-luce-linstinct-du-paysage-au-musee-de-montmartre/

Weitere Blog-Beiträge zu Ausstellungen im Musée Montmartre:

Meditation unter der Kuppel: Die wunderbare aquatische und musikalische Installation in der Rotunde der Bourse de Commerce (Juni bis September 2025)

Die Bourse de Commerce ist ein grandioser Rund- und Kuppelbau, zunächst ein Getreidelager, dann eine Handelsbörse: gewissermaßen ein neuzeitliches Pantheon, das -ganz in der Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts- den Göttern des Kapitalismus und Imperialismus gewidmet war.[1]

Der inzwischen denkmalgeschützte Bau wurde in den 1760-er Jahren errichtet. 1889 diente er neben dem Eiffelturm als französischer Beitrag zur großen Weltausstellung. In den letzten Jahren wurde er von dem japanischen Architekten Tadao Ando unter Bewahrung der historischen Substanz zu einem grandiosen Ausstellungsgebäude umgestaltet. Und das in Nachbarschaft zur Kirche Saint Eustache und zum Centre Pompidou mitten in Paris.  Hausherr des Gebäudes ist der französische Multimillardär Pinault, der von der Stadt Paris das Gebäude auf 50 Jahre gepachtet hat, um dort Teile seiner immensen Sammlung zeitgenössischer Kunst zu präsentieren.

Zentrum und Glanzstück der Bourse de Commerce ist die Rotunde unter der großen Kuppel – der ersten dieser Art in der Geschichte der Architektur, die Anfang des 19. Jahrhunderts über der bis dahin noch offenen Rotunde errichtet wurde.

Eingefasst ist die Kuppel von einem zur Weltausstellung angefertigten 140 Meter langen und 10 Meter hohen Panorama des weltweiten Handels.[2]

Am Bau der Kuppel wirkte übrigens auch in seinen Lehrjahren der aus Köln stammende Jakob Ignaz Hittorff mit, der hier erste Erfahrungen bei der Konstruktion mit Gusseisen und Glas sammeln konnte. Später wurde er zu einem der großen, das Stadtbild von Paris wesentlich mitprägenden Pariser Baumeister.  

Der große runde, von Andos Sichtbetonwänden eingefasste Raum unterhalb der mächtigen Kuppel ist für Ausstellungsmacher eine große Herausforderung, gilt es doch, hier moderne Kunst zu präsentieren, die den hohen Ansprüchen dieses Raumes standhält.

Mit der „traumwandlerischen Installation“[3] von Céleste Boursier-Mougenot ist dies in ganz wunderbarer Weise gelungen.

Der Ausstellungsname „clinamen“ ist angelehnt an die gleichnamige Vorstellung des antiken griechischen Philosophen Epikur (um 341–271 v. Chr.). Für ihn setzte sich die Welt aus kleinsten Teilchen (Atomen) zusammen, die sich im freien Fall durch den leeren Raum bewegen. Und so bewegen sich auch die 111 Porzellanschalen unterschiedlicher Größe auf dem unter der Kuppel  installierten Wasserbecken von 18 m Durchmesser.

Das Wasser wird leicht bewegt, so dass die Schalen langsam in immer neuen Konstellationen über die Wasseroberfläche gleiten, auf der sich die Architektur des Baus spiegelt.

Wenn sie zusammenstoßen, erzeugen sie je nach Größe der beteiligten Schalen und je nach Stärke des Zusammenpralls bzw. der sanften Berührung unterschiedliche Töne. Das passt manchmal zu der klirrenden Kälte, wie sie oben auf dem Deckengemälde dargestellt ist, wenn es um den Handel mit Russland und polaren Regionen geht.

Dann wieder hört man auch die Klänge eines Glockenspiels… Aber am besten überlässt man sich einfach dem Schauspiel der dahingleitenden und klingenden Schalen, den Spiegelungen des Wassers und der Meditation. Die Besucherinnen und Besucher bei unserem morgendlichen Besuch der Installation -noch vor der allgemeinen Eröffnung der Ausstellung- bewahrten jedenfalls eine ehrfurchtsvolle Stille und Ruhe, so dass man ganz ungestört mit seinen Beobachtungen, Gefühlen und Gedanken war.

Hier noch einige weitere visuelle Eindrücke:

Praktische Informationen:

Bourse de Commerce. Pinault Collection.

2, rue de Viarmes   75001 Paris

Rotonde – Rez-de-Chaussée  Céleste Boursier-Mougenot: clinamen

Im Rahmen  der Ausstellung Corps et âmes

Bis 21. September 2025

Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag 11 bis 19 Uhr

Freitags nocturne  bis 21 Uhr

Kartenreservierung (unbedingt empfehlenswert, um lange  Warteschlangen zu vermeiden):

Die speziellen morgendlichen Termine speziell für die Installation in der Rotonde sind leider schon ausgebucht.

Einen akustischen Eindruck von der Installation bietet das Video in: Der Klang der Atome – Substantial Times


[1] https://www.prestigeonline.com/sg/lifestyle/art-plus-design/a-visit-to-the-bourse-de-commerce-pinault-collection/  Alle weiteren Fotos von Frauke und Wolf Jöckel

[2] https://www.pinaultcollection.com/fr/boursedecommerce/restauration-du-panorama-du-commerce

[3] Nana von Thielmann, Der Klang der Atome. 30. Juli 2025

https://substantial-times.com/aktuelles/was-uns-diese-woche-bewegt/video-der-woche/der-klang-der-atome

Zur Bourse de Commerce/Sammlung Pinault siehe auch:

VERTIGO: Die Jahresausstellung 2025 in der Villa Carmignac auf Porquerolles

Seit einigen Jahren gehört der Besuch der Jahresausstellung in der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles zu unserem „Sommerprogramm“.

Da  ist es immer wieder die Freude des Wiedersehens: Es ist gleichsam ein Besuch bei alten Freunden. Das  beginnt am Eingang mit dem -jedes Jahr neu zusammengestellten- Kräutertee.

Dann der Weg hoch zur Villa.

Dort wird man von Miquel Barcelós bronzenem Alycastre empfangen, einem legendären Insel-Ungeheuer.

Barceló stellt den Alycastre halb als Totenkopf da, halb als mächtigen Herrscher der Meere dar, der über den Ort und seine Besucher wacht.

Und dann freuen  wir uns natürlich auf Bruce Naumans „One Hundret Fish Fountain“.

Aus 97 bronzenen Fischen sprudelt da das Wasser. Es gibt neben dem Brunnen eine Bank zum Hinsetzen, zum Zusehen, Zuhören – ein idealer Ort auch zur Meditation.

Das gilt auch oder sogar noch mehr für Barcelós Unterwasserpanorama in einem kapellenartigen Seitenflügel des Untergeschosses.

Und dann sind wir natürlich gespannt auf VERTIGO,  die neue Jahresausstellung.

 Anspruch der Ausstellungmacher ist es, ausgehend von den Erfahrungen der heißen Mittelmeersonne, des Mistrals, der Wellen, der Weite des Himmels und der Meerestiefen auf der Insel Porquerolles „die Verbindungen zwischen der Wahrnehmung von Naturphänomenen und der Abstraktion seit den 1950-er Jahren“ zu erkunden.

Als Motiv des Ausstellungsplakats dient das Bild von Oliver Beer (Großbrittannien 1985): Resonance Painting (Lovesong), 2024 (Ausschnitt), das auch die die Ausstellung prägende Farbe Blau des Meeres und des Himmels vorgibt.

Besonders  gespannt sind wir natürlich darauf, wie der zentrale sonnenüberflutete Raum der Villa mit seinem gläsernen Dach und der Wasserfläche darüber gestaltet ist. Das ist ja eine große Herausforderung, weil hier das jeweilige Thema der Ausstellung sichtbar und erlebbar gemact werden soll. Sehr eindrucksvoll war das beispielsweise bei den zerbrochenen Segeln der Odysseus- Jahresausstellung von 2022…

…. oder der mächtigen Spinne der Louise Bourgeois bei der „Infinite Woman“- Ausstellung von 2024.

Diesmal ist es eine Installation des venezolanischen Künstlers Jesús Rafael Soto (1923-2005)

Jesús Rafael Soto, Esfera Amarilla (1984)

453 gelb bemalte Metallstäbe sind kugelförmig an der Decke befestigt. Je nach der Sonneneinstrahlung, dem Wind, der das Wasser auf der Glasdecke bewegt, und den eigenen Bewegungen werden unterschiedliche flirrende Spiegelungen und Schattierungen erzeugt. Es gibt einen Prozess ständiger Veränderung, Verwandlung:  also genau das, was mit dem vom lateinischen vertere abgeleiteten Namen der Ausstellung bezeichnet wird.

Die Ausstellung ist in verschiedene Abschnitte gegliedert, die sich auf die Bereiche des Wassers, der Erde, der Luft, des Weltraums und des Unendlichen beziehen.  Ich werde diesen -für mich auch nicht durchweg unmittelbar nachvollziehbaren- Einteilungen der Exponate nicht folgen, sondern nur einige Werke vorstellen, die uns besonders angesprochen haben.  

Flora Moscovici (Frankreich 1985), À la poursuite du rayon vert/Romancing the Light, 2025 (Ausschnitt)

Der untere Eingangsbereich des Gebäudes wurde für die Ausstellung von Flora Moscovici ausgemalt. Hier ein kleiner Ausschnitt. Die Künstlerin ließ sich vom Meer, den Pflanzen und dem Licht von Porquerolles anregen und bezog dabei auch ihre Erfahrungen als Taucherin anregen. Und auch das Tauchen ist ja ein Prozess ständiger Bewegung und Veränderung.

Passend dazu:

Helen Frankenthaler (USA, 1928-2011), Petroglyphs, 1990)

Thomas Ruff (Deutschland, 1958) d.o.pe.05/2022 (Ausschnitt)

Diese Arbeit ist angeregt von Aldous Huxleys 1954 erschienenem Buch The Doors of Perception  (Die Pforten der Wahrnehmung), in dem er seine Erfahrungen mit der Einnahme von Drogen beschreibt und reflektiert. Dem beigefügten Informationstext zufolge lädt Ruff uns mit seiner Arbeit dazu ein, unsere gewohnten Wahrnehmungsweisen beiseite zu lassen und uns „von den Tiefen eines unendlich fragmentierten Motivs“ inspirieren zu lassen. Ich habe hier -aus dem Ausstellungsbereich des Aquatischen kommend- eher an einen Korallengarten gedacht, teilweise noch bunt „blühend“, teilweise aber auch schon von der immer mehr sich ausbreitenden Bleiche befallen….

Bernard Frize (Frankreich 1949), Rami, 1993

In einer Ausstellung, in der das Blau des Meeres und des Himmels eine zentrale Rolle spielt, darf Yves Klein natürlich nicht fehlen, ist er doch der Schöpfer des nach ihm benannten „Blau“, 1960 patentiert unter der Bezeichnung IKB  (International Klein Blue).

Hier ist ein monochromer blauer „Teppich“ ausgestellt, über dem 12 blau bemalte hölzerne Stäbe hängen: pluie bleu/ blauer Regen – erste Version 1957 – ein Versuch, „sich der blauen Unendlichkeit des Himmels anzunähern“ (beigefügte Informationstafel).

Hinter dem „blauen Regen“ Yves Kleins ein aus kleinen silbernen Metalltäfelchen gefertigtes Werk von Anna-Eva Bergman (Schweden, 1909-1987), in dem sich das Blau Yves Kleins spiegelt. Es handelt sich um eine Leihgabe der Fondation Hartung-Bergman in Antibes, einem künstlerischen highlight der an Kunstwerken so reichen Côte d’Azur.  

Auch von Bergmans Ehemann Hans Hartung (Deutschland/Frankreich, 1904-1989) gibt es ein zur dominanten Farbe Blau passsendes Bild in der Ausstellung (T1967-H22, 1967) – hier kann man vielleicht an ein sich zusammenbrauendes Gewitter denken…

Rotraut (Deutschland 1938), Éclipse, undatiert

Und es gibt auch ein Bild von Rotraut, die 1962 Ehefrau von Yves Klein wurde. Rotraut hat bewusst ihren Vornamen als Künstlernamen gewählt, weil sie als eigenständige Künstlerin gesehen werden wollte und nicht als Ehefrau von Yves Klein; und auch nicht als Schwester von Günther Uecker, der seit den 1960-er Jahren eine europaweit bekannte Persönlichkeit der künstlerischen Avantgarde war.

In diesem für Uecker charakteristischen Nagelbild geht es sehr stürmisch zu. Die Geburtsstunde dieser Nagelbilder war vielleicht 1945, als der 15-jährige Günther beim Einmarsch der Roten Armee Türen und Fenster des elterlichen Hauses in Mecklenburg vernagelte, um ein Eindringen der Soldaten und die Vergewaltigung seiner Mutter und Schwestern zu verhindern.

Günther Uecker (Deutschland, 1930-2025) Spirale I, 2002 (Detail)

Günther Uecker gehörte auch 1958 zu den Gründungsmitgliedern der Künstlergruppe Zero. Der Name war Programm: Er sollte auf die Notwendigkeit eines völligen Neubeginns der Kunst nach der Katastrophe des Nationalsozialismus hinweisen. Die beiden anderen Gründungsmitglieder der Gruppe waren Otto Piene (1928-2014) und Heinz Mack, die ebenfalls in der Ausstellung vertreten sind.

In Pienes Lightroom with Mönchengladbach Wall, 1963-2013) wird es kosmisch. Mehrere Scheinwerfer und Installationen erzeugen ein Light Ballet, eine Choreographie des Lichts.

Ganz anders dann eine kleine Zeichnung von Heinz Mack (Deutschland, 1931), die den Abschluss der Ausstellung bildet und gleichzeitig ihr ältestes Exponat ist.

Die Zeichnung entstand 1950, als Heinz Mack, damals 19 Jahre alt, das Grab seines im Krieg gefallenen Vaters in Bordeaux besuchte und dabei das Meer entdeckte mit den Spiegelungen der Sonne auf der Wasseroberfläche und in der Luft. Auf dieser Zeichnung erkennt man zwei Schichten von Linien: Eine Schicht mit geraden Linien eine andere mit sägezahnförmig gezackten Linien. „Ihre Beziehung untereinander und mit dem weißen Untergrund erzeugt“ nach den Worten der beigefügten Informationstafel, „eine feine optische Bewegung“. Ein schöner Abschluss der Ausstellung.

Aber halt! Da müssen wir doch noch etwas übersehen haben! Zu allen Jahresausstellungen in der Villa Carmignac gehört doch auch das kleine bronzene Pflänzchen, ein Unkraut, das nicht totzukriegen ist, das immer irgendwo anders eine kleine Spalte gefunden hat.

Tony Matelli, Weed #389, 2017

„Unkraut ist immer zugleich ein Triumph und eine Niederlage. Unkräuter sind nicht totzukriegen. Sie feiern das Unerwünschte. Sie sind Unrat und Leben zugleich“. Tony Matelli

Diesmal mussten wir allerdings die Hilfe einer Dame der Stiftung in Anspruch nehmen, um Tony Matellis Pflanze zu finden: Unten am Gang zu dem Aufzug und den Toiletten – und die hatten wir nicht in Anspruch genommen.

Darüber die Plakate der letzten Jahresausstellungen.

Danach lädt der Garten zu einem Rundgang ein.

Blick nach draußen auf das Meer und die Küste

Blick nach innen

Auch im Garten ist es eine Freude, Bekanntes wiederzusehen und Neues zu entdecken.

Olaf Breuning, Mother Nature, 2018

VHILS, Scratching the Surface Porquerolles 2018

Breuning und VHILS sind alte Bekannte, neu ist dagegen die geflochtene Hütte von Flora Kuentz: Sie soll zur schöpferischen Kommunikation einladen (Espace dédié aux ateliers créatifs), bietet aber auch ganz schlicht die Möglichkeit zu einer kleinen Rast und Schutz vor Sonne und Hitze…

Eine schöne Möglichkeit zur Rast sind aber auch die Liegestühle und Tische unter den alten Olivenbäumen. Es gibt dort auch einen Foodtruck mit freundlicher Bedienung und kalten und warmen Getränken.

Da kann man noch einmal die Ausstellung an sich vorbeiziehen lassen und freut sich schon auf das Wiedersehen im nächsten Jahr.

Praktische Informationen

Villa Carmignac, Porquerolles Island, Var, France
Vom 26. April bis zum 2. November 2025
Die Insel Porquerolles erreicht man in ca 20 Minuten mit der Fähre von der Halbinsel Giens aus. Abfahrten i.a. alle halbe Stunde von der Fährstation La Tour Fondu. Bezahlte Parkplätze sind dort ausreichend vorhanden. Vom Hafen Porquerolles bis zur Villa Carmignac sind es ca 20 Minuten Fußweg. Ein Inselplan liegt im Touristenbüro am Hafen aus.

Eintrittskarten für die Ausstellung sollten unbedingt reserviert werden! https://billetterie.villa-carmignac.com/fr-FR/accueil-billetterie

Öffnungszeiten:
Geöffnet dienstags bis sonntags. Montags geschlossen. Geöffnet ab 10 Uhr. Siehe: https://www.fondationcarmignac.com/en/vertigo-exhibition-villa-carmignac-porquerolles/

Frühere Beiträge zur Insel Porquerolles/zu den Jahresausstellungen der Villa Carmignac

Abschied vom Centre Pompidou. Die letzte Ausstellung: Fotos von Wofgang Tillmans in der leergeräumten Bibliothek

Das Centre Pompidou wird im September 2025 für fünf Jahre geschlossen: Grund sind umfangreiche Renovierungsarbeiten, vor allem die Beseitigung von Asbest. Die Schließung des 1977 eingeweihten Kulturzentrums mit seinem Museum für moderne Kunst und der großen Bibliothek ist ein großer Verlust für das kulturelle Leben der Stadt. Das scheint auch die Tricolore an der südwestlichen Ecke des Gebäudes auszudrücken.

Fotos: Wolf Jöckel 18.6.2025[1]

Dass das Centre Pompidou nach 48 Jahren seines Bestehens allerdings eine Renovierung gebrauchen kann, lässt sich schon mit bloßem Auge erkennen.

Seit Beginn des Jahres wurde das Centre Pompidou schon sukzessive geräumt und in Teilen geschlossen.

Andere kulturelle Einrichtungen, wie das Atelierhaus von Jean Arp und Sophie Taeuber in Meudon profitieren durch großzügige Ausleihungen von Kunstwerken davon. Jetzt aber noch einmal eine Ausstellung im Centre Pompidou, die letzte vor seiner Schließung.

Titelbild der Ausstellungsbroschüre

Die Ausstellung von Werken des Fotografen Wolfgang Tillmans findet in den fast vollständig leergeräumten Räumen der Bibliothek statt: Eine große Herausforderung.

Hier sind auf Tischen der Bibliothek Spiegel installiert: Die Deckenkonstruktion des Centro Pompidou wird damit gewissermaßen zum Ausstellungsobjekt:

Ich muss gestehen, dass ich den Namen Wolfgang Tillmans noch nie vorher gehört hatte- obwohl er immerhin von 2003 bis 2006 Professor an der Frankfurter Städelschule war und obwohl er, wie ich dann erfuhr, als erster Fotograf und Nichtengländer 2000 den renommierten Turner-Preis erhielt.

Wolfgang Tillmans im Januar 2025 in der noch nicht ausgeräumten Bibliothek des Centre Pompidou. © Centre Pompidou[2]

In die Ausstellung sind wir vor allem deshalb gegangen, weil ein ganzseitiger Bericht in Le Monde unser Interesse weckte[3] und weil ein Pariser Freud ganz begeistert von der Ausstellung berichtet hatte;  außerdem eine gute Gelegenheit, vom Centre Pompidou, jedenfalls für die nächsten fünf Jahre, Abschied zu nehmen.

Tillmans erhielt vom Centre Pompidou carte blanche, ein besonderes Privileg: Er konnte also selbstständig Arbeiten für die Ausstellung auswählen und vor allem: Er konnte selbst darüber entscheiden, wie sie präsentiert werden sollten. Dazu richtete Tillmans sogar in seinem Berliner Atelier ein Modell der Pariser Bibliothek ein.

Tillmans hat nicht nur die alten Teppichböden der Bibliothek übernommen, sondern auch noch einzelne Tische, Sessel und Regale, die er für seine Ausstellung nutzt.

Titel der Ausstellung: Rien ne nous y préparait/Tout nous y préparait. Eine offizielle deutsche Version gibt es, auch wenn Tillmans Deutscher ist, nicht. In der deutschsprachigen Pressemitteilung des Centre Pompidou wird der englische Ausstellungstitel verwendet: Nothing could have prepared us- Everything could have prepared us.[4] Tillmans bezieht sich damit, wie er im Interview mit Le Monde darlegt, auf die Frage, wie es kommt und seit wann die Idee des Fortschritts aufgehört habe, große Teile unserer Gesellschaften anzuziehen. Es geht ihm damit um das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsradikaler Bewegungen. Der Titel lässt sich aber auch auf aktuelle weltpolitische Krisen und Kriege beziehen wie die in der Ukraine und im Nahen Osten. Tillmans präsentiert sich als politisch engagierter Fotograf. Aber natürlich kann man in der Ausstellung, so breit und vielfältig sie auch ist, höchstens Anregungen zum Nachdenken, aber keine Antworten erwarten.

Immer wieder wird in den Ausstellungsberichten die auffallende Vielfalt des visuellen Universums Tillmans‘ hervorgehoben, das sich einer genauen Identifizierung entziehe. „Tillmans dekonstruiert die disziplinäre Logik der Geschichte der Fotografie. Körper von Jungen, Portraits von Stars,  Zigarettenkippen, sonnige Früchte,  Orangenschalen, halbierte Kiwis, befleckte T-Shirts, hängende Drapierungen, Meeresufer, abstürzende Flugzeuge, wütende Demonstranten, abstrakte Bilder etc: Das Spektrum von Tillmans‘ fotografischer Produktion ist inhaltlich und formal extrem breit und entzieht sich jeder Klassifizierung.“[5]

Geldwechsel, Bahnhof Zoo 1990

Frank in the shower 2015

Aus der Ratten-Serie von 1995: Rats coming out

Sehr eindrucksvoll ist das nachfolgend abgebildete Foto: Ein bewegtes Meer, ganz weit hinten  der Horizont, aber darüber nur ein schmales Band Himmel.

The State We’re In, A, 2015/L’état dans lequel nous nous trouvons, A.  Dieser Titel passte für die Welt im Jahr 2015 und noch viel mehr heute, 10 Jahre später…

New Years Note, 1923: Drei Reihen von Jahreszahlen zum Nachdenken…

Engagement für das vereinte Europa: In 22 Sprachen….

Memorial for the Victims of Organized Religions II, 2024

Diese Würdigung der Opfer eines religiösen Fanatismus und Fundamentalismus stellte Tillmans zuerst 2006 in Washington D.C. aus. Seitdem hat sie nichts an Aktualität eingebüßt- im Gegenteil: Gerade in Paris, das mehrfach Schauplatz islamistischen Terrors war, ist das besonders deutlich, und aktuell werden ja religiöse Argumente/Verweise auf die Bibel herangezogen, um den unerbittlichen Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung Gazas zu rechtfertigen.

Bei näherem Hinsehen kann man übrigens feststellen, dass die Tafeln farblich und strukturell unterschiedlich gestaltet sind. Tillmans will damit den „Absolutheitsanspruch vieler organisierter Religionen“ symbolisch infrage stellen. [6]

Moon in earthlight 2015

Für Tillmans spielt neben der Fotografie auch die Musik eine große Rolle. Das zeigen etwa eine seit 1984 entstandene Reihe von Musikerportraits und seine Nachtklub-Bilder der 1990-er Jahre.  Aber er ist nicht nur Fotograf, sondern auch Komponist. Seit zehn Jahren hat er mehrere Alben veröffentlicht, 2022 Moon in earthlight. In der Ausstellung werden auch mit seiner Musik unterlegte Videos von Tillmans gezeigt.

Die anstehende Renovierung des Centre Pompidou wird die zunächst höchst umstrittene Struktur des Gebäudes mit seinen offen liegenden Tragwerksteilen und den Rohren für Gebäudetechnik und Erschließung achten und bewahren; auch die von blau (Klimaanlage), weiß (Tragwerk und Belüftungsrohre) und rot (Treppen) dominierte charakteristische Farbigkeit.

Auch der Invader wird sich dann sicherlich wieder einfinden…

Die lange Schließung soll auch genutzt werden, um das Innere des Gebäudes zu modernisieren und  nutzerfreundlicher zu machen.[7]

Modell des geplanten neuen Foyers im Erdgeschoss. © Moreau Kusunoki en association avec Frida Escobedo Studio[8]

Während der Staat die Mittel für die Asbestentfernung aufbringt, muss das Centre Pompidou die Kosten der Modernisierung seiner Innenausstattung selbst aufbringen. Das scheint noch nicht in vollem Umfang gesichert.

In jedem Fall aber wird man ab 2030 wieder den schönen Blick auf den Strawinsky-Platz mit dem Brunnen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely genießen können.

Und dann werden auch wieder die spektakulären Blicke über die Stadt möglich sein.

Das Geschäftsviertel La Défense im Abendlicht

Nächtlicher Blick auf ein Lüftungsrohr auf der place George-Pompidou vor dem Centre Pompidou


[1] Alle Fotos des Beitrags, wenn nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel

[2] Siehe Le Monde 17. Juni 2025 und DIE ZEIT 26/2025: Was man kurz vor dem Ende sieht.

[3] Claire Guillot, La bibliothèque personelle de Wolfgang Tillmans. Le photographe a, de façon inédite, installé ses œuvres visuelles et sonores au niveau 2 du Centra Pompidou avant sa fermeture. Le Monde 17. Juni 2025, S. 24

[4] https://www.centrepompidou.fr/en/program/calendar/event/nSlcbMZ

[5] https://www.lesinrocks.com/art/wolfgang-tillmans-au-centre-pompidou-a-quoi-faut-il-sattendre-665820-09-06-2025/

[6] Ausstellungsbroschüre zu Nr. 28

[7] Jo7éphine Bindé,  À quoi ressemblera le Centre Pompidou en 2030 ? Après les critiques, l’ambitieux projet architectural dévoilé. https://www.beauxarts.com/grand-format/a-quoi-ressemblera-le-centre-pompidou-en-2030-apres-les-critiques-lambitieux-projet-architectural-devoile/
24 juin 2024

[8] Projet de rénovation du Centre Pompidou pour 2030. Vue d’artiste du pôle Nouvelle génération, 2024

 

In 15 Metro- und RER-Stationen zeigt die Pariser Verkehrsgesellschaft RATP während der Ausstellung Fotografien von Wolfgang Tillmans. Ein schöne Alternative zur üblichen Werbung….

Das königliche Kloster Brou in Bourg-en-Bresse: Die europäische Geschichte einer außerordentlichen Frau um Macht,  Liebe und Tod

Als wir einem französischen Bekannten erzählten, wir würden auf der Rückreise von Südfrankreich in Bourg-en-Bresse Station machen, rümpfte er etwas verständnislos die Nase, nach dem Motto: Warum ausgerechnet dort? Was wollt Ihr denn da?

Die Landschaft Bresse ist den meisten Franzosen natürlich sehr vertraut, denn daher kommt das nicht nur bei Feinschmeckern wohlbekannte poulet de Bresse, nach dem sogar eine Autobahnraststätte benannt ist.[1]

Aber es war nicht das Bresse-Huhn, das für unseren Aufenthalt verantwortlich war, sondern das in Bourg-en-Bresse gelegene königliche Kloster Brou. Es war von Margarete von Österreich für ihren früh verstorbenen Mann Philibert von Savoyen erbaut worden. Es ist nach dem überschwänglichen Urteil einer aktuellen Autorin „ein Monument der Liebe, das in seiner klaren Schönheit in nichts dem weltberühmten  Zeugnis einer großen Leidenschaft, dem Tadsch Mahal in Indien, nachsteht.“[2] Über Vergleiche lässt sich gerne trefflich streiten. Dass aber das Kloster Brou ein ganz außerordentlicher Bau ist, lässt sich kaum bestreiten.

Der Kirchturm und das typisch burgundische Dach mit den bunt lasierten Ziegeln

Die prächtige Westfassade der Kirche

Im Zentrum der Fassade die Statue des heiligen Andreas mit seinem schräg gestellten Kreuz, an dem er den Märtyrertod erlitt. Andreas ist der burgundische Hausheilige. Seinem Attribut begegnet man im Inneren der Kirche immer wieder.

Dass das Kloster Brou bei Franzosen weniger bekannt ist, hängt mit seiner Geschichte zusammen, und da vor allem mit der Frau, der das Kloster seine Entstehung verdankt: nämlich Margarete von Österreich.

Portrait der Margarete von Österreich in einem Kirchenfenster des Chors

Margarete war die Tochter von Maximilian I., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Und ihr Neffe war sein Nachfolger Karl V. – zwei Habsburger also, mit denen Frankreich in heftiger machtpolitischer Konkurrenz stand. Vor allem, nachdem Karl der Kühne, der Herzog des reichen Burgund, seine Tochter, um Burgund vor dem Zugriff der begehrlichen französischen Könige zu schützen, mit Kaiser Maximilian verheiratet hatte.  Dessen Wappen ist ebenfalls unübersehbar im Chor der Klosterkirche zu sehen.

Der Habsburger Doppeladler, umgeben von der Kette des Ordens vom Goldenen Vlies, bekrönt mit der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs. Ein beträchtlicher Teil der Kirchenfenster des Chors sind mit Wappen geschmückt, die die Herkunft Margretes illustrieren: Ausdruck ihres Standesbewußtseins und einer hocharistokratischen Architektur (Hörsch).

Die „allerchristlichen“ Könige scheuten im Kampf gegen Habsburg sogar nicht davor zurück, mit den Türken gemeinsame Sache zu machen und sich mit den -ansonsten verhassten-  deutschen Protestanten zu verbünden… Da passt die Kaisertochter Margarete schwerlich in die nationale Geschichtserzählung Frankreichs und hat kaum einen Platz im „kollektiven französischen Gedächtnis“.[3]

Margarete von Österreich, die Emanzipation einer verkauften Braut

Umso mehr allerdings sollte Margarete von Österreich einen Ehrenplatz in der europäischen Geschichte haben, denn sie war eine außerordentliche Frau mit einem unglaublichen Werdegang: Schon bei der Geburt mit einem beträchtlichen Erbe ausgestattet (Flandern, Artois, Comté) wird sie im Alter von drei Jahren mit dem französischen Thronfolger, dem zukünftigen Karl VIII., verheiratet. Erzogen wird sie als zukünftige französische Königin auf dem Loire-Schloss Amboise, das damals als  Internat für die Hocharistokratie diente. Die kleine Königin, la petite reine, wie sie dort  genannt wird, erhält nach dem Tod Ludwigs XI. dann auch den offiziellen Titel einer Königin Frankreichs.[4] Dann aber die Enttäuschung: Als sie 11 Jahre alt ist, wird sie von dem ihr zugedachten Charles zurückgewiesen. Frankreich hatte nämlich die Bretagne erobert und um diese Neuerwerbung dynastisch abzusichern, heiratet Karl die bretonische Herzogin Anne. Für Margarete und Kaiser Maximilian eine ungeheure Demütigung. Für ihn war klar: „Es gibt keinen größeren Schuft als den französischen König“. 

Für Margarete gibt es aber einen durchaus gleichwertigen Ersatz: Mit 15 Jahren heiratet sie Don Juan, den spanischen Infanten. Durch die Verbindung Habsburgs mit Spanien wird Frankreich gewisermaßen in die Zange genommen…  Die Hochzeit wird per procurationem in Mechelen vollzogen, also noch in Abwesenheit des Ehemanns, aber gleichwohl mit kirchlichem Segen und rechtsgültig. Als auf dem Weg nach Spanien ihr Schiff in einen Sturm gerät, veranstaltet Margarete ein makabres Spiel, das sie in Amboise gelernt hatte: Jeder soll für den Fall aller Fälle einen Grabspruch für sich verfassen. Ihr Spruch: „Hier ruht Margarete, die edle Dame, zweimal verheiratet und dennoch als Jungfrau gestorben.“ Immerhin erreicht das Schiff dann Spanien und Margarete kann bald ihrem Vater schreiben: „Mein Gemahl ist edel und von so minniglichem Wesen, dass ich bald alle Angst verlor. Ich habe in diesen Tagen ein großes Wunder erlebt und weiß nun, wieviel Lieblichkeit in dem Wort Minne ist.“ [5] Das große Wunder dauert aber nur ein halbes Jahr. Don Juan, von Geburt an kränklich, verstirbt schon bald nach der Eheschließung. Mit 17 Jahren ist Margarete also Witwe. Drei Jahre später folgt die dritte Eheschließung: diesmal mit Philibert dem Schönen, dem Herzog von Savoyen. Dies ist jetzt keine königliche Partie, aber wegen der Lage Savoyens eine durchaus in die Heiratspolitik des Hauses Habsburg passende Ehe. Dazu kennt Margarete den schönen Herzog von ihren Jugendjahren in Amboise, wo Philibert ebenfalls erzogen wurde und zu ihren Spielkameraden gehörte. Es ist denn auch nach dem Urteil eines zeitgenössischen Historiographen  eine glückliche Ehe: „ Diese Ehe ward zu der zyt unter allen christlichen Fürsten die lustigste und hübscheste geachtet, dann die beiden von Lyb, Gestalt und Tugend ganz wohl geschöpfet waren.“ [6] Aber auch dieser Ehe war nur ein kurzes Glück beschieden, denn auch Philibert verstirbt schon in jungen Jahren.

Altar des Lebens des heiligen Hieronymus, 1518, Ausschnitt. Die Darstellung ist von einer Miniatur inspiriert, die den Tod Philiberts und die trauernde Margarete zeigt. Musée de Brou

Eine erneute Ehe kommt für die junge Witwe danach nicht mehr infrage, auch wenn ihr Vater sie gerne mit dem englischen König Heinrich VII. verheiratet hätte, um damit einen Verbündeten im Kampf gegen Frankreich zu gewinnen bzw. zu sichern. Auch andere Heiratspläne lehnt sie ab.[7]

Statt dessen greift Margarete ein nicht erfülltes Gelübde ihrer Schwiegermutter, Margarete von Bourbon, auf, das heruntergekommene und fast schon aufgegebene benediktinische Kloster Brou, wo Philibert bestattet wurde, neu aufzubauen. Es soll Ausdruck ihrer großen Liebe sein und die Gräber von Philibert und dessen Mutter aufnehmen. Daneben ist es aber auch ein Ausdruck machtpolitischer Interessen, die Grabkirche bei Bourg-en-Bresse zu errichten: Die habsburgische Präsenz in diesem Raum, dessen Stellung zwischen Frankreich und Habsburg immer schwankend um umstritten war, soll damit manifestiert werden.

Die Initialien von Philibert und Margarete, verbunden durch das Band der Liebe. Detail von der Westfassade der Kirche

Mit großer Energie bringt sie ihr Projekt auf den Weg und legt am 28. August 1506 den Grundstein. Dann aber eine erneute Wendung ihres Lebens: Ihr Bruder Philipp der Schöne, Regent der Niederlande, stirbt und hinterlässt eine geistig verwirrte Frau und sechs kleine Kinder. Der älteste, der spätere Kaiser Karl V., ist gerade einmal sechs Jahre alt. So wird Margarete von ihrem Vater mit der Regentschaft der Niederlande und der Erziehung seiner sechs Enkelkinder betraut. Margarete verlässt Savoyen für immer und richtet einen glanzvollen herrschaftlichen Hof in Mechelen ein. Dort schart sie die großen Familien Burgunds, Savoyens und der Niederlande, aber auch eine intellektuelle Elite um sich, darunter Erasmus von Rotterdam. Sie sammelt Handschriften und Kunstwerke, die von durchreisenden Künstlern, darunter auch Dürer, bewundert werden:  Eine starke Frau, die ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und sich einen dazu passenden Wahlspruch gegeben hat:  

Fortune Infortune Fort Une  (Glück oder Unglück Stark nur allein)

Glasfenster im Chor des Klosters Brou mit dem Wahlspruch Margaretes

Von ihrem Witwensitz in Mechelen aus engagierte sich Margarete auch in der europäischen Politik. Große Verdienste erwarb sie sich 1513 um das Zustandekommen des Vertrags von Mechelen zwischen Maximilian, Heinrich VIII. von England und König Ferdinand von Aragon gegen Frankreich. Nach dem Tod ihres Vaters sah Margarete ihre wichtigste Aufgabe in der Sicherung der Wahl ihres Neffen Karl zu seinem Nachfolger. Denn für das Amt hatten sich gleich mehrere Kandidaten beworben, darunter auch der verhasste französische König Franz! 1519 wurde Karl schließlich von den sieben Kurfürsten in der Wahlkapelle des Frankfurter Doms einstimmig zum römisch-deutschen König gewählt.

Bernard von Orley, Portrait des jungen Karl V. (um 1515). Karl trägt das Band des zunächst burgundischen, dann habsburgischen Ordens vom Heiligen Vlies, um damit seine Verbundenheit mit Burgund zu demonstrieren. (Musée de Brou)

Die Teilnahme an der anschließenden Krönung Karls V. in Aachen war „ein Triumph für die Statthalterin.“ Bei dieser Krönung wurde ihr der Ehrentitel „Erste Dame des Reiches“ verliehen. Sie rangierte damit vor allen Königinnen und Fürstinnen, und dies allein kraft ihrer außerordentlichen Persönlichkeit.[8]

Bernard van Orley, Offizielles und weit verbreitetes Portrait der Margarete von Österreich in ihrer Witwentracht, 1515-1518 (Museum von Brou)

Die Krönung ihres politischen Wirkens war dann 1529 der sogenannte Damenfrieden von Cambrai, der einen grausamen Krieg wischen Franz I. und Karl V. beendete. Da die beiden Herrscher es ablehnten, direkt miteinander zu verhandeln, waren es in ihrem Auftrag Luise von Savoyen, die Mutter des französischen Königs, und Margarete von Österreich, die Tante des gewählten Kaisers Karls V., die sich auf einen Interessenausgleich verständigten und den Vertrag unterzeichneten. „Diese Großtat trug ihr in den Kanzleien Europas den Ehrentitel ‚Europas bester Diplomat‘ ein.“[9]  

Der Umzug in die Niederlande und das große politische Engagement bedeutete aber nicht, dass ihr Interesse an Brou nachließ. Ganz im Gegenteil: Sie legte testamentarisch fest, auch selbst in Brou bestattet zu werden. Die ursprüngliche Planung erschien nun zu bescheiden. Sie wollte ein einzigartiges Bauwerk errichten- einzigartig durch seine Größe, seine Schönheit, seinen Glanz und seine Neuartigkeit. Um den Ruhm der Bourgogne und Österreichs zum Ausdruck zu bringen, brauchte es „ein grandioses Werk“.[10]

Von Mechelen aus nahm Margarete regen Anteil an der Entstehung dieses grandiosen Werks. Künstler und Handwerker aus Brabant, aus Deutschland und aus Frankreich wurden dafür engagiert. Waren es für die zunächst errichteten Klosterbauten eher lokale Handwerksmeister, so berief Margarete als „Bauleiter“  für den Bau der Kirche den renommierten Brüsseler Steinmetz Loys/Louis van Boghem/Bodeghem, der „ein Meisterwerk der flämischen Flamboyant-Gotik“ schuf.[11]

In dem monumentalen Chor- Altar der „sieben Freuden der Jungfrau“ Maria hat Loys van Boghem einer biblischen Gestalt seine eigenen Züge verliehen: Ausdruck eines schon neuzeitlichen künstlerischen Selbstbewusstseins.

Mittel- und Höhepunkt des Baus ist der Chor: Wegen seiner großen Ausmaße, seiner reichen Verzierung und Farbigkeit, seiner wunderbaren Glasfenster. So bildet er den festlichen Rahmen für die drei Grabmäler, die hier aufgestellt sind. Im Mittelpunkt das Grabmal von Philibert dem Schönen.

Der Verstorbene ist doppelt dargestellt: Oben auf der Grabplatte mit offenen, dem Grabmal seiner Frau zugewandten Augen, Prunkgewand und Schwert; unten nach seinem Tod in Erwartung der Auferstehung fast nackt mit geschlossenen Augen.

„Doch ist die irdische Hülle des Herrschers nicht wie bei früheren Doppelgrabmälern als in Verwesung übergegangen und von Würmern zerfressen dargestellt, sondern quasi schlafend, in idealer Schönheit.“[12]

Die Steinmetzen, die den zu Füßen Philiberts liegenden Löwen gestaltet haben, hatten offensichtlich noch keinen wirklichen Löwen gesehen…

In den Nischen, die das Grabmal umgeben, stehen in zehn Sibyllen, Prophetinnen der Antike, die Weissagungen über das Leben Christi gemacht haben sollen. Gefertigt wurden sie in den Brüsseler Werkstätten des Loys van Boghem und des deutschen Bildhauers Conrad Meit/Meyt. Geboren in Worms, trat Meit in den Dienst Margerites von Österreich und hatte wesentlichen Anteil an den kunstvollen Steinmetzarbeiten des Klosters Brou.

Besonders anmutig ist die Figur der Sibylle Agrippa, die die Auspeitschung Christi vorausgesagt haben soll.

Darauf verweist die Peitsche an ihrer Seite.

In einer Grabnische der Südwand befindet sich das Grabmal der Margarete von Bourbon, der Mutter Philiberts.

Die liegende Figur ist ein Werk Conrad Meits. Zu ihren Füßen ein Hund, Symbol der Treue.

Umrahmt wird das Grabmal von aus Alabaster gefertigten Trauernden (pleurants), wie man sie auch von den Grabmälern der Herzöge von Burgund kennt.

Auf der Nordseite wurde dann das Grabmal der Margarete von Österreich errichtet. Sie starb 1530 in Mechelen, noch vor der Vollendung der Kirche, die sie nie gesehen hat. Nach deren Fertigstellung wurde ihr Leichnam nach Brou überführt und neben Philibert und Marguerite de Bourbon in einer Gruft unter dem Chor bestattet.

Ihr Grabmal ist -entsprechend ihrem dynastischen Rang-  ein imposantes und reich verziertes Bauwerk….

 …. mit gewaltigem Baldachin, kunstvoll gestaltetem Wahlspruch…

…. und von Engeln gehaltenem Wappen und Krone. Wie beim Grabmal Philiberts gibt es auch hier zwei Ebenen: Auf der oberen ist Margarete realistisch dargestellt als 50-jährige Regentin der Niederlande in höfischer Kleidung mit allen Abzeichen ihrer Würde.

Unten ist sie in mittelalterlicher Tradition als jüngere, nur mit einem Tuch bekleidete  Frau dargestellt, den Kopf nach Osten gewendet, die Augen halb geöffnet – im Blick ins Jenseits und auf das verheißene ewige Leben.

Für „das Werk ihres Lebens“ wollte Margarete von Österreich nur das Beste.[13] Das zeigt sich auch an den Materialien, die sie für die Gestaltung der Grabmäler auswählte: Basis und Grabplatten sind aus sogenanntem schwarzer Marmor gefertigt. Er stammt aus Steinbrüchen in Belgien und der Schweiz. Für die Verstorbenen in ihren Prunkgewändern in Augenhöhe der Betrachter wurde Carrara-Marmor aus Italien verwendet und für die kleineren Statuen und Arabesken, die die Gräber schmücken, Alabaster aus dem Jura. Der war nicht nur leichter zu bearbeiten, so dass damit Gestalten und Ornamente von großer Feinheit geschaffen werden  konnten, sondern der Stein drückt auch die Verbundenheit mit ihren burgundischen Wurzeln aus: Auch für die berühmten Gräber der Herzöge von Burgund war dieser Stein verwendet worden. Jura, Italien, Schweiz, Belgien…  Auch was die Herkunft der Materialien angeht: Die Gräber von Brou sind wahrhaft europäische Werke!

Dies gilt auch für die wunderbaren Glasfenster des Chors. Die Vorlagen (cartons) wurden in den Niederlande gezeichnet, wobei auch Dürer Anregungen lieferte: Er hatte Margarete eine Sammlung aller seiner Lithografien geschenkt.

Blick von der Galerie des Lettners in den Chor

Die Krönung Marias in eher mittelalterlicher Tradition, oben eher von der italienischen Renaissance beeinflusste Grisailles-Malerei

Bunt waren auch die Fliesen, mit denen der Boden des Chors ausgelegt war. Davon sind heute nur noch einige Reste vor den Grabmalen zu sehen.

Die meisten der Kacheln wurden aber im Laufe der Jahre abgenutzt und schließlich durch einen einfachen und einfarbigen Bodenbelag ersetzt. Im Museum sind allerdings noch einige  erhaltene Kacheln ausgestellt und vermitteln einen Eindruck von der ursprünglichen Schönheit.

Zu dem wunderbaren Ensemble des Chors gehört und passt auch das Chorgstühl aus Eichenholz. [14]  

Die dort dargestellten Figuren aus dem Alten Testament (Südseite) und dem Neuen Testament (Nordseite) stammen aus einer niederländischen Werkstadt.

Sie sind ausgesprochen raffiniert gestaltet, meist in Bewegung, miteinander kommunizierend.

Ganz anders die von lokalen Handwerkern hergestellten Verzierungen und Misericordien (von latein misericordia=Mitleid) , die es den Mönchen ermöglichten, sich während langer Messen hinzusetzen, aber dabei doch scheinbar zu stehen. (Wie sympathisch: Offenbar gingen die Mönche davon aus, dass der liebe Gott die Schummelei durchgehen lässt).

Dort sind alltägliche Szenen zu sehen, zum Beispiel Handwerker bei ihrer Arbeit, hier ein Gerber…

…. ein Trinker….

Es gibt auch derbe erotische Szenen…

… und phantastische Figuren. Hier auf Entdeckungsreise zu gehen, ist ein Vergnügen.

Insgesamt ist der Chor ein wunderbares einheitliches Ensemble, ein würdiger und festlicher Raum für die drei Grabdenkmäler und für den Gottesdienst der Mönche, deren alleinige Aufgabe es war, für die hier Bestatteten zu beten.

Margarete von Österreich hatte schon frühzeitig Mönche aus der Lombardei für ihr Kloster angeworben. Es waren Augustiner, die als ihren Heiligen Nikolaus von Tolentino verehrten. Ihn als Kirchenpatron auszuwählen, lag insofern nahe, als der Todestag Philiberts genau auf den Tag des Heiligen fiel. Dies versprach besonders intensive Fürbitte. Die Klosterkirche trägt also den Namen des Heiligen: St. Nicolas-de-Tolentin.

Ein Bild von ihm und den ihm zugeschriebenen Wundertaten befindet sich am Lettner, der Chor und Kirchenschiff trennt.[15] Der gezackte Stern auf der Brust des Heiligen ist sein Erkennungszeichen.

Er erstrahlt auch auf einem Kirchenfenster.

Der Lettner von Brou ist eines der wenigen erhaltenen Exemplare in Frankreich. Die meisten Lettner französischer Kirchen (mit Ausnahme der Bretagne) wurden im Zuge des gegenreformatorischen Konzils von Trient zerstört, um den Gläubigen den Blick auf den Chor zu öffnen und sie an der Inszenierung katholischer Liturgie teilhaben zu lassen.

Im Gegensatz zu dem Chor ist der Kirchenraum auf der anderen Seite des Lettners eher schlicht und einfarbig. Seine Ausmaße sind auch, im Vergleich zum Chor, relativ bescheiden. Allerdings entfaltet die Architektur an den Pfeilern des Langhauses „die ganze Pracht ihrer Profile“, wie auch der nachfolgende Blick in ein Seitenschiff zeigt.

Blick vom Lettner in das südliche Seitenschiff

Flamboyantes Maßwerk

Die schöne und eindruckvolle Schlichtheit des Kirchenschiffs hat seinen Grund wohl vor allem in dem bewussten Kontrast zur überwältigenden Gestaltung des Chors. Sie hängt aber auch damit zusammen, dass der Raum kaum genutzt wurde. Er wurde nur an besonderen Feiertagen für Gläubige geöffnet. Insofern bestand wohl auch keine besondere Notwendigkeit, den Lettner, ebenfalls ein flamboyantes Schmuckstück, zu zerstören. Außerdem verfügte er über eine Galerie, die einen direkten Zugang von den Klostergebäuden zum Chor der Kirche ermöglichte. Der war zunächst gedacht für Margarete von  Österreich, wurde später aber sicherlich auch von den Mönchen genutzt.

Aus einem im Museum gezeigten Video über die Geschichte des Klosters

Das an die Kirche angrenzende Kloster verfügte -eine Besonderheit- über drei Kreuzgänge. Der erste war der Gästekreuzgang, in dessen oberer Galerie Räume für die Prinzessin und ihr Gefolge vorgesehen waren.

Der zweite und größte Kreuzgang war für die Mönche bestimmt.

An den Kreuzgang grenzten wie üblich der Speisesaal (refectorium) und der Kapitelsaal. Einen gemeinsamen Schlafsaal (dormitorium) gab es nicht, weil die Mönche auf der Einrichtung individueller Mönchszellen bestanden.

Eine Mönchszelle des Klosters, neu eingerichtet nach den alten Inventarlisten

Die Architektur der Erdgeschossarkaden ist schlicht und streng und wird nur von unterschiedlich gestalteten Konsolen aufgelockert.

Drachenkonsole im Großen Kreuzgang

An den beiden Enden einer Galerie des Kreuzgangs ist ein Werk von Richard Serra aus dem Jahr 1985 installiert. Es sind zwei große Blöcke aus Stahl: voneinander entfernt, aber aufeinander bezogen…

Hier der Philibert gewidmete Stahlblock auf der einen Seite des Ganges

… um den dritten Kreuzgang gruppierten sich Wirtschaftsgebäude: Küche, Wärmestube, Vorratslager, eine Bäckerei, ein Raum für die Bediensteten, im Obergeschoss eine Krankenstation. Es gab sogar Gefängniszellen, deren Anzahl nach Einschätzung sachkundiger Beobachter „un peux nombreux“ war für ein Kloster…[16]

Die Kirche und all diese Gebäude haben die Zeitläufte relativ unbeschadet überstanden. Zur Zeit der Französischen Revolution mussten die Augustiner das Kloster verlassen, das aber in den Besitz und Obhut des Staates überging. So wurde nur die royale Bekrönung des Glockenturms zerstört. Die Gebäude dienten dann u.a. als Gefängnis, als Kavalleriekaserne und als Hospiz für Geisteskranke, bevor sie 1823 an die  Kirche zurückgegeben wurden, die darin ein Priesterseminar einrichtete.  

Seit dieser Zeit sind die offenbar als unzüchtig betrachteten Geschlechtsteile der Grabdenkmals-Putten verstümmelt…

Infolge der Trennung von Kirche und Staat räumte das Seminar 1907 das Kloster. Seit 1922 ist dort das Museum der Stadt Bourg-en-Bresse eingerichtet.

Das Museum

Man findet dort vielfache Informationen über das Leben der Margarite von Österreich und über den Bau es Klosters. Darüber hinaus gibt es Sammlung religiöser Skulpturen vom 12. bis zum 17. Jahrhundert und eine reiche Sammlung von Gemälde vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Hier nur der Hinweis auf zwei Schwerpunkte: die niederländische Malerei und das Werk von Gustave Doré.

Dass Gustave Doré mit einigen hochkarätigen Werken im Museum von Brou vertreten ist, hat seinen Grund darin, dass Doré einen Teil seiner Schulzeit in Bourg-en-Bresse verbrachte.[17] In Brou ist sein monumentales Gemälde Dante und Vergil im 9. Kreis der Hölle aus dem Jahr 1861 ausgestellt. Hier ein Ausschnitt:

Dante in roter mittelalterlicher Kleidung dargestellt, Vergil in blauem antikem Gewand.

Verdammte im Eis

Dass niederländische Malerei reichlich im Museum vertreten ist, passt zu der Bauherrin, der niederländischen Statthalterin Margarete.

Hier zwei Ausschnitte aus der entzückenden „Storchenjagd“ von Jan Brueghel dem Älteren, dem zweiten Sohn Pieter Brueghels. (um 1600)

Und hier -passend zur Hühnerlandschaft Bresse- ein Hahnenkampf.

Frans Snyders, Hahnenkampf (Ausschnitt)

Nach dem Besuch der Kirche, des Klosters und des Museums -oder auch zwischendurch- empfiehlt es sich, in der Bar/dem Tabac gegenüber der Kirche ein poulet de Bresse aux morilles zu verzehren, die lokale Spezialität, die dort angeboten wird.

Es ist zwar wohl kaum genau à la Paul Bocuse zubereitet wie das Huhn auf dem abgebildeten Teller[18], aber auf jeden Fall ausgesprochen lecker und sicherlich deutlich preiswerter als bei Paul Bocuse…

Bei gutem Wetter kann man auch draußen sitzen mit Blick auf die Westfassade der Kirche, und bei Sonne zeigt sich vielleicht auch das Schattenteufelchen…

Literatur

Briat-Philippe, Magali u.a., Musée des beaux-arts du monastère royal de Brou : guide des collections.  Silvana Editoriale 2023

Markus Hörsch, Architektur unter Margarethe von Österreich, Regentin der Niederlande. Eine bau- und architekturgeschichtliche Studie zum Grabkloster St.-Nicolas-de-Tolentin in Brou bei Bourg-en-Bressse. Brüssel 1994

Thea Leitner, Europas bester Diplomat. Margarete 1480-1530. In: Dies, Habsburgs verkaufte Töchter. München/Berlin 2017, S. 57-92

Marie-Françoise Poiret, Le monastère royal de Brou. Éditions du patrimoine. Paris 2023

https://meinfrankreich.com/kloster-brou/  (Ein kompakter Überblick im Blog von Hilke Maunders)

https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/etincelante-toiture

https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/somptueux-tombeaux

https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/somptueux-tombeaux

https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/extraordinaire-jube

https://www.historia.fr/guide-culture-loisirs/tourisme/le-monastere-royal-de-brou-un-reve-damour-et-de-pouvoir-2066656


Anmerkungen

[1] Bild aus: https://voyage.aprr.fr/autoroute-info/decouvrir-la-saone-et-loire-par-lautoroute

[2] Leitner, S. 72

[3] Poiret, Le monastère royal de Brou. S. 2

[4] https://www.historia.fr/guide-culture-loisirs/tourisme/le-monastere-royal-de-brou-un-reve-damour-et-de-pouvoir-2066656

[5] Zitate bei Leitner, S. 66 und 67

[6] Zit. bei Leitner, S. 72

[7] https://www.deutsche-biographie.de/sfz58204.html

[8] https://www.deutsche-biographie.de/sfz58204.html  Vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde Karl allerdings erst 1530; Leitner S. 87

[9] Leitner, S. 87

[10] Der Historiker Max Bruchet, zit. von Poiret in: Le monastère royale de Brou, S. 20

[11] Centre des Monuments Nationaux  Monastère royal de Brou, Königliches Kloster Brou. Das Meisterwerk einer Kaisertochter. Deutscher Info-Flyer

Zu Louis van Boghem: François Chauvat,  Louis van Boghem, architecte de l’église de Brou.  In: Réunion des sociétés savantes des départements à la Sorbonne. 1. Januar 1888 https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2062079/f190.image

[12] Hörsch, S. 51

[13] Bei der nachfolgenden Passage beziehe ich mich auf: https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/somptueux-tombeaux

[14] Nachfolgendes Bild aus: https://www.parisladouce.com/2022/04/eglise-saint-nicolas-de-tolentin.html#google_vignette

[15] Bild aus: https://www.chroniquesdebresse.fr/Les-petits-pains-de-Saint-Nicolas

[16] Marie-Françoise Poiret/Marie-Dominique Niviere, Brou, Bourg-en-Bresse. Bourg-en-Bresse 1990, S. 27. Zitiert von Markus Hörsch, S. 32

[17] https://www.monastere-de-brou.fr/decouvrir/gustave-dore-un-artiste-genial-au-monastere

[18] https://www.papillonette.fr/?p=112

Le Palais idéal du Facteur Cheval: Das phantastische und grandiose Lebenswerk eines Briefträgers

Dies ist der Blick auf die nördliche Fassade des Palais idéal des Facteur Cheval in Hauterives (Drôme), seines palais imaginaire.[1] Es ist ein imposantes Bauwerk: 26 Meter lang, 14 Meter breit und bis zu 12 Meter hoch. Ein Märchenpalast, ganz allein gebaut von einem Land-Briefträger, einem Autodidakten mit rudimentärer Schulbildung, zwischen 1879 und 1912, in 33 Jahren, 10 000 Tagen und 93 000 Stunden, wie es Ferdinand Cheval auf einer Tafel seines Palais verzeichnet hat.

Und schalkhaft fügte er noch an, wer hartnäckiger sei als er, solle sich doch gleich an die Arbeit machen.

Ferdinand Cheval legte auf seiner Briefträgertour täglich zwischen 30 und 43 km zurück, „bei Schnee oder Eis oder blühenden Landschaften“, wie er rückblickend schrieb – in einer Gegend, die wegen der rauhen Winter auch „terres froides“ genannt wird.  Während er die Post zu den oft abgelegenen Gehöften brachte,  träumte er davon, „einen märchenhaften Palast jenseits aller Vorstellungskraft“ zu erbauen. Der -im wahrsten Sinne des Wortes-  Anstoß, diesen Traum zu verwirklichen, war nach seinen Angaben ein „bizarrer und pittoresker Stein“, auf den er 1879, damals 43 Jahre alt, während seiner Tour trat. Er gab ihm den bilblischen Namen pierre d’achoppement. Heute hat dieser Stolperstein auf der Terrasse des Palais einen Ehrenplatz. [2]

Cheval begann nun, auf seinen dienstlichen Wegen markante Steine zu sammeln, sie direkt in seine Briefträger-Tasche zu stecken oder beiseitezulegen, um sie dann nach Dienstschluss mit einer einfachen hölzernen Schubkarre einzusammeln und nach Hause zurückzubringen. Das ist die „brouette bien-aimée“ aus André Bretons Gedicht über den Facteur Cheval.[3]

Hier sind es allerdings selbst geformte Zementblöcke, die er mit seiner Schubkarre transportiert.

Cheval sammelte Steine und Ideen. Eine umfassende Konzeption des Bauwerks, wie es einmal aussehen sollte, gab es nicht. „Als ich anfing, dachte ich noch nicht an solche Dimensionen“, schrieb er 1905, „aber ich fand immer etwas Neues in meinen Träumen“.[4] Es gibt aber eine Zeichnung wohl aus dem Anfang der 1880-er Jahre, in der Cheval erste Ideen für sein Palais skizzierte. Es sind sechs Blätter mit einer Länge von fast einem Meter. Die Zeichnung, von der in dem kleinen Museum der Anlage Ausschnitte abgebildet sind, zeigt unten einen kleinen Wasserlauf und oben phantasievoll gestaltete Springbrunnen.

Das Wasser spielte in den Vorstellungen Chevals eine große Rolle. Sein erstes Werk war eine mit Muscheln geschmückte Source de la vie, die er in seinem Gemüsegarten anlegte, den er zum verständlichen anfänglichen Missfallen seiner Frau zum Bauplatz machte. Als dann der Bau immer größer und höher wurde, reichte das Wasser zwar nicht mehr für anspruchsvollere Wasserspiele, aber immerhin für die Bauarbeiten. Und als das Palais fertig war, wurde zu besonderen Anlässen Wasser für kleine Wasserläufe oder Wasserfälle nach oben getragen.

Im Laufe der Zeit erweiterte Cheval sein Bauwerk immer mehr. Er fungierte damit als Architekt und verstand sich auch als solcher, obwohl er keinerlei entsprechende Ausbildung erhalten hatte: Bevor er Postbote wurde, war er als Bäcker und Tagelöhner tätig gewesen. Und das ganze Bauwerk errichtete er mit einfachsten Mitteln: Vor allem den von ihn gesammelten Steinen, Kalk und Zement. Und aus Baumstämmen baute er abenteuerliche Baugerüste zusammen.

Cheval 1890 bei der Arbeit an seinem Palais[5]

Eine örtliche Genehmigungs- und Aufsichtsinstanz gab es nicht- sonst hätte es dieses außerordentliche Palais sicherlich nie gegeben.  Es wurden aber keinerlei gravierende Baumängel festgestellt, als das Palais idéal 1969 vom damaligen Kultusminister André Malraux unter Denkmalschutz gestellt wurde.  

Man entdeckte aber dabei, dass Cheval in den Zementboden der langen Terrasse[6] Eisendrähte eingearbeitet und sie so befestigt hatte: Eine frühe Form des béton armé…  Die große „unterirdische“ Galerie[7] darunter war deshalb -wie das gesamte Bauwerk-  nie von Einsturz bedroht.

                                                           Galerie souterraine du Palais idéal 

Möglich wurde der imposante und phantasievolle Bau auch durch den Kauf mehrerer angrenzender Grundstücke. Vor allem aber durch Anregungen, die er aus Illustrierten und Postkarten bezog. Postkarten hatten damals, auch begünstigt durch die Weltausstellungen, Hochkonjunktur. Besonders beliebt waren koloniale Motive, die ferne architektonische Wunderwerke wie Moscheen, hinduistische und ägyptische Tempel zeigten.[8]

Postkarten aus der Sammlung Chevals (Museum)

Mehr als Lesen und Schreiben hatte Cheval in der Schule nicht gelernt, und er hatte nie größere Reisen unternehmen können. Aber er abonnierte zwei illustrierte Zeitschriften, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großen Erfolg hatten und wesentlich zur Volksbildung beitrugen. So konnte der Landbriefträger Cheval mit seiner bescheidenen Bildung die große weite Welt, die Geschichte und die Philosophie in sein Lebenswerk einarbeiten.

Die große weite Welt, Geschichte und Religion im Palais idéal

Das Palais idéal ist ein Werk mit einer unübersehbaren universalistischen Programmatik: Mensch und Natur, verschiedene Religionen, Geschichtsepochen und Regionen stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. Das Christentum ist zum Beispiel mit einer Marienfigur, betenden Engeln, dem Kreuz und den falschen Schlangen vertreten, auf die Eva hört.

Vor allem aber sind es exotische Bauwerke und fremde Religionen, die Cheval in sein Palais integriert.

Dies ist der Turm „de Barbarie“, ein Gebäude des Orients, wo, mit den Worten Chevals „in einer Oase Feigenbäume, Kakteen, Palmen, Aloen und Olivenbäume wachsen.“[9] In dem Turm war ein Wasserreservoir eingebaut, das dazu bestimmt war, die Source de la vie mit Wasser zu versorgen.

Das „ägyptische Grab“ ist sicherlich der spektakulärste Teil des Bauwerks. Mit den Worten  Chevals: „Mein Grab hat 10,50 Meter Höhe, 5 Meter Breite und 4 Meter Tiefe.  Ich habe 7 Jahre lang daran gearbeitet.“[10]

Ein markantes Element des Bauwerks ist auch die „Moschee“. Sie betont den universalistischen Charakter der Palais, „in dem Religionen und ganz unterschiedliche architektonische Traditionen in einem brüderlichen Geist nebeneinander stehen und miteinander harmonieren.“[11]

Der Halbmond über der Moschee

In die Nischen der Westfassade hat Cheval verschiedene architektonische Modelle aus aller Welt eingebaut: Ein Schweizer Chalet, eine mittelalterliche Burg, ein algerisches Haus…

… und einen hinduistischen Tempel.

Vorbilder können hier neben Postkarten und Illustrierten die damals sehr populären Nachbauten solcher Bauwerke auf den Weltausstellungen gewesen sein.

Die Natur: Material und Gegenstand der Gestaltung

Steine nicht nur als Baumaterial, sondern auch zur Dekoration von Fassaden zu verwenden, war gerade in der Gegend von Drôme und Ardèche durchaus üblich. Cheval steht in dieser Tradition. Er nutzte aber nicht nur verschiedene Steine als Gestaltungselemente, sondern auch Muscheln und Austernschalen, die er von einem Vetter aus Marseille bezog.

Deutlich zu erkennen ist hier, dass Cheval für viele seiner Skulpturen sorgfältig ausgewählte Steine verwendete, dass er zum Teil gar nicht selbst modellierte, sondern nur passende Steine zusammensetzte wie für das Maul des bissigen Tieres, das gewissermaßen darüber wacht, dass das Gebot, nichts anzurühren, auch eingehalten werde.

Der Körper des Kalbs ist aus flachen Steinen zusammengesetzt.

Die Harmonie zwischen Mensch und Natur

Die Lebensphilosophie von Ferdinand Cheval

Cheval hat insgesamt über 150 Inschriften an seinem Palais angebracht. Es handelt sich zum Teil um literarische Zitate, vor allem um einen Lobpreis der menschlichen Schaffenskraft – auch seiner eigenen- und um die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.

An einer Decke, die einer barocken Rocaille-Grotte nachempfunden ist: La vie sans but est une chimère

„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“

„Indem ich diesen Felsen schuf, wollte ich beweisen, was Willenskraft möglich machen kann“.

Das Grabmal auf dem Friedhof

Cheval wäre gerne selbst in seinem Palais beerdigt worden, was die Gemeinde allerdings ablehnte. So baute er schließlich nach Abschluss der Arbeiten an seinem Palais auch noch ein eigenes Familiengrab auf dem Friedhof des Ortes. Acht Jahre war er damit beschäftigt und hatte im Alter von 86 Jahren das einem hinduistischen Tempel nachempfundene „Grabmal der Stille und der ewigen Ruhe“ (Tombeau du Silence et du Repos sans fin) vollendet.

In dem Grabmal sind auch andere Mitglieder der Familie bestattet, so seine zweite Frau Philomène und die gemeinsame Tochter Alice, die 1879 geboren wurde, im gleichen Jahr, als Cheval mit den Arbeiten an seinem Palais begann. Alice nahm als Kind freudigen Anteil an der Entstehung des Palais, das Nils Tavernier, Autor eines Buches über Cheval und des Films über ihn als „une espece de cabane pour enfants“, als eine Art Kinderhaus, bezeichnet hat.[12] Der frühe Tod  von Alice 1894 war ein schwerer Verlust für den Vater.

Großes Selbstbewusstsein

Zunächst gab es wenig Verständnis bei der Dorfbevölkerung, Cheval wurde eher für verrückt erklärt. Man hielt ihn, wie er im Rückblick schrieb, für einen „armen Irren“, einen „Idioten, der in seinem Garten Steine aufhäuft.“[13]  Bei seinen ersten Bauten vermutete man, es handele sich vielleicht um einen Kaninchenstall…   In jedem Fall muss ein Mensch, der 33 Jahre, zum Teil neben seinem höchst herausfordernden Beruf, bis tief in die Nacht an einem solchen Projekt arbeitet, eine außerordentliche Persönlichkeit gewesen sein, vielleicht mit autistischen Zügen.[14] Für Cheval  passen im wahrsten Sinne des Wortes die deutschen Ausdrücke Arbeiten wie ein Pferd (cheval) und Arbeiten wie verrückt. Jedenfalls bietet es sich offensichtlich an, sein geradezu wahnwitziges Projekt als Fall für psychologische Begutachtung zu betrachten. [15]  Aber das gilt wohl für die meisten Menschen, die Außerordentliches vollbracht haben….

Cheval hat dieses Projekt gegen alle Widerstände und Anfeindungen verwirklicht. Und er war sich sicher, dass ihm dadurch einmal Ruhm und Ehre zuteil würden. Im Palais stößt man immer wieder auf Zeichen dieses Selbstbewusstseins.

In die Säulen der Westfassade ist in großen Lettern sein Name (CH-E-V-A-L)  eingezeichnet. (In den Nischen die Architekturmodelle)

Eingang zur Galerie mit der Inschrift: Wo der Traum Wirklichkeit wird

Von großem Selbstbewusstsein zeugen auch Inschriften wie diese: Dieses Wunderwerk, auf das der Erbauer stolz sein kann, wird einzigartig im Universum sein.[16]

Hier redet sich Cheval selbst als „gigantischen Bildhauer“ an, der seinen „übermenschlichen Traum“ verwirklicht habe. „Gestern war es Mühe und Arbeit, morgen ist es der Ruhm“.

Cheval zeigte sein Wunderwerk auch gerne den Besuchern, die sich immer zahlreicher einfanden.

Er hatte für sie sogar einen festen Rundgang vorgesehen und ein Gästebuch lag aus, in das die Namen fein säuberlich eingetragen wurden.

Die Besichtigungsplattform

Cheval baute auch eine Aussichtsplattform (Belvédère),  von der aus man „die majestätische Westfassade bewundern konnte.“[17]

Die Aussichtsplattform mit der Sonnenuhr (cadran de la vie): „Jedesmal, wenn du mich betrachtest, siehst du, wie dein Leben vorbeigeht.“

Vom Belvedere aus hat man einen schönen Blick auf die gesamte östliche Fassade…..

… und dabei auch auf die „drei Giganten“: Caesar, Vercingetorix und Archimedes“. Gewidmet im Jahr 1899 -mitten im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus- der „Brüderlichkeit zwischen den Völkern“.

Und darunter eine ägyptische Mumie mit der Aufschrift: „Den großen Männern. Die dankbare Menschheit“ – eine universalistische Umformung der Inschrift auf dem Pantheon von Paris: „Den großen Männern. Das dankbare Vaterland“.

Nachwirkung 

Zunächst war das Palais idéal eine eher lokale Sehenswürdigkeit. Nach der Jahrhundertwende gab es allerdings schon Berichte in der überregionalen und internationalen Presse, es gab Postkarten und Bilder des Bauwerks. Und es gab 1904 einen Dichter aus Grenoble, Emile Roux Parassac, der dem Facteur Cheval das Gedicht „ton Idéal, ton Palais“ schickte, das dem entstehenden Bauwerk seinen Namen gab. Aber die etablierte Kunstwelt rümpfte noch die Nase. Das änderte sich erst in den 1930-er Jahren, als die Surrealisten, die in dem Palais einen traumhaften Bau sehen, der sich der herrschenden akademischen Kunstauffassung entziehe. Allen voran war es André Breton, der das Palais entdeckte und Cheval ein Gedicht widmete. Und er begeisterte den damals ganz in der Nähe in Saint Martin d’Ardèche wohnenden Max Ernst für das Palais.

Die Collage Max Ernsts zum Facteur Cheval (Peggy Guggenheim Sammlung, Venedig) stammt aus dem Jahr 1932.[18]  Zur Faszination, die das Palais idéal auf Max Ernst ausübte, trug vielleicht auch die große Bedeutung bei, die Vögel in seinem Werk und dem von Cheval spielen.  Insofern bezieht sich nicht nur der Briefumschlag in der Collage auf Cheval, sondern wohl auch die Gestalt mit dem Vogelkopf.

Max Ernst bei einem Besuch des Palais mit seiner zweiten Frau, Dorothea Tanning, im Jahr 1950.[19]

1937 besuchte Picasso in Begleitung von Paul Eluard und Dora Maar das Palais idéal und widmete ihm ein ganzes Heft mit Zeichnungen. [20]

Paul Eluard und Pablo Picasso 1937 am Entrée d’un palais imaginaire

Dass Cheval als Pferd mit der Aufschrift PTT (Abkürzung der französischen Post) dargestellt ist, erscheint wenig originell, eher schon, dass das Pferd mit einem Vogelkopf ausgestattet ist. Auch hier also ein Hinweis auf die Bedeutung der Vögel im Palais idéal.

Die Fotos, die Dora Maar bei diesem Besuch von dem Bauwerk machte, sind derzeit in dem zur Anlage gehörenden Atelier ausgestellt.

Dora Maar, Foto von der Galerie (galérie souterraine)

Eine besondere Bewunderin Chevals war Niki de Saint Phalle. In einem Brief an Jean Tinguely schrieb sie:  „Ich habe dir von Gaudi und dem Facteur Cheval erzählt, die ich entdeckt und zu meinen Helden gemacht habe. Sie repräsentieren die Schönheit des Menschen, alleine in seinem Wahnsinn, ohne jeden Vermittler, ohne Museum, ohne Galerien. Ich habe dich dadurch provoziert, dass ich sagte, der Facteur Cheval sei ein größerer Bildhauer als du.“[21]

Zeugnis der Bewunderung Niki de Saint Phalles für Cheval ist auch ihr „Fragment de l’Hommage au Facteur Cheval“. Und dass Niki de Saint Phalle Gaudi und Cheval zusammen als ihre „Helden“ nennt, liegt insofern nahe, als es in der Tat eine strukturelle Verwandtschaft zwischen beiden gibt, was die  Unbedingtheit und Außerordentlichkeit ihrer Projekte und ihres Schaffens angeht.[22]  

Die offizielle staatliche Würdigung des Palais idéal ließ allerdings noch lange auf sich warten. Erst 1969 wurde es von dem damaligen Kultusminister Malraux unter Denkmalschutz gestellt. Während die Kultusbürokratie  das Palais als „absolut hässlich“ und als „ein erbärmliches Sammelsurium von Unsinn“ bezeichnete, sah Malraux darin das weltweit einzige erhaltene Bauwerk der „art naïf“. Die Franzosen könnten stolz darauf sein. Es wäre kindisch, es nicht zu erhalten. [23]

Inzwischen hat die Gemeinde Hauterives die Verantwortung für das Palais übernommen: Sie kann sich glücklich schätzen, einen touristischen Anziehungspunkt ersten Ranges zu besitzen, von dem die ganze Gemeinde profitiert.

Seit einigen Jahren hat sich das Palais auch der modernen Kunst geöffnet.

2022 hat zum Beispiel der Glaskünstler Jean Michel Othoniel, Paris-Besuchern bekannt durch den extravaganten Eingang zur Metro-Station Palais-Royal, das Palais ausgestaltet.[24]  Im Zentrum seiner Arbeit standen 10 gläserne Fontänen aus Murano-Glas, mit denen er auf seine Weise den Traum Chevals von dem  im Palais sprudelnden Wasser erfüllte.[25]

Im Garten des Palais steht seit 2024 ein Brunnen in Gestalt von Philomène, der zweiten Frau von Ferdinand Cheval.

Es ist ein Werk von Claire Tabouret, einem breiteren Publikum bekannt, weil sie  ausgewählt wurde, die modernen Kirchenfenster in Seitenkapellen von Notre-Dame de Paris zu gestalten. Mit dem Brunnen würdigt Tabouret eine Frau, die -wohl nach anfänglichem Zögern- ihren Mann emotional und finanziell dabei unterstützt hat, seinen Traum zu verwirklichen. Zwei Jahre nach Fertigstellung des Palais verstarb sie und hat nun ihren Platz neben dem Werk ihres berühmten Mannes.[26]

Praktische Informationen

Palais idéal du Facteur Cheval

26390 Hauterives (Drôme)

www.facteurcheval.com

Öffnungszeiten: https://www.facteurcheval.com/infos-pratiques/

In Ferienzeiten wird die Reservierung von Eintrittskarten empfohlen.

Es gibt auch eine Boutique mit Informationsmaterial und Kassetten des schönen Films von Nils Tavernier über die Entstehung des Baus. Die deutsche Version des Films (Der Palast des Postboten) wurde am 31.5.2025 im Sender One gezeigt. Er ist bis 30.6.2025 in der ARD-Mediathek verfügbar: https://www.ardmediathek.de/video/der-palast-des-postboten/der-palast-des-postboten/one/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtZGUyNGY5OWUtZGMxNy00ZWE4LWE1YmYtMDExYzVkNGZlNTlh

Nils und Tiffany Tavernier haben auch ein Buch über den Facteur Cheval geschrieben: Le Facteur Cheval: Jusqu’au bout du rêve… Flammarion 2018

Auch eine Sendung der Reihe Visites privés von Stéphane Bern (France 2) ist dem Palais idéal gewidmet: https://www.youtube.com/watch?v=SQra-ELRKxc


Anmerkungen

[1] Alle Bilder des Beitrags, wenn nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel

[2] Nachfolgendes Bild aus:  https://aufildeslieux.fr/architextures-et-perspectives-au-palais-ideal-du-facteur-cheval/ ©K.Hibbs

[3] https://www.barapoemes.net/2025/01/andre-breton-1896-1966-facteur-cheval.html

[4] Le Palais idéal du Facteur Cheval. Connaissance des arts 899 2025, S. 17/18. Auf diese Veröffentlichung beziehe ich mich im Wesentlichen bei meiner Darstellung.

[5] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Cheval#/media/Fichier:Facteur-Ferdinand-Cheval-02.jpg

[6] Bild aus: https://aufildeslieux.fr/architextures-et-perspectives-au-palais-ideal-du-facteur-cheval/

[7] Bild aus: https://aufildeslieux.fr/architextures-et-perspectives-au-palais-ideal-du-facteur-cheval/  ©Le Lab 

[8] https://www.radiofrance.fr/franceculture/le-palais-du-facteur-cheval-un-tresor-d-influences-2107760

[9] Zit. in Connaissances des arts, S. 37

[10] Connaissances des arts, S.35

[11] Connaissance des arts, S. 29

[12] https://www.pointdevue.fr/culture/cinema/le-palais-du-facteur-cheval-le-reve-dun-homme-enfant

[13] Zit. Connaissance des arts, S. 24

[14] So ein Neurologe, den Nils Tavernier im Rahmen seiner Beschäftigung mit Cheval konsultierte. https://www.pointdevue.fr/culture/cinema/le-palais-du-facteur-cheval-le-reve-dun-homme-enfant

[15] https://shs.cairn.info/revue-psychologie-clinique-2016-1-page-109?lang=fr Réalisation d’un rêve : le palais idéal du Facteur Cheval Monique Bon

Pages 109 à 121  Psychologie Clinique
2016/1 n° 41

[16] Insgesamt hat Cheval an dem Palais mehr als 150 Inschriften angebracht. Eine Auswahl bei: https://fr.wikipedia.org/wiki/Palais_id%C3%A9al

[17] Begleitendes Faltblatt des Palais idéal

[18] https://www.facteurcheval.com/musee/facteur-cheval-fac-simile/ und The Postman Cheval (1932) by Max Ernst – Artchive

[19] https://www.andrebreton.fr/work/56600100812030

[20] https://www.sciencesetavenir.fr/decouvrir/quand-picasso-retourne-au-palais-ideal-du-facteur-cheval_137471

[21] Zit in: https://fr.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Cheval

[22] Bild aus: https://www.artbasel.com/catalog/artwork/14260/Niki-de-Saint-Phalle-Fragment-de-l-Hommage-au-Facteur-Cheval  Siehe auch:

[23] Zitate aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/Palais_id%C3%A9al

[24] Voriges Bild: Jean-Michel-Othoniel_Oriflamme-4-web.jpg (1476×1476)

[25] Nachfolgendes Bild: https://www.eventail.be/art-et-culture/expositions/jean-michel-othoniel-au-palais-ideal-du-facteur-cheval  Trésors et Fontaines © Jean-Michel Othoniel Adagp, Paris, 2022

[26] https://www.facteurcheval.com/programmation/evenements/lee-miller-claire-tabouret/

Kommentar von Ulrich Schläger:

Was wissen wir schon von den seelischen Verletzungen, der Verzweiflung, den Ängsten Ferdinand Chevals, der elf war, als seine Mutter starb, der mit 17 Jahren seinen Vater verlor, dessen einjähriger Sohn verstarb und 8 Jahre später auch seine erste Frau Rosalie Revol, die gerade mal 32 Jahre alt wurde und dann auch noch den Tod seiner 15-jährigen Tochter Alice-Marie-Philomène erleben musste. Ihm bleiben die schmerzhaften Erinnerungen und Träume einer anderen Welt, die den Tod überwindet. Diese andere Welt erscheint ihm in der Natur, die er auf seinen langen, täglichen Fußmärschen als Landpostbote durchquert und ihm mit einem Stein „von solch bizarre doch pittoresken Form“ ein Zeichen gibt. „Da die Natur die Bildhauerei übernehmen will, kümmere ich mich um die Maurerarbeit und die Architektur.“ Am Ende unsäglicher Mühen steht das Palais idéal, eine Kollage aus Bildern der Geschichte, fremder Kulturen und auch der Natur in ihren vielfältigen, auch phantastischen, Erscheinungen.

Man muss keine psychopathologische Schublade bemühen, wenn man Chevals Werk einordnen will. Man kann Chevals Werk auch als eine gigantische Kompensation seiner schlimmen Erlebnisse oder als Flucht aus diesen sehen, oder auch als Suche nach Harmonie, Ruhe und Frieden verstehen, oder aus allem zusammen. Mit derselben ungeheuren Energie, mit der er seinem Beruf nachgeht, schafft er auch sein Palais idéal. Das ist für die meisten von uns unverständlich, ja „irre“, „aber“, wie Sie lieber Herr Jöckel richtig schreiben, „gilt wohl für die meisten Menschen, die Außerordentliches vollbracht haben….“