Paris in der Vorweihnachtszeit: Illuminationen und Dekorationen

Paris nennt sich -seit der Weltausstellung von 1900- gerne Ville lumière, Stadt des Lichts. Verglichen mit New York war das damals etwas schmeichelhaft: Noch nicht einmal in dem für die Weltausstellung errichteten Grand Palais gab es damals elektrisches Licht. Heute, in der Vorweihnachtszeit, hat der Ausdruck aber seine volle Berechtigung.  Da strahlt und leuchtet die ganze Stadt.

Bekannt sind ja die jährlich neuen vorweihnachtlichen Illuminationen der Champs-Élysées, der -so das französische Selbstverständnis- „schönsten Avenue der Welt“.

Aber auch andere, weniger prominente Pariser Straßen zeigen sich in festlicher Beleuchtung:

Die rue Saint-Louis en l’Île

Im Hintergrund die Juli Säule auf der place de la Bastille mit dem Genius der Freiheit.

Auch die meisten Einzelhändler knausern nicht mit der Beleuchtung.

Markthalle des marché d’Aligre im 12. Arrondissement

„Unser“ Metzger in der rue de la Roquette (11. Arrondissement)

Sehr verbreitet ist es auch, die Schaufensterscheiben mit gemalten oder aufgeklebten weihnachtlichen Motiven zu schmücken.

Auch öffentliche Gebäude werden aufwändig illuminiert wie hier das Rathaus des 11. Arrondissements:

Am benachbarten Place Léon- Blum hat man sogar einen kleinen weihnachtlichen „forêt urbaine“ geschaffen:

Wirtschaftliche oder ökologische Bedenken gibt es da nicht –  der Strom ist in Frankreich vergleichsweise günstig und -nachdem einige wegen Reparaturarbeiten abgeschaltete AKWs wieder am Netz sind- so reichlich, dass man ihn sogar mit stolzem Gewinn ins Ausland -zum Beispiel nach Deutschland- liefern kann…

Es blinkt und glitzert also überall in Paris:

Mit farbigem Licht angestrahlte Fassade der Philharmonie de Paris

Blick von der Fondation Louis Vuitton auf den von tausenden japanischen Lampions beleuchteten jardin d’acclimatation.

Einen besonderen Aufwand bei der vorweihnachtlichen Beleuchtung betreiben die großen Pariser Kaufhäuser. Hier einige Eindrücke von dem Bon Marché, dem Samaritaine, dem Au Printemps und dem Lafayette.

Le Bon Marché

Zuerst geht es zum Le Bon Marché. Immerhin ist es das älteste Kaufhaus von Paris, ja der Welt!

Dass dieses Kaufhaus zu einem Vorbild für spätere Nachfolger und Nachahmer wurde, ist den vielen Neuerungen zu verdanken, die der Gründer des Bon Marché, Aristide Boucicaut, einführte, um Kundschaft anzuziehen.

Dazu gehörten auch die besonderen Schaufensterdekorationen in der Weihnachtszeit. Sie waren auch und vor allem für Kinder gedacht, für die kleine Podeste aufgebaut wurden.

Das damals völlig Neue und Sensationelle dabei war, dass die Schaufensterfiguren beweglich waren. So auch die Hasen, die in diesem Jahr Leitmotiv der Dekoration im Bon Marché sind. Hier sind sie gerade am Stricken.

Und hier reiten sie auf fliegenden Karotten durch die Luft.

Und es wird dann auch gleich für passende Produkte geworben: Karottensuppe, Karottenkonfitüre, Karottensaft. Das passt immerhin.

Aber auch andere Produkte des Hauses werden von Hasen präsentiert: Vielleicht ein kostensparendes Recycling von Osterhasen einer früheren Präsentation?

Le Bon Marché 24, rue de Sèvres, 75007

La Samaritaine

Das Kaufhaus La Samaritaine an der Seine, ein architektonisches Art déco-Juwel, schmückt sich zu Weihnachten eher zurückhaltend.

Ich finde das aber sehr passend, weil so die Schönheit des Gebäudes nicht hinter einer aufwändigen Dekoration verschwindet.

Und ganz oben unter dem gläsernes Dach gibt es ein schönes und im Allgemeinen auch ruhiges Café, in dem man sich etwas von dem Pariser Weihnachtstrubel erholen kann.

La Samaritaine 9 rue de la Monnaie, 75001 Paris.

La Fayette

Die Schaufensterdekorationen des La Fayette fanden wir wenig attraktiv.

Hier wird das Büro des Weihnachtsmanns präsentiert, der die Bestellungen für Geschenke entgegennimmt und registriert.

Aber natürlich lohnt es sich, hoch unter die Kuppel zu fahren, die wie jedes Jahr besonders aufwändig dekoriert ist.

Galeries Lafayette Paris Haussmann 40, Boulevard Haussmann 75009 Paris

Au Printemps

Das benachbarte Kaufhaus Au Printemps hat seine diesjährige Weihnachtsdekoration unter das Motto „Weihnachten in New York“ gestellt.

Das ist recht originell: Hier können Kinder beispielsweise im Foyer des Hauses in ein Auto steigen und sozusagen durch New York fahren.

Auch in den Schaufenstern ist New York Hintergrund der Dekorationen und beweglichen Präsentationen.

Dazu gibt es auch die passende Musik.

Natürlich geht es in erster Linie nicht um Unterhaltung, sondern um Werbung für die Produkte des Hauses: Kinder als zukünftige Kunden…

Hier präsentiert die fesche kleine Maus eine schicke Tasche.

Innen kann man dann diese Tasche von Hermès bewundern: „Constance“ aus Krokodilleder (Varanus Niloticus) für 20. 000 Euro….

Die Kinder freuen sich aber über die lustigen Schaufenstertiere.

Und dann gibt es ja auch hier noch die festliche Kuppel mit Weihnachtsbaum -geschmückt mit New York-Motiven…

… und natürlich die Terrasse mit einer kleinen Eislaufbahn für Kinder und einem wunderbaren Blick über die Stadt.

Printemps Haussmann 64 Boulevard Haussmann, 75009 Paris

Allen Leserinnen und Lesern des Blogs wünschen wir eine gute Vorweihnachtszeit mit vielen hellen Lichtern.

Bild des Monats Oktober 2025: Pariser Honig/miel de Paris

Pariser Honig im Kaufhaus Bon Marché.

Pariser Honig? Honig aus einer der am dichtesten bebauten Städte Europas? Das mag etwas bizarr erscheinen, ist es aber ganz und gar nicht. Der Pariser Honig gilt sogar als besondere Delikatesse. Nahrung finden die Bienen in den vielen Alleen und Parks genug, es gibt beispielsweise hinreichend Akazien und Linden, die Stadt tut viel für mehr Grün, und seit über 10 Jahren werden in Paris keine chemischen Giftstoffe mehr versprüht.

Aus der Werbung für den Pariser Hédène-Honig:

„Als wahres Symbol für die florale Vielfalt der Stadt bietet der Honig von Paris Hédène mit seinen charakteristischen Pflanzenaromen ein einzigartiges Geschmackserlebnis. Der ikonische Nektar, der Honig von Paris, zeichnet sich durch seine leuchtende Farbe, seine Cremigkeit und seine Frische am Gaumen aus. Der Honig von Paris Hédène ist eine einzigartige Kreation, die die Vielfalt und den floralen Reichtum der französischen Hauptstadt widerspiegelt.“

Die „einzigartige Kreation“ hat allerdings auch ihren Preis: Das mittlere Glas Hédène-Honig kostet stolze 19.95 €

Der Pariser Honig hat schon eine lange Geschichte: Im 19. Jahrhundert wurden im jardin du Luxembourg die ersten Bienenstöcke aufgestellt und eine Imker-Schule eingerichtet.

Diese Anlage gibt es immer noch…

Die Bienen scheinen sich im jardin du Luxembourg sehr wohlzufühlen.

An den Bienenstöcken herrscht reger Betrieb. Foto: Wolf Jöckel 15.9.2025

Offizielle Statistiken über die Zahl der Bienenstöcke in Paris liegen nicht vor. Die Schätzungen variieren stark und reichen bis an die 2000 Stück. 1980 wurden Bienenstöcke sogar auf dem Dach der Opéra Garnier installiert. Seitdem schmücken sich nicht nur Parks, sondern auch viele öffentliche Bauwerke damit.

Bienenstöcke im Tuilerien-Park

© Twitter Assemblée nationale

Die Bienenstöcke auf dem Dach des Palais Bourbon, dem Gebäude der Nationalversammlung, sind sogar standesgemäß in den Farben der Tricolore angemalt…

Die Bienenstöcke auf dem nachfolgenden Foto habe ich am Finanzministerium in Bercy entdeckt. Vielleicht versucht man ja auch auf diese Weise, die klammen Finanzen des Staates etwas aufzubessern…

In der Boutique des Pariser Rathauses (rue de Rivoli) gibt es Pariser Honig mit genauen Herkunftsbezeichnungen; also natürlich auch Opernhonig, Marais-Honig oder sogar Champs-Élysée-Honig…. Eine schmackhafte und ökologische Alternative zu den gängigen Paris-Souvenirs….

Erinnerungsorte an den Holocaust in Paris und Umgebung (1): Einführung

Am 27. Januar 2020  wurde auf zahlreichen  Veranstaltungen an die Befreiung des Konzentrationslagers  Auschwitz vor 75 Jahren erinnert. Auch in  Paris gab es eine Fülle von Veranstaltungen. So wurde an diesem Tag –unter anderem- die nach längerer Überarbeitung neu gestaltete Mauer der Namen im Mémorial de la Shoah durch Präsident Macron  eingeweiht.[1]

Viel wurde in diesen Tagen in Frankreich über „le devoir de la mémoire“ gesprochen und geschrieben,  also die Aufgabe, die Erinnerung an das Grauen der „Endlösung“ wachzuhalten. Und dies mit umso mehr Recht, als in der Bevölkerung und vor allem bei der jungen Generation die Kenntnis der Verbrechen zu wünschen übrig lässt. Nach einer im Dezember 2018 veröffentlichten Ifop-Umfrage wissen 30% der 18-35-jährigen Franzosen nicht, dass es während des Zweiten Weltkriegs einen Genozid an Juden gab.  [2]  Und –wie in Deutschland- gibt es auch in Frankreich eine erschreckende Zahl von antisemitischen Vorfällen, ja Verbrechen.

Ich habe  den Holocaust-Gedenktag des Jahres 2020 zum Anlass genommen, in einer kleinen Beitrags-Reihe einige Orte vorzustellen, an denen  in Paris an den Holocaust erinnert wird.

  • In diesem ersten Teil dieses Beitrags wird an einigen Beispielen aus unserer Umgebung die Präsenz der Erinnerung im öffentlichen Raum der Stadt aufgezeigt. Dazu werde ich die Entwicklung skizzieren vom de Gaulle’schen Mythos eines in der Résistance geeinten Frankreichs bis zur Anerkennung der Mitwirkung des Landes bei der nationalsozialistischen „Endlösung“.
  • Im zweiten Beitrag werden  das Mémorial de la Shoah und das Mémorial de la Déportation im Mittelpunkt stehen.
  • Im dritten Beitrag geht es um Orte der Deportation:  das Gymnase Japy im 11. Arrondissement, das bei allen Judenrazzien als ein erstes Sammellager gedient hat;  das Wintervelodrom am Eiffelturm,  das sogeannte Vel d’Hiv, nach dem die große  Razzia vom 16. Juli 1942 benannt ist;   dazu  das Internierungslager von Drancy und den Bahnhof von Bobigny,  alles Orte,  die im Ablauf der Deportationen eine wesentliche Rolle gespielt haben.
  • Abschließend lade ich zu einem Spaziergang auf den Friedhof Père Lachaise ein, in dem zahlreiche Denkmale an die nationalsozialistischen Konzentrationslager erinnern. Diesen Beitrag habe ich schon am 27. Januar 2020 in den Blog eingestellt. [3].

Einige Beispiele der Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Raum

Die Erinnerung an die Opfer der „Endlösung“ ist im öffentlichen Raum der Stadt Paris nicht zu übersehen. Das soll zunächst an einigen Beispielen aus unserer näheren Umgebung und täglichen Erfahrung veranschaulicht werden.  Zwar gibt es in Paris keine Stolpersteine, aber dafür zahlreiche Erinnerungsplaketten an  Häuserwänden – eine in Paris sehr alte und immer noch lebendige Tradition. Die Plaketten zur Zeit von 1939-1945 beziehen sich vor allem auf den Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer und die Kämpfer, die bei der Befreiung von Paris im August 1944 umgekommen sind, aber selbstverständlich gibt es auch zahlreiche Tafeln, die an die Opfer des Holocaust erinnern. Da wir im 11. Arrondissement wohnen, beziehen sich die nachfolgenden Beispiele vor allem auf dieses Stadtviertel. Eine vollständige  Dokumentation aller Pariser Erinnerungstafeln zur Zeit von 1939-1945 hat Philippe Apeloig in seinem wunderbaren Buch  Enfants de Paris 1939-1945  vorgenommen. [4]

Nicht zu übersehen sind die schwarzen Marmortafeln an allen Pariser Schulen.  Hier ein Bild von der Grundschule Avenue des Bouvines in „unserem“  11. Arrondissement:

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Zur Erinnerung an die Schüler dieser Schule, die zwischen 1942 und 1944 deportiert wurden, weil sie Juden waren; unschuldige Opfer der Nazi-Barbarei und der Regierung von Vichy. Mehr als 1200 Kinder des 11. Arrondissements wurden in den Vernichtungslagern umgebracht. Vergessen wir sie niemals!“

Initiatorin der Plaketten ist die Association pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés (AMEJD). Ergänzend dazu hat die AMEJD  des 11. Arrondissements eine Wanderausstellung  über die deportierten Kinder dieses Stadtviertels erstellt. [5]

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Der Grund, warum gerade  das 11. Arrondissement für eine solche Ausstellung ausgewählt wurde, liegt wohl darin, dass es hier bis zu den großen Razzien in den Jahren der occupation und des Pétain-Regimes einen vergleichsweise großen Anteil jüdischer Bevölkerung gab. Das in der Ausstellung gezeigte Schaubild gibt den Stand 1. Juli 1941 wieder – Grundlage war die Registrierung aller Juden, die von der  Pétain-Regierung durchgeführt wurde.

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Eindrucksvoll ist, dass konkrete Schicksale anschaulich gemacht werden: Hier zum Beispiel die von zwei Schülern der Grundschule in der Avenue de Bouvines.

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Henri Skrzydlack, 9 Jahre, wurde mit seiner Mutter im Lager Pithiviers interniert, dann allein nach Drancy überführt. Er wurde 21 Tage nach seiner Mutter deportiert. Sein Vater, der während einer Razzia allein verhaftet und direkt in Drancy interniert wurde, war schon deportiert worden.

Henri gehörte zu den 104 Kindern des 11. Departements , die mit dem Konvoi 23 vom 24. August 1942 deportiert wurden.

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Charles Kruk, ein ehemaliger 16 Jahre alter Schüler, dessen Eltern schon deportiert waren, wurde Opfer der Razzia des Kinderheims in der rue Lamarck im 18. Arrondissement am 10. Februar 1943. Am folgenden Tag wurde er von Drancy nach Auschwitz deportiert.

Henri gehörte zu den 34 Kindern des 11. Arrondissements, die mit dem Konvoi 47 vom 11. Februar 1943 deportiert wurden.

Die Ausstellung ist  zu besonderen Anlässen –wie  zum Holocaust-Gedenktag-  im Salle des Fêtes des Rathauses des 11. Arrondissements zu sehen. Wie aufmerksam und interessiert kleine Ausstellungsbesucher bei der Sache sind, zeigt das nachfolgende Bild.

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Besonders anrührend sind die Tafeln mit den Namen und dem Alter  der deportierten kleinen Kinder, „die noch keine Gelegenheit hatten, eine Schule zu besuchen“. Sie sind in jeweils einer öffentlichen Anlage aller Pariser Arrondissements aufgestellt. Hier die Tafel mit den Namen der 199 deportierten und ermordeten jüdischen Kleinkinder des 11. Arrondissements im Jardin Titon.[6]

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Aufgenommen wurden dieses und das folgende  Foto am 30. Januar 2020 anlässlich einer kleinen Zeremonie zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Veranstalter waren die Mairie des Arrondissements und die AMEJD. Und beteiligt waren auch Schüler/innen einer benachbarten Schule, die die Namen der deportierten Schüler ihrer Schule vorlasen und für sie Blumen niederlegten.

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Als die meisten Besucher schon weggegangen waren, stand dieser kleine Junge noch im strömenden Regen vor der Tafel…

An vielen Stellen des 11. Arrondissements, aber auch in der rue d’Aligre im 12. Arrondissement, wo „unser“ Wochenmarkt stattfindet, wurde in diesem Jahr  mit einer Plakataktion an die jüdischen Kinder bzw. Jugendlichen erinnert, die dort einmal gelebt haben, bevor sie in die Vernichtungslager deportiert wurden:

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… vier junge  Cohens, offenbar  Geschwister,  Suzanne, 8 Jahre; Renée, 10 Jahre; Esther,  12 Jahre und  David, 14 Jahre.

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Sicherlich haben sie in diesem Hof gespielt, der jetzt von den Straßenhändlern als Depot genutzt wird. 

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Bei dem  Namen Nemirovski  denkt man unwillkürlich an Irène Nemirovsky, die verheißungsvolle junge Schriftstellerin, die 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde und in deren erst spät entdecktem Roman Suite française sie eindrucksvoll die Situation der Menschen im besetzten Frankreich der Jahre 1940-1942 beschreibt.

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Eine besondere Gedenktafel gibt es in der rue des Boulets Nummer 8 im 11. Arrondissement:

In diesem Haus wurden Louise Jacobson, 17 Jahre alt, und ihre Mutter Olga Jacobson verhaftet. Sie wurden 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet, weil sie Juden waren. Die ‚Briefe von Louise Jacobson‘ bleiben für die Geschichte ein unschätzbares Zeugnis.

Louise Jacobson wurde am 1. September 1942 verhaftet.

Patrick Modiano hat in seinem Buch Dora Bruder den entsprechenden Polizeibericht wiedergegeben: „Die Inspektoren Curinier und Lasalle an den Hauptkommissar, Chef der Sonderbrigade: Wir überantworten Ihrer Verfügung eine gewisse Jacobson Louise, geboren am 24. Dezember 1925 in Paris, 12. Arrondissement (…) seit 1925 französische Staatsangehörige durch Einbürgerung, jüdischer Rasse, ledig. Wohnhaft bei ihrer Mutter, 8 Rue des Boulets, 11. Arrondissement, Studentin. Heute gegen 14 Uhr am Wohnsitz ihrer Mutter festgenommen, unter folgenden Umständen: Während wir am oben angegebenen Ort eine Hausdurchsuchung durchführten, betrat die junge Jacobson die Wohnung, und wir stellten fest, dass sie das für Juden charakteristische Kennzeichen nicht trug, wie es durch eine deutsche Verordnung vorgeschrieben ist. Sie gab an, um 8 Uhr 30 das Haus verlassen zu haben und zu einem Vorbereitungskurs für das Abitur am Lycée Henri- IV, Rue Clovis, gegangen zu sein. Darüber hinaus haben Nachbarn dieser jungen Person angegeben, dass diese junge Person häufig ohne dieses Kennzeichen das Haus  verlasse.[7]

Die noch erhaltenen Briefe Louise Jacobons  aus dem Gefängnis von Fresnes und dem Internierungslager von Drancy sind mit winziger Schrift auf Postkarten geschrieben und bezeugen auf bewundernswerte Weise ihre Durchhaltestärke und ihren Überlebenswillen. Serge Klarsfeld, der das Vorwort zur Buchausgabe geschrieben hat, bezeichnete Louise Jacobson als „notre Anne Frank“.[8]

Auch manche Namen öffentlicher Gebäude erinnern an Opfer des Holocaust. So die Gesamtschule Anne Frank im 11. Arrondissement.

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Hier wurde die Erinnerungstafel an der Fassade  zum Holocaust-Gedenktag mit einem neuen Blumengebinde des Pariser Rathauses versehen.

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Auch zwei andere öffentliche Gebäude, die wir öfters nutzen, tragen Namen von Opfern des Holocaust: Die Mediathek Hélène Berr im 12. Arrondissement und das Schwimmbad Alfred Nakache im 20. Arrondissement. Hèlène Berr ist eine französische Jüdin, die im April 1945 –wie Anne Frank- im KZ Bergen-Belsen umgekommen ist. Ihr Pariser Tagebuch 1942-1944  ist „ein bewegendes Dokument zur Geschichte des Holocaust, vergleichbar mit den Tagebüchern von Anne Frank.“ (Verlagstext Fischer-Verlag).

Auch das Schwimmbad Alfred Nakache im 20. Arrondissement, das wir öfters besuchen, wenn unser benachbartes „Hausbad“ mal wieder jede sich nur bietende Gelegenheit nutzt, seine Pforten zu schließen, ist nach einem Opfer des Holocaust benannt: Nämlich nach dem „Schwimmer von Auschwitz“.

Nakache war  französischer  Rekordschwimmer, Teilnehmer an der Olympiade 1936 in Berlin,  wurde ab 1940 zunächst ein Opfer der Rassegesetze der Vichy-Regierung, dann von den Nazis  über das Lager Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er heimlich mit anderen Gefangenen im Löschwasserbecken schwamm. Dank seiner physischen Konstitution und seines Lebenswillens überstand Nakache Auschwitz und sogar den Todesmarsch nach Buchenwald, wo er im April 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Er begann sofort wieder mit dem Training, wurde 1946 noch einmal französischer Meister und konnte sich sogar noch einmal für die Olympischen Spiele in London 1948 in London qualifizieren, wo er das Halbfinale über 200 Meter Brust erreichte!

Schade ist, dass an dem Schwimmbad zwar auf großen Transparenten über die Geschichte der Pariser Schwimmbäder informiert wird, nicht aber über das unglaubliche Leben des Namensgebers. Das darauf angesprochene Schwimmbadpersonal konnte auch nur auf das Internet als Informationsquelle verweisen….  Aber auch an der Gesamtschule Anne Frank und an der Mediathek Hélène Berr fehlen –wenn auch noch so kurze- Informationen zu den Namensgeberinnen. Schade!

Das Ende des gaullistischen Mythos vom geeinten Land des Widerstands

Auf den an den Pariser Schulen angebrachten Erinnerungstafeln wird ausdrücklich auf die Beteiligung der Regierung von Vichy an der Deportation jüdischer Kinder hingewiesen.

Angebracht wurden die Tafeln 2004/2005  auf Initiative der Association Pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés (AMEJD) und auf Beschluss des Pariser Stadtrats, der allerdings keineswegs unkontrovers war:  Dass auf den Tafeln als Täter gleichberechtigt die „Nazi-Barbarei“ (nota bene: nicht „Deutschland“) und die Regierung von Vichy genannt werden, veranlasste die rechten Parteien, sich vehement gegen die Anbringung dieser Erinnerungstafeln an den städtischen Schulen zu wehren.

Es gehörte lange zu dem von de Gaulle aus politischen Opportunitätsgründen gepflegten nationalen Selbstbild, ein Land der Opfer und des allgemeinen Widerstands gegen die Besatzung gewesen zu sein. Das aktive Mitwirken von Franzosen an der Identifizierung, Verhaftung, Internierung und Auslieferung von Juden wurde also verdrängt. Kein einziger französischer Gendarm, der an antisemitischen Aktionen –und Ausschreitungen- beteiligt war, wurde je vor Gericht gestellt oder hatte nach 1945 irgendwelche beruflichen Nachteile zu erleiden. Selbst der oberste Judenjäger und Chef der Vichy-Polizei, Bousquet,  konnte, da er rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hatte, wegen seiner „Verdienste für die Résistance“ fast ungeschoren davon kommen und im Nachkriegs-Frankreich weiter politisch und publizistisch Karriere machen.[9]

Ein bezeichnendes Beispiel für die Tendenz der Verdrängung ist  der Umgang mit Alain Resnais‘ 1956 entstandenem dokumentarischen Kurzfilm „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel) über die Schrecken der Judenvernichtung- 30 Jahre vor Lanzmanns Shoah-Film. Nach dem Urteil von François Truffaut « un film sublime, dont il est très difficile de parler… toute la force du film réside dans le ton adopté par les auteurs : une douceur terrifiante… »   Der Film – immerhin unter Mitwirkung des offiziellen Komitees der Geschichte des 2. Weltkriegs (CHGM) entstanden- wurde für das Festival von Cannes 1956 ausgewählt, aber dann Objekt der Zensur: Die Mütze eines französischen Gendarmen in einem der von Vichy eingerichteten Internierungslager musste wegretuschiert werden, was allerdings nicht ausreichte: Auf Druck der deutschen Botschaft in Paris und des französischen Außenministeriums wurde der Film aus dem offiziellen Programm der Filmfestspiele entfernt und konnte nur inoffiziell am Rande gezeigt werden;  selbst dort übrigens ohne französische Mütze- die Originalversion ist erst seit den 1990-er Jahren wieder zu sehen.[10]

Es war dann Marcel Ophüls‘ wegweisender  Dokumentarfilm Le Chagrin et la Pitié (deutsch: Das Haus nebenan- Chronik einer französischen Stadt im Krieg) von 1969, der  „das Bild vom im Widerstand geeinten Frankreich zum Wanken brachte“ und der Anlass einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung in Frankreich wurde.[9]  Kern des Films sind Interviews, die Ophüls und seine beiden Mitarbeiter André Harris und Alain de Sédouy mit Zeitzeugen geführt haben, so dass ein Bild des täglichen Lebens in der Stadt Clermont-Ferrand im nicht besetzten „freien“ Teil Frankreichs unter der Herrschaft der Regierung von Vichy entsteht. Die Zeitzeugen sind –neben einigen prominenten Angehörigen des Widerstands- überwiegend durchschnittliche Franzosen.

Das Gesamtbild, das sich aus dem über vierstündigen Film ergibt, war höchst provokativ:

  • Das Frankreich von Vichy besaß danach –jedenfalls bis zur Besetzung der „freien Zone“ durch deutsche Truppen im November 1942, einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Und die Gesetze, Handlungen und Pläne des Vichy-Regimes gehorchten zwar zu einem Teil den Umständen von Niederlage und Besatzung, zu einem wesentlichen Teil aber auch einer inneren Logik, die von der politischen und ideologischen Geschichte Frankreichs bestimmt war.
  • Es gab einen eigenständigen französischen Antisemitismus, der vom staatlichen Antisemitismus des Vichy-Regimes favorisiert wurde, aber unabhängig war von dem Antisemitismus der Nazis.
  • Die Kollaborateure waren nicht unbedingt auf eigene Vorteile bedachte Verräter, sondern es gab auch Überzeugungstäter, die sich ohne Rücksicht auf die eigene Person auf Seiten der Nazis engagierten.

Der Film löste einen Skandal aus und provozierte heftige Kritik von allen Seiten, von der Linken (Jean Paul Sartre)  über die Liberalen (Simone Veil) bis zu den Rechten (die Gaullisten), die alle fanden, dass die Rolle der eigenen Gesinnungsgenossen in den dunklen Jahren Frankreichs nicht richtig oder nicht hinreichend gewürdigt worden sei. Aber natürlich wollten und konnten die Autoren nicht DEN Film über die Zeit der Besatzung machen, sondern sie haben besonders –im Geiste von 1968- solche Aspekte ins Scheinwerferlicht gerückt, die bisher eher unterbelichtet oder gar ausgeblendet waren.[12]

Das gab und gibt dem Film bis heute seinen großen Wert. Die Filmemacher allerdings mussten die staatliche französische Fernsehgesellschaft ORTF, die den Film in Auftrag gegeben hatte, verlassen, und der Film wurde  1969 –ausgerechnet!-  in Deutschland, fertig gestellt, wo Ophüls nun arbeitete.  In Frankreich war der Film allerdings tabu. Simone Veil, Ministerin unter de Gaulle und –inzwischen pantheonisierte- Angehörige des Widertands,  fand, der Film zeige das unzutreffende Bild eines feigen, egoistischen und bösen Frankreichs und Jacques de Bresson, damals Chef des ORTF und auch ein prominenter Angehöriger des Widerstands, war der Auffassung, der Film zerstöre Mythen, „die die Franzosen noch brauchen“.[13] So durfte der Film erst 1981 offiziell ausgestrahlt werden, am 28./29. Oktober in FR 3 vor 15 Millionen Zuschauern.

Inzwischen hatte aber schon der amerikanische Historiker  Robert O. Paxton  zum ersten Mal die Rolle des Collaborations-Regimes von Vichy wissenschaftlich fundiert dargestellt. Sein Buch Vichy France, Old Guard and New Order, 1940-1944  erschien 1972 in den USA, ein Jahr später in französischer Übersetzung.  Paxtons Bilanz der illusionären Collaboration von Vichy ist vernichtend.[12] Vor allem hebt Paxton den Antisemitismus von Vichy hervor, den er als dessen größte Schande bezeichnet. Ohne den geringsten Druck Nazi- Deutschlands habe Vichy mit seinen Gesetzen  vom 3. und 4. Oktober 1940 den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Leben verfügt (le statut des Juifs) und die Internierung ausländischer Juden ermöglicht. Vichy habe zwar  mit seiner selbst gewollten Diskriminierung von Juden nicht auch den Völkermord beabsichtigt, aber es habe  in Frankreich Voraussetzungen für die Organisation der „Endlösung“ geschaffen.[15]

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  Plakette am ehemaligen Sitz des „Generalkommissariats für Judenfragen“,  dem „Werkzeug der antisemitischen Politik des Etat français von Vichy“.

Das Generalkommissariat befand sich am Platz der Petit-Pères im 2. Arrondissement im Gebäude einer „arisierten“ jüdischen Bank.

Eine ganz entscheidende Rolle bei der französischen „Aufarbeitung der Vergangenheit“ spielten die hartnäckigen und unermüdlichen Bemühungen von Serge und Beate Klarsfeld, deutsche Kriegsverbrecher und ihre französischen Handlanger vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Ein Meilenstein, ja Wendepunkt war dabei der Prozess gegen Klaus Barbie, alias Klaus Altmann, den „Schlächter von Lyon“,  im Juli 1987.[14] Dazu kamen dann Anklagen und  auch Prozesse gegen französische Helfershelfer, die nach dem Krieg entweder mit freundlicher Unterstützung westlicher Geheimdienste oder der katholischen Kirche untergetaucht oder bei Gaullisten oder Sozialisten weiter Karriere gemacht hatten. Ein Beispiel dafür ist  Maurice Papon.  Der war  im Zweiten Weltkrieg als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux verantwortlich für die Verhaftung von etwa 1600 Juden, die zwischen 1942 und 1944  zunächst nach Drancy und von dort weiter nach Auschwitz transportiert wurden. Er gehört aber –wie der oberste Polizeichef von Vichy- René Bousquet- zu den sogenannten „vichisto-résistants“ (Jean-Pierre Azema), die sich zunächst in den Dienst der sogenannten révolution nationale Pétains stellten, dann aber auch Verbindungen zur  Résistance knüpften. So konnte Papon nach 1945 mit ausdrücklicher Billigung von de Gaulle weiter Karriere machen, u.a. als Polizeipräfekt in Algerien, wo er einschlägige Erfahrungen im brutalen Umgang mit der algerischen Widerstandsbewegung sammeln konnte, dann als  Polizeichef von Paris, wo  er Demonstrationen für die Unabhängigkeit Algeriens blutig niederschlug.  Zwischen 1978 und 1981 war er sogar noch Minister in zwei Regierungen. Dann deckte die Zeitung Le Canard Enchaîné seine in Vergessenheit geratene Vergangenheit als williger Helfershelfer der „Endlösung“ auf. Aber erst 1998 wurde er zu 10 Jahren Gefängnis  verurteilt,  von denen er aber nur 3 Jahre absitzen musste. Aber dennoch: Der pädagogische Zweck, den die Klarsfelds mit ihrem Engagement auch verfolgten, war erreicht, vergleicht man, wie Serge Klarsfeld in seinen Memoiren,  die Situation Mitte und Ende des Jahrhunderts:

„Im Oktober 1944 hielt Papon bei der Befreiung von Bordeaux eine Rede, in der er die Patrioten und die deportierten Juden ehrte. Und die französische Gesellschaft war der Meinung, dass die Franzosen, die die Juden verhaftet und den Deutschen ausgeliefert hatten, sich nichts vorzuwerfen hätten: Sie hätten nur ihre Pflicht getan, und es sei besser gewesen, dass sie es gemacht hätten als die Deutschen. 1998 hat das französische Volk entschieden, dass sich  der  französische Staatsapparats von Vichy  zum wichtigen und unabdingbaren Komplizen der Deutschen bei ihrem Plan zur Vernichtung der Juden gemacht hatte.“ [17]

Die Anerkennung der französischen (Mit-)Verantwortung

Es war der damalige Präsident Jacques Chirac, der 1995  offiziell die Beteiligung Frankreichs an der Deportation der Juden anerkannte, und zwar in einer außerordentlichen –und wie man sagen muss: mutigen-  Rede, fast vergleichbar mit dem historischen Kniefall Willy Brandts in Warschau. Die Wahrheit sei, so Chirac damals, dass das  Verbrechen in Frankreich von Frankreich begangen worden sei („le crime fut commis en France par la France“.[18]), aber gegen die Werte und Ideale, für die Frankreich stehe.  Chirac brach damit ein Tabu, das noch in der Tradition de Gaulles von seinem sozialistischen Vorgänger François Mitterand gepflegt wurde. Mitterrand hatte es stets vermieden,  eine Mitverantwortung Frankreichs anzuerkennen, das er durch das mit den Nationalsozialisten kollaborierende Vichy-Regime  nicht repräsentiert sah, sondern allein durch die in London ansässige Exil-Regierung  des „Freien Frankreichs“ des Generals de Gaulle. Noch 1992, anlässlich des  50. Jahrestags der Deportationen, hatte er in seiner Rede betont, man könne „von der Republik keine Rechenschaft verlangen, sie hat getan, was sie musste.“[19]

Chirac hielt seine Rede anlässlich des  53. Jahrestags der Razzia des Wintervelodroms, der rafle du Vel d’hiv. Damals wurden in Paris von der französischen Gendarmerie  fast 13 000  ausländische oder staatenlose Juden, darunter viele Frauen und etwa 4000 Kinder, verhaftet, die in Frankreich Zuflucht gesucht hatten.  Sie wurden tagelang unter unsäglichen Bedingungen im Wintervelodrom in der Nähe des Eiffelturms eingepfercht, einer ersten Station auf dem Weg in die Vernichtungslager .[20]

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Jacques Chirac am Mahnmal für die Opfer der Judendeportationen am 16. Juli 1995

Es dauerte dann bis 2012, bis wieder ein französischer Präsident, nämlich François  Hollande, am Ort des ehemaligen Wintervelodroms eine Rede hielt. Hollande bezog sich direkt auf die Rede Chiracs von 1995 und wiederholte dessen Worte:  „La vérité, c’est que le crime fut commis en France, par la France.“. Und wahr sei auch, dass kein einziger deutscher Soldat beteiligt gewesen sei, sondern dass auf der Grundlage der von der Vichy-Regierung erstellten Listen allein die französische Gendarmerie die Razzia durchgeführt und die verhafteten Juden bis zu den Internierungslagern transportiert habe.[21]

War 70 Jahre nach den damaligen Ereignissen eine „mémoire apaisée“ erwartet worden, so zeigten die Reaktionen auf die Rede Hollandes, dass die Erinnerung an die Rolle Frankreichs bei den Judendeportationen immer noch höchst umstritten war. Henri Guaino, der gaullistische Redenschreiber (plume) Sarkozys, zeigte sich, wie andere Stimmen aus dem rechten Lager, „scandalisé“:  Frankreich habe mit den damaligen Verbrechen nichts zu tun, das wahre Frankreich sei seit dem 18. Juni 1940, der Widerstandsrede de Gaulles, in London gewesen. Aber auch auf Seiten der Linken wurde –in der Tradition Mitterands- jede Verantwortung  Frankreichs geleugnet: Man könne doch nicht so tun, so der sozialistische Senator Chevenement, als sei der 1940 nach der Kapitulation (angeblich) illegal an die Macht gekommene Pétain Frankreich gewesen. Das veranlasste dann den Historiker Henri Rousso, einen Spezialisten des Vichy-Regimes, zu einer Klarstellung: Man müsse zwischen den Werten und den Fakten unterscheiden: Natürlich repräsentiere Vichy nicht, wie Chirac und Hollande ja auch feststellten,  die Werte Frankreichs, aber Vichy habe durchaus eine auch international anerkannte Legitimität besessen. Insofern verstehe er die Kritik an der Rede Hollandes nicht.[22]

2017 war es dann Präsident Macron, der sich am Mahnmal des Vel d’Hiv zur Verantwortung Frankreichs für die Deportationen bekannte. „Ja, ich wiederhole es hier, es war tatsächlich Frankreich, das die Razzia und danach die Deportation organisierte“- und damit auch den Tod  fast aller am 16./17. Juli  1942 aus ihren Wohnungen geholten 13 152 Juden. Aber auch jetzt wieder erhob sich der übliche Entrüstungssturm:  von Jean-Luc Melenchon und Jacques Sapir, für den die Rede Macrons „ein Skandal“ war, auf der Linken –  bis Marine le Pen auf der Rechten, die sich treuherzig auf de Gaulle, Mitterand und Guaino berief. [23]

Von einer gemeinsamen nationalen Erinnerungskultur kann in Frankreich also immer noch keine Rede sein:  (24) Umso wichtiger die sehr eindringliche, aber nicht aufdringliche Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit im öffentlichen Raum der Stadt Paris.

Anmerkungen

[1] Eine (keineswegs vollständige)  Übersicht in: http://www.fondationshoah.org/memoire/journee-internationale-la-memoire-des-victimes-de-la-shoah-2020

[2]https://www.francetvinfo.fr/culture/patrimoine/histoire/meconnaissance-de-la-shoah-chez-les-jeunes-ce-qui-a-considerablement-baisse-c-est-la-transmission-familiale_3109749.html

Siehe auch: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/shoah-une-majorite-de-francais-ignorent-le-nombre-de-juifs-tues-20200122

Im Zusammenhang mit dem schrecklichen Mord an dem Lehrer Samuel Paty wurde auch wiederholt auf Probleme hingewiesen, die manche Lehrkräfte an „Brennpunktschulen“ bei der Behandlung der Judenvernichtung im Unterricht haben.

[3]  https://paris-blog.org/2020/01/27/pariser-erinnerungsorte-an-den-holocaust-der-friedhof-pere-lachaise/

[4] Siehe dazu den Blog-Beitrag über die Erinnerungstafeln zur Zeit von 1939-1945:  https://paris-blog.org/2019/08/25/erinnerungstafeln-zu-der-zeit-von-1939-bis-1945-in-paris-enfants-de-paris-1939-1945/

[5] AMEJD 11e  www.amejd11.org  und https://amejd11e.wordpress.com/  Président Félix Jastreb  amejd11e@gmailcom

[6] Siehe  https://paris-blog.org/2019/08/25/erinnerungstafeln-zu-der-zeit-von-1939-bis-1945-in-paris-enfants-de-paris-1939-1945/

[7] Patrick Modiano, Dora Bruder. München dtv 2014, S. 110/111. Louise Jacobson besuchte allerdings nicht -wie Modiano- das von ihrem Wohnort weit entfernte  Elitegymnasium Henri IV, sondern das lycée Hélène Boucher am Cours de Vincennes, an dem ich immer vorbeifahre, wenn wir im benachbarten Gymnasium Maurice Ravel Chorprobe haben.

[8] Lettres de Louise Jacobson et de ses proches: Fresnes, Drancy 1942-1943. Paris: Éditions Robert Laffont 1997. Die Briefe sind auch zugänglich bei Gallica: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k48087315/f13.image.texteImage

[9] Siehe in diesem Zusammenhang die Hinweise auf den Umgang mit dem Pariser Pétain-freundlichen Kardinal  Suhard  im Blog-Beitrag über Notre- Dame https://paris-blog.org/2019/05/02/napoleon-de-gaulle-und-victor-hugo-notre-dame-die-geschichte-und-das-herz-frankreichs/   und auf  die Nachkriegskarriere des an der Judenvernichtung mitwirkenden Maurice Papon im Blog-Beitrag über die KZ-Denkmäler auf dem Père Lachaise: https://paris-blog.org/2020/01/27/pariser-erinnerungsorte-an-den-holocaust-der-friedhof-pere-lachaise/

Zur wechselhaften Petain-Rezeption und einer entsprechenden Apologetik siehe den Beitrag von Jörn Leonhard:  Mythisierung und Mnesie: Das Bild Philippe Pelains im Wandel der politisch-historischen Kultur Frankreichs seit 1945. In: Georg Christoph Berger Waldegg (Hrsg.): Führer der extremen Rechten: Das schwierige Verhältnis der Nachkriegsgeschichtsschreibung zu „Grossen Männern“ der eigenen Vergangenheit. Zürich: Chronos, 2006, S. 109-129. Sonderdruck aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg:

[10] Noch im  2010 gab es übrigens einen Vorfall, der an den Umgang mit „Nacht und Nebel“ erinnert. Da sollte an dem Journée nationale du souvenir et de la déportation  die Zeitzeugin Ida Grinspan, mit 14 Jahren nach Auschwitz deportiert, in einem Collège am Rande von Paris aus ihren als Buch erschienenen Erinnerungen vorlesen. Darin ist auch ein Brief enthalten, in dem sie ihre Verhaftung durch drei französische Polizisten beschreibt. Die Stadtverwaltung , die von dem Vorhaben erfahren hatte, forderte zunächst in Gestalt eines Beigeordneten –und ehemaligen Polizisten- , dass Grinspan nicht von „Gendarmen“ sprechen sollte, weil das “trop stigmatisante pour une profession“ sei, also zu stigmatisierend für einen Berufsstand. Statt dessen solle sie von „Männern“ sprechen. Dem Bürgermeister reichte das aber nicht, sondern er widersetzte sich insgesamt der Lektüre des Textes. Dass die betroffene, engagierte Lehrerin dies nicht einfach hinnahm und die Angelegenheit ein entsprechendes öffentliches Echo auslöste, veranlasste den Bürgermeister dann doch, seine Zensur fallen zu lassen und sich bei Ida Grinspan zu entschuldigen.   https://www.lemonde.fr/societe/article/2010/04/29/la-lettre-d-une-deportee-censuree-dans-les-deux-sevres_1344650_3224.html

[11] https://www.arte-edition.de/item/4009.html  Zu der Auseinandersetzung um den Film in Frankreich siehe die sehr fundierte Darstellung von Henry Rousso in: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours. Éditions du Seuil 1987, Abschnitt: Impitoyable Chagrin (So die Typographie in der Ausgabe), S. 121ff

[12] Insofern ist das Lob in der nachfolgenden Filmkritik berechtigt, die nachfolgende Kritik allerdings nicht:  Le film tire sa force du fait même qu’il rappelle l’importance de la collaboration – révélant ainsi que la France était loin à cette époque d’être unanimement gaulliste – mais sa faiblesse tient à la façon qu’il a de présenter la collaboration comme le résultat d’attitudes purement individuelles. Le film souffre de cette propension, inhérente à la plupart des émissions historiques télévisées, à n’étayer un fait historique que sur des témoignages individuels en excluant toute approche d’ensemble des données d’un phénomène historique telle que l’étude des structures sociales, des institutions politiques ou des mentalités.  (Le Cinéma français.1960-1985 sous la direction de Philippe de Comes et Michel Marmin avec la collaboration de Jean Arnoulx et Guy Braucourt. Paris: Editions Atlas, 1985. 76-77.)

[13] Zit. bei Rousso, S. 131

Siehe auch Azéma, Jean-Pierre, Wieviorka Olivier. Vichy 1940-1944. Librairie Académique Perrin, 1997. S. 262:  Les réactions les plus hostiles provenaient de celles et de ceux qui avaient vécu la période: les nostalgiques du pétainisme sans doute, mais également nombre de résistants non communistes qui ne se retrouvaient pas dans l’économie générale du film, ou de personnalités engagées dans les batailles de mémoire. Ainsi Simone Veil s’en montre une adversaire tenace, parce que Ophuls a, selon elle, ‚montré une France lâche, égoïste, méchante, et noirci terriblement la situation‘

[14] Robert O. Paxton, La France de Vichy 1940-1944. Éditions du Seuil 1973

[15] Paxton a.a.O., S. 171f

[16] Siehe Henry Rousso a.a.O, S. 229f und besonders S.242  Zu der Jagd auf Klaus Barbie siehe natürlich auch die Memoiren von Beate und Serge Klarsfeld, Paris: Fayard/Flammarion 2015

[17] Beate und Serge Klarsfeld, Mémoires. Paris: Fayard/Flammarion 2015, S. 576 und 596

[18]  Wortlaut der Rede: https://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2014/03/27/25001-20140327ARTFIG00092-le-discours-de-jacques-chirac-au-vel-d-hiv-en-1995.php

Bilddokument: https://www.youtube.com/watch?v=uzyW53KsZF4

[19]https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article108367331/Ein-Verbrechen-in-und-von-Frankreich.html

[20] Bild: https://www.lemonde.fr/disparitions/portfolio/2019/09/26/les-quarante-ans-de-vie-politique-de-jacques-chirac-en-images_6013158_3382.html Bild Jack Guez/AFP

[21] https://www.franceculture.fr/politique/vel-dhiv-francois-hollande-va-plus-loin-que-jacques-chirac-et-cree-une-nouvelle-polemique

[22]  https://www.lemonde.fr/societe/article/2012/07/16/rafle-du-vel-d-hiv-70-ans-apres-la-memoire-apaisee_1734132_3224.html

http://www.lemonde.fr/politique/article/2012/07/23/rafle-du-vel-d-hiv-guaino-scandalise-par-la-declaration-de-hollande_1736970_823448.html  Siehe auch: https://www.marianne.net/politique/vel-d-hiv-hollande-n-pas-clos-la-controverse

[23] http://www.lefigaro.fr/politique/2017/07/16/01002-20170716ARTFIG00136-vel-d-hiv-macron-dans-les-pas-de-chirac.php

https://www.francetvinfo.fr/culture/patrimoine/histoire/commemoration-du-vel-d-hiv-emmanuel-macron-prononce-un-discours-solennel-devant-benyamin-netanyahou_2285604.html

2019 – Bir Hakeim, le Vel’ d’Hiv’ et Emmanuel Macron

https://www.lejdd.fr/Politique/le-discours-de-macron-au-vel-dhiv-critique-par-melenchon-et-lextreme-droite-3391313

(24)  In Deutschland gibt es diesen Konsens leider auch nicht (mehr): Siehe die berüchtigte „Fliegenschiss“-Metapher  des AfD-Vorsitzenden Gauland oder die einschlägigen Beiträge des thüringischen AfD-Vorsitzenden Höcke.

Weitere geplante Beiträge: 

Seraphine Louis und Wilhelm Uhde: Die wunderbare und tragische Geschichte einer französischen Malerin und ihres deutschen Mäzens

Gravelotte: Ein einzigartiger Erinnerungsort an den deusch-französischen Krieg 1870/1871

Die Bäderstadt Vichy:  Der Schatten „Vichys“ über der „Königin der Kurbäder“

 

Wie man eine Revolution feiert: der 14. Juli in Paris

Frankreich feiert am 14. Juli die Erstürmung der Bastille  am 14. Juli 1789,  für Victor Hugo die Geburtsstunde der Freiheit,  „l’éveil de la liberté.“  Seit 1880 ist der 14. Juli der französische Nationalfeiertag. Damals allerdings bezog man sich nicht allein auf den 14. Juli 1789, sondern auch bzw.  eher auf den 14. Juli des darauf folgenden Jahres: An diesem Tag  wurde zur Erinnerung an den Sturm auf die Bastille das sogenannte Föderationsfest gefeiert, bei dem der König  Ludwig XVI. vor Vertretern aller Provinzen und Stände einen feierlichen Eid auf die Nation ablegte: Eine große Kundgebung nationaler Einheit, während der Sturm auf die Bastille  für viele konservative/monarchistische  Abgeordnete  der Nationalversammlung als Bezugspunkt eines  Nationalfeiertags nicht infrage kam.   Der 14. Juli 1790 ist inzwischen allerdings weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis der Franzosen verschwunden, und so war es auch nur konsequent, dass die großen Feiern zum 200-jährigen Jubiläum der Französischen Revolution 1989 stattfanden und nicht ein Jahr später. Im angelsächsischen Bereich ist die Sache sowieso klar: Da ist der 14. Juli der „Bastille-day“.[1]

Seit 1880 hat sich ein Ritual der Feiern zum 14. Juli herausgebildet.  In seinem Paris-Roman schreibt  Edward Rutherford dazu:

„Was für ein Glück für die nachfolgenden Generationen, dass die Sansculottes, als sie die Französische Revolution im Jahr 1789 mit der Erstürmung der Festung einläuteten, sich dafür ausgerechnet einen Sommertag ausgesucht hatten. Die perfekte Wahl für einen Feiertag mit Festlichkeiten, Paraden und Feuerwerk“.[2]

Rutherford hat hier den Dreiklang der Feiern des 14. Juli in ganz Frankreich und natürlich auch und vor allem in Paris bezeichnet:

  • Die Festlichkeiten, das  sind Konzerte und Tanz, in Paris vor allem der Tanz in den Kasernen der Feuerwehr
  • Die Paraden, in Paris natürlich die große Parade auf den Champs – Élysées
  • Das große Feuerwerk am Eiffelturm, das die Feierlichkeiten zum 14. Juli abschließt.

In diesem Jahr ist allerdings (fast) alles (ganz) anders. Die nach wie vor geltenden Beschränkungen aufgrund der CV-Pandemie verbieten, dass die Feierlichkeiten so wie üblich ablaufen:

  • Der Tanz in den Kasernen der Feuerwehr wird ausfallen, weil da das geforderte Abstandsgebot nicht durchsetzbar ist.
  • Die große Parade auf den Champs-Élysées wird ebenfalls ausfallen: Eng nebeneinander marschierende Soldaten und ein dicht gedrängtes Publikum stehen natürlich auch im Widerspruch zu den nach wie vor geltenden Verhaltensregeln. Statt dessen wird es eine  Zeremonie mit begrenzter Teilnehmerzwahl auf der place de la Concorde geben. Da sollen die Soldaten und vor allem das medizinische Personal geehrt werden, die am „Krieg“ gegen den Virus beteiligt waren, möglicherweise auch- wie von vielen Seiten gefordert- Vertreter der „Alltagshelden“, der „héros du quotidien“, die in den Zeiten des confinements/shutdowns dafür gesorgt haben, „systemrelevante“ Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens aufrecht zu erhalten. Die Luftwaffe wird sich allerdings wie gewohnt präsentieren, und damit werden auch die Farben der Tricolore in den Himmel über der place de la Concorde gezeichnet werden.
  • Das Feuerwerk am Eiffelturm findet auch unter Corona-Bedingungen statt. Da es allerdings nicht mehrere hunderttausend  Schaulustige auf dem Champ de Mars und anderen bevorzugten Schauplätzen geben darf, wird das Gebiet um den Eiffelturm weiträumig abgesperrt.

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Karikatur von Plantu in Le Monde vom 14. Juli 2020

Der diesmal völlig andere 14. Juli ist für mich Anlass, darzustellen, wie der Nationalfeiertag sonst in Paris begangen wird und wie er -hoffentlich-  im nächsten Jahr wieder gefeiert werden kann, vielleicht dann sogar in einer Form, die die Erfahrungen dieses besonderen Jahres berücksichtigt….

  1. Musik und Tanz

Als zentraler Ort von Festlichkeiten bietet sich natürlich aus historischen Gründen der Bastille-Platz an. Allerdings erinnert dort  nur noch wenig an den 14. Juli 1789. Die Bastille wurde ja bald nach ihrer Erstürmung bis auf die Grundmauern abgetragen.  Kleine, fast versteckte Erinnerungen gibt es noch: So die Plakette mit dem Plan der Bastille an einem der angrenzenden Häuser (Place de la Bastille Nummer 5), die anlässlich der Proklamation des 14. Juli zum Nationalfeiertag dort angebracht wurde.

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Plan der Bastille – begonnen 1370, erobert vom Volk am 14. Juli 1789 und abgerissen im gleichen Jahr. Der Umriss der Festung ist auf dem Boden dieses Platzes markiert. 14. Juli 1880.

Diese Umrisse waren bis vor kurzem sehr klar erkennbar und eindrucksvoll im Kopfsteinpflaster des Platzes und einiger auf ihn hinführender Straßen markiert.

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Nach dem  Umbau des Platzes 2019/2020 gibt es kein Kopfsteinpflaster mehr, sondern Asphalt und eine neue Form der Markierung. Dieser Umbau ist städtebaulich sehr überzeugend und ein Segen für Fußgänger und Radfahrer. Aber dem alten Kopfsteinpflaster mit seinen schön abgesetzten Bastille-Markierungen trauere ich dennoch etwas nach….

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Die Säule in der Mitte des Platzes mit dem glänzenden Génie de la liberté erinnert übrigens nicht an die Revolution von 1789, sondern an die Revolution von 1830.

Errichtet ist sie über den Gräbern der während der drei  Aufstandstage, den „Trois Glorieuses“, getöteten Revolutionären.

Hier ist die Säule im Fahnenschmuck für den 14. Juli 2020 zu sehen.

Und auch das berühmte Revolutionsbild von Delacroix bezieht sich auf die Julirevolution von 1830, nicht aber auf die Erstürmung der Bastille.

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Wurfbude an der place de la Bastille

Aber am 14. Juli wurden schon an der place de la Bastille  Freiluftbühnen für Pop-Konzerte aufgebaut, die sich allergrößter Beliebtheit erfreuten.

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Glücklich, wer da noch einen Platz auf den Stufen der Bastille-Oper ergattern konnte!

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In diesem Jahr geht das natürlich nicht – nicht nur wegen der Corona-Pandemie (da betrachtet  man solche Bilder mit einiger Wehmut), aber es wäre wegen der aktuellen Umgestaltung des  Platzes sowieso kaum möglich gewesen.

Ball 14. Juli

Zur Feier des 14. Juli gehört vor allem der Tanz.  Das hat  Joseph Roth  in einem  Manuskript mit dem Titel „Wie man eine Revolution feiert“ (den ich für diesen Blog-Beitrag übernommen habe) hervorgehoben. „Man tanzt auf den Straßen von Paris“ beginnt dieser im Juli 1925 in Paris geschriebene Text. „Seit drei Tagen tanzte man. In der Mitte der Straßen und Plätze spielten Musikkapellen. Großväter tanzten mit Enkeln, Mütter mit Töchtern, Väter mit Söhnen. Eine ungeheure Weltstadt wollte keine Weltstadt sein, sondern eine Weltfreude.(…) Auch der Bürgersteig gehörte den Tänzern und nicht den Passanten. Wer wäre da nicht Tänzer geworden?““[3]

Getanzt wird am 14. Juli seit 1790, wie uns Heinrich Heine ganz wunderbar berichtet:  „…. als am 14 Julius 1789 das Wetter sehr günstig war, begann das Volk das Werk seiner Befreiung, und wer am 14. Julius 1790 den Platz besuchte, wo die alte, dumpfe, mürrisch unangenehme Bastille gestanden hatte, fand dort, statt dieser, ein luftig lustiges Gebäude, mit der lachenden Aufschrift: Ici on danse.“ [4] (Hier wird getanzt).

unnamed Steinlen 14. Juli Bal

„Der Ball des 14. Juli“, den uns der seit 1781 in Montmartre lebende Schweizer Théophile Steinlein auf diesem Gemälde schildert, ist ein echtes Volksfest: Die Straßen sind mit Lampions und Fahnen geschmückt, alle Schichten der Bevölkerung, jung und alt, sind dabei, und es wird nach Herzenslust getanzt.[5]

 Heutzutage wird allerdings nicht mehr auf der place de la Bastille oder auf den Straßen und Bürgersteigen getanzt, sondern vor allem in den Feuerwehrkasernen der Stadt. Es ist nicht ganz klar, seit wann dies so ist. Es gibt dafür aber eine von der Pariser Feuerwehr verbreitete sympathische Version: Am 14. Juli 1937 habe der Sergent Cournet spontan die Tore seiner Feuerwehrkaserne in Montmartre  geöffnet. Seine Kollegen hätten Knallfrösche und bengalische Feuer gezündet und sogar einen Notfalleinsatz simuliert. Es sei dann auch etwas Musik gemacht und ein Ball improvisiert worden- und zwar mit so großem Erfolg, dass dies  die Tradition der Feuerwehrbälle begründet habe.[6]  Heute gibt es diese Bälle in allen Arrondissements,  sie sind kostenlos (es wird nur um eine freiwillige Kollekte gebeten), sie dauern von abends bis in den frühen Morgen (4 Uhr) und die eingeladenen Bands spielen fetzige Musik zum Tanzen.

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Hier der Eingang zur Feuerwehrkaserne des 12. Arrondissements, wo gerade der Ball vorbereitet wurde.

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Als wir das letzte Mal  dort waren, war allerdings das Gedränge so groß, dass man nur stehen und zuhören konnte. An Tanzen war da überhaupt nicht zu denken. Die Stimmung war aber trotzdem bestens.

  1. Die Parade auf den Champs-Élysées

Die Militärparade auf den Champs-Élysées wird gerne als der Höhepunkt der Feierlichkeiten des Nationalfeiertags bezeichnet.[7]  Selbst für die linke Tageszeitung „Libération“ gehört die Militärparade auf den Champs-Élysées neben der Marseillaise, der blau-weiß-roten Flagge und der Büste der Marianne zu den republikanischen Symbolen Frankreichs.[8]  Dies entspricht einer Lesart, nach der die Militärparade ein Ritual ist, das die Kontrolle der Nation über die Armee symbolisiert. Die Armee zeige sich auf den Champs-Élysées als republikanische  Institution. [9]

Joseph Roth hat allerdings in seinem begeisterten Text „Wie man eine Revolution feiert“  gerade diesen Schwerpunkt der Revolutionsfeierlichkeiten übergangen. Denn diese  Militärparade entsprach wohl doch nicht seinem verklärten Bild des 14. Juli.

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Am Vorabend des 14. Juli  proben die Formationen der armée de l’air  ihren großen Auftritt. Den Abflug  konnten  wir öfters von unserer Pariser Wohnung beobachten.

Immerhin ist Frankreich eines der wenigen demokratischen Länder, die am Nationalfeiertag  „un giganteste défilé militaire“ veranstalten[10], die größte Militärparade Europas!  (Überboten wird das wohl nur noch von Ländern wie Russland und China). 2019 nahmen daran 4299 Soldaten, 169 Fahrzeuge, 67 Flugzeuge, 40 Hubschrauber und 237 Pferde der republikanischen Garde teil.[11]

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Die Zurschaustellung militärischer Macht hat ihre  Wurzeln  in der Situation Frankreichs nach der Niederlage von 1871: Françoise Marcard schreibt in ihrem Buch über Frankreich zwischen 1870 und 1918, dass das Trauma der Niederlage ganz eindeutig zur Herausbildung eines revanchistischen Nationalismus vor allem im Erziehungsbereich und auf der linken Seite des politischen Spektrums geführt habe. Der „Kult der Armee“, einer „armée de revanche“ (Quétel),  habe die gesamte öffentliche Meinung  bestimmt. [12] Mit der Militärparade sollte vor allem dem Deutschen Reich gezeigt werden, dass mit Frankreich militärisch wieder zu rechnen sei und dass man –entsprechend den Mahnungen Gambettas und Clemenceaus- den Verlust von Elsass-Lothringen nicht vergessen werde.[13] Natürlich ist diese Zeit überwunden und inzwischen haben  schon mehrfach deutsche Soldaten (im Rahmen übernationaler Einheiten und zuletzt wieder 2019) an der Militärparade auf den Champs-Élysées teilgenommen.

Bis zum Ersten Weltkrieg fand die Truppenparade in Longchamp statt. Grund dafür war das  große Hippodrom, das beste Voraussetzungen für die Präsentation der Kavallerie bot. 1919 wurde die Militärparade dann auf die Champs-Élysées verlegt, wo wesentlich mehr Zuschauer die siegreichen Truppen feiern und –  nach dem Vorbild  römischer Triumphzüge- erbeutete Kanonen bewundern  konnten:  etwa  zwei  Millionen Menschen sollen das damals  gewesen sein![14]

Heutzutage werden es sicherlich nicht mehr ganz so viele sein, aber die Truppenparade ist für viele Menschen immer noch eine große Attraktion.

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Für die Champs-Élysées als Ort der Parade sprach auch  der symbolische Beginn am Arc de triomphe, dem Monument der militärischen Siege (des napoleonischen) Frankreichs.

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Und die Champs Élysées eignen sich natürlich auch besonders gut für motorisierte Einheiten  und  die armée de l‘air, die sich auf bzw. über  der Pariser West-Ost-Achse optimal präsentieren können.

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Der Ablauf der Truppenparade ist immer minutiös geplant. Es beginnt damit, dass von der Plattform des Arc de Triomphe mit Trompetenschall die Ankunft des Präsidenten der Republik verkündet wird. Dann folgt das défilé der einzelnen Einheiten – ein Schauspiel, das über zwei Stunden dauert!

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Ein von allen erwarteter und mit vielen Ahs und Ohs und  Beifall bedachter spektakulärer  Höhepunkt der Parade sind natürlich die Alphajets  der patrouille de France, die die Farben der Tricolore in den Himmel über den Champs-Élysées zeichnen.

Das beeindruckte  offenbar den amerikanischen Präsidenten Trump, der 2017 aus Anlass des 100. Jahrestags des Kriegseintritts der USA als Ehrengast Macrons an der Militärparade des 14. Juli teilnahm – das gehörte zu der allerdings völlig fehlgeschlagenen Charmeoffensive Macrons. Danach wollte auch Trump „seinen 14. Juli“ haben. Allerdings gab es erhebliche  Widerstände, selbst von seinen Parteifreunden. Der republikanische Senator von Louisiana, John N. Kennedy, meinte, Amerika sei das mächtigste Land der gesamten Menschheitsgeschichte, das wisse jeder und das müsse man nicht zur Schau stellen.[15]  Wer über ein solches –sicherlich arg überhebliches- nationales Selbstbewusstsein verfügt, braucht in der Tat keine spektakuläre Militärparade – aber vielleicht liegt hier auch eine Erklärung dafür, warum es nicht einfach nur die Fortführung einer Tradition ist, wenn die „grande nation“  am 14. Juli ihre Truppen auf den Champs-Élysées aufmarschieren lässt.

2011 hatte die damalige grüne Präsidentschaftskandidatin Eva Joly den Vorschlag gemacht, die Militärparade durch ein  défilé citoyen zu ersetzen, an dem die Zivilgesellschaft die gemeinsamen Werte der Republik feiern solle.  Dieser Vorschlag hat damals einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Diesmal wird es aufgrund der Corona-Pandemie  ein solches défilé citoyen geben. Und vielleicht ist das Notprogramm dieses Jahres doch so überzeugend, dass es ein Modell für die Zukunft wird. Das wäre sicherlich auch im Sinne Joseph Roths…   (15a)

 

  1. Das Feuerwerk am Eiffelturm

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Das Feuerwerk am Eiffelturm gibt es seit 1887 – damals war die „dame de fer“  noch im Bau. Und wie man auf der zeitgenössischen Darstellung sieht, war das schon damals ein spektakuläres Ereignis.[16]

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Immerhin war es auch die „société de pyrotechnie Ruggieri“, die das Feuerwerk veranstaltete. Die Gebrüder Ruggieri, die aus Italien stammen, organisierten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts große Feuerwerke in Frankreich: Zum ersten Mal eines in Paris 1739 in Paris, um die Hochzeit der ältesten Tochter Ludwigs XV. zu feiern. Und nach dem 14. Juli 1897 feierten sie zwei Jahre später am 14. Juli 1889 die rechtzeitige  Fertigstellung des Eiffelturms zur Weltausstellung  und zum 100. Jubiläum des Beginns der Französischen Revolution. Insofern ist der Eiffelturm auch aus historischen Gründen der ideale Ort für das Feuerwerk zum Nationalfeiertag.

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Die Firma Ruggieri, inzwischen mit einer französischen Feuerwerksfirma fusioniert, ist übrigens immer noch für die Feuerwerke des 14. Juli zuständig.

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Der gewissermaßen klassische Ort für die Betrachtung des Feuerwerks ist natürlich der Champ de Mars. Denn dort wurde am 14. Juli 1790 das Föderiertenfest gefeiert, das ja gewissermaßen der zweite Bezugspunkt des französischen Nationalfeiertags ist.  Am besten ist es, sich schon rechtzeitig einen Platz  zu sichern, denn der Andrang ist groß, auch wenn das riesige Champ de Mars selbst dem  üblichen Massenansturm von mehr als 500 000 Schaulustigen gewachsen ist. Man kann es sich dann –den Sansculotten sei Dank für den günstigen Zeitpunkt des Nationalfeiertags- auf dem Boden gemütlich machen bei einem zünftigen Picknick mit Baguette, Rotwein und Käse. Um 21.15 gibt es dann ein großes Konzert: 2019 mit Beethovens Ode an die Freude und natürlich der Marseillaise am Schluss, bevor schließlich das Feuerwerk beginnt, auf das man von hier aus eine hervorragende Aussicht hat. Etwas schwierig ist dann allerdings der Weg zurück in die Unterkunft, weil alle Metro- und RER-Stationen in der Nähe gesperrt sind. Aber das nimmt man danach gerne in Kauf.

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Natürlich gibt es noch andere –auf den entsprechenden Internet-Seiten empfohlene-  Aussichtspunkte für das Feuerwerk. Wir hatten einmal das Glück, am 14. Juli auf eine Dachterrasse in der Nähe des auf einem Hügel gelegenen Pariser Observatoriums eingeladen worden zu sein. Dort befindet man sich gewissermaßen auf nobler Augenhöhe mit dem Eiffelturm und dem Feuerwerk.

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Lassen wir zum Schluss noch einmal Joseph Roth zu Wort kommen:

„Am Abend des vierzehnten Juli ereignete sich das Feuerwerk. (…) Bunte, knallende Raketen gebar der Horizont. Auf den Schultern der Väter jubelten die Kinder. Diese Kinder, die niemals aufhören werden, Republikaner zu sein, auch wenn sie einmal Opfer der Politik werden müssten. Denn sie haben in einem Alter, in dem ein Feuerwerk erhaben erscheint, den fernen, aber verwandten Glanz einer Flamme gesehn, die Revolution heißt!…“  

Damit schließt Roths Text „Wie man eine Revolution feiert“ und damit soll auch dieser Blog-Beitrag enden.

Anmerkungen:

[1]  Zur Geschichte des 14. Juli siehe u.a. Olivier Ihl, La Fête républicaine. Paris: Gallimard 1996; Claude Quétel, Le mythe du 14 juillet ou la méprise de la Bastille Paris: JC Lattès;  Christian Amalvi,  Le 14 Juillet. Du dies irae à Jour de fête. In:  Les Lieux de mémoire (sous direction de P. Nora), Paris: Gallimard  1997, S. 383-422 und:  Le 14 juillet,  naissance  d’une fête nationale (http://www.cndp.fr/fileadmin/user_upload/POUR_MEMOIRE/14_juillet/PM_14juillet.pdf)

Zu diesem Thema  ist auch ein weiterer Blog-Beitrag geplant.

[2] Paris, Roman einer Stadt.  Heyne 2016, S. 213

[3] Aus: Joseph Roth, Im Bistro nach Mitternacht. Ein Frankreich-Lesebuch herausgegeben von Katharina Ochse. Köln 1999, S. 24

[4] Düsseldorfer Heine-Ausgabe  Band XII, S. 144.

[5] Théophile Steinlen (1859-1923), Le bal du 14 juillet, Paris, musées de la Ville de Paris, © RMN / Agence Bulloz

http://www.cndp.fr/entrepot/index.php?id=1278

[6] https://www.liberation.fr/societe/2014/07/13/pourquoi-les-pompiers-font-ils-la-fete-le-14-juillet_1063232

[7] http://www.parisinfo.com/decouvrir-paris/les-grands-rendez-vous/paris-fete-le-14-juillet

[8] http://www.liberation.fr/france/2017/07/14/pourquoi-les-militaires-defilent-ils-le-14-juillet_1583675

[9]  So Olivier Ihl in:  La Fête républicaine.  Paris: Gallimard 1996

[10]  Das Zitat stammt von Eva Joly, Kandidatin der Grünen bei den französischen Präsidentschaftswahlen von 2011. Zit. in http://www.liberation.fr/france/2017/07/14/pourquoi-les-militaires-defilent-ils-le-14-juillet_1583675

[11] http://www.lefigaro.fr/conjoncture/parades-feux-d-artifice-ce-que-coute-le-14-juillet-aux-francais-20190714

[12] Françoise Marcard,  La France de 1870 à 1918: L’ancrage de la République

Siehe auch: Francis Démier, La France du XIXe siècle. 1814-1914. Paris: Éditions du Seuil 2000, S. 348f

https://www.paris-normandie.fr/actualites/societe/changements-de-dates-controverses-et-delocalisation–un-historien-normand-raconte-le-14-juillet-DF15326665

und: https://www.caminteresse.fr/histoire/pourquoi-defile-militaire-14-juillet-armee-fete-nationale-champs-elysees-soldats-1146254/

[13] Allerdings war dieser Revanchismus auch direkt nach 1871 nicht unumstritten –er wurde z.B. nicht von den Monarchisten geteilt. Und es gab im Verlauf der Dritten Republik deutliche Veränderungen. Siehe dazu:  Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich, Les opinions françaises et allemandes, fin XIXe siecle- début XXe siècle. In: Becker/Krumeich, La Grande Guerre, une histoire fanco-allemande. Paris: Tallandier 2012, S. 17ff

[14] Le 14 juillet,  naissance  d’une fête nationale, S. 55  ,(http://www.cndp.fr/fileadmin/user_upload/POUR_MEMOIRE/14_juillet/PM_14juillet.pdf

[15] Le Monde 11./12.Februar 2018: „La parade militaire de Donald Trump piétine“

(15a)  https://www.leparisien.fr/elections/presidentielle/suppression-du-defile-du-14-juillet-eva-joly-provoque-un-tolle-15-07-2011-1533808.php  https://www.liberation.fr/france/2020/06/05/defile-du-14-juillet-emmanuel-macron-dans-les-pas-d-eva-joly_1790405

[16] Bild aus: https://www.toureiffel.paris/fr/actualites/evenements/le-feu-dartifice-du-14-juillet

Weitere geplante Beiträge:

  • Pariser Erinnerungsorte an den Holocaust (Einleitung) 
  • Der Garten des Palais-Royal (1): ein Garten der Literatur und eine Oase der Stille mitten in Paris
  • Der Garten des Palais-Royal (2): Die „wilden Jahre“ (1780-1830)

Ledoux, Lavoisier und die Mauer der Generalpächter

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde Paris mit einer Zollmauer umgeben. Diese Mauer –ungefähr 24 Kilometer lang und markiert durch die späteren Metro-Linien 2 und 6- existiert heute nicht mehr. Aber es gibt noch vier der früheren Durchgänge (barrières):  architektonische Kostbarkeiten, gebaut von Claude-Nicolas Ledoux, einem der sogenannten Revolutionsarchitekten, dessen Saline von Arc et Senans ja schon Gegenstand eines Beitrags auf diesem Blog war.[1]

Die Zollmauer oder „Mauer der Generalpächter“, wie sie offiziell hieß,  war in gewisser Weise – allerdings völlig unfreiwillig-  auch revolutionär- sie trug nämlich erheblich dazu bei, die revolutionäre Stimmung der Pariser Bevölkerung zu befördern, die dann am 14. Juli 1789 in der  Erstürmung der Bastille kulminierte. Den Zollpächtern bescherte die Mauer erhebliche Einnahmen, aber viele mussten dafür dann auch in der Zeit des jakobinischen Terrors mit ihrem Leben bezahlen – so der berühmte Chemiker Lavoisier.

Die Zollmauer oder „Mauer der Generalpächter“ ist also aus architektonischen und historischen Gründen höchst interessant und deshalb ist ihr der nachfolgende Beitrag gewidmet.

Inhaltsübersicht:

  • Die Errichtung und Organisation der Zollmauer
  • Die „Propyläen“ von Ledoux
  • Le mur murant Paris… : Von der Kritik an der Mauer bis zur ihrer Erstürmung am Vorabend des 14. Juli 1789
  • Lavoisier: Chemiker, Zollpächter und Opfer der Mauer
  • Das Ende der Mauer

Die vier erhaltenen Torhäuser von Ledoux, Bestandteile des „Pantheons der französischen Architektur“ werden Gegenstand des  nachfolgenden Beitrags sein.

1. Die Errichtung und Organisation der Zollmauer

Der Bau der Zollmauer ist begründet in der  Finanzkrise des ancien régime, also des königlichen Frankreichs vor der Französischen Revolution.  Die kostspieligen Kriege Ludwigs XIV. hatten die Finanzen ruiniert, wovon sie sich bis zum Ausbruch der Revolution  nicht erholten.  In den 1780-er Jahren musste die Hälfte der Staatsausgaben für den Schuldendienst verwendet werden, ein weiteres Viertel für das Militär. Alle Versuche, auch den Adel zur Finanzierung der Staatsausgaben heranzuziehen, scheiterten an dessen erbittertem Widerstand.[2]

Ein wichtiges Mittel zur Finanzierung des Staates waren deshalb Zölle, die von einer sogenannten ferme eingetrieben und (telweise) an den Staat abgeführt wurden. Nach dem dictionnaire des finances von 1727 ist die ferme ein Zusammenschluss von mehreren Personen, die sich zusammengeschlossenen haben, um eigentlich in der Zuständigkeit des Königs liegende Aufgaben zu übernehmen: Dies konnten Binnenzölle sein, die innerhalb des Königreichs erhoben wurden, oder auch indirekte Steuern, zum Beispiel auf Salz (die sog. gabelles) und Tabak. Dazu kam das Monopol des Sklavenhandels, die traites. [3] Die Mitglieder einer ferme, die fermiers, waren  direkt dem König unterstellt und besaßen vom König übertragene Privilegien- so das Recht zur Bewaffnung ihrer Angestellten oder das Recht zur Durchsuchung – übrigens von Angehörigen aller Stände, also auch von Adligen und Geistlichen. Angriffe auf die fermiers und ihre Beschäftigten galten als „actes de rébellion“ und wurden entsprechend geahndet.[4] Modern ausgedrückt handelte es sich bei der Beziehung zwischen der ferme und dem König um eine Public Private Partnership (PPP), die nach dem damaligen Verständnis der Beteiligten im Interesse beider Seiten lag: Der König sollte von der Übertragung des Rechts auf Zoll- bzw. Steuererhebung an Privatleute profitieren, indem er einen jeweils für sechs Jahre vereinbarten Garantiebetrag für das staatliche Budget erhielt, was der Überschaubarkeit der Finanzplanung zu Gute kam, die ferme profitierte –und zwar, zurückhaltend ausgedrückt:  nicht unerheblich- von den erzielten Überschüssen, die allerdings prozentual begrenzt waren: Jeweils am Ende eines sechsjährigen Zyklus erfolgte eine Abrechnung und die über den Garantiezins hinausgehenden Gewinne der ferme wurden an den trésor royal abgeführt.

Schon vor Errichtung der Zollmauer unterlagen die nach Paris eingeführten Waren einem Zoll.  Aber die entsprechende Zollgrenze war durch die  Entwicklung der Stadt obsolet geworden: Sie trennte teilweise Straßen,  Grundstücke und Häuser, war kaum noch wahrnehmbar und entsprechend auch kaum noch kontrollierbar. Die Angestellten der ferme  waren hauptsächlich damit beschäftigt, die Grenze zu überwachen, so weit das überhaupt möglich war. Da die Steuern innerhalb der Stadt etwa dreimal so hoch waren wie die außerhalb, blühte der Schmuggel. Die Einnahmen der ferme – und des Fiskus- waren dadurch erheblich geschmälert.

Die Zollpächter entwickelten deshalb das Projekt, eine massive und effiziente Zollmauer zu bauen. Es wurde am 23.1.1785 vom König gebilligt und mit dem Bau konnte begonnen werden. Die Mauer war  3,30 Meter hoch,  ca. 24  Kilometer lang und wurde von breiten Boulevards begleitet, die nicht zuletzt der besseren Überwachung dienten.  An den 54 Durchgängen, den sogenannten „barrières“, kontrollierten die Zöllner  Personen und Güter und erhoben Zölle. Die Angestellten der ferme, vornehm in einen Gehrock gekleidet, fragten alle Personen, die eine barrière Richtung Paris passieren wollten, ob sie etwas zu verzollen hätten. Die obligatorische Antwort lautete: „voyez!“- sehen Sie nach. Und wenn dann nicht deklarierte zollpflichtige Waren entdeckt wurden, gab es eine Anzeige. Der Zoll wurde auf  Waren des täglichen Bedarfs wie Fleisch und Geflügel, Holz und Kohle erhoben, auf Baumaterialien wie Gips,  dazu auf Wein und Spirituosen, deren Besteuerung besonders hohe Erträge abwarf.

Die ferme nutzte die Gelegenheit des Baus einer Zollmauer, die Pariser Zollgrenze wesentlich zu erweitern – und damit natürlich auch ihre Einnahmen erheblich zu vergrößern.  Es wurden nun auch stark bevölkerte Vororte in den Pariser Zollbezirk einbezogen, während noch eher landwirtschaftlich genutzte und weniger besiedelte Randbezirke, die für die Ferme weniger Bedeutung hatten, außen vor gelassen wurden.[5]

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Die Mauer der Generalpächter ist  –von außen gesehen- die dritte auf dieser Übersicht. Ganz außern die heutige Grenze von Paris, danach , kurz dahinter, die Mauer von Thiers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es wird deutlich, wie weit die Mauer der Generalpächter über die vorherige aus der Zeit Ludwigs XIII. hinausreichte.

Das bedeutete, dass wesentlich mehr Menschen nun von den Zöllen betroffen waren und unter entsprechenden Preissteigerungen zu leiden hatten.

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Auf dieser Karte ist blau die mur der fermiers généraux eingezeichnet, rot die Festungsmauer von Thiers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ebenso die Eisenbahnlinien mit den entsprechenden Kopfbahnhöfen, allerdings noch ohne den südlichen Abschnitt der die Stadt umgebenden Petite Ceinture.[6]

2. Die „Propyläen“ von Ledoux

An den Durchgängen durch die Zollmauer wurden Pavillons errichtet, die für die Büros und Wohnungen der Angestellten der ferme bestimmt waren. Mit ihrem Bau wurde der Architekt Claude-Nicolas Ledoux (1736 – 1806) beauftragt, ein in der Zeit des ausgehenden ancien régime  angesehener Architekt.

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Portait von Ledoux mit seiner Tochter  Adélaïde. Gemälde von Antoine-François Callet. Ausgestellt im Pariser Stadtmuseum Carnavalet in Paris in dem Raum, in dem die von Ledoux entworfenen Holzvertäfelungen des  Café militaire ausgestellt sind – einem dem Militär vorbehaltenen noblen Café in der rue Saint-Honoré, die Ledoux entworfen hatte.

Ledoux hatte städtische Palais (hôtels particuliers) und Schlösser  für die Aristokratie gebaut- berühmt und richtungsweisend war der für Madame du Barry, die Favoritin Ludwigs XV.,  errichtete neoklassizistische Musikpavillon in Louveciennes. (6a)

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Und dann  hatte sich Ledoux  beim  Bau der Saline von Arc et Senans –ebenfalls eine Einrichtung der ferme- ausgezeichnet.

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Portal der Saline von Arc et Senans

Natürlich sollten die Eingänge in die Stadt an Kreativität und Monumentalität nicht hinter der ländlichen Saline zurückstehen. Insgesamt entwarf Ledoux 55 Eingänge, jeder unterschiedlich. Und der mit ihnen verbundene Anspruch wird aus dem Namen dieser Pavillons deutlich: Sie hießen Propyläen, sollten also einen Bezug herstellen zum Eingang der Akropolis von Athen! Und dazu passte auch die neoklassizistische Architektur der Torhäuser.[7]

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Alle Torhäuser waren von Ledoux unterschiedlich und sehr aufwändig konzipiert.

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Eines der symmetrisch angelegten Torhäuser der barrière de l’étoile- an der Stelle der heutigen place de l’Étoile- An ihnen vorbei promenierten die reichen Pariser und die Aristokraten zum Bois de Boulogne.   [8]

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Die Barrière de Belleville.

Dies war im 19. Jahrhundert eine der bekanntesten Barrieren von Paris, weil es auf der anderen Seite eine Vielzahl von Tanzsälen und Weinkneipen gab – sehr populäre und nahe gelegene Ausflugsziele der weniger betuchten Pariser. Kein Wunder:  Der Preis des Weins dort betrug nur etwa ein Drittel des Weins intra muros. An Wochenenden waren dann die guinguettes an der Marne sehr beliebt und frequentiert- auch dort war der Wein nicht dem Pariser Zoll unterworfen, also entsprechend billiger.[9]

 

3. Le mur murant Paris…. Von der Kritik an der Mauer bis zur ihrer Erstürmung am Vorabend des 14. Juli 1789

Was die Pariser von der Zollmauer gehalten haben, wird in einem berühmten Alexandriner deutlich, den Beaumarchais zitiert oder erfunden hat: « Le mur murant Paris rend Paris murmurant. »  („Die Mauer, die Paris einmauert, lässt Paris murren“). Das Murren der Pariser hatte vielfältige Gründe. Natürlich bedeutete die Mauer für manche Bewohner der Stadt und vor allem der neu dem Einfuhrzoll unterworfenen Bewohner des Umlandes eine z.T.  deutliche finanzielle Belastung. Nach Überzeugung von Sébastien Mercier, einem zeitgenössischen Beobachter des ancien régime,  gab es dafür aber keinerlei Legitimation.  In seinen Songes et visions philosophiques von 1788  schrieb er, das Volk zahle schon genug an Steuern und Abgaben. Die Mauer sei ein Angriff auf Ruhe und Wohlstand der Nation und er verlange von den für sie verantwortlichen Männern der Finanz, sie wieder abzureißen.

Aber auch die durch die Mauer hervorgerufenen (angeblichen) gesundheitlichen Gefahren wurden kritisiert. Die Zeitung Courrier de l’Europe vom 4. Juli 1785 gab die Auffassung eines Monsieur de Buffon wieder, der das Mauerprojekt als schädlich für die Luftqualität der Stadt bezeichnet hatte: Durch die Mauer könne die schlechte Luft der Großstadt nicht durch die frische Luft von draußen ersetzt werden. Alle Ärzte hätten bestätigt, dass das sehr gefährlich für die Hauptstadt sein könne. Deshalb sähe es die Öffentlichkeit mit der allergrößten Befriedigung, wenn die Arbeiten an der Mauer beendet würden.[10]

Auf ein weit verbreitetes Unverständnis stieß auch die Architektur der Barrieren, die –bezogen auf ihren eigentlichen Zweck- viel zu aufwändig und damit auch zu kostspielig sei. Ihr repräsentativer, ja zum Teil monumentaler Charakter sei dysfunktional, provokativ und vor allem Geldverschwendung. Mercier greift in seinem berühmten Tableau de Paris Ledoux direkt an[11]:  Die Räuberhöhlen der Steuereintreiber habe er in säulenbestandene Palais verwandelt. „Ah, Monsieur Ledoux, Sie sind ein furchtbarer Architekt!“ Diese Kritik war angesichts der klammen Staatsfinanzen in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet und führte dazu, dass  Ledoux 1787 vorläufig und 1789 definitiv seinen Posten als „Chefarchitekt“ der Mauer verlor.[12]

Darüber hinaus und vor allem aber wurde die Mauer als Symbol der Unterdrückung, der Unfreiheit verstanden. Bachaumont bezeichnet in seinen Mémoires secrets pour servir à l’histoire de la republique des lettres en France von 1786 die Pavillons als  „monuments d’esclavage et de despotisme.“[13] Und um noch einmal Sébastien Mercier zu zitieren: Für ihn war die Mauer erniedrigender Ausdruck der Sklaverei. Durch sie würden die Bürger wie Schafe gehalten. Sie werde von dem „bon peuple“ als „un malheur“ und „un outrage“ angesehen.[14]

Dieses von der Mauer erzeugte Gefühl von Knechtschaft, Unglück und Beleidigung kam auch in diesem weit verbreiteten Vierzeiler zum Ausdruck:

Pour augmenter son numéraire

Et racourcir notre horizon

La ferme a jugé nécessaire

De nous mettre tous en prison.[15]

 

Um ihre Einnahmen zu erhöhen  und unseren Horizont zu beschneiden,

 hat es die ferme für nötig gehalten,  uns alle ins Gefängnis zu sperren.

  

Insofern ist es nur allzu verständlich, dass es in der revolutionär aufgeladenen Situation des Juli 1789 zum Sturm auf die Mauer kam. Und der kam  keineswegs aus heiterem Himmel: Schon seit Beginn des Jahres gab es mehrere Zwischenfälle an der Mauer: Da wurden Angestellte der ferme bei dem Besuch eines Cabarets in Belleville angegriffen; da versuchten gewerbsmäßige Schmuggler –in den Polizeiakten als „fraudeurs de profession“,  von der ferme als „brigands“ tituliert –   mit Gewalt Waren ohne Einfuhrzoll nach Paris zu bringen; da weigerten sich Bürger, an den barrières den geforderten Zoll zu bezahlen…

7-5248e355ee Angriff auf die Zollhäuser

Am 12. und 13. Juli waren es dann nicht mehr nur einzelne Vorfälle, sondern die Barrieren wurden systematisch angegriffen: Meist wurden die Angestellten der ferme vorgewarnt, dann wurden Barrieren geplündert und in Brand gesteckt. Die Urheber dieser Aktionen waren vor allem Schmuggler, die ihre Lebensgrundlage durch die Zollmauer bedroht sahen, dazu kamen dann aber auch Weinhändler und schließlich in prekären Verhältnissen lebende Gruppen der Bevölkerung wie Tagelöhner, Hilfsarbeiter, Lehrlinge …  [16]

Dieser Sturm auf die Mauer der Generalpächter ist „le premier grand fait de la révolte parisienne“[17],   Vorspiel des Sturms auf die Bastille. Michelet hat in seiner großen Geschichte der Französischen Revolution diese Verbindung ausdrücklich hergestellt: Er bezeichnet die Barrieren als „diese schweren kleinen Bastilles der Generalpächter“. Sie seien vom Volk angegriffen worden und hätten die Nacht über gebrannt.[18] Natürlich ist der 14. Juli mit dem Sturm auf die Bastille der symbolische Beginn der Französischen Revolution, aber der Sturm auf die Mauer der Generalpächter war ihr Auftakt. Und der Erfolg des spontanen Angriffs auf die „kleinen Bastilles“ war sicherlich eine Ermutigung, sich auch an die „große Bastille“ heranzuwagen.

Allerdings: Diejenigen, die am 14. Juli  die Bastille erstürmten, waren vom ersten Tag an Helden der Revolution, der Freiheit. Diejenigen aber, die die „kleinen Bastilles“ der Zollmauer angegriffen hatten, mussten, wenn sie denn identifiziert wurden, mit juristischen Konsequenzen rechnen: Denn die Zollgrenze wurde erst 1791 –für wenige Jahre- abgeschafft, was in der nachfolgenden Abbildung gefeiert wird: Da wird den „weisen Gesetzgebern“ gedankt, dass sie den „droit d’entrée“ abgeschafft und die Raffgier der Zolleinnehmer niedergeschlagen hätten.  Die Abondance, Verkörperung von Reichtum und Überfluss,  Bacchus, der Gott des Weins, und Ceres, die Göttin des Getreides, ziehen ungehindert in die Stadt ein: Die Freiheit hat die Grenzen durchbrochen. [19]

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1791 wird die ferme – rückwirkend datiert auf den 14. Juli 1789-  aufgelöst und den fermiers  der Prozess gemacht. Mit welchen Ergebnissen lässt sich eindrucksvoll auf dem Friedhof von Picpus erkennen. Da gibt es in der Kapelle große  Tafeln mit den Namen, Berufen und dem Alter derjenigen, die dort in Massengräbern verscharrt wurden.

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Das waren die Opfer des Revolutionstribunals und der Guillotine, die in den letzten Wochen des terreur auf dem nahe gelegenen Platz bei der barrière de Vincennes/barrièrre du thrône hingerichtet wurden,  und auch hier waren Zollpächter unter den Opfern.[20]

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Ledoux entging nur knapp der Guillotine. Allerdings wurde er Ende 1793 verhaftet: Als „Stararchitekt“ des ancien régime und als Baumeister der Zollmauer war er abgestempelt und verfemt.  Im Gefängnis begann er, ausgehend von der Saline von Arc et Senans, eine ideale Stadt zu entwerfen, die er als Prototyp demokratischen Zusammenlebens verstand. Das rettete ihn vor dem Revolutionstribunal und der Guillotine. Dass er allerdings immer damit rechnete, auf dem  Schafott zu enden, zeigt eine Passage aus seinem Traktat: 

Ich werde unterbrochen…  man ruft Ledoux, aber ich bin nicht gemeint; mein Gewissen und mein guter Stern sagen es mir. Es ist ein Doktor der Sorbonne mit dem gleichen Namen. Armes Opfer!… Ich mache weiter.[21]

Anfang 1795 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Aufträge für neue Bauten erhielt er nicht mehr. Sein theoretisches Werk aber gilt als visionäres Produkt einer Revolutionsarchitektur mit großer und breiter Nachwirkung und Ledoux als einer der Ahnherren der modernen Architektur.[22]

Als Beispiel hier nur eine kleine Zeichnung: Sie zeigt das Innere des von ihm entworfenen Theaters von  Besançon, das sich im Auge des Betrachters spiegelt: Ein Raum organisiert wie ein Amphitheater. Es gibt also nicht mehr eine strikte Trennung zwischen den Logenplätzen für den Adel des Geldes oder Geblüts zum Sehen und Gesehen-Werden und den Stehplätzen im Parkett: Durch die Architektur wird der aufklärerische Anspruch der Gleichheit konkretisiert.

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Dieses Auge des Betrachters hat die Surrealisten fasziniert und Magritte hat es in seinem wichtigsten Gemälde, „Le Faux Miroir“ von 1928, einem Schlüssel zu seiner Philosophie und seinem Werk,  aufgegriffen. (22a)

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4. Lavoisier: Chemiker, Zollpächter und Opfer der Mauer

Anders als Ledoux blieb dem  wohl bekanntesten fermier général, nämlich Antoine Laurent de Lavoisier, die Guillotine nicht erspart. Lavoisier war ein genialer Chemiker, Pasteur nannte ihn den „législateur de la chimie“. Aber Lavoisier war weit mehr als das:  unter anderem auch noch Doktor der Rechte,  Bankier, Direktor von Tabakmanufakturen und Schießpulver- Fabriken, Reformator von Maßeinheiten, Bildungspolitiker, Direktor der Akademie der Wissenschaften  – und nicht zuletzt Zollpächter, und auch dies mit großen Engagement.

Lavoisier wurde 1768 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und er trat als Teilhaber in die ferme ein. Er hatte ein entsprechendes Angebot erhalten. Zwar musste er sich dafür in erheblichem Maße verschulden, aber es handelte sich dabei um eine sichere Kapitalanlage, weil für das eingesetzte Kapital eine Verzinsung von 10 bzw. 6% garantiert war.  Allerdings beschränkte sich  Lavoisier keineswegs auf eine eher passive Teilhaberschaft. Zu seinem Engagement trug sicherlich auch bei, dass er 1771  Anne Marie Paulze,  die Tochter des für die Tabak-Regie verantwortlichen fermiers heiratete. Die Tabak-Regie hatte das Monopol für die Einfuhr, Weiterverarbeitung und Steuererhebung für Tabak. Lavoisier kümmerte sich hier besonders um die Verarbeitung des eingeführten Tabaks und die Festlegung von Qualitätsstandards, wobei er seine chemischen Kompetenzen sehr sinnvoll anwenden konnte. Das gilt auch für einen weiteren Tätigkeitsbereich bei der Régie des Poudres et Salpêtres, die das Monopol auf die Herstellung von Schießpulver hatte.  Im Siebenjährigen  Krieg war der Mangel an Schießpulver für die französische Armee deutlich geworden. Frankreich sollte jetzt unabhängig von Importen von Salpeter werden. Als Mitglied der Akademie erhielt Lavoisier Mittel, um die wissenschaftlichen Grundlagen für die Produktion von Salpeter in Frankreich zu verbessern. Er entwickelte Ausbildungsprogramme für Arbeiter und schuf neue Produktionsstätten. Die Qualitätssteigerung in der Pulverherstellung durch Lavoisier war ein wichtiger Faktor für die Erfolge der französischen Armeen während der Revolutionskriege.[23] 1776 bezog Lavoisier Räume im Arsenal von Paris mit Bibliothek und Labor, um die Arbeiten besser organisieren zu können. Von 6-9 Uhr morgens und von 19-22 Uhr abends arbeitete er an seinen wissenschaftlichen Projekten und in der Zeit dazwischen für die Akademie und die ferme.

1780 wurde ein neuer Vertrag zwischen der ferme und dem trésor royal abgeschlossen. Die Zahl der fermiers wurde auf 40 reduziert, zu denen auch weiterhin Lavoisier gehörte. Er war jetzt auch zuständig für die Erhebung der Einfuhrzölle an der Pariser Stadtgrenze. Lavoisier berechnete, dass die nach Paris offiziell eingeführten Waren nur vier Fünftel des Bedarfs deckten, dass also ein Fünftel geschmuggelt wurde: Begünstigt wurde das nicht nur durch die Unmöglichkeit einer effizienten Kontrolle aufgrund zahlreicher nicht kontrollierbarer Zugänge, sondern auch dadurch, dass bestimmte Gruppen von den Zöllen ausgenommen waren (z.B. die religiösen Gemeinschaften), die dieses Privileg auch zum Schmuggel nutzten. Um den Schmuggel besonders von Alkohol und Tabak zu unterbinden oder wenigstens zu erschweren, betrieb Lavoisier den Bau der Zollmauer, was Ludwig XVI.  1785 genehmigte. Dass Ledoux die  Aufgabe übertragen wurde, die Barrieren zu bauen, wird sicherlich im Sinne Lavoisiers gewesen sein: Da er auch für die Salinen in der Franche-Comté zuständig war, kannte er ja und schätzte offenbar auch die Saline von Arc et Senans. Und er ermutigte Ledoux auch dazu,  beim Bau  der Pavillons eher auf die Ästhetik und weniger auf das Geld zu achten.[24]

Die Kritik an der Zollmauer fokussierte sich denn auch ganz massiv auf Lavoisier als ihren „geistigen Vater“.  In einem der zahlreichen damals kursierenden Pamphlete heißt es:  „Dieses scheußliche Bauwerk ist das Werk von Herrn Lavoisier, dem einzigen der vierzig Säulen des Staates, (gemeint sind damit die 40 Generalpächter. W.J.) der auch Mitglied der Akademie der Wissenschaften ist. Er ist Chemiker und die Lästerer sagen, dass er Paris in einen Destillierkolben stecken wollte, dessen Auffangbehälter die Kasse der ferme sei.“[25]

In einem anderen Flugblatt wurde ebenfalls Lavoisier massiv angegriffen: Die Mauer sei  „un projet tyrannique… Du bist verantwortlich für die neue Unterdrückung deiner Mitbürger durch die Zolleintreiber.… Alle Welt versichert, dass Herr Lavoisier von der Akademie der Wissenschaften der wohltätige Patriot sei, dem man die segensreiche Erfindung verdanke, die Hauptstadt in ein Gefängnis zu verwandeln. … Man berichtet, dass ein Marschall Frankreichs, den man nach seiner Meinung zu der Mauer fragte, geantwortet habe: ‚Meiner Meinung nach sollte der Urheber dieses Projekts gehenkt werden.‘ Herr Lavoisier hat Glück, dass dies noch nicht erfolgt ist.“[26]

Das Ende des ancien régime und der Beginn einer neuen Ära wurde von Lavoisier durchaus begrüßt. In den lettres de doléances des Adels von Blois, die er redigierte, forderte er die allgemeine Gleichheit: „De la liberté personelle dérive celle d’écrire, de penser, le droit de faire imprimer et publier…. Le but de toute institution sociale est de rendre le plus heureux qu’il est possible ceux qui vivent sous ses lois. Le bonheur ne doit pas être réservé à un petit nombre d’hommes, il appartient à tous.“ (cit. bei Poirier, S. 241)

Er engagierte sich auch in der „Gesellschaft von 1789“, in der sich Anhänger einer konstitutionellen Monarchie wie Condorcet, La Fayette, Sieyès und andere zusammengeschlossen hatten, zusätzlich zu seiner Tätigkeit als fermier noch ein weiterer Grund, die Feindschaft der Jacobiner auf sich zu ziehen. Im L’Ami du peuple bezeichnete Marat  Lavoisier als „coryphée des charlatans“ und den größten Intriganten des Jahrhunderts- „le plus grand intrigant du siècle“.  Es war aber nun nicht speziell Lavoisier, der von den Jacobinern gehasst und verfolgt wurde, sondern es waren die Zollpächter insgesamt. Ihnen wurde vorgeworfen, sich maßlos und in ungesetzlicher Weise bereichert zu haben. In der Tat hatten die fermiers ja erhebliche Reichtümer angesammelt, auch Lavoisier, der sie immerhin auch für seine naturwissenschaftlichen Versuche nutzte. Seine Einkommenserklärung für das Jahr 1791 weist einen Betrag von 37 500 livres aus, wobei eine ganze Reihe von zusätzlichen Einkommen gar nicht berücksichtigt sind. Zum Vergleich: ein mittlerer Beamter hatte ein Jahreseinkommen von 1000 livres. Am 15. Oktober 1793 legte Lavoisier, der dazu aufgefordert wurde, eine Aufstellung der Güter seines alltäglichen Bedarfs vor: Darunter befanden sich immerhin 160 Pfund Kaffee, 39 Flaschen eau de vie (Schnaps), 268 Flaschen Likör und 8000 (sic!) Flaschen Wein…

Am 5. Mai 1974, auf dem Höhepunkt des jaconinischen Terrors, beschloss der Konvent, den Fall der Zollpächter an das Revolutionstribunal zu übergeben. Die Anklageschrift erhielten Lavoisier und die mitangeklagten fermiers  erst am Vorabend des Prozesses spät nachts und sie konnten sich am Prozesstag nur je 15 Minuten mit den insgesamt vier Verteidigern beraten. Der öffentliche Prozess war eine Farce und ein Schauprozess. Der vorsitzende Richter, Jean-Baptiste Coffinhal,  war berüchtigt dafür, den Anklagten mit den Worten „tu n’as pas la parole“ das Wort abzuschneiden und sich über sie lustig zu machen.  Auf die wissenschaftlichen Verdienste Lavoisiers aufmerksam gemacht, soll er lakonisch geantwortet haben:  „La République n’a pas besoin de savants et de chimistes, le cours de la justice ne peut être suspendu.» („Die Republik braucht weder Wissenschaftler noch Chemiker. Der Lauf der Justiz darf nicht aufgehalten werden.“) – ein gut zu ihm passender, allerdings nicht verbürgerter Ausspruch. Am 8. Mai 1794 wurden Lavoisier und die mitangeklagten fermiers zum Tode verurteilt.  Allerdings hatte Lavoisier vorher  noch die Gelegenheit,  einen Abschiedsbrief zu schreiben. Darin findet sich der Satz: „Es ist anzunehmen, dass die Ereignisse, in die ich verstrickt bin, mir die Unannehmlichkeiten des Alterns ersparen.“ Er werde sein Leben als kerngesunder Mann beenden. Das besorgte die auf der Place de la Révolution, heute Place de la Concorde, aufgestellte Guillotine am 8. Mai 1794. Wie die anderen an diesem Tag Guillotinierten wurde Lavoisier in einem Massengrab auf dem Cimetière de Errancis  bestattet, bevor  bei dessen Auflösung die Gebeine in die Katakomben überführt wurden. Ironie des Schicksals: Dazu gehörten dann auch die sterblichen Überreste Robespierres, der im Juli 1794 unter dem Schafott endete- wie im August des Monats Coffinhal übrigens auch.

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Erinnerungstafel 97 rue de Monceau.

Ort des früheren Friedhofs des Errancis, wo zwischen dem 24. März 1794 und dem  Monat Mai 1795 1119 Personen bestattet wurden, die auf der Place de la Révolution guillotiniert worden waren.

Am Tag nach der Hinrichtung Lavoisiers notierte der bedeutende Mathematiker und Astronom Lagrange: „Es hat den Henkern nur einen Augenblick gekostet, einen solchen Kopf abzuschlagen, und  hundert Jahre reichen vielleicht nicht hin,  einen ähnlichen wieder hervorzubringen“. (26a)

5. Das Ende der Zollmauer

Mit der Erstürmung der Mauer  in den Tagen vor dem 14. Juli war allerdings noch nicht das Ende der Zollmauer gekommen. Immerhin beschloss die konstituierende Nationalversammlung am 20. Januar 1791, dass der octroi, die Zollerhebung an der Zollmauer,  mit Wirkung vom 1. Mai des Jahres beendet werden sollte. Das Musikkorps und Abteilungen der Nationalgarde verkündeten entlang der Mauern diesen Beschluss. Die Folgen für die städtischen Finanzen waren allerdings katastrophal, sodass der octroi 1798 vom Direktorium wieder eingeführt wurde. Er firmierte nun als „städtische Wohfahrtssteuer“ (octroi municipal de bienfaisance)  und diente offiziell der Verbesserung der medizinischen Versorgung der Pariser Bevölkerung. In Wirklichkeit waren 85% der Einkünfte der Stadt dem octroi zu verdanken, so dass er zu einem grundlegenden Bestandteil der städtischen Finanzen wurde. Und dies nicht nur für Paris, sondern auch für andere Städte und Kommunen: In den 1840-er Jahren mussten die von Paris nach Versailles  beförderten Waren insgesamt sechs Zollgrenzen passieren! Die Forderung von Liberalen, im Namen des Freihandels den octroi abzuschaffen, hatte allerdings selbst unter der  Herrschaft des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe die Liberalen wenig Erfolg. Immerhin beseitigte die junge II. Republik 1848 die Zölle für Fleisch und ersetzte sie durch eine Steuer auf Luxuswaren.

Erst mit der Erweiterung von Paris im Jahr 1860 und der Integration von elf Gemeinden, die zwischen der Zollmauer und der Festungsmauer von 1840 lagen, wurde die Mauer obsolet und auf Befehl von Baron Haussmann beseitigt. (27)

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Abgerissen wurden auch die meisten der Ledoux’schen Torhäuser- hier zum Beispiel die an der Place de l’Étoile, weil sie der von Haussmann gewünschten monumentalen Umgestaltung des Platzes im Wege standen. Und natürlich hätten die Torhäuser Ledoux‘ auch etwas die Apotheose des Triumphbogens und Napoleons relativiert. (28)

1pav_oct_etoil

Die Steuer allerdings wurde damit  nicht beseitigt: Die wurde nun an den neuen Außengrenzen der Stadt erhoben. Erst 1943, also unter der deutschen Besatzung, wurde der Pariser octroi abgeschafft und durch lokale Steuern ersetzt, was 1948 dann für ganz Frankreich gesetzlich festgelegt wurde. Einmal erhobene Abgaben haben manchmal ein langes Leben….

Vier der ehemaligen Barrieren wurden aber verschont, sind also noch erhalten. Sie gehören zum „Pantheon der französischen Architektur“ und ihnen ist der nachfolgende Blog-Beitrag gewidmet.

Anmerkungen

[1]https://paris-blog.org/2019/07/14/die-grosse-saline-von-salins-les-bains-und-die-koenigliche-saline-von-arc-et-senans-unesco-weltkulturerbe-im-jura/

[2] Vincent Milliot/Philippe Minard, La France d’Ancien Régime. Armand Colin 2018, S. 170f (Abschnitt: L’impossible réforme de la monarchie)

[3]une union de plusieurs personnes qui s’associent pour entrer dans les affaires du Roi.“ Cit. bei Durand,  Les Fermiers généraux au XVIIIe siècle, S. 45

[4] Durand, a.a.O.  S. 50

[5] Renaud Gagneux, Denis Prouvost: Sur les traces des enceintes de Paris, S. 138/140

[6] https://www.pariszigzag.fr

(6a) Bild von: By Jean-Marie Hullot – Own work – http://www.fotopedia.com/items/jmhullot-N3qptM-Vrsk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8538329

[7] Abbildung aus: https://paris-atlas-historique.fr/55.html

Zu Ledoux siehe auch den Blog-Beitrag über die Saline von Arc et Senans: https://paris-blog.org/2019/07/14/die-grosse-saline-von-salins-les-bains-und-die-koenigliche-saline-von-arc-et-senans-unesco-weltkulturerbe-im-jura/

[8] Bild aus  http://www.francegenweb.org/wiki/  Artikel über die Barrières du mur des Fermiers généraux. Dort auch eine Liste aller Barrières-    Siehe auch:

https://www.histoires-de-paris.fr/lettre-25-mars-2019-le-mur-des-fermiers-generaux/

[9] Siehe: Les guinguettes des Barrières. In: Histoires de Paris vom 22. April 2017. https://www.histoires-de-paris.fr/guinguettes-barrieres/

Siehe auch die Blog-Beiträge über Belleville: https://paris-blog.org/2016/07/18/das-multikulturelle-aufsaessige-und-kreative-belleville-modell-oder-mythos/

und über die Guinguettes an der Marne: https://paris-blog.org/2017/08/06/musik-und-tanz-an-der-marne-au-pays-des-guinguettes/

[10] Zitiert  bei:  http://www.ecrivaines17et18.com/pages/18e-siecle/bon-a-savoir/le-paris-de-louis-sebastien-mercier.html#fgCGR3jf0kWHa2w8.99  Das Argument der verhinderten Frischluftzufuhr wird auch von Mercier in seinen Songes et visions philosophiques von 1788 verwendet:

[11] https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k8320w/f263.image

[12] https://journals.openedition.org/ahrf/12765 und

https://www.historia.fr/le-mur-murant-paris-rend-paris-murmurant

[13] https://fr.anecdotrip.com/anecdote/6-anecdotes-sur-le-trone-et-sa-barriere-des-fermiers-generaux-par-vinaigrette

[14] Sébastien Mercier, Songes et visions philosophiques, 1788,  Zit. in: http://www.ecrivaines17et18.com/pages/18e-siecle/bon-a-savoir/le-paris-de-louis-sebastien-mercier.html#fgCGR3jf0kWHa2w8.99

[15] Mercier: Le nouveau Paris. Cit. von Poirier, Lavoisier, S. 186. Insofern kann ich auch die nachfolgende Feststellung von  Markovic nicht ganz nachvollziehen: Ce qui est critiqué par la presse et les pamphlets demeure l’opulence de ces édifices (der Barrieren von Ledoux W.J.) et non l’enfermement de Paris. https://journals.openedition.org/ahrf/12765

[16] Markovic, La révolution aux barrières. https://journals.openedition.org/ahrf/12765 Nachfolgendes Bild vom Sturm auf die Zollhäuser aus: https://www.academia.edu/10699921/Entstehung_der_Autonomen_Architektur_Analyse_Emil_Kaufmanns

[17] Durand, Les fermiers généraux, S. 621

[18] Michelet, Histoire de la Révolution Française. Éditions Robert Laffont. Paris 1979, S. 137/138  Das bezieht sich auf den Sonntag, den 12. Juli 1789

[19] Quelle der nachfolgenden Abbildung: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b6947726s/f1.item.r

[20] siehe den Blog-Beitrag über den Cimetière de Picpus: https://paris-blog.org/2016/07/01/der-cimetiere-de-picpus-ein-deutsch-franzoesischer-erinnerungsort/

[21] Siehe zu Ledoux den Blog-Beitrag über die Saline von Arc et Senans

Zum Leben kurz auch: http://www.whoswho.de/bio/claude-nicolas-ledoux.html

Zur Architektur: https://www.uni-heidelberg.de/md/zaw/akh/akh_texte/05schlembach150705.pdf

Zitat aus dem Traktat s. Anm. 22  „Je suis interrompu… La hache nationale étoit levée, on appelle Ledoux, ce n’est pas moi ; ma conscience, mon heureuse étoile me le dictoient : c’étoit un docteur de Sorbonne du même nom. Malheureuse victime !… Je continue.“

siehe  den schönen Blog-Beitrag von Sonia Branca- Rosoff: https://passagedutemps.wordpress.com/2019/11/18/la-rotonde-de-la-villette/

[22] Ledoux, Claude-Nicolas, (1736-1806), . considérée sous le rapport de l’art, des meurs et de la législation, Paris, Herman. (Originale Ausgabe frei zugänglich bei Gallica:  https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k857284.image

Siehe dazu Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier. Entstehung und Entwicklung der Autonomen Architektur. Wien und Leipzig 1933 https://www.academia.edu/10699921/Entstehung_der_Autonomen_Architektur_Analyse_Emil_Kaufmanns

(22a) siehe dazu Petra Kipphoff in ihrer Rezension der großen Brüsseler Magritte- Ausstellung von 1978: https://www.zeit.de/1978/46/die-entfuehrung-des-gesunden-menschenverstandes. Zu dem Zusammenhang zwischen Ledoux und Magritte siehe auch den Blog-Beitrag von Sonia Branca- Rosoff: https://passagedutemps.wordpress.com/2019/11/18/la-rotonde-de-la-villette/

[23] https://de.wikipedia.org/wiki/Antoine_Laurent_de_Lavoisier

[24]  Poirier, S. 185. Auf das Buch von Poirier stütze ich mich auch in den nachfolgenden Passagen über Lavoisier.

[25]Cet odieux monument fiscal est l’ouvrage de M. Lavoisier, le seul des quarantes colonnes de l’Etat (die fermier généraux) qui soit membre de l’Académie des Sciences. Il est chimiste, et les mauvais plaisants disent qu’il a voulu mettre Paris dans un cucurbite dont la caisse des fermes sera le récipient.“ (Cit. Poirier S. 185)

[26] Cit. bei Poirier, S. 186. Entsprechend auch der Tenor einer Darstellung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: „Sous Louis XVI, le savant Lavoisier, qui était en même temps un des 40 fermiers généraux, eut la pensée fort peu philantropique de quintuplers les revenus du fisc en portant les limites de la capitale à une très grande distance de son centre. C’est lui qui lui assigna une nouvelle frontière dans laquelle furent enclavés tous ses faubourgs soumis dès lors à payer des droits d’entrée sur les principaux objets de consommation.“  Le Nouveau conducteur dans Paris et dans les environs, indiquant tout ce qui peut intéresser l’étranger au sein de cette capitale du monde civilisé. Paris 1851, S. 6 https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6393839z/f238.item

(26a) Zit. in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon). 8. Auflage, 6. Band, Leipzig: Brockhaus 1835, S. 536

(27) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/

(28) Bild aus: http://paris1900.lartnouveau.com/paris00/mur_des_fermiers_generaux.htm

Literatur:

Sonia Branca-Rosoff, https://passagedutemps.wordpress.com/2019/11/14/suivre-le-mur-des-fermiers-generaux-de-la-place-de-lile-de-la-reunion-aux-pavillons-de-bercy/

Yves Durand,  Les Fermiers généraux au XVIIIe siècle. Paris: PUF 1971

Momcilo Markovic,  La Révolution aux barrières : l’incendie des barrières de l’octroi à Paris en juillet 1789   https://journals.openedition.org/ahrf/12765

Les  propylées de Paris. 1785-1788. Claude Nicolas Ledoux. Une promenade savante au clair de lune. Editions Honoré Clair.  (Bibl. Arsenal)

Le mur des fermiers généraux, In: La lettre d’Histoires-de-Paris.fr Nummer 25. März 2019. https://www.histoires-de-paris.fr/lettre-25-mars-2019-le-mur-des-fermiers-generaux/

Gallet, Michel. Claude-Nicolas Ledoux, 1736-1806. Paris, 1980

Renaud Gagneux, Denis Prouvost: Sur les traces des enceintes de Paris. Promenades au long des murs disparus.   Parigramme, 2004

Jean-Pierre Poirier, Lavoisier. 17423 – 1794. Paris: Pygmalion 1993

Weitere geplante Beiträge:

  • Die Mauer der Generalpächter (2): Die vier erhaltenen Torhäuser von Ledoux
  • Wie man eine Revolution feiert: Der 14. Juli in Paris
  • Pariser Erinnerungsorte an den Holocaust (Einleitung) 
  • Der Garten des Palais-Royal: ein Garten der Literatur und eine Oase der Stille mitten in Paris

 

 

Die Petite Ceinture (2): Die Rückeroberung der stillgelegten Ringbahntrasse

Dies ist die Fortsetzung des im Februar 2020 in diesen Blog eingestellten Beitrags über die Pariser Ringbahn, die Petite Ceinture – in einem kürzlich im Reiseteil der FAZ veröffentlichten Beitrag auch die Pariser Gürtellinie genannt.

Die Petite Ceinture (Teil 1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen

https://paris-blog.org/2020/02/20/die-petite-ceinture-teil-1-kinder-und-kohl-statt-kohle-und-kanonen/

In diesem ersten Teil ging es vor allem um die Geschichte dieser in der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegten Ringbahn, die zunächst militärischen und wirtschaftlichen Zwecken diente, dann aber vor allem ein wichtiges Mittel des Personentransports war, um eine Verbindung zwischen den Pariser Kopfbahnhöfen herzustellen. Als diese Verbindungen dann direkter und schneller durch die Metro-Linien ermöglicht wurden und Lastkraftwagen ein effizienteres Mittel des Warentransports wurden, verlor die Ringbahn immer mehr an Bedeutung und wurde schließlich ganz aufgegeben. Die Trasse wurde sich selbst bzw. der Natur überlassen. In den letzten Jahren aber hat die Stadt Paris die Bedeutung dieses Grüngürtels erkannt und ist dabei, einige dafür geeignete Teilstücke als Naherholungsgebiete zugänglich zu machen:  Das ist gemeint, wenn von der reconquête  der Petite Ceinture,  gesprochen wird. Um diese Zurückgewinnung der Ringbahntrasse geht es in dem nachfolgenden Beitrag.

In den Jahren nach Stilllegung der Petite Ceinture war die ehemalige Bahntrasse weitgehend sich selbst bzw. der Natur überlassen, die allmählich das Gelände zurückeroberte.[1] Nur die Bahngleise wurden von der Eigentümerin, der Staatsbahn SNCF, freigehalten, weil darunter wichtige und wertvolle Glasfaserkabel verlegt waren.

1993 wurde aber nicht nur der regelmäßige Verkehr auf dem größten  Teil der Petite Ceinture eingestellt, sondern auch die Association Sauvegarde Petite Ceinture (ASPCRF) gegründet, deren schon im Namen kenntlich gemachtes Ziel es war, die stillgelegte Ringbahn –wenn auch in veränderter Form- zu erhalten.[2] Die Planungen bezogen sich zunächst auf die Nutzung der Petite Ceinture als Trasse für eine Straßenbahn. Allerdings gab es auch schon Überlegungen, die Straßenbahn stattdessen auf den boulevards des Maréchaux zu platzieren. Aber es gab auch Vorschläge, statt einer Straßenbahn die Trasse für einen umweltfreundlichen Transport von Gütern zu nutzen.[3]  Und schließlich setzten sich mehrere Initiativen  für eine Nutzung als Grüngürtel („promenade plantée“ bzw. „coulée verte“) ein, wobei allerdings auch hier die Vorstellungen stark voneinander abwichen: Pfad für Fußgänger? Weitergehende Nutzung z.B. für Spielplätze und Gärten? Die Petite Ceinture als ein der Natur überlassenes Biotop?

Inzwischen sind mehrere Teilstücke der Petite Ceinture für die Öffentlichkeit geöffnet und diese „Rückeroberung“, wie sie von der Stadtverwaltung genannt wird, soll fortgesetzt werden. Bis 2020 sollen insgesamt etwa 10 Kilometer zugänglich sein.[4]

Plan reconquête

Diese Planungen liegen auf einer Linie mit der allgemeinen „Rückeroberungspolitik“  unter den sozialistischen Bürgermeistern Delanoë und Hidalgo. Die bezog und bezieht sich ja schon seit längerem auf prominente Plätze wie die Place de la République, die Place de la Nation oder die Place de la Bastille und auf große Straßen wie die rue de Rivoli oder den Boulevard Voltaire,  wo der Autoverkehr zurückgedrängt und mehr Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer geschaffen wird; und natürlich auf die „Rückeroberung“ der Seine-Tiefkais, der „berges de la Seine“, die jetzt endlich und wohl auch endgültig vom Autoverkehr befreit sind.[5]

Die „Rückeroberungspolitik“ ist, so umstritten sie in ihrer konkreten Umsetzung auch sein mag, eine stadtplanerische Notwendigkeit. Paris ist eine „ville hyperdense“ (6) : Deshalb ist jeder Quadratmeter zusätzlicher Naherholungsraum ein Gewinn. Paris ist immerhin mit 21 290 Einwohnern pro Quadratkilometern die mit Abstand dichtbevölkertste Stadt Europas- vor Barcelona mit 16 200 und London mit 12 000 – und weit vor den deutschen Großstädten (München 4570; Berlin 4060; Frankfurt 2960 und München 2340). (7)  Und wären nicht die außerhalb des früheren Festungsgürtels, also der „natürlichen“ Stadtgrenze, gelegenen großen Naherholungsgebiete Bois de Vincennes und Bois de Boulogne eingemeindet, sähen die Zahlen noch  wesentlich ungünstiger für Paris aus.

Die bisher für die Öffentlichkeit freigegebenen oder zur Freigabe vorgesehenen Teilstücke  der Petite Ceinture bringen allerdings nur wenig Entlastung, sind sie doch recht kurz. Das hat seinen Grund wohl vor allem in den Tunneln, die bisher abgesperrt sind und die zum Teil auch zu lang sind, um durchgängig geöffnet werden zu können. Da ist eher daran gedacht, die Tunneleingangsbereiche für Veranstaltungen (z.B. Disko, Musik) zu nutzen.  In einer Tageswanderung Paris auf den ehemaligen Trassen der Petite Ceinture umrunden zu können, wird sicherlich  ein Traum bleiben. Aber immerhin gibt es schon kleine Naherholungsgebiete und Ruhezonen für Mensch und Natur, und es soll noch weitere geben.  Für den Paris-Besucher werden sie sicherlich nicht erste  Adressen sein, aber wenn man etwas mehr Zeit und Muße hat, lohnt  sich ein Besuch, den man ja meist auch gut mit anderen Projekten verbinden kann.

Nachfolgend werden einige der bisher zugänglich gemachten Teilstücke der Petite Ceinture vorgestellt. Die Reihenfolge folgt der Nummerierung der betroffenen Arrondissements.

Die Petite Ceinture im 12. Arrondissement

Die gemeinschaftlichen Gärten am Square Charles Péguy

Eine von der Stadt Paris unterstützte und von mehreren Initiativen getragene Form der Nutzung der Bahntrasse ist die Einrichtung von gemeinschaftlichen Gärten. Einer davon befindet sich im 12. Arrondissement neben den Gleisen der Petite Ceinture beim Square Charles Péguy

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Der Eingang befindet sich in der  rue Rottembourg 21 bei der Überführung.

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Als wir uns 2018 dort umsahen, trafen wir zufällig den Verantwortlichen der zuständigen Association. 20 Mitglieder bewirtschaften  gemeinschaftlich einen Teil des Gartens.  Wenn man ein Jahr lang am Gemeinschaftsgarten mitgearbeitet hat, kann man aber auch ein privates Eckchen zugeteilt bekommen. Die Gärten sind für jedermann zugänglich, die Mitglieder der Association sind also darauf angewiesen, dass ihre Arbeit und vor allem die Früchte ihrer Arbeit respektiert werden- vor allem dann, wenn 2019 das parallel verlaufende Teilstück der Petite Ceinture öffentlich zugänglich gemacht wird.

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Ein Problem für die Gärtner ist natürlich die Erde,  die neben den alten Bahngleisen natürlich –vorsichtig ausgedrückt- nicht optimal ist, geschweige denn ökologischen Ansprüchen entspricht. Eine wesentliche Aufgabe der Gartenfreunde ist  also die Bodenverbesserung bzw. der Bodenaustausch.  Die zu Hause anfallenden Bioabfällle werden mitgebracht und zu Kompost verarbeitet. Zum Teil werden Hochbeete angelegt, so dass nicht tief wurzelnde Pflanzen auf jeden Fall in unverdorbenem guten Boden wachsen.

Der rührige Vereinsvorstand wollte uns gleich engagieren, hatte aber Verständnis, dass das in unserem Fall nicht passt. Schenkte uns aber zum Abschied einige Ableger eines sehr aromatischen Bohnenkrauts.

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Inzwischen  (September 2019) sind die Kürbisranken bis hoch zu den Bahngleisen gewachsen…

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Von dort hat man nun auch einen direkten Zugang zu dem neuen Teilstück der Petite Ceinture. An dem Zugang befindet sich auch eine kleine Ausstellung zur die Geschichte der Petite Ceinture.

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Dazu gehört auch ein kleines Quiz, z. B. mit der nachfolgenden Frage, welchem der vier angegebenen Tiere man kaum auf der Petite Ceinture  begegnen wird: Fledermaus, Wildschwein, Fuchs oder Fasan. Die richtige Antwort lautet: B, also Wildschwein. (Den anderen drei Tieren bin ich allerdings bei meinen Wanderungen auf der Petite Ceinture  noch nicht begegnet.)

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Die Villa du Bel Air: Ein neues Teilstück wird zugänglich gemacht (2019)

Seit dem Frühjahr 2019 ist das an diesen Gärten gelegene Teilstück der Petite Ceinture zwischen der Villa de Bel Air und der Rue des Meuniers (1670 Meter) für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Petite Ceinture Villa Bel Air (15)

An der schönen Seitenstraße Villa du Bel-Air gab es  früher einen Bahnhof der Petite Ceinture, jetzt einen Behinderten-gerechten Zugang zu dem neu eröffneten Teilstück. Im Jahr 1887 habe es hier insgesamt 787 000 Passagiere gegeben, wie man einer Informationstafel entnehmen kann, und 132 bis 172 Personen- und Güterzüge pro Tag. Wenn man dabei die Nachzeiten ohne Zugverkehr berücksichtige, bedeute das eine Zugfrequenz alle 6-7 Minuten mit 120 Passagieren am Bahnhof Bel-Air-Ceinture.

Petite Ceinture Villa Bel Air (3)

Wie auch an anderen Stellen der Petite Ceinture waren hier die Artisten der Street-Art schon am Werk….

Petite Ceinture Villa Bel Air (6)

…. und neben dem Bahndamm haben Wohnsitzlose ihre Zelte aufgeschlagen.

Petite Ceinture Villa Bel Air (12)

Durch das neue zugänglich gemachte Teilstück wird eine Verbindung zwischen der coulée verte René-Dumont und dem Bois de Vincennes geschaffen.[8]  Man kann dann also auf einem ca 5 km langen schönen, interessanten Spazierweg von der Place de la Bastille über den Viaduc des Arts und die promenade plantée/coulée verte Renée-Dumont bis zum lac Daumesnil, dem Bois de Vincennes und dem musée de l’immigration, dem Ort der Kolonialausstellung von 1931, gelangen. Es ist ein Spaziergang auf der ehemaligen Trasse des Chemin de fer Paris à Vincennes und dann weiter an die Marne und dann auf einem kleinen Stück der Petite Ceinture. Höchst empfehlenswert![9]  

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Inzwischen (September 2019) ist zwar die Strecke zwischen dem Cours de Vincennes und der rue de Charenton noch nicht offiziell freigegeben, aber auf einem der ehemaligen Gleise ist schon ein schöner Weg für Jogger, Fußgänger, Kinderwagen etc angelegt.cp

Und es wurden schon oder werden gerade  Schilder zur Orientierung  montiert.

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Wenn da allerdings zu lesen ist, dass es noch 20,6 km nach Bercy seien, bedeutet das nicht, dass die Petite Ceinture bis dorthin zugänglich wäre….

Die Petite Ceinture im 13. Arrondissement (seit 2016)

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Dieses Teilstück der Petite Ceinture ist das dritte (nach denen des 16. und des 15. Arrondissement), das für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Es ist -begrenzt durch nicht zugänglich Tunnel- nur 500 Meter lang.

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Weil es sich um ein Teilstück der Petite Ceinture mit dem ehemaligen Bahnhof von Rungis handelt, konnten nicht nur die ehemaligen Bahngleise,  sondern auch  die ehemaligen Bahnhofs.- und Lagerflächen  „zurückerobert“ werden. Angelegt wurde hier Rasenflächen zum Entspannen und Spielflächen  für Kinder.[10]  

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Also ein interessantes Angebot für die Bewohner des 13. Arrondissements. Und einen kleinen, allerdings nicht öffentlich zugänglichen, gemeinschaftlichen Garten gibt es auch hier.

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Zugang:  60, rue Damesme 75013 Paris   Métro  Maison Blanche, ligne 7 oder Station Poterne des Peupliers der Straßenbahnlinie T  3a (zwischen Porte de Vincennes und Pont du Garigliano)

Die Petite Ceinture im 15. Arrondissement (2013)

Das seit 2013 zugänglich gemachte Teilstück der Petite Ceinture im 15. Arrondissement verbindet zwei Parks, den Park Georges Brassens und den Park André Citroën, der seinen Namen einer ursprünglich dort angesiedelten Autofabrik verdankt.

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Dieses 1,5 Kilometer lange Teilstück der Petite Ceinture verläuft parallel zu dem Boulevard Victor auf einem Damm.

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Am Anfang und Ende des Weges (Place Balard, Olivier de Serres) gibt es Aufzüge, mit denen der Damm leicht zu erreichen ist.

Der Weg ist „ein schöner versteckter Ort“ in Paris[11], mit viel Grün, umgeben von der Stadtlandschaft, aber abgeschirmt von ihrem Lärm: ideal für Jogger, für Spaziergänger und vor allem auch für Kinder, die hier gefahrlos ihre ersten Fahrversuche mit Fahrrädern unternehmen können.

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In der Mitte des Wegs kommt man am früheren Bahnhof Vaugirard vorbei.

Das war früher ein stattliches Bahnhofsgebäude mit Fahrkartenverkauf, Wohnung und Diensträumen für den Bahnhofsvorstand und einem Wartesaal oben an den Bahngleisen.[12]

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Heute bietet der Bahnhof ein ziemlich tristes Bild – aber vielleicht gibt es ja Pläne für eine neue, sinnvolle  Nutzung. Ich habe einen Vorschlag: Vielleicht könnten die rührigen Freunde der Petite Ceinture dort ja ein kleines Museum einrichten….

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Das alte Schild LM signalisierte den Zugführern, dass hier ihr Spielraum zum Rangieren endete. (Limite de Manœuvre)

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Intakt ist noch  der alte Aufgang zu den Bahngleisen des Bahnhofs.

Im Bereich des früheren Bahnhofs ist das Gelände der Petite Ceinture ausgeweitet und bietet damit zusätzliche Erholungs- und Kommunikationsmöglichkeiten…

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Paris de la Seine à la Seine

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Seit Neuestem gibt es auch den Vorschlag für einen Spazierweg, der die gesamte südliche Trasse der Petite Ceinture entlang führt, sie zum Teil – wie auf dem hier beschriebenen Teilstück im 15. Arrondissement- auch direkt nutzt. Es gibt dazu in den Rathäusern der Arrondissements (und sicherlich auch im Info-Zentrum des Pariser Rathauses) einen Faltplan mit dem Titel: Petite Ceinture. Paris de la Seine à la Seine. Danach handelt es sich um einen neuen künstlerischen und kulturellen Weg, der im Auftrag der Stadt Paris von einem Architektur-Kollektiv entworfen wurde.  Entlang des Weges wird auf kulturelle und historische Sehenswürdigkeiten aufmerksam gemacht, Aussichtspunkte und mögliche Ein- und Ausstiege sind ebenfalls eingezeichnet. Wie lange die Strecke insgesamt ist und wie viel Zeit man dafür veranschlagen muss, ist nicht angegeben. Aber im Frühjahr oder Sommer werden wir uns da sicherlich einmal auf den Weg machen.

Der „corridor écologique“ im 16. Arrondissement (2007)

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Das erste 2007 für die Öffentlichkeit zugänglich gemachte Teilstück der Petite Ceinture liegt im 16. Arrondissemet zwischen dem boulevard de Montmorency und dem boulevard Beauséjour.+

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Es handelt sich um einen 1,2 km langen Pfad. Die früheren Schienen sind zwar entfernt, der Schotter als Untergrund aber noch erhalten, und  es ist unverkennbar, dass man sich auf einem teilweise leicht erhöhten ehemaligen Bahndamm befindet.

Mit Hilfe von Anpflanzungen, kleinen Lichtungen, naturnahen Sitzplätzen und Mauern wird der Weg etwas aufgelockert.  Da es sich auch um einen Lehrpfad handelt, gibt es auch sechs Stationen mit entsprechenden Erläuterungen.[13]

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An die Vergangenheit der Petite Ceinture erinnert noch diese Sitzbank:

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Und ein „hôtel des insectes“ darf natürlich auch nicht fehlen:

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Zugänge zu diesem Teilstück der Petite Ceinture: gegenüber dem Haus Nr. 77 des Boulevard de Montmorency (Einmündung der rue du Ranelagh und gegenüber dem Haus Nr. 36 des boulevard de Beauséjour.

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Das Haus im Hintergrund des Bildes weist übrigens darauf hin, dass es sich hier in der Tat um einen „schönen Aufenthalt“ im noblen 16. Arrondissement handelt. Und es ist ja wohl auch kein Zufall, dass gerade hier –noch zu Zeiten einer konservativen Stadtregierung- das erste Teilstück der Petite Ceinture für die öffentliche Nutzung zugänglich gemacht wurde.[14]

Die Recylerie (18. Arrondissement)

Auch wenn die Recyclerie gerne noch den sogenannten Pariser „Geheimtipps“ zugerechnet wird[15]: Eher ist es eine „angesagte Location“.  Denn sie ist in der Tat nicht nur  ein Café-Restaurant, sondern auch ein Reparatur-Atelier, eine Recycling-Kooperative, ein Veranstaltungsort und eine urbane Farm. Und das alles in einem ehemaligen Bahnhof der Petite Ceinture über, entlang und zum Teil auch auf den alten stillgelegten Gleisen der Pariser Ringbahn. Der Name Recyclerie, auch REcyclerie geschrieben, weist auf das Konzept hin, das in 4 Rs zusammengefasst wird: Repenser, Réduire, Réparer und schließlich natürlich: Recycler.[16 ]

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Ein besonderer Reiz der Recyclerie ist es, dass man nicht nur überhalb der Bahngleise Platz nehmen kann, sondern es auch Sitzgelegenheiten entlang der Gleise gibt, die man über einen Lauben- Treppengang erreicht.

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Dabei kommt man an einen Hühnerstall vorbei mit einem an der  Böschung zu den Bahngleisen angelegten Freigehege.

DSC03694 La Recyclerie pt Ceinture 18. Arr (9)

An dem schmalen Gang zwischen den Gleisen und der Böschung gibt es Tische und Sitzplätze- Dort fühlt sich auch M Chat wohl. [17] 

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Daran schließt sich eine besondere Attraktion der Recyclerie an, nämlich der Gemüsegarten.

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Hier wird der ökologische Anspruch der Recyclerie anschaulich: Alle entsprechend verwertbaren Stoffe werden kompostiert.

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Und die so erzeugte fruchtbare Erde dient dann für die Aufzucht neuer Pflanzen.

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Besonders eindrucksvoll ist das Bewässerungssystem in dem Gemüsegarten, das sein Vorbild in Lateinamerika hat: Es werden Tonkugeln (Oyas) verwendet, die mit Wasser gefüllt werden, das sie dann langsam und kontinuierlich an die Umgebung abgeben. So spart man Arbeitszeit und Wasser, weil auf diese Weise kein nutzloses Oberflächenwasser verdunstet.

Zur Recyclerie gehört auch eine kleine Werkstatt, wo kleine Reparaturen erledigt werden und man auch Werkzeuge ausleihen kann.

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Und es gibt auch kulturelle Angebote, zum Beispiel im Sommer ein open-air Kino auf den Bahngleisen! Und für Interessierte gibt es auch jeden Dienstag und Samstag 16 Uhr Führungen durch die Anlage. (Anmeldungen über die Homepage: http://www.larecyclerie.com/infos-pratiques/)

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Insgesamt eine sympathische Einrichtung, die ihren Namen zu Recht trägt und die man wohl eher in Berlin als in Paris vermutet hätte.  So ganz alternativ ist die Pariser Recyclerie dann allerdings doch nicht: wird sie doch freundlich unterstützt von der Firma Veolia. Das ist  ein französischer Multi, der in vielen Ländern und Bereichen tätig ist, auch  der Abfallwirtschaft- und der die Recyclerie -immerhin nicht  aufdringlich- für seine Imagepflege nutzt…

Praktische Informationen: Metro Linie 4. Porte de Clignancourt.  Saal und Quais sind ab 12 Uhr geöffnet, Sonntags schon ab 11.

La Petite Ceinture in Ménilmontant (20. Arrondissement,  2018)

Ein kleines Teilstück der Petite Ceinture im 20. Arrondissement wurde 2018 öffentlich zugänglich gemacht.

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Von der rue de Ménilmontant führt eine breite Treppe zu der tiefer gelegten Trasse bzw. den früheren Quais, des Bahnhofs Ménilmontant, von dem allerdings nichts mehr erhalten ist.[18] Immerhin gibt es noch den alten Fußgängerüberweg, der an den früheren Bahnhof erinnert.

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Der Wildwuchs, der sich in den Jahren nach der Stilllegung der Bahn entwickelt hatte, wurde etwas gelichtet und das dabei entfernte Holz aufgeschichtet. Für den Zaunkönig offensichtlich ein idealer Lebensraum.

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Und Schlüsselblumen fühlen sich dort offenbar auch wohl.

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Es gibt einen gemeinschaftlich betriebenen Garten….

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mit Mais, Kürbissen,  Borretsch und Obstbäumchen, der hoffentlich nachhaltig betrieben wird. Die Anwohner sind jedenfalls aufgerufen, sich da entsprechend zu engagieren. (19)

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…. und einige Bänke aus Holz zum Sitzen und Lagern.

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Das zwischen zwei abgesperrten Tunneln gelegene Teilstück ist nur 220 Meter lang. Sicherlich kein Ausflugsziel, aber eine mögliche (Zwischen-)Station eines Besuchs des multikulturellen kreativen und aufsässigen Stadtteils Belleville.[20],

Die Petite Ceinture 2023:

2023 haben Hermann Kollmar und Herbert Boll die zugänglichen Teilstücke der Petite Ceinture erkundet und dazu eine Bilderstrecke zusammengestellt, die auf diesem Blog veröffentlicht ist:

La petite Ceinture, die Pariser Ringbahntrasse.  Eine Bilderstrecke von Hermann Kollmar und Herbert Boll

Anmerkungen

[1] https://www.paris.fr/equipements/petite-ceinture-du-16e-pc-16-16227

[2] https://www.petiteceinture.org/Chronologie-des-debats-des-etudes.html

[3] http://www.leparisien.fr/paris-75/paris-75012/paris-le-debat-sur-l-avenir-de-la-petite-ceinture-reporte-20-03-2016-5644417.php

[4] https://www.paris.fr/actualites/10-km-de-la-petite-ceinture-ouverts-d-ici-2020-4764

Zur Geschichte, der aktuellen Situation der den Perspektiven der Petite Ceinture siehe auch die Seite  der Association Sauvgarde Petite Ceinture:        https://www.petiteceinture.org/

[5] Siehe den Blog-Beitrag: Die Seine-Ufer in Paris. Der schwere  Abschied vom (Alp-)traum einer autogerechten Stadt. https://wordpress.com/post/paris-blog.org/10225

Zu den einzelnen Projekten der „Rückeroberung“ der Petite Ceinture siehe: https://www.petiteceinture.org/Ouverture-au-public-de-troncons-de-la-Petite-Ceinture-d-ici-2020-le-saut-vers-l.html#3_planning_des_travaux_et_des_ouvertures

(6) Le Monde, 2.5.2019, S.12

(7)  Angaben von 2018 aus einer Statistik (Luftige deutsche Städte) in Der Spiegel 18/27.4.2019, S. 59 

[8] https://www.mairie12.paris.fr/ma-mairie/nature-en-ville/la-reconquete-de-la-petite-ceinture-370

Zur coulée verte Renée-Dumont siehe auch den Blog-Beitrag über die Guinguettes:  https://wordpress.com/post/paris-blog.org/7664

[9] Siehe dazu die Blog-Beiträge: Das Palais de la Porte Dorée und die Kolonialausstellung von 1931: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/6242 und: Die Kolonialausstellung von 1931 (2): Der ‚menschliche Zoo‘ im Jardin d’acclimatation und der Tausch von ‚teutonischen Krokodilen‘ und ‚Menschenfressern‘ zwischen Paris und Frankfurt: https://wordpress.com/post/paris-blog.org/6678

[10] https://www.paris.fr/equipements/petite-ceinture-du-13e-pc-13-18089

[11] https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-vert/jardin-la-petite-ceinture-du-15e

[12] Bilder aus: https://www.petiteceinture.org/Gare-de-Vaugirard-Ceinture-1867.html

[13] https://www.pariszigzag.fr/balade-paris/rehabilitation-petite-ceinture-balade-paris

[14] Eine Erkundung dieses Teilstücks der Petite Ceinture lässt sich sehr gut mit einem Besuch des nahe gelegenen und äußerst sehenswerten Museums Marmottan Monet kombinieren  http://www.marmottan.fr/

15] https://geheimtippsparis.wordpress.com/2016/04/02/cafe-restaurant-la-recyclerie/ Dort auch die beiden nachfolgenden Bilder

[16] http://www.larecyclerie.com/programmation/

[17] Siehe den Blog-Beitrag: Street-Art in Paris (4): Monsieur Chat, Miss Tic und Fred le Chevalier: https://paris-blog.org/2019/02/01/street-art-in-paris-4-monsieur-chat-miss-tic-und-fred-le-chevalier/

[18] https://www.paris.fr/equipements/petite-ceinture-du-20e-pc-20-19205

(19) siehe: https://www.mairie20.paris.fr/actualites/fete-de-la-petite-ceinture-rendez-vous-le-31-aout-791#la-petite-ceinture-dans-le-20e-c-est-quoi_1

[20] Siehe den entsprechenden Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/07/18/das-multikulturelle-aufsaessige-und-kreative-belleville-modell-oder-mythos/

Siehe auch die schöne Fotoreportage von Jérômine Derigny: https://www.collectifargos.com/story/a-la-reconquete-de-la-petite-ceinture/#.XbV5zS17RN0   Februar 2022

Die Petite Ceinture (Teil 1): Kinder und Kohl statt Kohle und Kanonen

Es war vor ein paar Jahren, als wir die Petite Ceinture entdeckten.  Eines Tages rief eine französische  Freundin an: Sie hatte gelesen, ein Stück dieser ehemaligen, seit Jahren stillgelegten und sich selbst überlassenen Bahnlinie rund um Paris sei an einem Wochenende ausnahmsweise zugänglich und man könne dort außergewöhnliche  botanische Beobachtungen machen.  Als Gartenfreundin hatte das ihr Interesse geweckt. Und unseres natürlich auch. Also machten wir uns am bezeichneten Tag auf zur angegebenen Einstiegsstelle im quartier Bagnolet im  20. Arrondissement. Da gab es zwar ein Tor, aber das war geschlossen – und unsere Enttäuschung groß. Da wir nicht einfach aufgeben wollten, versuchten wir, eine  andere Zugangsmöglichkeit zu finden.

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Und dass es die geben musste, bestätigten die jungen Leute, die wir auf der Brücke der Petite Ceinture an der Place du Salamandre sahen, die allerdings schon einen längeren Spaziergang hinter sich hatten.  Mit einer Leiter wäre  es durchaus möglich gewesen, über eine Mauer zu den Gleisen heraufzukommen, aber ohne… Als wir etwas ratlos herumstanden und überlegten, wie wir weiter vorgehen  könnten, kam ein junges Paar vorbei, das uns fragte, ob sie uns helfen könnten. Sie dachten, wir würden eine bestimmte Adresse suchen. Als wir ihnen erzählten, worum es uns ging, hatten sie einen wunderbaren Einfall: Der junge Mann bot an,  eine „Räuberleiter“ zu machen. Für uns doch schon etwas ältere Semester ein unkonventioneller, aber wunderbarer Vorschlag. Also zuerst ich, dann –mit Hilfe von unten und oben- die beiden Damen…

Oben angekommen befand man sich in einer anderen Welt: alte Gleise auf verrotteten Bohlen, Gestrüpp rechts und links, aber auch ein offenbar noch bewohntes Häuschen am Rande.

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Und dabei gab es auch ein kleines unter dem Gestrüpp verstecktes Gärtchen, in dem Kohl angebaut wurde.

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… und Artischocken; aber vielleicht eher zum Anschauen als zum Essen….

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Dort kam ein junger Mann auf uns zu, der uns sehr energisch darauf hinwies, dass wir uns auf einem Privatgelände der Bahn befänden, dessen Betreten strafbar sei und dass Zuwiderhandlungen hoch bestraft werden könnten. (Über die mögliche Höhe der Strafen gab es wilde Gerüchte[1] ).  Er dagegen war, wie sich herausstellte, ein Biologe, dessen Interesse oder Auftrag es war, das Biotop, das sich hier allmählich entwickelt hatte, zu erforschen und zu kartografieren. Besser hätten wir es ja  nicht treffen können! Jedenfalls trennten  wir uns nach einer kleinen  Führung in bestem  Einvernehmen und von drohenden  Strafen war nicht mehr die Rede.

Rosen gab es allerdings nicht in dem Gärtchen, die gab –und gibt- es nur am Rand der Gleise – denn die Petite Ceinture ist nicht nur ein Biotop, sondern auch ein bevorzugter Ort für Freunde der Street-Art.

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Das die Gleise überspannende Gebäude, das wir auf unserem kleinen Spaziergang auf der Petite Ceinture sahen, ist übrigens die ehemalige Bahnstation Charonne.  (102, rue de Bagnolet)

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In den  1990-er Jahren wurde dort von ehemaligen Studenten der Pariser Kunsthochschule eine Musikkneipe eingerichtet, die nach dem Zug „La Flèche d’Or“  benannt war, der seit den 1920-er Jahren  Paris mit London verband.[2]

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Inzwischen ist auch diese Kneipe stillgelegt, aber die Mairie des 20. Arrondissements bemüht sich, das „bâtiment magique“ zu erhalten. Was daraus wird, scheint aber noch völlig unklar zu sein. Überlegt war wohl,  dort einen irischen Pub einzurichten.[3] Aber danach sieht es derzeit (Februar 2020) nicht aus. Einige junge Leute hatten 2019 zu Versammlungen in der Flèche d’Or aufgerufen, um über die Zukunft des Gebäudes nachzudenken. Ob da etwas/was da herausgekommen ist, weiß ich aber nicht. 

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Aufgenommen am 30.1.2020

Immerhin ist inzwischen  gleich nebenan in der rue Florian der Zugang zu dem Gärtchen mit dem Kohl und den Artischocken und damit  zur Petite Ceinture möglich.

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Und er wird auch gerne, vor allem von jungen Leuten, genutzt.

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Man kann auf oder an den alten Gleisen entlanglaufen und sich dabei etwas als Entdecker fühlen und seiner Phantasie freien Lauf lassen, was man alles – auch jenseits der Street-Art- aus dieser alten  Bahnstrecke und ihren Resten machen  könnte.

Hier zum Beispiel ein Blick auf die alte Bahnstation Avron.- zu schade, um sie weiter verfallen zu lassen.[4]

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 Dass die Petite Ceinture  endlich aus dem Dornröschenschlaf einer Verkehrsbrache erwacht, ist überfällig; und zwar gerade in einer dicht besiedelten Stadt wie Paris, in der ein eklatanter Mangel an Grünflächen und Naherholungsmöglichkeiten herrscht. Da bietet das zwar schmale, aber immerhin ganz Paris umspannende Gelände der ehemaligen Ringbahn ein interessantes Feld der Gestaltung, das sicherlich das Herz jedes Stadtplaners höher schlagen lässt.

Und immerhin ist die Erschließung des Ringbahngeländes auch eine späte und hoffentlich konsequente Fortsetzung eines  nach dem ersten Weltkrieg begonnenen Prozesses. Denn damals wurde der  längst obsolete Festungsgürtel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beseitigt und zum Bau von Sport- und Parkanlagen, Sozialwohnungen und –last but not least- zur Errichtung der Cité Internationale Universitaire genutzt.[5]  Dieser Prozess könnte nun durch die neue Nutzung der Petite Ceinture abgeschlossen  werden. Ihr Bau  steht nämlich  in engem Zusammenhang mit dem Bau des nach Thiers benannten Festungsgürtels, zu dem  die Ringbahn weitgehend parallel verlief- ebenso wie die nach  napoleonischen Marschällen benannten und heute noch existierenden Boulevards des Maréchaux.  Die Ringbahn hatte ebenso wie diese Boulevards die strategische Funktion, die die Stadt umgebenden Festungen rasch mit Truppen und Material zu versorgen. Dies galt vor allem für den Fall einer Belagerung, wenn Paris von seinem Umland abgeschnitten wäre.[6]  Denn in einem solchen Fall war die logistische Situation der Stadt besonders prekär: Paris war das Zentrum des französischen Eisenbahnnetzes und es besaß eine ganze Reihe von Kopfbahnhöfen, von denen aus die Züge in alle Himmelsrichtungen abfuhren bzw. von wo aus sie dort ankamen.

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Diese Karte zeigt die Eisenbahnverbindungen rund um Paris im Jahr 1863.[7]

Die Pariser Endstationen dieser Linien gibt es  meist noch heute: die Bahnhöfe St. Lazare, du Nord, de l’Est, de Lyon, d’Austerlitz, Montparnasse, Invalides. Aber zwischen diesen und den weiteren heute nicht mehr existierenden Bahnhöfen wie Luxembourg, Bastille/Vincennes und d’Orsay gab es keine Verbindungen.  Eine schnelle Verschiebung von Truppen und Material innerhalb der Stadt war deshalb nicht möglich. Da konnte die Petite Ceinture Abhilfe schaffen.

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Hier eine Karte der vier Sektionen der Petite Ceinture, die zwischen 1854 und 1869 in Betrieb genommen wurden und auf denen auch der Verlauf des Thiers’schen Festungsgürtels zu erkennen ist. [8]

Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wurde die Petite Ceinture zum Transport von Truppen, insgesamt etwa 800 000 Mann, und Material genutzt, vor allem aus dem Süden Frankreichs nach Osten.  Und es sollten auch drei Armeekorps mit 50 000 Mann, 12 000 Pferden und 1300 Kanonen aus dem Elsass via Paris an die  Front in die Champagne  verschoben werden. Bevor sie allerdings dort ankamen, hatte Napoleon III. schon nach der Niederlage von Sedan  kapituliert.[9]  Die Petie Ceinture sollte aber auch ganz direkt für den Kampf genutzt werden, und zwar für den Einsatz gepanzerter,  von Lokomotiven gezogener Batterien bei der Verteidigung von Paris.

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Diese Batterien sahen sehr eindrucksvoll aus und hatten auch entsprechende Namen: „Dévastation“, „Foudroyante“, „Gloire“ und „Belliqueux“. Allerdings spielten sie keine Rolle in den Kämpfen, fielen dann allerdings in die Hände der Commune, die sie zum Teil bei den Kämpfen gegen die Versaillais nutzte.[10]

Dass die Petite Ceinture auch lange nach der Umnutzung des Festungsgürtels militärisch genutzt wurde, zeigt diese Erinnerungsplakette:

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Sie befindet sich auf der Brücke rue de Ménilmontant (20. Arrondissement), die die Petite Ceinture überquert und ehrt 5 Mitglieder der Résistance, die anlässlich der Befreiung von Paris im August 1944 Züge der Besatzungstruppen angegriffen hatten –auch „bataille de Ménilmontant“ genannt- und dabei getötet wurden.  An einer dieser Aktionen nahm übrigens auch Peter Menden,  ein deutscher Antifaschist,  teil: Er stoppte in einer unblutig verlaufenen Aktion im Tunnel in der Nähe des Bahnhofs Ménilmontant einen deutschen Munitionszug, die Besatzung wurde gefangen genommen, die Munition erbeutet.[11]

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Der Bahnhof Ménilmontant existiert heute nicht mehr. Erhalten ist aber noch die Treppe, die von der rue de Ménilmontant zu den Bahnsteigen herabführte und kürzlich wieder geöffnet wurde, um ein kleines Teilstück der Petite Ceinture für die Öffentlichkeit  zugänglich zu machen.

Und  eine Fußgängerbrücke mit einem entsprechenden Hinweisschild erinnert noch an den früheren Bahnhof.

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1948 machte Willy Ronis dort ein Photo, das seinen 1954 erschienenen Bildband „Belleville Ménilmontant“ einleitete. Es zeigt einen Zug der Petite Ceinture-Linie, der gerade den Bahnhof passiert.[12]  .

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Dieser Zug diente nicht militärischen Zwecken, sondern dem Personentransport. Denn natürlich war die Petite Ceinture  nicht nur für einen militärischen Notfall bestimmt, sondern diente auch – und dem Umfang nach: vor allem- dem Transport von Personen und Waren innerhalb der Stadt, zumal es im 19. Jahrhundert noch keine Metro gab, die die Pariser Kopfbahnhöfe miteinander verband. Diese Verbindung schuf  –wenn auch etwas umständlich- die Petite Ceinture.  Sie wurde deshalb  mit einer Vielzahl von  Bahnhöfen für den Personenverkehr ausgestattet und zusätzlich auch mit Güterbahnhöfen, die mit  einer entsprechenden Infrastruktur versehen waren. Bahnhöfe für den Personenverkehr gab es übrigens überall auf der Petite Ceinture,  Güterbahnhöfe nur in der Nähe von Industrieanlagen, also nicht im schon damals noblen Westen der Stadt.

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Auf dieser Karte ist der Verlauf der Petite Ceinture schwarz eingezeichnet- die schwarzen Punkte markieren die Bahnhöfe für den Personenverkehr, die Quadrate die Güterbahnhöfe. Die Tunnelstrecken sind gepunktet.  Zur Erleichterung der Orientierung ist auch der boulevard périphérique eingezeichnet (orange), der in den 1950-er bis 1970-er Jahren überwiegend ebenfalls auf dem Gelände des Thiers’schen Festungsgürtels errichtet wurde.[13]

Die Bedeutung der Petite Ceinture lässt sich an der Entwicklung der Passagierzahlen ablesen: 1878 waren  es 5 Millionen Menschen, die die Ringbahn nutzten, 1900 wurde der „Rekord“ von fast 40 Millionen erreicht.[14]Dazu beigetragen hatte eine Modernisierung der Infrastruktur, die pünktlich zu der vom Bau des Eiffelturms gekrönten prestigeträchtigen Weltausstellung  von 1889 – dem 100. Jahrestag der Französischen Revolution- vollzogen wurde. Teile der Ringbahn wurden damals abgesenkt oder erhöht, um die niveaugleichen Bahnübergänge zu beseitigen und den Verkehr so zu beschleunigen. Im Jahr der Weltausstellung gab es eine Frequenz von 6 Zügen pro Stunde.  In einer Stunde und zwanzig Minuten konnte man damals die Stadt umrunden, seit 1903 mit der Einführung leistungsfähigerer Lokomotiven sogar in einer Stunde und fünf Minuten. [15]

Der Bau  der von der Petite Ceinture unabhängigen Pariser Metro – die erste Linie wurde 1900 eingeweiht- führte allerdings zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Ringbahn. Die Metro war nicht nur komfortabler –immerhin waren die Stationen vor Wind und Wetter geschützt und die Zugänge verfügten teilweise über Rolltreppen-  mit ihrem elektrischen Antrieb präsentierte sie  sich als modernes Verkehrsmittel  und mit den  Art-nouveau- Eingängen Hector Guimards entsprach sie dem Zeitgeschmack.[16] Und vor allem: Mit der Metro wurden für Passagiere (mehr oder weniger) direkte und auf jeden Fall schnellere Verbindungen zwischen den Pariser Kopfbahnhöfen geschaffen als mit der Petite Ceinture. Die Folge davon war, dass die Ringbahn immer weniger Fahrgäste transportierte, während andererseits ihre Rolle für den Transport von Waren immer mehr zunahm. 1914 wurde der Ringverkehr für Personen eingestellt und auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr aufgenommen. Danach gab es noch auf Teilstücken  Personenverkehr, allerdings mit wenigen Ausnahmen nur noch bis 1934.

Der Aufschwung des Warenverkehrs auf der Petite Ceinture war aber nicht von Dauer. Die dort zugelassene Geschwindigkeit und Tonnage der Güterzüge waren zu begrenzt, um der zunehmenden Konkurrenz durch Lastkraftwagen standhalten zu können – zumal nach dem Bau des Boulevard péripherique. 1993 wird auch auf dem größten Teil der Petite Ceinture der Güterverkehr eingestellt.[17]  Die Bahntrasse bleibt bis auf ein vom RER genutztes Teilstück sich selbst bzw. der Natur überlassen. Und sie dient als Rückzugsort für Wohnsitzlose, als  abenteuerlicher Treffpunkt von Jugendlichen oder als Fotoobjekt für Fotographen auf der Suche nach dem Besonderen…  Bis dann gut 20 Jahre später die Rückeroberung  („reconquête“) der stillgelegten Bahantrasse begann. Darüber  mehr in dem nachfolgenden  Beitrag.

 

Anmerkungen

[1] https://entreprendrelemonde.com/voyages-a-velo/promenade-petite-ceinture/

[2] https://www.lesinrocks.com/2017/05/05/musique/la-fleche-dor-ferme-ses-portes-dans-lindifference-generale-11941888/

[3] http://www.leparisien.fr/paris-75020/paris-la-fleche-d-or-va-renaitre-en-pub-irlandais-musical-04-05-2017-6917781.php

http://www.lylo.fr/lieu/concerts-la-fleche-d-or-paris-20

[4] Zu den aktuellen Planungen für eine Nutzung der Anlagen der Petite Ceinture gehört auch die Erhaltung und  kommerzielle Nutzung dieses Bahnhofs. Siehe: https://www.petiteceinture.org/Ouverture-au-public-de-troncons-de-la-Petite-Ceinture-d-ici-2020-le-saut-vers-l.html#3_planning_des_travaux_et_des_ouvertures

[5] siehe dazu den entsprechenden Blog-Beitrag über die Cite Internationale  https://paris-blog.org/2017/01/02/die-cite-internationale-universitaire-in-paris-ein-ort-des-friedens-und-der-voelkerverstaendigung/

[6] https://www.petiteceinture.org/Histoire-de-la-Petite-Ceinture-ferroviaire-de-Paris-des-origines-a-1934.html

und https://www.paris.fr/petiteceinture

[7] Karte aus: https://www.petiteceinture.org/Histoire-de-la-Petite-Ceinture-ferroviaire-de-Paris-des-origines-a-1934.html

[8] Karte aus: https://www.petiteceinture.org/Histoire-de-la-Petite-Ceinture-ferroviaire-de-Paris-des-origines-a-1934.html  Im Nordosten weicht der Verlauf der Petite Ceinture vom Verlauf des Festungsgürtels ab. Eine plausible Erklärung dafür gibt es offenbar nicht.

[9] Siehe: Ricroch, La Petite Ceinture, S.23

[10] Carrière, La Saga de la Petite Ceinture, Bd 1, S. 51

[11] A.a.O., S. 21/22  Zur plaque commémorative siehe: http://www.museedelaresistanceenligne.org/media.php?media=5019

[12] Bildausschnitt. Aus einer Ronis-Ausstellung im Pavillon Carrée de Baudoin in Ménilmontant (April 2018 bis Januar 2019)

[13] http://keblo1515.free.fr/souterrinterdit/pc.htm

[14] https://www.petiteceinture.org/Les-principales-dates-de-l.html

[15]  J. Kœchlin, Les locomotives 51-65 du Chemin de fer de la Petite Ceinture, Revue Générale des Chemins de fer, mai 1904, pp 334-350. Zit in: https://www.petiteceinture.org/Histoire-de-la-Petite-Ceinture-ferroviaire-de-Paris-des-origines-a-1934.html  s.a.http://paris1900.lartnouveau.com/paris00/gares_de_la_petite_ceinture%20.htm

[16] Siehe den Blog-Beitrag über Hector Guimard: Jugendstil in Paris.  https://paris-blog.org/2018/02/01/__trashed-3/

[17] https://www.paris.fr/petiteceinture

 

Literatur:

Bruno Carrière: La Saga de la Petite Ceinture 1836-1991, tome 1, Paris  2017

Bruno Carrière, La Saga de la Petite Ceinture 1991-2017, tome 2, Paris 2018

Nicolas Chaudun, Le promeneur de la Petite Ceinture. Récit de Voyage. Actes Sud Nature 2003

Johannes Freybler, Das zweite Leben der Gütellinie. In: FAZ Reiseblatt. 5. Dezember 2019

René Ricroch, La Petite Ceinture. Hrsg. von der Association d’histoire et d’archéologie du XXe arrondissemet de Paris. 2000

Jean-Pierre Rigouard, La Petite Ceinture. 2002

Evelyne Rigouard/ Jean-Pierre Rigouard, La Petite Ceinture, Tome II . 2009 (Postkarten und Photographien)

 

Weitere geplante Beiträge:

  • Die Petite Ceinture (2): Die „Rückeroberung“ der ehemaligen Ringbahntrasse
  • La place des Victoires in Paris: Das Modell eines königlichen Platzes
  • Die Mauer der Generalpächter, Ledoux und  Lavoisier 
  • Die Mauer der Generalpächter (2): Die vier erhaltenen Torhäuser von Ledoux
  • Pariser Erinnerunsorte an den Holocaust (Fortsetzung) 

 

 

 

 

Die Nuit Blanche, das Lichter- und Kunstfest von Paris

Seit der Weltausstellung von 1900 nennt sich Paris ganz offiziell „ville lumière“, Stadt des Lichts. Immerhin war dort ja auch schon zur Zeit Ludwigs XIV. die öffentliche Straßenbeleuchtung eingeführt worden, ab 1816 hatte der Siegeszug der Gasbeleuchtung in der Passage des Panoramas und den Galerien des Palais Royal begonnen und 1881 fand in Paris die erste internationale Elektrizitätsausstellung statt.

Zum Selbstverständnis von Paris  als „ville lumière“ passt ganz besonders natürlich die seit 2002 jährlich stattfindende „Nuit Blanche“, ein Lichter- und Kunstfest. Sie beginnt jeweils am Abend des ersten Oktobersamstags und  endet am Sonntag früh.[1]

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Seit 2010 haben wir mehrfach während der nuit blanche Paris durchstreift. Das Angebot dabei so überwältigend, dass man nur eine kleine Auswahl aus dem angebotenen Programm bewältigen kann. Einige deshalb auch völlig unsystematische Eindrücke sollen im Folgenden wiedergegeben werden und Lust, auf Entdeckungstour durch die nuits blanches von Paris zu gehen.

Ein „Markenzeichen“ der nuit blanche ist natürlich die Illumination öffentlicher Gebäude. Und hier denken wir natürlich zuerst –und 2019 natürlich mit einiger Wehmut- daran, wie wunderbar sich die Kirche Notre Dame in der nuit blanche 2010 präsentierte.

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Bunter und lauter ging und geht es immer am Hôtel de Ville zu. Auf dessen Vorplatz werden aus Anlass der nuit blanche auch besondere Veranstaltungen organisiert. 2019 zum Beispiel gab es ein großes Arreal zum Tanzen. Allerdings zu einer nach meinem Geschmack sehr eintönigen elektronischen Musik. Also eher etwas für junge Leute. Die Schlange vor dem Eingang war auch entsprechend groß. Und wenn man drinnen war, lagen weiße Gewänder mit Kapuzen bereit, die die Tanzenden übergezogen haben – ein passendes Event zu einer „weißen Nacht“. Auf die Fassade des Rathauses wurden dazu historische Filmsequenzen von Tänzern projiziert…

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Aber natürlich gab und gibt es auch ruhigere, beschaulichere Projektionen: Zum Beispiel 2016  die der gotischen Salle des gens d’armes aus der Conciergerie auf die Fassade des Baus.[2]

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Auf der Außenwand standen die Säulen allerdings auf dem Kopf, aber im auf der Seine gespiegelten Bild standen die Säulen wieder fest auf ihren Sockeln.

Originell war auch 2017 die „animation lumineuse“ des von Jean Nouvel geplanten Institut du Monde Arabe.[3] Auf der südlichen Fassade, bei der das Sonnenlicht durch eine Serie von Irisblenden reguliert wird, erschienen in abwechslungsreicher Folge  Bilder mit unterschiedlichen Formen und Farben.

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Dann gibt es aber auch besondere Installationen, wie zum Beispiel diese „Schlangen“ am Brunnen Saint Michel.

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Oder 2010 eine Installation auf dem Pont Saint Louis zwischen der Île de la Cité und der °Ile Saint-Louis: Gerüste aus Stahlrohren, durch die man auch hindurchgehen konnte und die unterschiedliche beleuchtet wurden.

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Auch für das Jahr 2913 hatten sich der verantwortliche Planer der Nuit Blanche –für jedes Jahr designiert die Stadt Paris eine spezielle Leitung- etwas Besonderes ausgedacht:

Auf der gerade umgestalteten und für Fußgänger zugänglicheren Place de la République hatte die japanische Künstlerin Fujiko Nakaya ein Feld aufgebaut, in dem leichter feuchter Nebel versprüht wurde.

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Die Statue der Republik auf dem Sockel war in diesem Sprühnebel ganz verschwunden, aber auch die Personen unten auf dem Platz waren nur noch als Schemen sichtbar – Das waren dann die „fog scuptures“, das Markenzeichen der Künstlerin.

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Etwas bizarr war  eine vorab vielgerühmte und angepriesene Installation im Carreau du Temple. In diesem Bau, der gerade renoviert wurde, hatte Huang Young Ping ein riesiges Plexiglasrohr montiert, ähnlich einer Achterbahn, in der Reptilien und Insekten eingeschlossen waren, die sich langsam bewegten. Sicherlich gab es dazu einen philosophischen Überbau, der sich mir allerdings nicht erschlossen hat.[4]

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Dass allerdings die Schlange der Wartenden vor dem Carreau so lange war, lag sicherlich auch daran, dass an diesem Tag die Pariser Bevölkerung zum ersten Mal wieder die Gelegenheit hatte, diesen schönen Bau aus der Zeit um 1900 zu betreten, der in den 1970-er Jahren schon einem Parkplatz zum Opfer fallen sollte…

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Dieses Beispiel zeigt aber auch eine besondere Seite der nuit blanche: Dass an diesem Tag  bzw. in dieser Nacht nämlich Orte geöffnet sind, die sonst kaum zugänglich sind.

Ein schönes Beispiel dafür war 2014 die Freyssinet-Halle im 13. Arrondissement von Paris. Es handelt sich dabei um ein in den 1920-er Jahren errichtetes Betriebsgebäude der SNCF, das aber seit 2006 nicht mehr genutzt wurde.

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2017 wurde dort ein Inkubator für etwa 1000  Internet- Start-ups eingeweiht, nach Selbstdarstellung der Station F, wie sie jetzt heißt, der größte weltweit[5] – in Frankreich liebt man, wenn es sich um das eigene Land handelt, ähnlich wie in den USA die Superlative…. Architekt des Umbaus war übrigens Jean-Michel Wilmotte, ein Spezialist für die Rehabilitierung und behutsame Modernisierung historischer Bauten. Zwei von ihnen, nämlich das Haus der Mutualité und das Hotel Lutetia, wurden schon auf diesem Blog vorgestellt.[6]

Eingeladen zur Präsentation der Halle während der nuit blanche von 2014 waren auch Vertreter der Street-Art, die die äußeren Wände der Halle gestaltet hatten: Eine gute Idee, die Wartezeit vor dem Einlass kurzweiliger zu machen.

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Höhepunkt der nuit blanche 2017 war für uns die Lichtinstallation im Collège des Bernardins im 5. Arrondissement von Paris. Das Collège war im 13. Jahrhundert von Zisterziensern zur Unterbringung von Studenten gegründet worden. Seit der Französischen Revolution wurden wesentliche Teile des Collegs abgerissen, andere als Mehldepot, Gefängnis für Galeerensträflinge oder Feuerwehrkaserne genutzt. Erhalten ist aber immerhin noch das ehemalige Refektorium, ein wunderbarer gotischer Raum, auch er von Jean- Michel Wilmotte rehabilitiert.[7]

Auch hier waren die Warteschlangen vor dem Einlass sehr lange.

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Aber das Warten lohnte sich. Denn in dem alten Refektorium mit seinem wunderbaren gotischen Gewölbe wurde eine grandiose son-et-lumière Präsentation geboten.

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Weniger laut war es danach in der nahe gelegenen Kirche Saint Severin (5. Arrondissement) mit der gedrehten Säule in dem wunderbaren Chormumgang. Aus Anlass der nuit blanche war die Kirche geöffnet und sehr stimmungsvoll beleuchtet  – ein ruhiger und schöner Ausklang der nuit blanche 2017.

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Für die Nuit blanche 2019 hatten sich die Veranstalter wieder ganz neue Attraktionen ausgedacht, zum Beispiel einen Zug von dekorierten Wagen von der Place de la Concorde zur Bastille. Also „une Nuit blache aux airs de carnaval“.[8]

Bei diesem Karnevalszug gab es Element des chinesischen Neujahrsfests[9]:

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Aber es gab auch Anklänge an den Karneval von Rio:

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Und in gewisser Weise auch an die Faschingsumzüge des rheinischen Karnevals. Nur dass da keine Bonbons/Kamellen in die Menge geworfen wurden, sondern es wurden Schlangen von Zuckerwatte in den Himmel und ins Publikum gepustet – weiß natürlich, wie es sich für eine nuit blanche gehört….

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Zum Abschluss des Umzugs gab es dann noch ein grandioses Feuerwerk rund um die Bastille.

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Eine weitere besondere Attraktion der Nuit blanche 2019 war die Sperrung eines Teils des Périphérique, der die Stadt umgebenden Autobahn. Die Zukunft dieser Autobahn, oft geprägt von Staus, spielt in den  Visionen, die für Paris und sein Umland (le grand Paris) entwickelt werden, eine große Rolle und dass der Peripherique in seiner derzeitigen Form keine Zukunft hat, ist unumstritten.[10] Insofern war es eine naheliegende Idee der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, aus Anlass der Nuit blanche einen Abschnitt des Peripheriques für den Autoverkehr zu sperren und für Fußgänger, Fahrrad- und Rollerfahrer zu öffnen. Dabei konnte sie darauf verweisen, dass der Peripherique ja auch schon einmal in Teilen für die Entschärfung einer Weltkriegsbombe gesperrt werden musste. Warum dann nicht auch für die Nuit blanche… [11]

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Blick von oben auf das gesperrte und beleuchtete Teilstück des Peripherique

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Wir waren da nicht, sondern machten zunächst einem Abstecher zum  Palais Royal, wo in durchsichtigen aufgeblasenen und von innen beleuchteten PVC-Kugeln junge Damen mit roten Perücken und Röcken durch den Garten rollten. Dem Programm zufolge handelte es sich dabei um eine sogenannte „art cinétique“.

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Also zum Abschluss unserer Nuit blanche dann doch lieber zur „art classique“ in die Orangerie an der Place de la Concorde, wo seit 2015 im wunderbaren Seerosen-Saal Monets in der Nuit Blanche eine „Nuit du Quatuor“ stattfindet.

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Während der ganzen Nacht präsentieren dort zu jeder Stunde verschiedene europäische Ensembles Kammermusik, wobei auch immer eine Erstaufführung dabei ist. Als wir um halb ein Uhr dort waren, hätten wir allerdings bis zum 4-Uhr Konzert warten müssen, so groß war der Andrang…  Und dann fing es auch noch an zu regnen…

Vielleicht haben wir ja im nächsten Jahr mehr Glück. Und  es locken dann sicherlich auch  wieder neue, attraktive Angebote….

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Allerdings hatten wir erst wieder im Jahr 2022 an einer weiteren nuit blanche teilzunehmen. Allerdings waren die Schlangen vor den angekündigten „Attraktionen“ absolut abschreckend. Und die vielgerühmte Lichtinstallation auf dem Platz vor dem Hôtel de ville ebenso: Ein riesiger schwarzer Kubus, der in unregelmäßigen Abständen und meist nur blitzartig mit einem so grellen Weiß beleuchtet wurde, dass die Augen schmerzten: für die Disko-erprobte Jugend aber offensichtlich gewohnt und anziehend. Wir zogen da die weiße Fahne in der Kirche Saint-Paul vor:

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Da gab es zwar auch eine lange Warteschlange,  aber die war immerhin nicht allzu abschreckend und bewegte sich recht zügig voran. Und war man in der Kirche angelangt, fand man problemlos einen ruhigen Platz von dem aus man die Installation betrachten konnte.

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Die große weiße Fahne hing in der Vierung der mächtigen Kirche und bewegte sich leicht in einem offensichtlich künstlich erzeugten Windzug.

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Das weiße Fahne war beleuchtet, so dass man die Struktur des Tuches erkennen und das Spiel von Licht und Schatten beobachten konnte. Und wie beziehungssreich ist eine weiße Fahne: Steht sie doch für das Ende von Kriegen und Kämpfen. Und wie schrecklich ist doch in der Zeit der nuit blanche 2022 der Krieg in der Ukraine und mit der die Gefahr seiner Ausweitung durch den von Putin angedrohten Einsatz von Atomwaffen.

Und dann hat die Fahne ja gerade in dieser Kirche noch eine ganz besondere Bedeutung: Denn hierhin hatten sich 1871 letzte Kämpfer der Pariser Commune geflüchtet. [12]   Sie waren in einer ausweglosen Situation, hatten den Kampf aufgegeben, also gewissermaßen die weiße Fahne gehisst- was die Versailler Regierungstruppen allerdings in ihrem Rachebedürfnis, ja Blutrausch nicht achteten….

Anmerkungen

[1] https://de.parisinfo.com/kultur-paris/135251/nuit-blanche-in-paris

[2] Bild aus Wikipedia.

[3] https://www.imarabe.org/fr/evenement-exceptionnel/nuit-blanche-2017-a-l-ima

[4] https://www.dailymotion.com/video/x1553d6

[5] https://www.lesechos.fr/2017/06/avec-station-f-xavier-niel-simpose-comme-figure-incontournable-du-monde-des-start-up-174839

[6] Siehe die Blog-Beiträge über die Maison de la Mutualité und über das Hotel Lutetia.

[7] http://www.wilmotte.com/fr/projet/1/College-des-Bernardins

[8] Le Monde  6./. 10. 2019, S. 23

[9] Zum chinesischen Neujahrsfest siehe den Blog-Beitrag  https://paris-blog.org/2016/08/01/chinatown-in-paris-3-13-und-20-arrondissement/

[10] https://www.lefigaro.fr/actualite-france/paris-se-dirige-vers-la-fin-du-peripherique-20190611

[11]  La Nuit blanche s’invite sur le périphérique. Le Monde, 22. Januar 2019, S. 18

[12] Siehe dazu den Blog-Beitrag   https://paris-blog.org/2016/08/13/der-buergerkrieg-in-frankreich-1871-ein-rundgang-auf-dem-friedhof-pere-lachaise-in-paris-auf-den-spuren-der-commune/

Stop féminicides/Schluss mit den Frauenmorden: Aktuelle Aktionen in Frankreich (November 2019)

Fährt oder bummelt man in diesen Herbsttagen des Jahres 2019 durch die Straßen von Paris, dann sind die auf Hauswände geklebten weißen Plakate nicht zu übersehen, auf denen  mit großen schwarzen Buchstaben die Morde an Frauen angeprangert werden. So bei uns in der Nähe in der rue Saint Sébastien.

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Das Wort féminicide  bezeichnet nach dem Wörterbuch „Le Petit Robert“ den Mord an einer Frau oder einem Mädchen aufgrund ihres Geschlechts.  Aufgenommen wurde es in dieses Wörterbuch im Jahr 2015, während die Akademie française sich noch ziert – was allerdings bei dieser sehr männerlastigen und konservativen Institution  nicht anders zu erwarten ist. [1]  Allerdings tun sich auch deutsch-französische Wörterbücher schwer mit dem Wort: Leo musste passen:

Leider konnten wir zu Ihrem Suchbegriff féminicides keine Übersetzung finden“,

und  linguee teilte kurz und bündig mit: „Keine Ergebnisse für féminicides.  Bei Pons wurde ich dann aber fündig: féminicide = Frauenmord.“.[2] 

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103. Mord an Frauen. Eine Unbekannte, 76 Jahre, mit der Axt erschlagen.                            Rue Picpus, 12. Arrondissement

In Frankreich ist das Wort in den Medien allpräsent und es wird in der aktuellen Plakatierungsaktion ganz selbstverständlich immer wieder verwendet. Dabei werden teilweise auch die Namen der Opfer genannt, wie sie umgebracht wurden und um den wievielten Frauenmord des Jahres es sich handelt.

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Monique, mit Schlägen des Gewehrs getötet von ihrem Mann, 104. Mord an Frauen  Boulevard Ménilmontant, 11. Arrondissement

Und  bei uns in der Ecke in der Rue de la folie Regnault (ebenfalls 11. Arrondissement):

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25.10.2019  Shaïna, 15 Jahre, wurde von ihrem Typ erschlagen und verbrannt. Der 125. Mord an Frauen

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2.11.2019 Eine Frau von 88 Jahren, von ihrem Mann durch eine Kugel in den Kopf getötet, Der 128. Frauenmord. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement

Auch das Ausmaß der Frauenmorde wird plakatiert wie in der Passage de Ménilmontant  im  11. Arrondissement:

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Der Männlichkeitswahn tötet alle 48 Stunden

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In Frankreich ein Frauenmord alle zwei Tage (Foto von Sonia Branca, aufgenommen Nähe Bastille)

Dieses Plakat gibt es auch auf englisch – hier allerdings in etwas ramponierter Form:

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Rue Bouvier, 11. Arrondissement

Die traurige Bilanz des Jahres 2019:

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                                 2019: 149 Morde an Frauen. Den Zeiger nicht auf 0 stellen                                       Gymnase Japy, 11. Arrondissement. Aufgenommen im Januar 2020

und noch einmal Berges de la Seine, rive gauche

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Die hier angegebenen Zahlen stammen von dem Kollektiv „Feminicides“, das seit 2016 eine Zählung von Frauen vornimmt, die von ihrem (ehemaligen) Partner umgebracht worden sind. Allerdings sind diese Zahlen nicht unumstritten: Le Monde (17. Januar 2020)  spricht sogar von einer „bataille des chiffres“.  Das hängt damit zusammen, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, eine entsprechende Zuordnung vorzunehmen: Beispielsweise, wenn der entsprechende Mann die Tat leugnet und es (noch)  keine Verurteilung gibt, so dass -juristisch exakt-  die Unschuldsvermutung gilt. Oder was ist -um ein von Le Monde angeführtes Beispiel zu nennen- mit einem alten Mann, der  zunächst seine kranke Frau umbringt. um ihr Leiden zu beenden, und dann sich? Ist das auch ein féminicide im Sinne einer „violonce conjugale“? 

Aber unabhängig von solchen Zuordnungsproblemen: Einigkeit besteht darin, dass die Zusammenstellung und Addition von féminicides hilfreich ist, das Bewusstsein für die Problematik häuslicher Gewalt zu schaffen und damit möglichst dazu beizutragen, dass die Zahlen in Zukunft abnehmen…

Und Einigkeit besteht natürlich auch darin, dass jeder Frauenmord einer zu viel ist:  pas une de plus“!  Ein Plakat  mit der entsprechenden italienischen Parole gibt es auch. Zum Beispiel in  der Rue du chemin vert (11. Arrondissement).

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Oft beziehen sich die Collagen auch auf die Motive von Frauenmorden.  Häufig können es Männer nicht ertragen, wenn ihre Frau sich von ihnen trennt.

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Sie verlässt ihn, er tötet sie      Rue Étienne Dolet, 20. Arrondissement

Le Monde berichtet in ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 vom Leidensweg einer Frau, deren Mann, mit dem sie 20 Jahre lang verheiratet war, die Trennung nicht ertragen konnte. Ihr Partner drohte ihr mehrfach an, ihr das Gesicht zu verätzen, damit sie nicht mehr für andere Männer attraktiv sei. Er werde das tun, auch wenn er dann 15 Jahre ins Gefängnis müsse. Die Bedrohungen nahmen an Brutalität zu, der Mann kommt einmal für kurze Zeit in Haft und ihm wird der Kontakt mit seiner früheren Frau untersagt. Aber die Bedrohungen gehen weiter,  auch die Kinder, die bei der Mutter leben, werden bedroht. Er werde den 4-jährigen Jungen vom Balkon werfen. Mehrfache Anzeigen, mehrfache dringende  Eingaben des Rechtsanwalts bei der Justiz bleiben ergebnislos, bis dann der Mann seine Drohung wahr macht und das Gesicht der Frau mit Salzsäure entstellt….

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Papa hat Mama getötet       Rue des Partants, 20. Arrondissement

Seit September 2019 gibt es diese Anschläge in Paris. Bei den hier abgebildeten  handelt es  sich um eine völlig zufällige Zusammenstellung, meist in unserer näheren Umgebung fotografiert. Dabei wird aber deutlich, dass es sich um eine ganz spektakuläre Aktion handelt – denn sie ist ja nicht auf unser Viertel beschränkt, sondern in ganz Paris verbreitet. Gewidmet  sind  sie „den ermordeten Frauen“.

Rue de la Roquette, 11. Arrondissement

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Unseren ermordeten Schwestern        Rue de la Bidassoa im 20. Arrondissement

 Hier hat die Gruppe nous toutes neben dem Straßenschild und über der Collage ein Plakat mit einem alternativen Straßenschild angeklebt, das einer der ermordeten Frauen gewidmet ist:

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Rue Chloé, 33 Jahre, am 27. April 2019 von ihrem Ex getötet

Auf der Basis der Juli-Säule in der Mitte der place de la Bastille befindet sich folgende Aufschrift:

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Aux femmes assassinées, la patrie indifférente  (den ermordeten Frauen, das gleichgültige Vatgerland) eine Anspielung auf die Widmung des Pantheons: aux grands hommes- la patrie reconnaissante  (den großen Männern, das dankbare Vaterland).[3]

Diese Collage passt  gut zu der Juli-Säule- denn es geht ja um ermordete Frauen- und die Juli-Säule ist den Opfern der „trois glorieuses“ der Juli-Revolution von 1930 gewidmet, die hier sogar bestattet sind.

Initiatorin der Plakataktion ist Marguerite Stern, eine junge Künstlerin, die dafür engagierte Frauen gewann.[4]

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Begonnen hatte sie damit in Marseille, wo sie wohnt, dann aber auch in Paris Mitstreiterinnen gefunden.

Réunion de préparation de la soirée : les militantes font le point sur les lieux de collage et les messages qui y seront affichés. ©camillegharbi

Vorbereitungstreffen von Pariser Aktivistinnen im September 2019

Dort startete die Aktion am 30. August und eine Woche später waren schon 250 Collagen geklebt.[5]  Heute sind es sicherlich tausende…

Die Aktivistinnen, die diese Plakate bzw. Collagen an die Wände klebten, hatten allerdings ein Problem, das Vertretern der Street-Art nur allzu bekannt ist: Das „wilde“ Plakatieren stört nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern ist auch ein Eingriff in das Privateigentum. Es handelt sich  also um  eine Ordnungswidrigkeit, die entsprechend geahndet werden kann – und wie beim Invader oder Monsieur Chat auch geahndet wurde.

Dazu veröffentlichte die Zeitung Le Parisien  am 7. September 2019 einen Artikel:

Paris : 400 euros pour avoir collé des affiches contre les féminicides

6 militante Feministinnen seien in flagranti beim Plakatieren von städtischen Angestellten beobachtet worden. Man habe ihre Personalien erhoben und ein Bußgeld von insgesamt 400 Euro verhängt.[6]

Die Frauen hatten ein  Plakat angeklebt mit der Aufschrift Morde an Frauen: Das große Thema der Legislaturperiode.

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Die Pariser Stadtverwaltung rechtfertigte das Vorgehen ihrer Beschäftigten: Man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie eine Entscheidung träfen zwischen verschiedenen Arten wilder Plakatierung. Allerdings hatte die Pariser Bürgermeisterin am 28. August noch höchstpersönlich eine Veranstaltung auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus organisiert, in der sie die Morde an Frauen verurteilt und die Regierung zum höchst überfälligen Handeln aufgefordert hatte.[7]

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Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, am Rednerpult vor dem Rathaus

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Dazu waren die Namen der Opfer an der Fassade des Rathauses befestigt worden.

94 Frauen sind seit Beginn des Jahres 2019 unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners gestorben

Die Verhängung von Bußgeldern für das Ankleben von Collagen passte dazu natürlich überhaupt nicht.  Aber inzwischen scheint sich die Stadtverwaltung  dieses eher peinlichen Widerspruchs bewusst geworden zu sein.  Dazu haben sicherlich auch Anstöße aus den eigenen Reihen beigetragen, wie etwa ein Beschluss des Stadtrats des 20. Arrondissements: Die Plakatierungs-Aktion liege, so heißt es da, im allgemeinen Interesse und solle deshalb von der Pariser Stadtverwaltung nicht nur geduldet werden.[8]  Das scheint inzwischen auch so gehandhabt zu werden. Jedenfalls habe ich von weiteren städtischen oder polizeilichen Interventionen in dieser Sache nichts mehr gehört oder gelesen

Weitere Aktionen

Neben diesen Collagen gab und gibt es in diesem Jahr aber noch weitere Aktionen  gegen Frauenmorde. Besonders spektakulär die der militanten Frauengruppe Femen, bekannt durch ihre barbusigen Auftritte hier eine im Innenhof des Palais Royal in Paris im Mai 2019…[9]

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….  und eine weitere am 5. Oktober 2019  auf dem Friedhof von Monparnasse[10]:

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Ich habe ihn verlassen, er hat mich getötet;   ich wollte nicht sterben;   nicht noch eine mehr

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Wir alle sind Kämpferinnen. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement

Am 19. Oktober 2019 veranstalteten Frauengruppen fünf sogenannte die-ins auf Pariser Plätzen:

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Frauen legten sich auf den Boden, um den Tod von Frauen zu veranschaulichen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. (Courrier Picard, 19.10.2019)

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Wir sind alle Heldinnen (Foto Sonia Branca)

Auch der Invader, bekannt durch seine an Hauswänden befestigten Mosaike[11], engagierte sich: Er verbreitete einen Aufruf:

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„Ob Prinzession, Kriegerin oder Tänzerin, alle zwei Tage stirbt in Frankreich eine Frau unter den Schlägen ihres Partners oder ex-Partners. Heute, am 3. September 2019 -3/9/2019- verbreiten wir die Telefonnummer, die Menschenleben retten kann. Ob Opfer oder Zeuge, die 3919 hört Sie und hilft Ihnen, auf häusliche Gewalt zu reagieren“.[12]

Illustriert war der Aufruf mit einer Zusammenstellung von 9 Frauenmosaiken des Invaders, darunter  diesem in der rue du roi doré im Marais.

Frauenmorde in Frankreich:  Ein Versagen der Behörden und der Justiz?

Das Thema der Frauenmorde/féminicides ist in den französischen Medien sehr präsent. Ein wesentlicher Grund dafür ist die hohe Zahl der entsprechenden Gewalttaten. 2017 haben 219 000 französische Frauen angegeben, Opfer physischer und/oder sexueller Gewalt gewesen zu sein. Mehr als 12 000 Fälle von Todesdrohungen seien von der Polizei registriert worden. 2018 seien, wie die Zeitung Le Temps berichtete, 121 Frauen in Frankreich unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners umgekommen. Der Figaro  gibt für 2018 die Zahl von 107 an.[13] Wie auch immer: Ganz deutlich ist, dass die Zahl der ermordeten Frauen in diesem Jahr deutlich ansteigt: Die Ende Oktober 2019 umgebrachte 15-jährige Shaïna war ja, wie auf einem einer anfänglich gezeigten Collage zu lesen war, schon der 124. Frauenmord dieses Jahres.

Gemäß der europäischen Statistikbehörde Eurostat liegt Frankreich, was die absolute Zahl der Frauenmorde angeht, damit auf einem Spitzenplatz, weit vor Rumänien, Großbritannien und Italien. Den traurigen europäischen Rekord halte aber, wie tv 5 berichtete, Deutschland! Bezogen auf die Bevölkerungszahl sieht das Bild allerdings etwas anders aus: Da liegt Rumänien weit an der Spitze und Deutschland im „Mittelfeld“, allerdings noch vor Frankreich.[14]

Bei der Frage nach den Ursachen des hohen Ausmaßes häuslicher Gewalt wird in Frankreich immer wieder das Verhalten der zuständigen öffentlichen Instanzen infrage gestellt. Im Figaro wird beispielsweise eine in diesem Bereich tätige Soziologin zitiert, die von einer von ihr betreuten Frau berichtet: „Sie hat fünfmal Anzeige erhoben, aber die Todesdrohungen sind alltäglich. Ihr ehemaliger Partner ist gefährlich. Ich ermutige sie, eine sechstes Mal Anzeige zu erheben, aber sie hat nicht das Gefühl dadurch besser geschützt zu werden.“[15]

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Häusliche Gewalt. Trägheit der Polizei. Widerstand der Justiz. Daran sind sie gestorben.  Rue Bouvier, 11. Arrondissement

Dazu eine aktuelle Meldung aus Le Monde vom 14.11. 2019. Unter der Überschrift FEMINICIDE wird von einer Frau im Département Bas-Rhin berichtet, die von ihrem Partner erstochen wurde. Die Tochter des Opfers, die Augenzeugin des Verbrechens gewesen sei, habe den Vorwurf erhoben, die Polizei habe viel zu lange gebraucht, um am Tatort einzutreffen. „Niemand“, so wird die Frau zitiert, „hat uns helfen wollen.“ Ihre Mutter habe schon die zuständigen Stellen informiert (main courante) und Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet – offensichtlich vergeblich…. Jetzt sei die für die Polizei zuständige Aufsichtsbehörde mit dem Fall befasst.

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Und dazu ein aktuelles Plakat in der Rue Chaligny im 11. Arrondissement: Jean-Pierre schlug Valérie mit der Faust. Sie wurde mit dem Tode bedroht, beschimpft, an den Haaren gezogen. Beschwerden wurden von der Polizei zurückgewiesen, die Justiz hat nie Strafen verhängt. Aber ich werde es auch 15 Jahre danach nie vergessen. Papa leugnet seine Gewalttaten. Aber ich schreie sie heraus auf den Mauern, weil Mutter sterben musste. 

Insofern soll die nachfolgende Inschrift – er schlägt dich, man glaubt dir- (gefunden in der rue de Charonne im 11. Arrondissement) sicherlich bittere Ironie ausdrücken:

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Heftig diskutiert wird in Frankreich die Frage, inwieweit die Justiz und das Strafrecht dem Problem gewachsen sind. Da stehen sich zwei Positionen gegenüber: Einmal die Auffassung, dass das juristische Arsenal ausreichend sei, es allerdings Probleme bei seiner konsequenten Anwendung gäbe[16]. Anderseits gibt es auch die Forderung,  den féminicide als eigenständigen Tatbestand in das Strafrecht aufzunehmen, um der Besonderheit der Gewalt gegen Frauen besser gerecht werden zu können, so wie das schon in mehrern Staaten  Mittel- und Südamerikas (beginnend mit Costa Rica 2007) der Fall sei. [17]

Es  ist allerdings in Frankreich wohl allgemein anerkannt, dass  die Polizei  sich oft schwer tut,  Frauen zu schützen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind (18);  und  ebemso,  dass die Justiz oft –zu oft- unfähig ist, potentielle Mörder daran zu hindern, zur Tat zu schreiten.  In ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 veröffentlichte Le Monde eine zweiseitige Recherche zum Thema:

Féminicides: une justice trop souvent en échec face aux aggresseurs

Frauenmorde: eine Justiz, die allzu oft angesichts von Tätern versagt

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Frauenorde: Die Justiz als Komplize  Rue de la Roquette, 11. Arrondissement

 Sicherlich ist es sehr zugespitzt und polemisch, die Justiz als Komplizen der Frauenmorde zu qualifizieren. Aber die von einem 12-köpfigen (!) Journalist/inn/enteam in Le Monde veröffentlichten  Fälle sind schon erschreckend: Da hat man den Eindruck, dass manchmal alle Anzeigen, alle auch rechtsanwaltlichen Interventionen, nichts nützen, und die Justiz erst dann nachhaltig tätig wird, wenn das lange angekündigte Verbrechen schließlich geschehen ist.

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Ehren wir die Toten und schützen die Lebenden. Ausgang Métro-Station Jaurès (Foto Sonia Branca)

Die Justizministerin Nicole Belloubet hat am 15. November anlässlich eines Kolloquiums über die Herausforderungen der Justiz anlässlich häuslicher Gewalt selbst eingeräumt, dass die Justiz bei manchen der 1500 Gewalttaten an Frauen in den  letzten zehn Jahren versagt habe. Anlass war ein Bericht der „inspection générale de la justice“, die 88 Fälle von Opfern häuslicher Gewalt in den Jahren 2015 und 2016 genau untersuchte. Dabei wurde festgestellt, dass in 65% der Fällen die Opfer sich vorher an die Polizei gewandt  hatten. Aber nur in 18% dieser Anzeigen seien an die Justiz weitergereicht worden.  Fälle, die dann aber 80% niedergeschlagen habe.  Der Generalstaatsanwalt beim obersten französischen Berufungsgericht, François Molins, stellte denn auch selbstkritisch fest, es gebe Anlass über „tout dysfonctinnement“ nachzudenken und sich zu fragen, inwieweit bestimmte gängige  juristische Praktiken (wie z.B. Mediation) im Bereich häuslicher Gewalt angemessen seien.[19]

Die Rolle des Staates

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Morde an Frauen: Reformen bevor man tot ist    Impasse de Mont Louis, 11. Arrondisssement[20]

Angesichts der großen Resonanz, die die häusliche Gewalt in der französischen Öffentlichkeit hat, nahm der Staat dieses Thema auf.  Anfang September 2019 initiierte die Regierung ein Grenelle des violences conjugales“  (Grenelle der häuslichen Gewalt). Der Begriff Grenelle bezieht sich auf die Rue Grenelle in Paris, Sitz des französischen Arbeitsministeriums. Dort trafen sich 1968 Vertreter der Regierung und der Gewerkschaften und schlossen die Grenelle-Vereinbarungen, die wesentliche soziale Verbesserungen beinhalteten und  die  sozialen Auseinandersetzungen des französischen Mai 68  beendeten. Seitdem wird der Begriff „Grenelle“ für Beratungen und Vereinbarungen grundlegender Bedeutung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen verwendet. So gab es 2007 ein „Grenelle de l’environnement“, bei dem es um die französischen Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels ging. Wenn jetzt von der Regierung ein „Grenelle der häuslichen Gewalt“ ausgerufen wurde, einen bis zum 25. November 2019, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen,  geplanten Beratungs- und Entscheidungsprozess, dann zeigt das, wie hoch dieses Thema gehandelt wird.

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Avenue Diderot, 12. Arrondissement

Die Idee eines solchen Grenelles wurde vor allem von Marlène Schiappa entwickelt, der für die Gleichheit zwischen Männern und Frauen zuständigen Staatssekretärin. Der Begriff Grenelle stehe für oberste nationale Dringlichkeit und für einen Epochenwandel. Das Thema der häuslichen Gewalt solle zu einer großen nationalen Angelegenheit und zu einem „marqueur“, einem prägenden Merkmal  der Präsidentschaft Macrons gemacht werden.[21]

Gleich zu Beginn des Grenelle, an dem verschiedene staatliche und gesellschaftliche Institutionen und auch Betroffene teilnahmen, kündigte Premierminister Edouard Philippe höchstpersönlich eine Reihe von  Maßnahmen an. Dazu gehörten:

  • 1000 neue Wohnplätze für gefährdete Frauen sollen ab 1.1.2020 zur Verfügung gestellt werden
  • Ein System der Geolocalisation solle geschaffen werden, das sofort alarmiert, wenn ein vom Gericht verhängtes Annäherungsverbot nicht befolgt wird
  • Die Polizei solle besser geschult werden, das Ausmaß der von häuslicher Gewalt bedrohten Frauen zu beurteilen
  • Es sollen bei allen französischen Gerichten auf häusliche Gewalt spezialisierte Staatsanwaltschaften eingerichet und die entsprechenden Verfahren beschleunigt werden
  • Die Möglichkeit für Opfer häuslicher Gewalt, schon im Krankenhaus Anzeige zu erstatten, solle verbreitert werden
  • Ebenso so es auch leichter möglich sein, einem häusliche Gewalt ausübenden Elternteil das Erziehungsrecht zu entziehen.[22]

Die Regierung spricht da natürlich von „starken Maßnahmen“. Dass die Aktivistinnen der Frauenbewegung da eher skeptisch sind, zumal es sich eher um schon längst angekündigte oder überfällige Maßnahmen handele, (23)  zeigt die nachfolgende Collage.

DSC06603 Feminicides (9)

Macron redet, die Frauenmorde gehen weiter

Es wird also weiter öffentlicher Druck ausgeübt. Die nächste Demonstration ist schon für den 23. November angekündigt:

Samedi 23 novembre, #NousToutes vous donne RDV à Paris pour dire Stop aux violences sexistes et sexuelles.

Am 23.11. gehört die Straße uns allen           Ras le viol (Vergewaltigung)!- ein Wortspiel                                                                                    mit  ras de bol!    (Die Schnauze voll)

Im November 2018 gab es schon einmal eine solche Demonstration gegen häusliche Gewalt, zu der auch die Gewerkschaft CGT aufgerufen hatte.

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Wir (Männer) alle mit Ihnen (den Frauen) allen     Ich kämpfe für meine zukünftige Tochter        

Allerdings war diese Demonstration damals kaum wahrgenommen worden, weil gleichzeitig die Gelbwesten sich  auf den Champs Elysées Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und damit die Bilder und  Schlagzeilen beherrschten.[24]

Ob es diesmal anders sein wird, ist (leider) nicht garantiert.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist 20220503_113720.jpg

rue de la forge royale, 11ème  (Mai 2022)

„Nachwort“ aus der rue Bouvier im 11. Arrondissement:

DSC06603 Feminicides (12)

 Gefunden im 11. Arrondissement im Februar 2023:

Anmerkungen:

[1] : « meurtre d’une femme, d’une fille, en raison de son sexe »  https://www.franceculture.fr/societe/le-terme-feminicide-interroge-le-droit (3.9.2019)

[2] https://dict.leo.org/franz%C3%B6sisch-deutsch/feminicides

In der FAZ erschien am 2. März 2021 ein Bericht über die Collagen: Luis Jachmann,  Wer wegschaut, macht sich schuldig. Gegen sexualisierte Gewalt: In Frankreich kleben Frauen Botschaften an Häuserwände, die manche Männer wütend machen. Feuilleton, S. 11

[3] Zur marginalen  Rolle der Frauen im Pantheon siehe den Blog-Beitrag „Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen. https://paris-blog.org/2018/04/01/das-pantheon-der-grossen-und-der-weniger-grossen-maenner-und-der-wenigen-grossen-frauen-1-das-pantheon-der-frauen/

[4] Bild aus: https://www.courrierinternational.com/article/vu-dallemagne-avec-ses-collages-marguerite-stern-rend-visibles-les-feminicides  Im Courrier International ist ein Artikel der TAZ über die Aktion abgedruckt. Dem ist auch das nachfolgende Bild entnommen.

Siehe Le Monde vom 26. Oktober 2019: Marguerite Stern, feministe de combat  https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2019/10/26/marguerite-stern-feministe-de-combats_6016971_4500055.html

[5] http://madame.lefigaro.fr/societe/marguerite-stern-la-militante-derriere-la-campagne-de-collage-qui-denonce-les-feminicides-070919-166715 

Vorhergehendes Bild der Aktivistinnen aus: Le Monde vom 14. September 2019:  ‚Aux femmes assassinées, la patrie indifférante‘: Les ‚colleuses‘ d’affiches veulent rendre visibles les victimes de féminicides

[6] http://www.leparisien.fr/paris-75/paris-400-euros-pour-avoir-colle-des-affiches-contre-les-feminicides-07-09-2019-8147532.php

[7] https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/08/28/feminicide-la-mairie-de-paris-rend-hommage-aux-victimes-et-interpelle-le-gouvernement_5503918_3224.html

Die beiden nachfolgenden Bilder aus: https://www.purepeople.com/media/des-femens-interpellent-le-pouvoir-ann_m5003087

[8] https://www.api-site.paris.fr/mairies/public/assets/2019%2F8%2F14.%20Voeu%20f%C3%A9minicides%20%28adopt%C3%A9%29.pdf

[9] http://madame.lefigaro.fr/societe/stop-feminicide-la-nouvelle-action-coup-de-poing-des-militantes-femen-a-paris-feminisme-violences-faites-aux-femmes-300519-165372

(30. Mai 2019)

[10] https://www.ouest-france.fr/faits-divers/feminicide/stop-feminicide-la-manifestation-choc-des-femen-au-cimetiere-du-montparnasse-paris-6551831

[11] Zum Invader siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2018/10/01/street-art-in-paris-3-der-invader/

[12] https://www.lefigaro.fr/arts-expositions/violences-conjugales-l-artiste-invader-appelle-a-composer-le-3919-20190907

Zum Invader siehe auch den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2018/10/01/street-art-in-paris-3-der-invader/

[13] https://www.letemps.ch/monde/france-guerre-contre-feminicides   Le Temps vom 4. September 2019   https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704: En 2018, elles étaient 107 à mourir sous les coups de leurs compagnons ou ex-conjoints.

[14] https://information.tv5monde.com/info/les-feminicides-sont-ils-plus-nombreux-en-france-vrai-dire-319469  und  https://www.franceinter.fr/espagne-italie-allemagne-belgique-comment-on-y-parle-des-feminicides-et-comment-on-agit Es wäre natürlich interessant, den Gründen für die hohe Zahl von Frauenmorden in Deutschland und die –nach meiner Beobachtung-  doch recht unterschiedliche Präsenz des Themas in Deutschland und Frankreich nachzugehen, aber das würde diesen Blog-Beitrag sprengen – und dafür fehlt mir auch die entsprechende Kompetenz.

[15] Figaro, 4. Juli 2019   https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704

[16] z.B. https://www.dalloz-actualite.fr/node/non-feminicide-ne-doit-pas-etre-penalement-qualifie#.XchXOFdKhPY und https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-les-feminicides-augmentent-encore-en-france-20190704

[17]   So der Rechtsanwalt Pierre Farge in einem Diskussionsbeitrag in Le Monde vom 12. September: „Le droit pénal doit définir clairement le féminicide“ und entsprechend: https://www.lepoint.fr/justice/pourquoi-il-faut-creer-l-infraction-de-feminicide-28-08-2019-2332031_2386.php

(18) Dans les affaire de fémicides, les alertes négligées par les forces de l’ordre. In: Le  Monde vom 21. Oktober 2019

Am 17.11. wurde in den Abendnachrichten von TV 2 ein ausführlicher Beitrag ausgestrahlt zum Thema „femmes battues. Une épreuve pour se faire entendre“.  Es kam dort ausführlich eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau zu Wort.  Sie berichtete von ihren Schwierigkeiten, von der Polizei und der Justiz ernst genommen zu werden. Erst nach 3-jährigen Bemühungen sei sie wirklich geschützt worden. Fazit, auch von interviewten Polizisten und Juristen, war die Notwendigkeit eines besseren und schnelleren Schutzes der betroffenen Frauen.

(19) Le Monde 17./18. November 2019:  Nicole Belloubet, la garde des sceaux, regrette les ‚défaillances‘ https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/11/17/le-constat-d-echec-de-la-justice-dans-la-prevention-des-homicides-conjugaux_6019496_3224.html

siehe auch Le Monde vom 25. Oktober 2019: Féminicides: une étude inédite détaille les carences judiciaires dans la prévention 

und:  Le Monde, 17.11.2019: Le constat d’échec de la justice dans la prévention des homicides conjugaux.  Le rapport de l’inspection générale de la justice sur les homicides conjugaux sur 88 cas définitivement jugés pointe de graves dysfonctionnements dans la chaîne pénale.  https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/11/17/le-constat-d-echec-de-la-justice-dans-la-prevention-des-homicides-conjugaux_6019496_3224.html

Entsprechend Le Figaro vom 18.11.: Violence conjugales: la justice admet ses échecs

[20] Auch hier gibt es ein alternatives, feministisches Straßenschild – Überbleibsel einer anderen spektakulären  Aktion der Gruppe nous toutes aus dem Frühjahr 2019: Da wurde die einseitige geschlechtsspezifische Verteilung von Straßennamen kritisiert und es wurden andere nach prominenten Frauen benannte Straßennamen vorgeschlagen- Hier rue Berthe Morisot, 1841 – 1895, Malerin, Gründungsmitglied der impressionistischen Bewegung.  Eine schöne Alternative zu dem nach Ludwig XIV. benannten Impasse Mont-Louis, einer Sackgasse….

[21] https://www.letemps.ch/monde/france-guerre-contre-feminicides

[22] https://www.gouvernement.fr/un-grenelle-et-des-mesures-fortes-pour-lutter-contre-les-violences-conjugales und https://www.nouvelobs.com/droits-des-femmes/20190903.OBS17914/ce-que-edouard-philippe-a-annonce-lors-du-grenelle-contre-les-feminicides.html

(23) Das System der Geolocalisation wird beispielsweise schon seit Jahren in Spanien verwendet, das immer wieder als Musterbeispiel für einen erfolgreichen Kampf gegen den Frauenmord angeführt wird. In Frankreich ist das System seit 2017 bekannt, seine Einführung wurde schon im Juli 2019 von der Justizministerin angekündigt. Siehe: Pourquoi la France échoue à faire baisser le nombre des féminicides. In: L’express vom 6.7.2019

[24] Bild aus:   http://www.leparisien.fr/societe/les-feministes-descendent-dans-la-rue-contre-les-violences-sexistes-24-11-2018-7952169.php

Beitrag eingestellt am 17.11.2019

Einen Artikel in französischer Sprache über die Plakataktion in Paris gibt es im sehr empfehlenswerten Blog „passage du temps“ von Sonia Bianca-Rosoff:  https://passagedutemps.wordpress.com/2019/12/04/le-feminisme-saffiche-dans-la-ville/

Erinnerungstafeln zu der Zeit von 1939 bis 1945 in Paris/Enfants de Paris 1939-1945

In diesem Beitrag wird ein außergewöhnliches und wunderbares Buch vorgestellt, in dem alle Pariser Erinnerungstafeln zu der Zeit von 1939 bis 1945 fotografisch festgehalten sind. Seit wir vor zehn Jahren eine Wohnung in Paris bezogen haben, interessiere ich mich für diese Erinnerungstafeln. Sie gehören gewissermaßen zu unserem Pariser Alltag. Ich möchte deshalb zunächst einige plaques commémoratives vorstellen, denen wir fast täglich begegnen. Im zweiten Teil geht es dann um Philippe Apeloigs 2018 erschienenes Buch über „Die Kinder von Paris 1939-1945“

Alltägliche Begegnungen

Wer als Flaneur durch Paris geht, wird immer wieder Erinnerungstafeln (plaques commémoratives) bemerken, die an Hauswänden befestigt sind. In manchen Gegenden –zum Beispiel auf der Ile St Louis- sind fast an allen Häusern solche Tafeln befestigt: Sie erinnern an prominente Personen, die in diesem Haus geboren wurden, gelebt haben oder gestorben sind.

Besonders häufig sind aber solche Tafeln, die sich auf die Zeit von 1939 bis 1945 beziehen.  Sie erinnern an die Besatzung von Paris durch deutsche Truppen, an die vielen Menschen, die ihr Leben im Kampf gegen die Nazis und für die Befreiung der Stadt und Frankreichs verloren haben und vor allem an die vielen Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Allein in der unmittelbaren Umgebung unserer Wohnung im 11. Arrondissement gibt es eine Fülle solcher Erinnerungstafeln, von denen hier  einige vorgestellt werden sollen.

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Zum Beispiel in der Rue de la Folie Regnault diese Tafel für ein Paar, das gegen die nationalsozialistischen Besatzer gekämpft hat. Hier gehen oder fahren wir auf dem Weg in den Supermarkt oder ins Schwimmbad fast täglich vorbei.  Die beiden Personen, denen diese Tafel gewidmet ist,  waren Mitglieder der F.T.P.F., der Francs-tireurs et partisans, einer kommunistischen Widerstandsorganisation. Marcel André Berthelot wurde am 26. Februar 1943 „von den Nazis“ erschossen. Mit der Formel „mort pour la France“ werden traditionell die in den Kriegen gefallenen französischen Soldaten geehrt, hier also auch ein Mitglied der „Freischärler und Partisanen“. Berthelots Partnerin Yvette Semard konnte „aus den Lagern von Vichy“, dem Kollaborations-Regime, entkommen, in denen sie interniert war.

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Regelmäßig gehen wir auch zum Bäcker in der rue Léon-Frot oder fahren mit unseren Fahrrädern durch die Straße. An der Hauswand der Nummer  55 erinnert eine Tafel an den  kommunistischen Lokalpolitiker Léon Frot, der in diesem Haus gewohnt hat und nach dem auch die Straße benannt ist.

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Er wurde am 15. November 1939 verhaftet, also nach Kriegsbeginn, aber vor der Niederlage, als das Land noch eine Demokratie war. Die Frage, die sich hier stellt, nämlich warum er  verhaftet wurde, beantwortet die Tafel nicht, aber man findet die Antwort bei Wikipedia:  Léon Frot wurde „wegen kommunistischer Propaganda“ verhaftet und  zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.[1] Wikipedia erklärt auch, wie es zu der Erschießung durch „die Deutschen“ am 13. Januar 1942 in Clairvaux kam: Dort war das Gefängnis, in dem Léon Frot gefangen war; und erschossen wurde er als Geisel. Geiselerschießungen waren ein von den deutschen Truppen vielfach angewandtes, im totalen Widerspruch zum Kriegsvölkerrecht stehendes Mittel, auf Aktionen der Résistance zu reagieren.

An den Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer erinnert auch die nachfolgend abgebildete Gedenktafel am Eingang zur „Square de la Roquette“, einer kleinen Grün- und Freizeitanlage in der Rue de la Roquette. Befestigt ist diese Tafel an einem der beiden Torhäuser des ehemaligen Gefängnisses „Petite Roquette“, das bis 1974 hier stand. Die Torhäuser können wir übrigens von der kleinen Terrasse unserer Pariser Wohnung sehen… [2] Die Petite Roquette war eine im 19. Jahrhundert errichtete monumentale Gefängnisanlage, die nach dem Panopticon-Prinzip konstruiert war.[3] In diesem Gefängnis wurden, wie die Tafel mitteilt, vom Appell des Generals de Gaulle vom 18. Juni 1940, also dem Aufruf zum Widerstand, und der Befreiung von Paris am 25. August 1944 4000 résistantes eingekerkert, „weil sie gegen den Besatzer gekämpft hatten“. Vielleicht gehörte zu ihnen auch Yvette Senard, von der oben schon die Rede war…

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Hier fällt auf, dass zwar die Opfer,  nicht aber die Täter und ihre Helfer benannt werden. Auf der homepage der ajpn, der Vereinigung der „Anonymes, Justes et Persécutés  durant la periode Nazie“ ist das anders: Dort findet sich folgende präzisere Angabe: „Während des Zweiten Weltkriegs wurden in der Roquette 4000 Frauen wegen Widerstandshandlungen von der französischen Polizei gefangen gehalten“.[4] Das Gefängnis unterstand jedenfalls  -wie auch die Polizei-  der Regierung von Vichy, d.h. die Gefängnisverwaltung lag in französischer Hand. Die Repression der résistance entsprach ja nicht nur dem gemeinsamen Willen der Besatzer und der Collaboration, sondern auch dem Interesse des besiegten Frankreichs, des sogenannten État français,  ein Höchstmaß an (scheinbarer) Souveränität zu erhalten.

In der Nähe unserer Wohnung liegt das Lycée Voltaire, in dem donnerstags die Proben des Chors Tempestuoso stattfinden, an dessen Konzerten ich öfters als Gast teilnehmen darf. Und davor nehme ich natürlich an der einen oder anderen Probe im Lycée Voltaire teil. Einer der Höfe des weitläufigen Gymnasiums erinnert an den Lehrer Raymond Travers. Er war Leutnant der F.F.I., der Forces françaises de l’intérieur, eines im Februar 1944 vollzogenen Zusammenschlusses verschiedener Gruppen des Widerstands. Am 23. August 1944 wurde Raymond Travers  im Kampf „auf dem Feld der Ehre“ getötet.

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Raymond Travers war Deutschlehrer, also ein Freund Deutschlands und ein Liebhaber der deutschen Sprache. Wie schlimm muss es für ihn gewesen sein, wie die Nazis „la langue de Goethe“, wie es in Frankreich gerne heißt, durch ihre „Lingua Tertii Imperii“ (Victor Klemperer) verunstalteten, wie sie die kulturelle Elite des Landes verfolgten und vertrieben, wie sie Europa mit Krieg überzogen und ganze Bevölkerungsgruppen auslöschten. Und wenn er sich den Untergrundkämpfern, dem Maquis, anschloss, dann wohl nicht nur, um sein Land und seine Freiheit zu verteidigen, sondern auch, um das andere Deutschland, das er  seinen Schülerinnen und Schülern nahe gebracht hatte, vor der völligen Vernichtung zu bewahren.

In der schon erwähnten rue Léon – Frot  befindet sich auch der Eingang  zum collège Alain Fournier, neben dem eine Erinnerungstafel aus schwarzem Marmor angebracht ist.

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Sie erinnert an „die Schüler dieser Schule, die von 1942 bis 1944 deportiert wurden, weil sie Juden waren, unschuldige Opfer der Nazi-Barbarei und der Regierung von Vichy. Mehr als 1200 Kinder des 11. Arrondissements wurden in den Todeslagern umgebracht. Vergessen wir sie niemals.“[5]  Betroffen macht die Zahl von über 1200 Kindern des Arrondissements, die deportiert und getötet wurden. Sie weist darauf hin, dass das 11. Arrondissement eine starke jüdische Präsenz aufwies (und zum Teil auch noch heute aufweist). Und bemerkenswert ist, dass die Regierung von Vichy auf der gleichen Stufe wie die „Nazi-Barbarei“  als  Täter genannt wird. In der Tat war ja die Regierung des État français ein willfähriger Helfer bei der Shoah, teilweise –gerade im Falle der Kinder- sogar ein Antreiber.

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Allerdings hat erst 1995  der damalige Präsident Jacques Chirac die Beteiligung Frankreichs an der Deportation der Juden anerkannt, und zwar in einer außerordentlichen –und wie man sagen muss: mutigen-  Rede, fast vergleichbar mit dem historischen Kniefall Willy Brandts in Warschau. Chirac hielt diese Rede anlässlich des  53. Jahrestags der Razzia des Wintervelodroms, der rafle du Vel d’hiv. Damals wurden in Paris über 10 000 Juden verhaftet, von denen die meisten tagelang unter unsäglichen Bedingungen im Wintervelodrom in der Nähe des Eiffelturms eingepfercht wurden, der ersten Station auf dem Weg in die Vernichtungslager.[6]

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An die Razzia des Wintervelodroms erinnert auch eine Gedenktafel am Gymnase Japy, an dem wir immer auf dem Weg zum marché d’Aligre vorbeikommen, wo wir Obst und Gemüse einkaufen.

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Auf dieser Erinnerungstafel wird nicht nur der 16. Juli 1942, das Datum der rafle du Vel d’Hiv, genannt, sondern auch der 20. August 1941: Damals fand eine weniger bekannte Razzia speziell im 11. Arrondissement statt. Beide Male diente das Gymnase Japy als einer der ersten Sammelpunkte. [7]

Besonders anrührend ist die Erinnerungstafel an die 1200 Kinder des Arrondissements, die „von der Polizei der Regierung von Vichy, Komplize des Besatzers“ verhaftet und dann deportiert und umgebracht wurden.[8] Die Tafel befindet sich im jardin de la Folie –  Titon, einer kleinen vielbesuchten Grünanlage direkt gegenüber dem Haus, in dem wir während der ersten Jahre unseres Paris-Aufenthalts wohnten. Man steht fassungslos da, wenn man, wie die Tafel den Passanten auffordert, das Alter und die Namen der Kinder liest.

DSC04600 Jardin titon (1)

Als ich im Juni 2019 dieses Foto machte, kam ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der auf einer Bank neben der Erinnerungstafel saß. Eines der dort genannten Kinder sei sein Bruder. Die Familie stamme aus Polen, sei aber wegen des dortigen Antisemitismus nach Ungarn geflüchtet. „Das war keine gute Entscheidung“, dann nach Frankreich:  „Das war auch keine gute Entscheidung“. Immerhin habe die Familie vorsichtshalber ihren Namen –Cohen-  geändert. Das habe einem Teil der Familie das Leben gerettet. Allerdings sei der Großvater weiter als Rabbiner tätig gewesen. Deshalb sei ein anderer Teil der Familie deportiert und umgebracht worden…

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Solche Begegnungen werden, je weiter die Zeit fortschreitet, immer seltener. Zeitzeugenberichte wie die Dr. Adlers, von dem an anderer Stelle auf diesem Blog berichtet wird [8a], werden bald nicht mehr möglich sein. Umso dringlicher stellt sich da die Frage, wie die Erinnerung wachgehalten werden kann. Und daran, dass sie wachgehalten werden muss, kann es keinen Zweifel geben, wenn man das „Nie wieder!“ Ernst nimmt. Stolpersteine, wie sie in Deutschland und anderswo installiert werden, oder die in Frankreich üblichen plaques commémoratives sind da ein wichtiges Medium.

„Enfants de Paris 1939-1945“- Eine Buchempfehlung

Genau zur richtigen Zeit also ist da ein wunderbares Buch erschienen, das die Pariser Erinnerungstafeln zu der Zeit von 1939 bis 1945  präsentiert. (Gallimard, 2018,  ISBN 978-2-07-278285-5 45 Euro)

Alle Personen, um die es bei ihnen geht, waren in irgendeiner Weise mit Paris verbunden, sie sind dort geboren, haben dort eine Zeit lang gelebt, sind dort gestorben oder umgebracht worden. Insofern sind sie „Kinder von Paris“ – entsprechend den „enfants de la patrie“ der Marseillaise. Und oft sind es ja tatsächlich Kinder, denen Erinnerungstafeln gewidmet sind. [8b]

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Das Buch liegt schwer und grau in der Hand – es wiegt fast 3 Kilogramm! Also gewissermaßen ein Buch in der Form eines Stolpersteins. Und wenn man dieses Buch öffnet, findet man auf über 1100 Seiten eine Bild- Enzyklopädie aller Pariser Erinnerungstafeln zu der Zeit von 1939 bis 1945, geordnet nach Arrondissements vom 1. bis zum 20.  und da jeweils nach Stadtvierteln.  Auf jeder Seite ist eine Erinnerungstafel abgebildet, darunter ist in kleiner Schrift angegeben, wo sie sich befindet; manchmal sind es auch zwei oder mehr Fotos auf einer Seite, in wenigen Fällen reicht ein Foto über zwei Seiten- immer jedenfalls werden die Abschnitte der einzelnen Arrondissement mit einem doppelseitigen Foto einer Schule und der dazugehörigen Erinnerungsplakette abgeschlossen. Ich verstehe das als Ausdruck des Wunsches, die Erinnerung bei den nachfolgenden Generationen wachzuhalten.

Philippe Apeloig hat kürzlich in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass es in Paris kein „monument aux morts“ für die Opfer aus dieser Zeit gibt – sieht man einmal von den eindrucksvollen Namenslisten der jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns auf den Mauern im Hof des Mémorial de la Shoah im Pariser Marais ab. Insofern handelt es sich gewissermaßen um ein „monument éclaté“ – um einen über ganz Paris verstreuten, sich aus vielen einzelnen Teilen zusammensetzenden Ort der Erinnerung. [8c]

Auch die (nicht nur) in Deutschland sehr verbreiteten Stolpersteine sind ein monument éclaté. Sie sind in die Bürgersteige vor Häusern eingelassen, in denen Menschen wohnten, bevor sie von den Nazis vertrieben, deportiert und umgebracht wurden. Im Unterschied zu den plaques commémoratives handelt es sich aber um standardisierte Produkte, sowohl was die Inschriften als auch die Gestaltung angeht. – was allerdings ihre Bedeutung keineswegs mindert. [9]

Ganz anders die plaques commémoratives. Das wird beim Gang durch die Straßen von Paris, erst recht aber schon beim ersten Durchblättern von Apeloigs Buch deutlich: Es handelt es sich nämlich um einen  Kunstband[10]:  Die Fotografien veranschaulichen die unglaubliche Vielfalt der Erinnerungstafeln, ihrer künstlerischen Gestaltung, ihrer Texte und der Orte, an denen sie angebracht sind. Die Fotos lassen meist ein Stück weit ihr Umfeld, ihren architektonischen Kontext, erkennen oder auch nur erahnen. Aus der Beschaffenheit der Mauern ist es fast schon möglich, auf die Arrondissements zu schließen, in denen sie angebracht sind, worauf Apeloig in seinem Vorwort aufmerksam macht (53): Behauene Steine (pierres de taille) und Sauberkeit verweisen eher auf den noblen Pariser Westen, abgeblätterte, altersschwache Fassaden und Graffitis eher auf den ärmeren Pariser Osten. Und natürlich ist bei den Erinnerungsplaketten auch die traditionelle politische Ost-West-Spaltung von Paris abzulesen. Plaketten für kommunistische Widerstandskämpfer wird man -wie schon die obigen Beispiele andeuten- eher in den östlichen Arrondissements finden als in den westlichen.  Die Ost-West-Spaltung der Pariser Stadtgeografie lässt sich also auch an den plaques commémoratives ablesen.

Bei den neueren, von offiziellen Institutionen angebrachten Plaketten gibt es allerdings keine Unterschiede: Da glänzt der schwarze Marmor und die goldenen Buchstaben leuchten im 16. wie im 20. Arrondissement.

Angebracht sind die Plaketten an ganz verschiedenen Orten: in Bahnhöfen, Schulen, Rathäusern, Polizeirevieren, Ministerien, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden, manchmal auch im Innern; vor allem aber findet man sie an Hausfassaden, meist im oberen Abschnitt des Erdgeschosses angebracht, so dass sie für den aufmerksamen Passanten sichtbar sind, andererseits aber auch vor Beschädigungen und Schmierereien etwas geschützt sind. Allerdings gibt es die, wie die Abbildungen zeigen, gleichwohl…

Die meisten Tafeln erinnern an Opfer der Kämpfe um die Befreiung von Paris, den „glorreichen“ – aber auch sehr blutigen- „ journées de la Libération“ (607).  Das ist an den vielen Todesdaten zwischen dem 19. und dem 25. August, dem Tag der  Kapitulation des deutschen Kommandanten von „Groß-Paris“, von Choltitz, zu erkennen:

  • Tombé pour la libération de Paris August 1944 (193)  Anm: Die Zahlen in Klammer sind Seitenangaben)
  • Fusillé par les Allemands 20. August 1944 (975)
  • Tombé le 21 août 1944 au cours de la Libération de Paris (914)
  • A été tué à la Barricade August 1944 (273)
  • Blessé mortellement pendant les Combats de la Libération August 1944 (968)
  •  Tombé glorieusement le 25 août 1944 – und die zahlreichen anderen Erinnerungstafeln an die Opfer dieses Tages in der rue de Rivoli, an der Ecke zur Place de la Concorde (102, 103, 104)

Die Namen der Toten, Jem Harrix, Fernand Mazuoyer, René Vinchon, Georges Lafont  und die vieler anderer  sind wohl in keinem Lexikon verzeichnet, manchmal fehlen sie auch ganz:

  • Trois Français (409)
  • Plusieurs soldats français (415)
  • Des patriotes (525)
  • Un unconnu (574)

Aber auch für diese anonymen Opfer der Befreiung gibt es so einen Ort der Erinnerung.

An ein besonderes Ereignis des 25. August 1944 erinnert übrigens eine in 300 Metern Höhe angebrachte Plakette: Damals hissten im noch besetzten Paris Feuerwehrleute auf dem Eiffelturm die Trikolore (47, 402).  Einen Tag später wurde die Kapitulation von Paris vom französischen General Leclerc de Hauteclocque im Billardsaal der Polizeipräfektur im 4. Arrondissement entgegengenommen. Die entsprechende Erinnerungstafel ist natürlich in dem Buch abgebildet (228). Vermittelt hatte diese Kapitulation der schwedische Generalkonsul Raoul Nordling. „Er arbeitete unermüdlich daran, Paris vor der Zerstörung zu retten, von der die Stadt bedroht war“, wie es auf einer Tafel an dem Haus heißt, in dem Nordling tätig war (451). „Paris schuldet ihm ewige Dankbarkeit“ steht auf einer Tafel, die die Bedeutung Nordlings würdigt,  an dem Platz Raoul-Nordling im 11. Arrondissement.

An die Befreiung von Paris erinnert auch die „voie de la Libération“ die von der porte d’Italie bis zum Pariser Rathaus reicht und mit 11  Medaillons aus Bronze markiert ist. Sie erinnern an die nach ihrem Kommandeur  Colonne Dronne benannte Einheit der Division Leclerc, die als erste in Paris einrückte und hauptsächlich aus  spanischen Republikanern zusammengesetzt war. (190, 216, 662,663,664,665 666)

Aber natürlich war der Kampf gegen die Besatzer, zu dem General de Gaulle in seinem berühmten „Appell“ schon am 18. Juni 1940 aufgerufen hatte,  nicht nur auf den August 1944 beschränkt. Das erste zivile Opfer dieses Kampfes war der Ingenieur Jacques Bonsergent, an den eine Pariser Métro-Station  und dort entsprechende Tafeln auf beiden Seiten der Bahnsteige erinnern. (495).

Und danach- und bis zum Ende des Krieges- gab es eine Vielzahl von Opfern der Nazi-Herrschaft, an die erinnert wird:

Prominente wie der Dichter Robert Desnos (582), Marc Bloch (344), Pierre Brossolette (380, 825, 829, 867) oder Geneviève de Gaulle Anthonioz (333) und Jean Zay (369), die 2015  ins Pantheon aufgenommen wurden[11], vor allem aber die vielen Unbekannten wie

  • André Chassagne, mort pour que vive la France, fusillé par les Allemands le 6 octobre 1943 au Mont Valérien (1053)
  • Serge Grivillers, torturé de pendu par les Nazis le 21 juillet 1944 (970)
  • René Chollet, patriote et résistant, fusillé par les Hitlériens en 1943 (469)
  • Angèle Mercier, déportée à Auschwitz (991)
  • Jean Verrier, mort en déportation à Buchenwald (587)
  • Raoul Naudet, déporté et exterminé au camp de Mauthausen (149)
  • Marcel, Lucien et André Engros, fusillés par les occupants hitlériens (206)

und viele andere….

Interessant ist dabei auch, wie sich das Vokabular für die Täter ändert.  Kann man auf einer  –wohl noch frühen- Plakette  lesen: „fusillés par les boches“ (988), so sind es dann die kollektiv-schuldigen Deutschen, also „les Allemands“ (z.B. auf einer am 2.2.1947 angebrachten Plakette, 989),  und schließlich eingegrenzter und präziser Les Nazis, les Hitlériens, la Barbarie Nazi.

Dass so oft „les Allemands“ als Täter genannt werden, weist darauf hin dass in Frankreich lange kaum zur Kenntnis genommen wurde, dass es auch in Deutschland –und nicht erst 1944 sozusagen in letzter Minute- Widerstand gegen das NS-Regime gab. Dabei war gerade Frankreich das Land, das vielen geflüchteten und vertriebenen Nazi-Gegnern Zuflucht bot, und Paris war die Stadt, wo die verschiedenen Strömungen des Widerstands versuchten, eine gemeinsame Front gegen das Nazi-Regime aufzubauen.[12]

Neben „den Deutschen“ und den Nazis oder Besatzern erscheinen auch Vichy und seine berüchtigten Milizen als Täter:

  • Assassiné par la Gestapo française (1052)
  • A été assssiné par la Milice (271)
  • Assassinée par les agents de Vichy (996)
  • Tombé sous les balles des policiers français de la brigade speciale (sic) au service de l’ennemi (445)

Gründe für diese Taten waren für die Nazis und ihre Helfer nicht nur der bewaffnete Kampf, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen:

  • Déportée comme otage, assassinée au camp de Bergen-Belsen (1060)
  • Ont hébergé et protegé des aviateurs alliés (99)
  • Arrêtés en 1943 par la Gestapo pour l’aide apportée aux juifs et morts en déportation (800)

Es gab aber auch Opfer des Krieges, die nicht mit dem Widerstand und seiner Repression zu tun haben:

  • Malheureuses victimes du bombardement de La Plaine 21. Avril 1944 (956 und ähnlich 649): Das waren „unglückliche Opfer“ der alliierten Bombenangriffe, mit denen die Landung vom 6. Juni vorbereitet wurden.  Sie waren Anlass für den letzten Besuch von Pétain in Paris, wo er eine Messe in Notre-Dame besuchte und von eine großen Menschenmenge bejubelt wurde…. Im Pariser Stadtmuseum Hôtel Carnavalet wird daran erinnert. [12a]
  • À la mémoire des victimes du bombardement allemand du 26 août 1944 (918)

Die Nationalität der Opfer wird nur in den seltensten Fällen genannt, und wenn, dann natürlich bei ausländischen Kämpfern gegen die Nazi-Besatzer. Die kamen, wie die Erinnerungstafeln andeuten,  aus vielen verschiedenen Ländern wie  Polen (88, 291, 384),  Großbritannien (89),  Armenien (153, 924),  Spanien (190, 361, 662, 663, 664, 665, 666, 986), Ungarn (243),  Bessarabien (267), Jugoslawien (323),  USA  (443, 842, 954),  Nord-Afrika (621),  Luxemburg (494). (Zusammenstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Auch ein (ehemaliger) Deutscher ist dabei, der nach der Flucht aus Deutschland französischer Staatsbürger geworden war und 1939 französischer Soldat wurde:

Es ist Wolfgang Döblin, Sohn des Schriftstellers Alfred Döblin: „mathématicien, précurseur du calcul des probabilités, est mort pour la France à Housseras (Vosges) le 21 juni 1940 à l’âge de 25 ans. Titulaire de la Médaille Militaire et de la Croix de Guerre“. (713)

2007 wurde die Erinnerungstafel für Alfred Döblin, Autor des von den Nazis verbrannten Romans „Berlin Alexanderplatz“,  und seinen Sohn am square Henri-Delormel im 14. Arrondissement enthüllt, da also, wo Döblin und seine Familie von 1934 bis 1939 gewohnt hatten. „Fuyant le nazisme l’écrivain allemand Alfred Döblin 1878 – 1957  s’installa avec sa famille dans cet immeuble“ …“ [13]

Mich berührt es, wenn ich auf den Erinnerungstafeln für Menschen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten und gegen ihn gekämpft haben, auch die verschiedenen Herkunftsländer angegeben sind; und wenn –spätestens seit der Vel d’Hiv- Rede Chiracs- der französische „nationale Roman“ und damit auch die plaques commémoratives differenzierter geworden sind: Damit tragen die Pariser Erinnerungstafeln auch zu dem bei, was Aleida Assmann eine „europäische Gedächtniskultur“ nennt.[14]

Manchmal wird auch die religiöse Zugehörigkeit auf den Tafeln angegeben: Das waren dann  katholische Christen wie der Abbé Jean Courcel (95), evangelische Christen wie Paul Vergara, pasteur à l’Oratoire du Louvre und Marcelle Guillemot, médailles des Justes des Nations (125), Moslems., d.h.  muslimische Soldaten, die für die Befreiung Frankreichs gekämpft haben und gefallen sind (264/5) – und das waren außerordentlich viele, deren Bedeutung aber lange eher minimiert oder gar verschwiegen wurde. Dabei stellten sie bei der Landung in der Provence am 15. August 1944 mehr als die Hälfte der Truppen! [15] Und es waren natürlich Juden, denn die waren ja insgesamt durch den Faschismus existentiell bedroht, wobei man da allerdings die Religionszugehörigkeit auf den Tafeln manchmal nur anhand der Namen vermuten kann:

  • David Liberman, fusillé par les Allemands le 16 septembre 1941. Mort pour la France (151)
  • Renée Lévy, membre de la Résistance, décapité à Cologne le 31 août 1943 (172 und 173)
  • Samuel Tyszelman, fusillé par les Allemands le 19 août 1941 (169)

… oder man weiß es, wie bei den Mitgliedern der Gruppe „Affiche Rouge“, aufgrund der denunziatorischen und rassistischen nationalsozialistischen Propaganda (153) oder –wie im Falle des zu dieser Gruppen gehörenden Marcel Rajman- aufgrund des stolzen Hinweises auf einen „héros juif de la résistance“ (554)

Juden sind es auch, unter denen die meisten Opfer zu beklagen sind, worauf neben den Tafeln an den Schulen und den Stelen für die umgebrachten Kinder in allen Arrondissements viele andere Erinnerungstafeln hinweisen.

  • 122 Bewohner, darunter 40 kleine Kinder, des Hauses 10-12, rue des deux-ponts im 4. Arrondissement (219 und 220)
  • À la mémoire de tous les habitants de cet immeuble (67, rue de la Roquette) disparus durant la tragédie de 1939 à 1945. (586)
  • En mémoire des hommes, femmes et enfants du 12ème Arrondissement qui parce que nés juifs, ont été arrétés et regroupés ici (…) par des policiers français lors des rafles de 1942 à 1944 (602)
  • Eliaz Zajdner, Ancien Résistant, déporté à Auschwitz par les nazis en Mai 1944 avec ses trois Fils. Albert âgé de 21 ans, Salomon et Bernard âgés de 15 ans. Morts dans dans le bloc des expériences (211) Diese Kinder fielen also offensichtlich den schrecklichen Menschenversuchen des KZ- Arztes Mengele zum Opfer.[16]

Aus dieser sehr selektiven Übersicht wird wohl schon die unglaubliche Vielfalt der plaque commémoratives zur Zeit 1939- 1945 deutlich. Dazu kommt aber noch ihre unterschiedliche Gestaltung- abgesehen von den genormten Erinnerungstafeln an den Schulen. Manchmal sind die Tafeln mit zusätzlichen Zeichen versehen wie dem Davidstern, oder dem christlichen oder öfters: dem lothringischen Kreuz als dem Symbol der Londoner Exil-Regierung de Gaulles und ihrer Streitkräfte. Dazu kommen oft die Farben der Tricolore oder das Logo des Betriebs oder der Einrichtung, in dem/der die jeweilige Person tätig war. Geschmückt sind die Plaketten manchmal auch mit Lorbeerzweigen, Portraits oder Orden. Und für zusätzliche Farbe sorgen bisweilen die –wenn auch oft verwelkten- Blumen, die zu besonderen Jahrestagen wie dem 27. Januar, dem  8. Mai, dem 25. August oder dem 11. November  von der Stadtverwaltung in die dafür vorgesehenen Ringe gesteckt werden, die sich meistens unterhalb der Plaketten befinden. (s. z.B. 511, 584, 737)

Und dann gibt es ja noch die verschiedenen Materialien und Formen der Tafeln und die Typografie- die vielfältige Gestaltung der Schrift. Philippe Apeloig weist in seinem Vorwort ausdrücklich auf die ästhetische Qualität der Erinnerungstafeln hin und auf den außerordentlichen Reichtum ihres „graphischen Vokabulars.“ Insgesamt bildeten sie einen eigentümlichen Katalog typografischer Kreationen dar, „un véritable hommage aux dessinateurs de lettres.“ (49/50) Das besondere Interesse des Autors an der Typografie wird schon beim Aufschlagen des Buches deutlich: Die ersten und die letzen inneren Umschlagseiten –es sind immerhin insgesamt 24!-  zeigen Ausschnitte von Plaketten und veranschaulichen deren typografischen Reichtum, den Philippe Apeloig, selbst Grafiker und Typograf, besonders herausstellt und zu würdigen weiß.

Aber natürlich geht es Apeloig um mehr als die ästhetische Qualität und Vielfalt der Tafeln. Denn die sind ja Mittel zum Zweck, sie dienen der Erinnerung. Und auch zu ihr hat Philippe Apeloig einen sehr persönlichen Bezug: Sein Großvater Szmul Icek Rozenberg, geboren in Kazimierz in Polen, war 1930 – wie zwei Jahre zuvor sein Bruder Joseph-  nach Frankreich ins „Land der Menschenrechte“ ausgewandert. Das Leben dort schien, wenn auch nicht völlig glücklich, doch wenigstens –anders als in Polen- schlicht und einfach möglich zu sein. Beide Brüder fanden Arbeit und Wohnung im Faubourg-Saint-Antoine, dem damaligen Zentrum der französischen Möbelproduktion.[17] Szmul machte sich schließlich selbstständig und spezialisierte sich auf die Kopie alter Stilmöbel.  Nach Ausbruch des Krieges engagierte er sich als „volontaire juif“ in der Fremdenlegion, kam allerdings nicht zum Einsatz. Nach dem Waffenstillstand und der Besetzung eines großen Teils Frankreichs durch deutsche Truppen siedelte die Familie nach Châteaumeillant in der von Vichy kontrollierten sogenannten freien Zone über. Die Einwohner von Châteaumeillant hatten etwa 40 jüdische Familien aufgenommen, um sie vor Verfolgung zu schützen. Angesichts des Vichy’schen Antisemitismus waren Juden aber auch dort nicht in absoluter Sicherheit. Der Ortspolizist allerdings warnte sie vor bevorstehenden Verhaftungen, so dass die Miliz meist unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Trotz aller Gefahren überlebten der Großvater, seine Frau Golda und seine drei Kinder und konnten 1945 wieder nach Paris zurückkehren, wo der Großvater 1947 die französische Staatsbürgerschaft erhielt.  Sein Bruder Joseph allerdings und seine Frau, die in Paris geblieben waren, wurden deportiert und in Auschwitz ermordet.

Im November 2004 wurde auf Initiative von Philippes Mutter Ida eine Erinnerungsplakette an der alten Markthalle von Châteaumeillant installiert- ein Dank an die Einwohner des Ortes, die –trotz aller damit verbundener Risiken-  Juden aufnahmen und sie vor Verhaftung und Deportation retteten. Es ist dies die erste in dem Buch abgebildete plaque commémorative (S. 39). Bei der Enthüllung hatte die Mutter in einer Rede ihre Kinder aufgefordert, die Arbeit der Erinnerung fortzusetzen. Philippe Apeloig hat dies in einzigartiger Weise befolgt. Entstanden ist ein Werk über einen ganz besonderen Erinnerungsort, einen „lieux de mémoire“, der allerdings in dem großen Kompendium Pierre Noras nicht berücksichtigt ist.[18]

Am 24. Juni 2022 wird in Châteaumeillant (département du Cher) am Rathausplatz eine plaque commémorative zu Ehren der „Justes“ des Ortes enthüllt:  Châteaumeillant wurde von Yad Vashem in Jerusalem der Titel „Ville Juste parmi les nations“ verliehen. So hat die private Initiative von Philippe Apeloigs Mutter eine offizielle Bestätigung, ja Krönung, erhalten.

Auch das wunderbare Buch ihres  Sohnes hat zahlreiche Ehrungen und Bestätigungen erhalten:

Die Academie Française verleiht in jedem Jahr den Prix Thiers für das beste historische Buch. Dieser Preis ist benannt nach Adolphe Thiers, Autor historischer Werke über die Französische Revolution, das Konsulat und das Kaiserreich, Mitglied der Akademie seit 1834 und Politiker: von 1871 bis 1873 war er erster Präsident der 3. Republik.  Ich bin zwar kein Fan von Thiers –vor allem aufgrund seines in der Rheinkrise von 1840 aggressiv vertretenen Anspruchs Frankreichs auf die deutschen linksrheinischen Gebiete, seiner Rolle bei der Niederschlagung der Commune und  seines  provokativ-bombastischen Grabmals auf dem Père Lachaise[19];  aber den nach ihm benannten Preis zu erhalten, ist natürlich eine ganz außerordentliche Auszeichnung. 2019  hat das hier besprochene Buch „Enfants de Paris, 1939-1944“ diesen Preis erhalten.[20] Eine Entscheidung, zu der man die Academie Française und natürlich auch den Autor des Buches, Philippe Apeloig, nur beglückwünschen kann. Félicitations!

Und auch in den Medien ist die Resonanz groß. Dazu nur drei Beispiele:

Die Projektion der plaques commémoratives auf die Mauern des Pantheons

Eine ganz besondere  Würdigung der Arbeit von Philippe Apeloig  stellte die Projektion der in seinem Buch versammelten Erinnerungstafeln auf die Außenmauern des Pantheons dar. Diese Aktion war geplant für den 8. und den 9. Mai 2020.  Die beiden Daten haben eine hohe symbolische Bedeutung: Der 8. Mai 2020 markiert den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, auf den sich die plaques commémoratives für die enfants de Paris ja auch beziehen. Der 9. Mai ist der Europatag und in diesem Jahr der 70. Jahrestag der déclaration Schumann. Der damalige französische Außenminister Maurice Schuman schlug am 9. Mai 1950 die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor, eine der europäischen Institutionen, die schließlich zur Bildung der heutigen Europäischen Union führten.

Mit der Projektion der plaques commémoratives an diesen beiden Tagen (bzw. Abenden) sollte nicht nur der Opfer des Weltkrieges, des nationalsozialistischen Rassismus und der Männer und Frauen des Widerstands gedacht, sondern auch das vereinte Europa gefeiert werde, das aus den Trümmern des Krieges entstanden ist: eine ganz wunderbare Verbindung.  Die sollte auch optisch zum Ausdruck gebracht werden durch die Beleuchtung des Portikus in den Farben der Trikolore am 8. Mai, während am 9. Mai der Portikus in der blauen Farbe Europas leuchten sollte.

Aufgrund der Corona-Pandemie musste allerdings die Installation verschoben werden. Sie fand dann schließlich am 16., 17. und 18. September  2021 statt. Philippe Apeloig dazu:

„Cette installation au Panthéon, qui a eu lieu en septembre 2021 à l’occasion des journées européennes du patrimoine, confirme que ces plaques appartiennent au patrimoine architectural parce qu’elles se fondent dans les murs des immeubles, au patrimoine de la mémoire, au patrimoine juif aussi bien sûr. Cette installation donnait une  dimension émotionelle énorme à ce monument qui est le cimetière des grands hommes et femmes de la nation. Soudain, les noms d’anonymes étaient projetés sur les murs, s’affichaient et s’effacaient en  grand format, donnant presque l’impression que le monument respirait au rythme de la révélation des images sur les murs du Panthéon.“ [21]

Siehe dazu auch den speziellen Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2020/05/01/zwei-besondere-jahrestage-der-8-und-9-mai-2020-und-das-pantheon-projekt-vom-18-und-19-september/

——–

Den Abbildungen der Plaketten in „Enfants de Paris“ ist ein Essay von Danièle Cohn vorangestellt, die wie Philippe Apeloig  einen eigenen familiären Bezug zu den plaques commémoratives hat: Die Geschichte  ihres Großvater Wilhelm Friedmann, eines österreichischen Intellektuellen. Bevor er das erhoffte Visum in die USA erhielt, wurde er von den Nazis verhaftet  und nahm sich „als freier Mann“ selbst das Leben (62/63).  Die Tafel in einem kleinen Ort der Pyrenäen, die an ihn erinnert, ist in dem sensiblen Text Danièle Cohns abgebildet. Die Überschrift des Essays:  „Voir et écouter les murs„, was als Einladung zum Umgang mit den Erinnerungstafeln verstanden werden kann.  Der Text schließt mit den Worten, die ich zum Abschluss dieses Textes zitieren möchte:

Les hommes et les femmes abattus, déportés n’ont pas laissé de trace dans un ‚ici‘. La chute des corps atteints par une balle ennemie n’a pas laissé d’empreinte, c’est l’inquiétude de ceux qui ont survécu, puis la force du souvenir des vivants qui en ont inventé la trace, et ceci vaudrait plus encore pour les corps brûlés dans les camps: pas d’image, pas de marque matérielle, et la tâche des plaques devient alors de tracer au sens littéral du trait, de l’incision, de l’inscription pour que nous soyons marqués, et à la fin heureux d’avoir eu la chance de l’être.“ (S. 70)

Dieser Text wurde am 25. August 2019, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Paris, in den Blog eingestellt, im Mai 2022 wurde er bearbeitet/aktualisiert.  Wolf Jöckel  D 61440 Oberursel/ F 75011 Paris

Anmerkungen:

[1] https://fr.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Frot

[2] Siehe den Blog-Beitrag: Über den Dächern von Paris: Blicke von unserer Terrasse.             https://paris-blog.org/2016/03/31/sonnenuntergang-in-paris/

[3] Siehe den Blog-Beitrag: Wohnen, wo einmal die Guillotine stand. https://paris-blog.org/2016/06/14/wohnen-auf-historischem-boden-la-grande-et-la-petite-roquette/

[4] http://www.ajpn.org/internement-Prison-de-la-Roquette-470.html

[5] Solche Tafeln gibt es an allen Pariser Schulen. Sie wurden mit Unterstützung der Stadt Paris von der Association pour la Mémoire des Enfants Juifs déportés  (AMEJD) angebracht. Eine Aufstellung findet sich bei Apeloig, Enfants de Paris, S. 1101-1103

[6]https://fr.wikisource.org/wiki/Discours_prononc%C3%A9_lors_des_comm%C3%A9morations_de_la_Rafle_du_Vel%E2%80%99_d%E2%80%99Hiv%E2%80%99

Inzwischen gibt es eine Fülle von Literatur zur rafle du Vel d’Hiv. Hervorheben möchte ich hier nur die folgende Veröffentlichung, nicht nur weil Paul Tillard der Vater einer guten Pariser Freundin ist, sondern weil es sich auch um eine ganz frühe Veröffentlichung zum Thema handelt: Claude Lévy et Paul Tillard (préf. Joseph Kessel), La Grande rafle du Vel d’Hiv : 16 juillet 1942, Paris, Éditions Robert Laffont, 1967 ; rééd. Tallandier, coll. « Texto », 2010

Kurzinformation unter: https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-in-paris-die-razzia-im-wintervelodrom.871.de.html?dram:article_id=391170

https://de.wikipedia.org/wiki/Rafle_du_V%C3%A9lodrome_d%E2%80%99Hiver

siehe auch die Erinnerungsplakette am ehemaligen Velodrom d’Hiver bei Apeloig, 815

[7] http://www.genami.org/culture/rafle-paris-20-aout-1941.php

https://blogs.mediapart.fr/albert-herszkowicz/blog/230811/memoire-la-rafle-meconnue-du-20-aout-1941-paris

[8] Ähnliche Tafeln  (stèles) gibt es in jedem Arrondissement. Initiator ist auch hier die AMEJD. Eine Zusammenstellung findet sich bei Apeloig, Les Enfants de Paris, S. 1092 f.

[8a] siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/06/02/von-frankfurt-nach-paris-und-zurueck-die-stolpersteine-in-der-westendstrasse/

[8b]  Philippe Apeloig hat den Titel des Buches ausdrücklich auch deshalb gewählt, „weil die meisten aufgeführten Personen unglaublich jung waren“.  siehe: Xavier de Jarcy,  Le Paris de 1939-1945 raconté par ses plaques commémoratives. Télérama vom 9.1.2019. Jarcy berichtet in dem Text über einen Rundgang mit Philippe Apeloig vom Faubourg- Saint-Antoine zum Marais.

[8c] Philippe Apeloig, plaques commémoratives. Un monument éclaté. In: Tenou’a, hors série 2022, S. 28-33

[9]  Zu den Stolpersteinen siehe die Blog-Beiträge: Von Frankfurt nach Paris und zurück: Die Stolpersteine in der Westendstraße. https://paris-blog.org/2016/06/02/von-frankfurt-nach-paris-und-zurueck-die-stolpersteine-in-der-westendstrasse/ und:  https://paris-blog.org/2016/12/18/stolpersteine-in-frankfurt-am-main-eine-buchempfehlung/

Allein in Berlin wurden bisher 9512 Stolpersteine verlegt. (Stand Mai 2022) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Berlin#:~:text=Insgesamt%20wurden%20in%20Berlin%20(Stand,76%20von%2096%20Berliner%20Ortsteilen.

In Frankreich werden inzwischen auch Stolpersteine installiert. Allerdings sind sie viel weniger verbreitet und es gibt auch prominente Kritik daran. So von Serge Klarsfeld:  „J’étais contre les Stolpersteine, parce qu’il n’y a pas de marque des respect à marcher sur de petites plaques qui signalent que des gens on été arrêtés. Il faudrait mettre des plaques sur tous les immeubles.“ In: Tenu’a. hors série 2022, S. 10

[10] Dies jedenfalls war die erklärte Absicht Apeloigs bzw das Resultat der äußerst aufwändigen Bemühung, die bis dahin nicht katalogisierten plaques commémoratives systematisch zu erfassen und zu fotografieren. . Siehe sein Interview mit Norbert Czarny, Plaques sensibles. https://www.en-attendant-nadeau.fr/2019/01/01/plaques-sensibles-apeloig/ und das Interview mit Élie Papiernik in Tenu’a, hors série 2022, S. 31: „Le résultat, pour moi, était de faire un livre d’art.“

[11] Siehe den Blog-Beitrag: Das Pantheon der großen (und der weniger großen) Männer und der wenigen großen Frauen: https://paris-blog.org/2018/04/01/das-pantheon-der-grossen-und-der-weniger-grossen-maenner-und-der-wenigen-grossen-frauen-1-das-pantheon-der-frauen/

[12] Die Deutsche Botschaft Paris hat deshalb 2015 die Herausgabe eines Buches über den deutschen Widerstand gefördert (Vorwort der damaligen Botschafterin Frau Wasum-Rainer), mit der ausdrücklichen Begründung, dass der deutsche Widerstand gegen das Hitlerregime in Frankreich wenig bekannt sei: Philippe Meyer, Ils étaient des Allemands contre Hitler. Editions L’Âge d’Homme.

Über deutsche Antifaschisten, die auf Seiten der französischen résistance gekämpft haben: https://www.reseau-canope.fr/cndpfileadmin/pour-memoire/le-50e-anniversaire-du-traite-de-lelysee-et-les-relations-franco-allemandes/le-temps-des-ennemis-hereditaires/les-resistants-allemands-en-france/

[12a]  Siehe: https://paris-blog.org/2021/11/03/le-musee-carnavalet-das-museum-der-pariser-stadtgeschichte-ist-wieder-eroffnet-ein-erster-rundgang/  AAA

[13] Die schöne Rede, die der Professor für vergleichende Literatur Lionel Richard bei der Enthüllung der Tafel hielt, ist abgedruckt unter:  http://www.alfred-doblin.com/hommages-et-critiques/ecrivain-xx-siecle-pantheon/ Zu Wolfgang Döblin siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_D%C3%B6blin Dort wird als Datum der Enthüllung 2006 angegeben.

[14] Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wiener Vorlesungen im Rathaus, Bd 161. 2012

[15] https://www.lepoint.fr/afrique/debarquement-de-provence-les-soldats-venus-d-afrique-en-premiere-ligne-14-08-2019-2329922_3826.php

[16] Siehe dazu das preisgekrönte Buch von Olivier Guez, Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau-Verlag 2018

[17] Siehe den Blog-Beitrag über den Faubourg-Saint-Antoine, das Viertel des Holzhandwerks. https://paris-blog.org/2016/04/04/der-faubourg-saint-antoine/

[18] Eine Aufstellung aller Erinnerungsorte, die in den 7 von Nora herausgegebenen Bänden behandelt werden, findet sich bei: https://fr.wikipedia.org/wiki/Lieu_de_m%C3%A9moire

[19] Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/08/13/der-buergerkrieg-in-frankreich-1871-ein-rundgang-auf-dem-friedhof-pere-lachaise-in-paris-auf-den-spuren-der-commune/

[20] http://www.academie-francaise.fr/prix-thiers

[21] Philippe Apoloig zum Abschluss seines Interviews mit Élie Papiernik in: Tenu’a, hors série 2022, S. 33: