Das Théâtre des Champs-Élysées oder die Hervorbringung einer Inkunabel der ‚Nationalen Moderne‘. Von Ulrich Schläger

…Ich werde einen ganzen Band brauchen, um die wahre, wundersame, trostlose Geschichte der Errichtung „meines Theaters“ zu erzählen. Gabriel Astruc

Vorwort

Ja, ein ganzes Buch ließe sich zur komplizierten und auch verwirrenden Geschichte des Théâtre des Champs-Élysées schreiben. Hier wollen wir uns nur auf seine Architektur beschränken. Musikgeschichtliche Aspekte werden in diesem Zusammenhang nur gestreift. Auch auf die sicherlich interessante Nutzungsgeschichte nach 1913 können wir nicht eingehen. Sie würde den Rahmen unserer Betrachtung sprengen.    

Im ersten Teil werden wir die Konzeption des Theaters bis hin zu seiner Realisierung inmitten des Ringens um eine nationale französische Architektur der Moderne verfolgen und mit seiner zeitgenössischen Rezeption schließen. Im zweiten Teil stellen wir den Bau und seine  Dekoration selbst mit besonderem Gewicht auf seine Fassade, sein Foyer und den großen Saal vor. Den Abschluss bildet die eigene Bewertung. (Lesezeit 60 Minuten)

I. Teil: Konzeption des Theaters bis hin zu seiner Realisierung

Kapitel I:  Gabriel Astruc hat eine Vision

Gabriel Astruc [1]

Alles beginnt mit Gabriel Astruc (1864–1938). Ohne ihn gäbe es das Théâtre des Champs-Élysées nicht. Astruc, Sohn des Großrabbiners von Belgien, ist eine schillernde Persönlichkeit: Stammgast im Bohème-Kabarett Le Chat Noir in Montmarte, Kolumnist, Herausgeber des Musikmagazins Musica, Dramatiker, Booking-Agent und Impresario. Die von ihm 1905 gegründete Société Musicale G. Astruc et Cie organisiert die „Grande Saison de Paris“, die jedes  Jahr von April bis Juni eine große Anzahl von Musikveranstaltungen bot, die eine große Vielfalt an Genres, Stilen und Musiktraditionen umfassten und bei denen einige der berühmtesten Künstler aus aller Welt auftraten. Astruc bringt auch Sergei Diaghilevs Ballets Russes und Strawinsky auf die Pariser Bühnen. Und Strawinskys „Sacre du Printemps“-Aufführung im Mai 1913 gerät zum wohl legendärsten aller Theaterskandale, der fast das Ende des gerade erst erbauten Theaters bedeutet hättet.

1906 beginnt der leidenschaftliche Musikliebhaber und Gründer der Société musicale Astruc, unterstützt von Komponisten wie Claude Debussy, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré und Paul Dukas, seinen Plan zu verwirklichen, in Paris einen philharmonischen Palast zu errichten. Die Ideen hierzu reichen schon auf das Jahr 1902 zurück. In der Musikzeitschrift Musica hatte Charles Joly, enger Freund von Astruc, im Artikel Un Théâtre de musique idéal auf die Notwendigkeit eines neuen Musiktheaters in Paris hingewiesen. Für Joly verkörperten zwei Theater die idealen Bedingungen sowohl für Oper als auch für symphonische Musik, „intelligent gestaltet: das von Bayreuth und das des Prinzregenten in München“.[1a]

Beiden Theatern, Otto Brückwalds von 1872-1875 erbautes Festspielhaus in Bayreuth und das Prinzregententheater Max Littmanns, 1900/01 errichtet, sind die äußerste Zweckmäßigkeit bei von Zuschauerraum und Bühne mit Konzentration auf das aufgeführte Werk gemeinsam. Ein amphitheatralisch ansteigendes Auditorium bietet gute Sicht von allen Plätzen und durch die Einbeziehung eines Proszeniums, das sowohl eine Erweiterung des Bühnenraums zu den Zuschauern hin als auch einen Orchestergraben einschließt, verbessern sich die Sicht- und Hörbarkeit der Sänger.

Astrucs teilt Jolys Wertschätzungen wie auch dessen Bewunderung der Musik Richard Wagners. Später, 1933, in der nationalistisch aufgeheizten Stimmung, muss er sich gegen den Vorwurf verteidigen, er habe das Théâtre des Champs-Élysées gebaut, um „Wagnersche Klänge“ aufzuführen.[2] Astrucs Vorstellungen gehen über die Jolys hinaus. Er strebt danach, die  Grande Saison an einem einzigartigen Ort zu veranstalten. Sein Palais Philharmonique soll ein Mehrzwecktheater sein, das wegen der angestrebten Genre- und Stilvielfalt mehrere Säle unterschiedlicher Größe umfassen soll. Frühe Entwürfe des Projekts zeigen, dass das Theater drei Säle umfassen sollte: Der Grande Salle, in dem hauptsächlich Orchestermusik, Oper und Ballett aufgeführt werden sollten, bot Platz für 2500 Zuschauer. Der Salle Moyenne, der für Kammermusik (bis zu 50 Musiker) und Virtuosen bestimmt war, fasste bis zu 1200 Personen. Der Petite Salle schließlich war so konzipiert, dass etwa 800 Personen kleinere Konzerte und Kunstausstellungen genießen konnten.

Herrschte in Paris, wie Astruc und Joly meinten, zu Anfang des 20. Jahrhundert bezogen auf die Vielfalt und Fülle des Musik(theater)programms ein veritabler Mangel an modern ausgestatteten Aufführungsstätten? Die Frage wird kontrovers beantwortet. Leila Zickgraf [3] bejaht diese Frage: Kammermusikkonzerte und Recitals mussten in den Salons der Klavierbauer, wie im La salle Pleyel der Klaviermanufaktur Pleyel, abgehalten bevor sich die Situation durch die Eröffnung der Salle Gaveau etwas verbesserte.  Für Symphoniekonzerte war der einzige Saal mit einer guten Akustik die Salle du Conservatoire, ausschließlich für die etwa 24 Konzerte der Société des concerts du Conservatoire pro Jahr reserviert. Andere Säle und Häuser konnte Astruc zu selten anmieten, wie das Théâtre du Châtelet, das  Sarah-Bernhardt-Theater oder die Opéra Nationale de Paris.

Cesar A. Leal [4] hingegen meint, dass im gesamten 19. Jahrhundert in den Pariser Theatern große dramatische Werke erfolgreich aufgeführt wurden und sich „während der  Grande Saison de Paris vor 1913 …nicht allzu sehr vom Repertoire des Théâtre des Champs-Élysées während seiner Eröffnungssaison unterschieden.“ [5]

Die genannten Konkurrenz-Theater werden, wie wir sehen werden, später noch eine Rolle spielen, als es um die Genehmigung für den Standort von Astruc neuem Theater an den Champs-Élysées geht.

Kapitel II: Das Theater soll an den Champs-Élysées gebaut werden

Astruc hat für sein Musiktheater, das auf den ersten Plänen als Palais philharmonique firmiert, einen prominenten Platz auserkoren: am Standort des ehemaligen, von Jakob Ignaz Hittorff erbauten Sommerzirkus im Carré Marigny an den Champs-Élysées, nahe am Rond Point. Der Zirkus war um 1902 abgerissen worden.

Projekt eines Palais philharmonique im Jardin des Champs-Élysées [[5a]]

Mit dem Bau des Palais philharmonique wird zunächst der Schweizer Architekt Henri Fivaz (1856-1933) beauftragt. Fivaz hatte am Polytechnikum in Zürich studiert. Er hatte sich 1877 in Frankreich niedergelassen. Sein Architekturbüro baute Wohngebäude, das Hotel Bedford und das Restaurant Victoria in Paris, entwarf mehrere Theater-, Kasino- und Hotelprojekte außerhalb von Paris, und war auch international tätig.

Schon am 8. Juni 1906 teilt Astruc der Stadtverwaltung mit, dass die Pläne für das Theater fertig seien:  „… Ich habe Herrn Bouvard, dem Leiter der Architekturabteilung der Ville de Paris, im Voraus fünf Pläne des Projekts für den Philharmonie-Palast geschickt, den ich auf dem Gelände des alten Cirque d’Eté errichten möchte.“ [6]

Nicht realisiertes Projekt der Fassade des Théâtre des Champs-Élysées [6a]

Mit „Herrn Bouvard“ ist Joseph-Antoine Bouvard gemeint, der Adolphe Alphand als Direktor der Architektur-, Promenaden- und Gartenbehörde von Paris nachfolgte. In seinem Büro arbeitet auch sein Sohn Roger Bouvard als Architekt. Schon bald wird der junge Roger Bouvard Fivaz zur Seite gestellt. Man kann nur vermuten, dass durch diesen Schachzug, die Genehmigung der Theaterpläne befördert werden soll. 

Interessanterweise findet sich auf den Plänen mit dem Datum „April 07“, für das Palais philharmonique im Archiv des Théâtre des Champs-Élysées nur noch der Name „R. Bouvard“, aber  nicht ein Einzelplan mit dem Namen Fivaz allein oder mit Fivaz & Bouvard. Nur eine von Astruc präsentierte Zusammenstellung zeigt in drei Grundrissen und einem Längsschnitt von Henri Fivaz die Verteilung der drei Säle. Fivaz tritt schon früh von der Planung zurück oder wird herausgedrängt. Wann dies geschieht (1906 oder 1908), wird unterschiedlich angegeben. Bouvard nimmt die Studien zunächst allein wieder auf. Seine Pläne zeigen einen Bau im Louis-seize-Stil.

Kapitel III: Astrucs „elysischer Traum“ scheitert

Die Gründe sind vielfältig, warum das Projekt an den Champs-Élysées trotz Unterstützung mächtiger Mäzene, bedeutender Musikerpersönlichkeiten und Musikkritikern wichtiger Pariser Zeitschriften scheitert: Künstlerische Veranstaltungsorte wie die Opéra, die Opéra Comique, das Châtelet, das Théâtre Sarah Bernhardt und die Salle Pleyel empfinden Astrucs Projekt, die kulturellen Veranstaltungen der Grande Saison de Paris an einem Ort zu konzentrieren, als finanzielle Bedrohung. Gleiches gilt auch für Konzertveranstalter, für die Astruc mit seinem Musiktheater an diesem exponierten Ort eine unliebsame Konkurrenz darstellt und die deshalb bei der Stadt dagegen opponieren. Wiederstand kommt auch von den Anwohnern, die ein erhöhtes Verkehrsaufkommen durch die Theaterbesucher befürchten. Gegnern des Theaters führen an, dass sein Bau sich negativ auf die „schönste Promenade der Welt“ auswirken würde. Für den Bau müsste man auch „einige der schönsten Bäume der Champs-Élysées zerstören“. [7] Die stärkste Opposition kommt von der Seite des Pariser Stadtrates. „Gegen mich“, schreibt Astruc in seinen Memoiren, „richtet sich der Antisemitismus eines von La Libre Parole [8] unterstützten Stadtrats und die offene Feindseligkeit eines Stadtrichters, eines engen Freundes der Musik, aber eines noch engeren Freundes der Oper.“[9]

Seit Oktober 1907 ruht das Projekt mehr als ein Jahr lang. Im Stadtrat nimmt die Zahl der Gegner zu. Den Schlusspunkt in der Debatte setzt André Hallays, Anwalt, Journalist und Verfechter des französischen Erbes, der Commission du Vieux Paris, mit der Forderung, die Reste des alten Paris zu bewahren, d.h. auch das Gelände des ehemaligen Sommerzirkus nicht wieder zu bebauen. Auch die verspätete Vorlage einiger der angeforderten Finanzunterlagen durch Astruc dient den Gegnern des Projekts als juristisches Argument.

Im Jahr 1909 wird die 1906 an Astruc erteilte Genehmigung zum Bau seines Théâtre des Champs-Elysées am Standort des alten Cirque d’Eté vom Pariser Stadtrat offiziell zurückgezogen. Sein Kommentar im Le Figaro vom 7. Juli 1909: „Gott hat es mir gegeben, Gott hat es mir weggenommen! Die Stadtverwaltung hatte mir die Konzession für das Gelände an den Champs-Elysées versprochen. Der Stadtrat hat sein Versprechen zurückgezogen.“[10]


Kapitel IV: Das Théâtre des Champs-Élysées wird an der Avenue Montaigne gebaut

Der Stadtrat hatte seinen „elysischen Traum“ zunichte gemacht, doch Astruc gibt nicht auf: „Der Zyklon zog vorüber, ich sammelte die zerbrochenen Steine ​​ein, bekam wieder Mut und begann wieder zu bauen.“[11]

Cesar A. Leal kann in seiner Dissertation anhand von Archivmaterial in der Sammlung von Astruc-Papieren zeigen, dass es der Société du Théâtre des Champs-Elysées unter der Leitung von Astruc schon Anfang 1910 gelingt, ein neues Grundstück in der Avenue Montaigne 13-14 für 2.000.000 F zu erwerben. Astruc konnte hierzu die meisten seiner  bisherigen Investoren und Unterstützer mobilisieren. Die Situation nach dem Scheitern des Projektes an der Champs-Elysées wird in der Dissertation von Colin Nelson-Dusek [12] ganz anders darstellt und macht die Schwierigkeiten sichtbar, Licht die Geschichte des Theaters zu bringen. Nach Colin Nelson-Dusek sei Astruc seines Postens als Projektleiter enthoben worden, Gabriel Thomas sei zum neuen Leiter des neu organisierten Theaterkomitees gewählt worden und es sei die Entscheidung von Thomas gewesen, den endgültigen Standort in die Avenue Montaigne zu verlegen. Unter seiner Leitung, nach seinem künstlerischen Geschmack sei das Theater erbaut worden. Wie auch immer, Astruc verliert an Einfluss. Thomas, der reiche Finanzier und Kunstmäzen, drängt Astruc mehr und mehr aus der Société heraus.

Geradezu genial ist die Idee, das Theater nach dem ursprünglich geplanten Standort zu benennen. Sie könnte dem Gehirn von Astruc wie dem von Thomas entsprungen sein. Im Namen Théâtre des Champs-Elysées spiegelt sich prestige- und werbewirksam Kosmopolitismus, Eleganz und Kultiviertheit von Paris wieder. „Vielleicht“, so mutmaßt Cesar A. Leal, „stellte die Beibehaltung des Namens den Sieg über die bedrohlichen antisemitischen und politischen Kampagnen verschiedener Pariser Gruppen dar“. [13]

Roger Bouvard übernimmt zunächst allein die Planung für das gesamte Projekt in der Avenue Montaigne. Seine Entwürfe fügen den Bau in Fluchtlinie der bestehenden Bebauung ein und legen die innere Organisation der Räume fest, und finden hier die Zustimmung der Société. Bemängelt aber werden in den von Bouvard im Frühjahr 1910 vorlegten Studien die Ästhetik des Gebäudes und die ungenügende Einbindung des großen Saals in das Gesamtgefüge des Baus. Sie stehen im Widerspruch zur angestrebten Modernität und Funktionalität des Musiktheaters sowie zum Repräsentationsbedürfnis des Pariser Publikums.

Kapitel V: Henry van de Velde wird berufen

Nicola Perscheid – Henry van de Velde 1904

Ob von Gabriel Thomas oder von Gabriel Astruc die Initiative ausging, Henry Van de Velde in die Theaterplanung einzubeziehen, muss angesichts widersprüchlicher Darstellungen[14] offenbleiben. Über den Maler Maurice Denis, der später die Kuppel des großen Saals des Théâtre des Champs-Élysées gestalten wird und  sowohl Freund von Thomas wie von Astruc ist, wird Kontakt zu dem belgischen Designer und Architekten Henry van de Velde, dem Direktor der Kunstgewerbeschule in Weimar, aufgenommen. Van de Velde wird im Juni 1910 eingeladen, nach Paris zu kommen.

In seinen unvollendet gebliebenen Memoiren, erschienen unter dem Titel, „Geschichte meines Lebens“: schreibt er: „Die Chance, ein großes Theater zu bauen, lockte mich unwiderstehlich, nachdem zwei Möglichkeiten in Weimar fehlgeschlagen waren und sonst keine Aussicht bestand, meine Pläne und Modelle für ein Theater des neuen psychologischen Dramas zu verwirklichen. Trotzdem muss ich sagen, dass ich ohne mein Zutun, ja fast gegen meinen Willen zur Mitarbeit an dem Pariser Projekt veranlasst wurde. Es sollte in einem Land verwirklicht werden, von dem ich annehmen musste, dass es weit davon entfernt war, meine Ideen und Neuerungen zu akzeptieren. In dieser Situation begab ich mich auf Einladung von Gabriel Thomas nach Paris.“[15]

Man muss wissen, dass die Memoiren unter dem Eindruck seines Scheiterns in Paris geschrieben wurden und sicherlich begründen sollten, warum dies geschah.

Van de Velde, von der Malerei kommend, ist bislang eher als Produktdesigner und Raumgestalter, weniger als Architekt hervorgetreten. Er ist mit der Programmatik des Deutschen Werkbunds und mit „dessen generellem Ziel, über die ‚Dekoration des Lebens‘ eine ‚harmonische Kultur‘ zu schaffen“, verbunden und geht „weitgehend konform mit dem volkserzieherischen Leitgedanken des Jugendstils. Die Architektur wurde demgemäß als „öffentlicher Dienst“ erachtet, hatte entsprechend in erster Linie soziale und funktionale Aufgaben zu erfüllen.“[16] In diesem Sinne entsprach sie auch Positionen der französischen Art nouveau um 1900.

In Weimar hatte Van de Velde 1903 ein Reformtheater geplant, inspiriert durch ein Gastspiel des Ibsen-Ensembles der Schauspielerin Louise Dumont. Nach dem Vorbild und in Konkurrenz zu Bayreuth plante er ein Mustertheater in den Formen des Jugendstils. Schon hier hatte er versucht die theaterreformatorischen Ideen mit einer emotional wirkenden Raumgestaltung und Linienführung zu verbinden. Er scheiterte an Hofintrigen und am Klassizismus, dem Weimar sich verpflichtet fühlte.

Henry van de Velde: Perspektive des Entwurfs für das Dumont-Theater in Weimar, 1903. [16a]

Seine Beteiligung am Neubau des Weimarer Hoftheaters wusste der verantwortliche Architekten Max Littmann zu verhindern.[17] Erst 1914 wird er auf der Werkbundausstellung in Köln einen eigenen Theaterbau errichten, der aber die Ausstellung nicht überlebt.

Als Van de Velde nach Paris kommt, hat er sich zwar theoretisch mit den Anforderungen eines modernen Theaters und seiner künstlerischen Gestaltung auseinandergesetzt, aber für seine Konstruktion, die für ihn nur einen dienenden, untergeordneten Charakter hat, fehlt ihm die technische Kompetenz. Das wird zu seinem Scheitern auch in Paris betragen.

Weil er in Paris mögliche Konflikte befürchtet, lässt er sich zuvor die Zustimmung von Bouvard zu seiner Mitarbeit zusichern. Am 3. Dezember 1910 unterzeichnet Van de Velde den Vertrag mit der Société als beratender Architekt. Seine Einschätzung von Roger Bouvard, mit dem er zusammenarbeiten soll, spricht Bände: „Während unseres Gespräches hatte ich keinen Augenblick den Eindruck, mit einem Künstler, einem Architekten zu verhandeln, viel eher mit einem Verwaltungsrat oder einem Bankdirektor.[18] Diese Arroganz Bouvards gegenüber wird sich rächen.

Zu Van de Veldes Team gehört Eugène Milon, ein ehemaliger Mitarbeiter von Gustav Eiffel beim Bau des Eiffelturms, da zunächst ein Eisenskelett als tragende Konstruktion für das Theater vorgesehen ist, und  Marcel Guilleminault, ein junger Absolvent der École des Beaux-Arts zur Ausarbeitung seiner Skizzen. Die  drei reisen durch Deutschland, studieren Anlagen der Zuschauerräume, technischen Ausrüstungen der Bühnen und Beleuchtung nicht nur Bayreuth und München. Van de Velde berät Bouvard nicht nur, wie anfangs von der Baugesellschaft vorgesehen, sondern verändert die Baupläne in Absprache mit seinem Kollegen umfangreich, sodass er schließlich die gesamtgestalterische Leitung des Projekts übertragen bekommt.

Van de Velde wird von Gabriel Thomas massiv unter Druck gesetzt, einen Zuschauerraum zu schaffen, der van de Veldes Überzeugungen diametral entgegengesetzt ist: „Wir verlangten eine Zusammenfassung der Zuschauer und die Konzentration der Blickrichtung auf die Bühne. Alle, die Vertreter der privilegierten Klasse wie die bescheideneren Besucher, sollten in gleicher Weise den szenischen Vorgängen folgen können.“  Thomas hingegen meinte, „dass das französische Publikum keine andere Form des Zuschauerraumes akzeptiere als den Typus italienischer Tradition, der das gesellschaftliche, das mondäne Element eines Theaterabends betonte. Das französische Publikum,…wolle in erster Linie im Theater gesehen werden; er gab zu, dass dadurch ein großer Teil der Zuschauer einer guten Sicht auf die Bühne beraubt würde“.[19]

Stilbildend für den Theatertyp in „italienischer Tradition“ war das Gran Teatro La Fenice in Venedig, das sich nach dem Brand des ersten Theaters 1774 Phoenix-gleich, von 1790-1792 neu erbaut, aus der Asche wieder erhoben hatte.  

Da war die große Zeit Venedigs als Handelsmacht vorüber, aber die Stadt war mit dem Karneval, ihren Bällen, Konzerten, Opern und mit der Freizügigkeit der Sitten zum angesagten und eleganten Vergnügungsort Europas geworden.  Das glanzvolle Logentheater wurde Zentrum für ein Publikum, das selbst Teil dieser Lustbarkeiten war, von denen es angezogen wurde.

Der Journalist und Kunsthistoriker Jacques Mesnil, der sich kritisch mit dem  Théâtre des Champs -Élysées auseinandergesetzt hat, pointiert diese konträren Ansichten von Thomas und Van de Velde zur Aufgabe eines Musiktheaters: „Er [Gabriel Thomas] wollte ein Theater „de bien-être“ (des Wohlbefindens) schaffen, das auch, um es mit den üblichen Worten zu sagen, ein „Tempel der Musik“ sein sollte. Für diejenigen, die verstehen, was damit gemeint ist, gibt es aber einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Ansichten. Ein Tempel der Musik wäre ein Theater im Geiste Bayreuths, wo man kommt, um in ehrfürchtiger und gedämpfter Stille wahren Kunstwerken zu lauschen, die die Aufmerksamkeit des Publikums ganz in Anspruch nehmen. Das Theater „de bien-être“ wäre ein Theater, in dem die internationalen Snobs, auf deren finanzielle Unterstützung man sich sehr freut, die Toiletten ihrer Frauen oder Mätressen vorführen würden.“[20]

Auch der Kunsthistoriker, -kritiker und Museumskurator Paul Jamot, Propagandist des  Théâtre des Champs Élysées und von August Perret, meint „Ein Theater ist kein Konferenzraum. Die Show, die wir sehen wollen, findet auf der Bühne statt; aber es gibt auch eine im Saal. … Zumindest in Frankreich wäre es den Frauen und vielen Männern verdorben, wenn wir die besten Chancen, sich zu zeigen und gesehen zu werden, abschaffen würden.“[21]

Van der Velde versucht, den widersprüchlichen Bedürfnissen gerecht zu werden: Anstelle eines rechteckigen Grundrisses für den Saal, der allen Zuschauern ein gutes Sehen und Hören ermöglicht hätte, wählt einen runden Raum in „italienischer Tradition“, um eine maximale dekorative Wirkung zu erzielen.

Henry van de Velde – Ansicht des Raumes, entsprechend dem unausgeführten Entwurf. [21a]

Van de Velde löst dabei die ästhetische Schwierigkeit die Verbindung zwischen dem quadratischen Raum der Bühne und dem runden Zuschauersaal herzustellen, indem er die bogenförmige Verlängerung der Bühnen- und Proszeniumswände den geschwungenen Linien der Balkone des Saals entgegensetzt und dabei sich auf sein Rhythmusgefühl als Zeichner verlässt.

DE L’ENTRÉE SUR SCENE. Skizze zum ‘Théâtre des Champs-Elysées’ in Paris. Abb. aus Henry Van de Velde, Geschichte meines Lebens

Die Gestaltung erfolgt nicht aus konstruktiven Überlegungen, sondern aus einer ästhetischen Sensibilität heraus:

 „Die Gesetze und Bedingungen der Schönheit währen ewig – die Verhältnisse der Linien zu einander, der Farben zueinander und des verschiedenen Materials zueinander kann man verschiedenartig empfinden. Aber die Natur dieser Sensibilität bleibt dieselbe. Sie schöpft aus dem Mächtigsten und Reinsten, was in uns ruht – aus der Wollust, mit der wir uns in direkte Verbindung mit dem setzten, was das innerste Wesen aller Dinge ausmacht – mit dem Rhythmus. Durch die Wollust, mit dem wir diese Verhältnisse der Linien, der Farben und des Materials empfinden, sind wir zum Begriff der Schönheit der Architektur gelangt (…).“[22]

Die für offizielle Persönlichkeiten bestimmten Proszeniumslogen lässt er fort. Stattdessen nutzt er die weit vorgezogenen offenen Loggien der Proszenium-Segmente für die Zu- und Ausgänge zu beiden Seiten der Bühne und für die Theaterbesucher,  die dort während der Pausen promenieren, in den Zuschauerraum sehen und von dort gesehen werden konnten.

Henry van de Velde et R. Bouvard: Nicht ausgeführter Plan auf der Höhe der ersten Logen (Ende März 1911) .[22a]

Erst jenseits dieser Proszeniums-Segmente soll der eigentliche Zuschauerraum beginnen.  Bei weiter nach vorne gezogenen Balkonen und von den höheren Galerien wäre das Sichtfeld auf die Bühne unzureichend gewesen. Diese Form der Balkons und Loggien in van de Veldes Plänen von Dezember 1910 und von März 1911 sollte die Grundlage für die spätere Bauausführung sein.

In genannten Plänen erkennt Christian Freigang [23] auch ein Proszenium, in dem ein Orchestergraben geplant ist und die – in abgedeckter Form – zugleich eine bespielbare Vorderbühne bildet, also ein von Littmann inspiriertes Bühnenmodell.

Kapitel VI: Auguste Perret tritt hinzu

Was nun folgt, entwickelt sich zur Kontroverse über die Urheberschaft des Théâtre des Champs Elysées.

Ursprünglich war, wie gesagt, eine Eisenkonstruktion als Grundgerüst für das Theater vorgesehen. Wegen des dazu hohen finanziellen Aufwandes zieht van de Velde selbst aus Kostengründen eine Konstruktion aus Stahlbeton (béton armé) in Betracht. Sein Freund, der Maler Théo van Rysselberghe weist ihn auf Auguste Perret hin, der sich auf Betonkonstruktionen spezialisiert hat und zusammen mit seinen beiden Brüdern Gustave und Claude die Firma „Perret Frères-Architectes-Constructeurs-Béton Armé“ führt.

Auguste Perret (1874-1954) vor Entwuirfszeichnungen der Kirche von Raincy und des Theaters der Ausstellung von 1925 [23a]

Die Firma Perret geht auf den Steinmetz Claude Marie Perret zurück,  der als 20-Jähriger in Paris mit revolutionären Ideen in Berührung kommt. Er schließt sich dem Aufstand der Kommune 1871 an und wird nach dessen Niederschlagung beschuldigt, an der Brandlegung der Tuileries beteiligt gewesen zu sein. Um den Repressionen zu entgehen, flieht er mit seiner Frau nach Brüssel. Hier gründet er seine erste Baufirma, und dort werden seine drei Söhne (Auguste, Gustave und Claude) geboren. Die Firma floriert, doch 1880 nach der Amnestie für die Aufständischen der Kommune, kehrt er nach Paris zurück. In seine Baufirma von 1883 treten nach und nach seine Söhne ein. Das Unternehmen firmiert von 1897-1905unter dem NamenEntreprise Perret et Fils, dann – nach dem Tod des Vaters – von 1905-1954als Entreprise Perret Frères – Architectes – Constructeurs – Béton Armé.

Das Haupt dieser Firma ist Auguste Perret, der wie dann auch sein Bruder Gustave an der École des Beaux-Arts in Paris studierte. Beide wurden von dem Architekten und Architektur-theoretiker Julien Guadet nachhaltig beeinflusst. Nach Guadet sollten sich Respekt vor der Tradition mit einer modernen, rationalistischen Konzeption und Funktion von Gebäuden, neue Materialien und technische Konstruktionen berücksichtigend, verschmelzen.

Ab 1894 ist Auguste Perret im väterlichen Bauunternehmen tätig. Seit 1900 beschäftigt er sich mit Bauten in Eisenbeton und wird zu einem der Pioniere des Stahlbetonbaus (parallel zu François Hennebique und Eugène Freyssinet). In seinem Büro arbeitet zwischen 1908 und 1909 u.a. Le Corbusier (noch unter seinem eigentlichen Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris). Perrets erste Stahlbetonbauten sind 1904 das Wohnhaus 25-2, Rue Franklin, Paris und 1907 die Auto-Garage in der Rue Ponthieu, Paris (nicht mehr erhalten).

Bedeutende Bauten nach dem Théâtre des Champs-Élysées (von 1911-1913) sind 1923 die Pfarrkirche Notre-Dame in Le Raincy, ein dreischiffiger Hallenbau in Sichtbeton unter Verwendung standardisierter Bauelemente, 1924 der „Tour Perret“ in Amiens, das erste Stahlbeton-Hochhaus in Europa, 1932 das Wohngebäude 51-55 rue Raynouard, Paris, 1936  das Mobilier national (staatliches Möbellager für Behörden und Ministerien), Paris und  1939  das Musée des Travaux Publics (heute das Palais d’Iéna) in Paris. Von 1945-1954 war er hauptverantwortlicher Stadtplaner für den Wiederaufbau des von den Alliierten völlig zerstörten Le Havre, das 2005 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde.

Ein Exkurs

Wir unterbrechen hier die Chronologie des Theaterbaus, um in einem Exkurs die Kontroverse um die Urheberschaft am Théâtre des Champs-Élysées und seine architekturgeschichtliche Einordnung  zu verstehen. Dazu begeben wir uns in das Frankreich am Ausgang des 19. und in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

  • Der Weg aus der Krise des Architektenberufs

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zeichnet sich eine Krise des Architektenberufs ab. Nach Auffassung des Architekten und Ingenieurs Emile Trélat, Eleve der École Centrale, der bedeutenden Pariser Ingenieurschule,  hatte „der Architekt die Fähigkeit verloren, die Anforderungen einer Epoche zu erfüllen, die ihrerseits dem Architekten das Recht verweigerte, im Namen der Kunst ihr Interpret zu sein. Die Situation sei umso schlimmer, als es keine systematische Ausbildung gebe und die Architekten gezwungen seien, verschiedene Materialien zu verwenden, deren wissenschaftliche Eigenschaften sie nicht kennen würden. Infolgedessen fühlten sie sich den Ingenieuren gegenüber relativ ohnmächtig und unterlegen.“[24] Die Ursache sieht Trélat in einer fehlenden technischen Ausbildung. Wie Eugène Viollet-le-Duc, der 1863 sich vergeblich bemüht hatte, den Ausbildungskanon der École des Beaux-Arts zu reformieren,  wandte er sich gegen deren Lehrmonopol. Deshalb gründet Trélat zusammen mit Viollet-le-Duc 1864 die École Spéciale d’Architecture nach dem Vorbild der École Centrale, aus der u.a. Gustave Eiffel hervorging. Die École Spéciale sollte versuchen, ein neues Profil für den Architekten zu definieren, das auf der Aneignung bestimmter Fähigkeiten des Ingenieurs beruhte.

Wenn Architektur als „Kunst der Raumgestaltung“ untrennbar mit der Idee der Konstruktion verbunden ist und ihre Wurzeln im rationalistischen Denken hat, dann musste  der Architekt wieder zum Baumeister werden. „Im Sinne dieses rationalistischen Ideals des Baumeisters versuchten die Brüder Perret die Integration von Architektur und Bauwesen: Pläne, Berechnungen, Ausführungen lagen in derselben Hand. Perret beanspruchte ausdrücklich den Titel des Baumeisters, der für ihn die eigentliche Kompetenz des Architekten bedeutete. In einem Interview, das er 1926 der Zeitschrift Comoedia gab, stellte er den offiziellen, an der École des Beaux Arts ausgebildeten Architekten dem Bauarchitekten gegenüber, dessen Ziel nicht so sehr darin bestand, nach Rom, in die Villa Médici, sondern auf die Baustelle, in die Fabrik und in die Werkstatt zu gehen, um die Bedingungen des Bauens zu studieren. Der Architekt ist nicht nur ein Künstler, ein Träumer der Form; die Linien eines Projekts müssen von ihm ausgeführt werden, er muss bauen, konstruieren, erreichen“.[25] Jakob Ignaz Hittorff, der, wie sein Gare du Nord und die kühnen Dachkonstruktionen des Panoramas und der Zirkusbauten zeigen, zugleich Architekt und Ingenieur war,  hätte diesen Satz auch  unterschreiben können.

Aber die Krise des Architektenberufs lag nicht nur beim Reformunwillen der École des Beaux-Arts, sondern an der zunehmenden Arbeitsteilung in den industriell fortgeschrittenen Ländern. „Die Firma der Gebrüder Perret, die den gesamten Produktionsprozess von der ersten Skizze bis zu den Arbeiten auf der Baustelle kontrollierte, war schon zu einer Ausnahme im französischen Bauwesens des zwanzigsten Jahrhunderts geworden.“ [26]

Nach dem Gesagten wird klar: Mit dem Selbstverständnis von Auguste Perret war beim Bau des Théâtre des Champs-Élysées eine Begrenzung nur auf die technische Seite der Betonkonstruktion nicht zu machen. Er griff mit eigenen Vorstellungen in die archi-tektonische Gestaltung ein, was zwangsläufig zu einem Konflikt mit van de Velde führen musste.

  • Die Konstruktion einer nationalen architektonischen Identität

Die Forderung nach einer nationalen architektonischen Identität in Frankreich beginnt bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Im Zuge eines wachsenden Nationalismus in Frankreich Anfang des 20. Jahrhundert, nicht nur ausgelöst durch die Niederlage im Krieg 1870/71, sondern auch durch innerfranzösische gesellschaftliche Auseinandersetzungen, richtet sich die Kritik zunächst gegen den art nouveau, den Jugendstil, insbesondere den im deutschen Kunsthandwerk, das als unliebsame Konkurrenz erlebt wird, und weitet sich auch auf die Architektur aus.  Ein Wortführer dieser Kritik ist der Kunstschriftsteller André Vera.  Eine vollständige Reform der »angewandten« Künste Architektur, Gartenkunst und des Kunsthandwerks, werde sich nur im Zuge der nationalen Erneuerung vollziehen. „Die vorangegangene Epoche sei mit ihrer Betonung des »Gefühls«, von Pazifismus und Sozialismus (…) beherrscht gewesen. Die Regierung habe wegen ihres Antimilitarismus und Atheismus die nationale Tradition nicht bewahrt.“ [27] „Nunmehr aber würden wieder Klarheit, Maß und Harmonie in allen Kompositionen Einzug halten. Gemeinsames Wirken der Künstler würde die frühere individualistische Entäußerung ablösen.“ (André Vera) [28]

 „Dem mystisch-irrationalen, geschmackslosen, aber effizient organisierten Deutschen wurden bestimmte nationale Charaktere gegenübergestellt, eben diejenigen von clarté, simplicité und raison. …. So paare sich das herausragende französische Wesensmerkmal, die Vernunft und Logik in der Konstruktion und Wahrnehmung der Umwelt, mit deren gefühlsmäßig erfahrbarer Beseeltheit. Dieser Grundsatz bildet auch das maßgebliche Fundament der späteren Kritik an der Maschinenästhetik der Internationalen Moderne.“[[29]]

In den Auseinandersetzungen um eine nationale architektonische Identität, die die Form eines Kulturkampfes annahmen, schlugen sich also deutliche volkspsychologische Klischees und ein Chauvinismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nieder.

In der Einforderung einer neuen Formensprache mit Vereinfachung und Typisierung historischer Bauformen, hergeleitet aus der französischen Architekturtradition und den genannten französischen Wesensmerkmalen, wird sie zum Modell einer zeitgemäßen nationalen französischen Moderne.

 „Nicht mehr der Dekorateur und Skulpteur, sondern der Architekt dominiere nunmehr wie die Baukonzeption. Er lasse Ornament nur als Relief an markanten Stellen zu, komponiere ansonsten durch richtig proportionierte Oberflächen…Der neue Stil sei symmetrisch, ruhig und sichtbar gelassen, im Gegensatz zur Bewegtheit der Fassaden zuvor…Die Abwendung vom internationalistischen Jugendstil werde die besonderen Merkmale der französischen race zum Ausdruck bringen: Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie.“[30]

Dies sei der Kern des zivilisatorischen Wirkens der französischen Nation, das von der griechischen Antike, dann über Rom und seit der Christianisierung im Mittelalter schließlich auf Paris übergegangen sei. „Der griechische Geist, von Logik, Schönheit und Einfachheit geprägt, habe zunächst die orientalischen Barbaren zivilisiert und sei anschließend die Grundlage Europas und insbesondere Frankreichs und Paris geworden… Die erfolgreiche Fortsetzung des uralten antiken Erbes stellt eine essentielle Verpflichtung für die Zukunft und somit einen wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität dar.“ [31] Dieser  moralisch und historisch vermittelte Zivilisationsauftrag war Grundkonsens innerhalb der katholischen, laizistischen, monarchistischen und demokratischen Lager. In den Bauformen und –motiven Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie einzufordern, stiftete nationale Identität.

Nach dem Großen Krieg wendet sich diese Forderung nach einer nationalen Architektur zunehmend gegen die sog. Internationale Moderne und ihren Protagonisten Le Corbusier.  Das aktuelle französische Bauen müsse darauf zielen, Zeitgemäßes mit der Bewahrung nationaler Traditionen zu  verbinden. Als Hauptprotagonist dieser Auffassung gilt fast unangefochten der Architekt Auguste Perret (1874-1954),  der beansprucht, das moderne Material Eisenbeton in eine schlichte, klassizistische Form zu überführen.

Eine Schlüsselstellung hierin nehmen das 1911-13 vom  Atelier Perret ausgeführte Théâtre des Champs-Elysées in Paris  und die in seinem Zusammenhang geführten Diskussionen ein.

Kapitel VII: Auguste Perret greift in die architektonische Gestaltung ein und verdrängt van de Velde

Van de Velde lernt Perret am 26. Januar 1911 kennen und lässt Perret drei Tage später seine Pläne zukommen mit der Bitte um einen Kostenvoranschlag für eine Ausführung des Rohbaus in armiertem Beton. Wenige Tage später antwortet Perret, dass man die Ausführung übernehmen wolle und dass mit einer bedeutenden Einsparung gerechnet werden könne.Was jetzt folgt, ist die überaus geschickte Strategie Auguste Perrets, van de Velde aus der Planung des Theaters heraus zu drängen und die Urheberschaft für den Bau zu beanspruchen:

Im März 1911 bittet Perret van de Velde die Stützen der Halle zur besseren Druckverteilung und Tragfähigkeit zu verändern. Van de Velde gibt dieser rein technischen Bemerkung nach, deren Richtigkeit er nicht überprüfen kann, und passt seine Pläne entsprechend der Stahlbetonbauweise an. Diese Verbesserungen finden sich in den von Bouvard und Van de Velde unterzeichneten Plänen vom 30.März 1911. An diesem Tag wird die Firma Perret mit der Ausführung des Rohbaus betraut.

Aus der Sicht des Instituts Auguste Perret wird dieser Vorgang völlig anders dargestellt: Auf der Grundlage von Van de Veldes Plänen sei das Theater in Stahlbeton nicht baubar gewesen und man habe mit der Untersuchung der Struktur des Gebäudes begonnen.

A. et G. Perret 1910-1913. Stahlbeton-Skelett des Théâtre des Champs-Élysées [31a]

In einem Artikel des Institut Auguste Perret liest sich das so [32]: „Innerhalb weniger Tage nach ihrer Beratung entwickelten die Brüder Perret eine innovative Konstruktionsmethode. Sie legten ihren Zirkel, ihre Reißschiene (T-Schiene) und ihr Winkelmaß auf den Entwurf von Bouvard und Van de Velde und begannen, nach dem geeignetsten Gerüstraster zu suchen. Nach mehreren Versuchen entwickelten sie einen Plan, der die großen Räume des Theaters (Empfang, Saal, Bühne) durch ein System aus einem viereckigen Raster und zwei konzentrischen Kreisen (der eine bestimmt die Hülle des Saals, der andere seine Zugänge) miteinander verband. Der Schnittpunkt der Kreise und des Rasters ergab vier Gruppen von Pfosten, die die vier Pylonen der Primärstruktur des Theaters bilden sollten.“ 

Die Brüder Perret hätten dadurch das vorherige Projekt umgewälzt. Gleichzeitig wird behauptet, dass van de Veldes Plan vom 30. März 1911 ohne Kenntnis des Rahmenplans von Perret und die Lösung mittels der „Pylone“ undenkbar sei.

„Die Herren Perret behaupten“, wie Jacques Mesnil in seiner kritischen Auseinandersetzung [[33]] mit Perret schreibt, „dass die gesamte Konstruktion und alle architektonischen Formen des Theaters aus dem von ihnen angewandten Bausystem hervorgehen.“  Und er zitiert hier aus einem Brief von Auguste Perret vom 8. Oktober 1913: „Sie schreiben uns (es wäre wirklich schwierig, dass es anders sein könnte) die Gruppe der vier Zweiergruppen oder Pylonen im Raum zu.“ Nun, aber es ist vorbei, es ist entschieden, das ganze Theater ist da (sic) … Aus diesen vier Gruppen von zwei symmetrischen Punkten, die auf zwei großen Balken ruhen und zwei Träger stützen, leitet sich die Architektur des gesamten Gebäudes ab.“[34]

„Perret,“ so Christian Freigang, „legitimierte diese Übernahme vor allem mit ästhetischen Argumenten: Sein Betongerüst habe in konsequenter Anwendung rationalistischer Grundsätze eine klassizistisch regelhafte und rektanguläre Komposition zur Folge. (…) Die Bautechnik als entscheidende Determinante, eine streng logische Geometrisierung und die Referenz auf die Tradition ergänzten sich zu einer ästhetischen Werkeinheit, hinter die bloße funktionale Erfordernisse oder subjektiv-sensualistische Wahrnehmungsaspekte zurücktraten. Der décoration wird die construction als essentielle Eigenschaft der neuen klassizistischen Moderne entgegengesetzt.[35]

Perrets Behauptung, sein Konzept bezüglich der Stützenpaare determiniere  logisch die gesamte Architektur des Theaters, ist für Jacques Mesnil eine „unglaubliche Verwirrung in den heutigen Kunstbegriffen“: „Das heißt für die Herren Perret, ein Bausystem und ein architektonisches Kunstwerk sind dasselbe! Sie scheinen nicht zu begreifen, dass ein vollkommen solides und robustes Gebäude völlig ohne Schönheit und künstlerischen Wert sein kann. [36]

Van de Velde, der „ausführlich auf die wirkungs-ästhetischen, sensualistischen Qualitäten der äußeren Erscheinung seiner Architektur abhob“ (Christian Freigang), verlor nicht nur zunehmend seine Position als beratender Architekt, auch die Bewertung und Bedeutung seiner Theaterentwürfe wurden herabgewürdigt, obwohl auf formal architektonischer Ebene Perrets Änderungen wenig tiefgreifend waren.

Mit Billigung von Gabriel Thomas und einigen Mitgliedern des Verwaltungsrates der  Société du Théâtre des Champs-Elysées hatte sich Auguste Perret über die Fertigung der Beton-Konstruktion hinausgehend auch in die architektonische Gestaltung hineingedrängt. Von seinen Änderungen sollen nur zwei herausgegriffen werden: die des großen Saals und der Fassade.

Der große Saal wird durch Wegfall der Loggien und Verlängerung der Balkone bis zum Bühnenpfeiler verändert.  Die Balkonvergrößerung erfolgt auf Kosten der Sichtverhältnisse und der Schönheit der Linienführung und wird von van de Velde in seinen Memoiren so beklagt: „…die Linien der Balkone [waren] in einer Weise verändert, daß jede Spannung verschwunden und dass sie zu weichen, leeren Formgebilden geworden waren, die mühsam bis zum ersten Pfosten des Betonskelettes führten. Die Brüder Perret waren skrupellos vorgegangen. Sie scheuten sich nicht, meinen Entwurf frevlerisch zu verstümmeln, um dadurch die Platzzahl des Theaters – im Programm waren achtzehnhundert Sitze festgelegt – auf zweitausend zu erhöhen! Den Verwaltungsrat hatte Gabriel Thomas dazu gebracht, alles zu torpedieren, woran wir monatelang mit größtem Eifer gearbeitet hatten und was die Grundlage für jedes Theater, welchen Stils auch immer, bleibt: die gute Sicht für jeden Zuschauer.“ [37]

A. & G. PERRET- Théâtre des Champs Elysées, Skizze der Halle, nach der Natur gezeichnet [37a ]

Wegen dieser Änderungen ist Leila Zickgraf der Meinung, dass das Théâtre des Champs-Élysées heute weniger als eine Manifestation der Reformforderungen zu betrachten [ist], als vielmehr als ein Rückzug von ihnen.“[38]

Besonders deutlich wird der Eingriff Perrets bei der Fassade. Ihre Gestaltung stellt für den Architekten eine besondere Herausforderung dar, denn sie ist sozusagen das Gesicht des Gebäudes, sie bestimmt sein äußeres Erscheinungsbild, in ihr spiegelt sich der architektonische Stil wider.

Hier beim Théâtre des Champs-Elysées ergab sich ein zweifaches Problem. Erstens konnte die Fassade die innere Konstruktion des Theaters nicht aufnehmen, da ein kleinerer Theatersaal (die Salle de Comédie) oberhalb des Foyers und zwischen großem Saal und Fassade quer zur Hauptachse des Gebäudes eingefügt war. Der mittlere Teil der Fassade fiel somit mit der Seite dieses kleinen Theaters zusammen.

Zweitens musste der Bau und d.h. auch seine Fassade, die auf einer Seite direkt an weitere Häuser angrenzte, in die Fluchtlinie der bestehenden Bebauung und ihrer Geschosshöhe eingefügt werden. Henry van de Velde hat diesen Problemen Rechnung getragen und dem Komitee verschiedene Entwürfe vorgelegt.

Henry van der Velde – Fassade des Théâtre des Champs-Élysées.[38a] 

In diesen Fassaden-Entwürfen ist die Grundstruktur der späteren Fassade schon erkennbar, sie unterscheidet sich aber durch die Fortsetzung der Linie der benachbarten Häuser.

„Ende März 1911“, schreibt van de Velde in ‚Geschichte meines Lebens‘, „hatte das Komitee noch keine Entscheidung über die Ausgestaltung der Fassade getroffen. Ich legte im weiteren Verlauf verschiedene Skizzen vor, die nicht angenommen wurden. Mit der Zeit wurde ich mir klar darüber, daß hier ein System vorlag. Die Sache roch nach Intrige.“[39]

Auch ein neuer Entwurf einer steinernen Fassade im Mai 1911 mit einem Aquarell von Emile Antoine Bourdelle, auf dem dieser die Reliefs für den oberen Fries und die jetzt abgesenkten Seitenflügel eingezeichnet hat, wird vom Verwaltungsrat abgelehnt.

Étude de la façade de Bourdelle [39a]

Auguste Perret hat zunächst als Fassade einen großen Kasten mit einen blinden Aufsatz entworfen, überragt von einem gebogenen Giebel. Der Entwurf wird vom Bauherrn verworfen.

Perrets Entwurf passt sich dann den letzten Skizzen von Bourdelle an und präsentiert im Juli 1911 zur Überraschung van de Veldes eine  Zeichnung der Fassade, die angenommen wird. „Dieses unqualifizierbare Verhalten,“ so van de Velde, „das offenbar mit dem Präsidenten und einigen Mitgliedern des Verwaltungsrates als Komplicen abgesprochen war, machte mich rasend.“[40]

Théâtre des Champs, Fassadenentwurf Auguste Perret – Élévation de la façade principale, solution réalisée selon les esquisses d’Antoine Bourdelle (Rand beschnitten)

Daraufhin verlangt Van de Velde die Auflösung des Vertrags, bleibt aber zunächst noch nominal ‘Architecte Conseil’ (beratender Architekt). Die weitere Entwicklung zeigt, dass Gabriel Thomas seine Zusicherung, keine weiteren wesentlichen architektonischen Änderungen zuzulassen, nicht einhält. Dies führt zum endgültigen Bruch van de Veldes mit der Société du Théâtre des Champs-Elysées.

Kapitel VIII: Die Rezeption des neuen Theaters

Wie nationalistisch und chauvinistisch die damalige Atmosphäre war, zeigte sich daran, dass selbst das nun 1913 fertig gestellte Theater als „architecture germanique“ bezeichnet wurde und wie in der Zeitschrift Le Moniteur zu lesen ist, Kritiker, die „architecture boche“ anprangerten und „dem Gebäude den Spitznamen „zeppelin de l’avenue Montaigne“ gaben. „Glücklicherweise“, heißt es im Le Moniteur, „entdeckten einige aufgeschlossene Menschen den Modernismus und billigten ihn, wie beispielsweise die Zeitschrift ‚Art et Décoration‘, die 1913 schrieb: „Die Arbeit der Architekten und Dekorateure des neuen Theaters zeigt in gewisser Hinsicht, was in unserem Land versucht und erreicht werden kann, wenn die Republik die Renaissance-Rathäuser und neogriechischen Postämter endgültig satt hat.“ [41]

Weitaus wirkungsvoller und nachhaltiger als die Kritiker aus der nationalistischen Ecke und auch die Kritik von Mesnil, der mehr dem Sozialismus und Anarchismus nahe stand, erweist sich das hohe Lied auf Perrets Théâtre des Champs-Elysées, das der Louvre-Abteilungsleiter und Kunstkritiker Paul Jamot, singt: 

Perrets Konzept habe sich aus antiken Architekturprinzipien abgeleitet. „Ohne antike Bauten oberflächlich zu imitieren, sei hier analog zum griechischen Bauen die Logik der Konstruktion in eine perfekte ästhetische Form eingebunden, Proportionskanons wirkten, ohne sie überbrachten akademischen Prinzipien zu entlehnen.“[42]

Jamot spannt in seiner Eloge auf das Théâtre des Champs-Elysées den Bogen noch weiter: „…nicht die Vetternwirtschaft eines demokratischen Wettbewerbs [habe] regiert, sondern in erster Linie ein quasi adeliger Mäzen, eben Gabriel Thomas. Erst dadurch sei ermöglicht worden, den Einfluss der schädlichen Jugendstil-Architektur auszuschalten, welche die nationale „Blut- und Geistestradition“ von Einfachheit, Vernunft und Klarheit unterbrochen habe. Im antidemokratischen Lob des heilbringenden Einflusses monarchischer Mäzene und vor allem in der Beschwörung der „Bluts- und Geistestradition“ argumentiert Jamot unmissverständlich aus der Perspektive jener „Konservativen Revolution“, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert und in der Dreyfus-Affäre verstärkt hatte.[43]

Die monarchistische Tendenz entspricht den politischen Zielen von Charles Maurras und seiner politischen Gruppierung Action française, die gerade im  Vorfeld des Ersten Weltkriegs mit ihren antirepublikanischen, antiparlamentarischen und antisemitischen Attacken und Aktionen eine erste Hoch-Zeit erlebten. Tatsächlich finden sich sämtliche Protagonisten dieses Theaterbaus – Jamot, Thomas und Denis – in entsprechenden Zirkeln wieder, insbesondere im Umfeld der Zeitschrift L’Occident.   „Charakteristika des in der französischen Zivilisation gipfelnden Okzidents seien – so das von ihr propagierte Programm- die ewig unumstößlichen Eigenschaften des „Konstruktiven“, der Dauer, Logik und Eleganz.Kunst sei höchster Ausdruck der Nation, kein republikanisches Propagandainstrument zur Verführung der Massen; entsprechend müssten sich Denken und Religion der Nation in ihren Kunstwerken einfach und logisch manifestieren. (…) Vor diesem Hintergrund gewinnt das Théâtre des Champs-Élysées eine eminente politische Bedeutung als programmatischer Bau einer antidemokratischen modernen Architektur  Frankreichs. Architektonische Qualitäten – Proportioniertheit, Logik, Komponiertheit – werden unter den vorgenannten Prämissen zu Abbildern gesellschaftlich-hierarchischer Ideale.“[44]

Der Satz des antiken Grammatikers Terentianus Maurus, Pro captu lectoris habent sua fata libelli” („Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale.“) gilt auch, wie wir gesehen haben, für Bauwerke, die je nach Zeit und Umständen unterschiedlich „gelesen“, das heißt verstanden und benutzt werden.

Für die Mehrzahl der heutigen Besucherinnen und Besucher des Théâtre des Champs-Élysées liegen aber die angesprochenen geistigen und politischen Strömungen soweit zurück, dass die architektur-geschichtliche Perspektive hinter der Frage zurücktritt, was den Bau auszeichnet, dass er zur Ikone der französischen Moderne wurde. Die Antwort wollen wir im zweiten Teil unserer Betrachtung geben, die sich mit dem aktuellen Erscheinungsbild beschäftigt.

II. Teil Beschreibung von Bau und Dekoration

Kapitel I:  Die äußere Erscheinung

Insbesondere dank der Hauptfassade an der Avenue Montaigne wird das Théâtre des Champs Elysées – bald wegen ihrer schlichten Strenge und Geometrie als Vorläufer des Art déco beschrieben – zur gefeierten Inkunabel der französischen Moderne. Die Fassade gliedert sich in einen nur leicht vorgesetzten, dominierenden Mittelrisalit und abgesenkte Seitenteile. Der linke Seitenteil mit den Zugängen zu den Theaterrestaurants grenzt direkt in gleicher Fluchtlinie an den Gebäuden der Avenue. Der rechte Seitenteil in Form eines Viertel-Zylinders mit drei Eingängen zu den beiden  kleinen Theatersälen (Comedie und Studio) geht an der Impasse des Douze Maisons in die Seitenfassade über, die unverhüllt mit der Ziegelfüllung in Betonrahmen die Konstruktion des Gebäudes zeigt.

Théâtre des Champs-Elysées, 2025 Foto: Wolf Jöckel

Die mit hellem Marmor verkleidete Hauptfassade, zeichnet sich durch eine feierliche Gestaltung und Ordnung aus, die in der nächtlichen Beleuchtung besonders zur Geltung kommt.

Foto: Wolf Jöckel

Den zentralen Hauptkörper begrenzen zwei hohe paarige Pilaster-artige Lisenen, die bis zum Gesims reichen und den Rahmen für drei Fensterachsen und die Haupteingänge und insbesondere für die drei Flachrelief-Metopen im Gebälk von Antoine Bourdelle bilden. Die Fensterachsen und Reliefs sind durch Pilaster abgegrenzt, sodass sich eine vorherrsche vertikale Gliederung der Fassade ergibt. Das dreiteilige zentrale Relief mit dem Titel „Meditation des Apollo“ zeigt in der Mitte Apollo mit einer Leier, begleitet von Gloria, der geflügelten Künderin des Ruhms, und die neun Musen, die herbeieilen, um den Gott der Künste zu begrüßen.

Fassade: Bourdelles Apollo-Fries Foto: Wolf Jöckel

Die Fenster und Eingänge an den Seitenteilen zeigen die gleiche Gliederung; die Reliefs sind aber hier direkt oberhalb der Türen angeordnet.

Die Themen der Reliefs sollten dem Betrachter zeigen: Hier im Théâtre des Champs-Elysées, das auch eine Kunstgalerie beherbergte, ist ein Ort der Musen an dem sich Skulptur & Architektur, Musik, Tanz, Tragödie und Komödie versammeln. Die Kunstgalerie wird 1923 in das heutige Studio umgewandelt.

1910 hatte Émile-Antoine Bourdelle (1861-1929), Bildhauer, Maler, Illustrator und Kunst-lehrer, von Thomas den Auftrag für die Gestaltung der Fassade des Théâtre des Champs-Elysées erhalten.  

Bourdelle travaillant aux fresques du Théâtre des Champs-Elysées [44a]

Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein fehlender Dialog zwischen Architektur und Bildhauerei dazu geführt hatte, dass sich „beide Kunstformen eher abschwächten, als dass sie sich gegenseitig aufwerteten“[45], will er ein Theater schaffen, „das Architektur und Bildhauerei in großem und eindrucksvollem Maßstab miteinander verbindet; ein Theater, das auch als weltliche Kathedrale fungieren sollte. (…)  Ebenso wie die Aufführungen auf der Bühne sollten auch die Wandmalereien im Inneren und die Skulpturen außerhalb des Theaters moderne Ästhetik und Theorien widerspiegeln. Das fertige Gebäude sollte zu einem Schaufenster für das klassische Revival der französischen Kunst zu Beginn des 20.Jahrhunderts werden.“[46]

Programmatisch für diese Einbindung der Skulptur in die Architektur ist Bourdelles Metope, die ganz links über einem Seiteneingang des Theaters zu sehen ist und den bezeichneten Titel Sculpture et Architecture trägt. Sie zeigt die Personifizierungen der beiden Bereiche, die nach Bourdelles Ansicht zusammenwirken müssen, um große monumentale Kunst zu schaffen und ist so von einem hohen symbolischen Wert.

Sculpture et Architecture.  Links die Personifikation der Skulptur, in ihrer Hand den geflügelten Genius haltend, rechts die der Architektur, die eine Säule oder Stele, Grundelement eines Bauwerks umfasst. Foto: Wolf Jöckel

Die Bas-Reliefs Bourdelles zeichnen sich durch klare, z.T. kräftig betonte, oft auch dynamische Linien und eine Vereinfachung der Form aus. Durchgehend ist die Plastizität reduziert. Bewusst ist das Figurative flach gehalten, damit es mit der Architektur besser harmoniert. Klar sind Einflüsse der von Bourdelle bewunderten archaischen Metopen der griechischen Tempel in Selinunt auf Sizilien, aber auch der griechischen Vasenmalerei erkennbar. Schon 1905 wurde „Bourdelles Werk als „hellenisch“ bezeichnet und speziell mit der antiken griechischen und römischen Skulptur in Verbindung gebracht“.[47]

„Die Marmorverkleidung, die Großflächigkeit, das klare Mauerrelief, die anschaulich gestaltete Tektonik und die diszipliniert der Architektur untergeordneten Reliefs entsprachen der Forderung nach Vereinfachung und Klarheit und dem „purifizierenden griechischen Geist“ (….) Wesentlich für den Erfolg der Theaterfassade war wohl die Art, wie die historischen Referenzen eingesetzt wurden. Die Marmoroberfläche, das Verhältnis von Mauer und Reliefs, die Anordnung des zentralen Fenstertriplets und der Pilaster lassen sich auf Gestaltungsprinzipien der Antike und des französischen 17. und 18. Jahrhunderts zurückführen, ohne dass sie als Stilzitate begriffen werden könnten.“ [48] 

Bourdelle war wie Auguste Perret der Ansicht, „dass Skulpturen die flachen Wandflächen nicht durchbrechen, sondern nur dort installiert werden sollten, wo sie nicht von der Architektur ablenken. (…) Die Skulptur trug (…) zur Schönheit und Monumentalität des Theaters bei, ergänzte die geometrischen Formen und schuf eine visuelle Harmonie zwischen Architektur und Skulptur, die beide Medien hervorhob. Durch eine synkretistische Beschwörung heidnischer, griechischer und christlicher Göttergestalten kennzeichnete Bourdelle das Theater als einen besonderen, ja heiligen Ort. “[49]

Die ekstatischen Bewegungen und Gesten auf den Reliefs der Musen, aber auch auf jenen, die die Musik, den Tanz und die Tragödie zum Thema haben, wurden von der von Bourdelle bewunderten Isadora Duncan mit ihrer Wiederbelebung des Tanzes der Antike inspiriert.

 In der Tanz-Metope ist links der russische Tänzer Waslaw Nijinsky von den Ballets Russes dargestellt. Nijinsky, bekannt durch seine Auftritte  in Stravinskys Le sacre du printemps und seine Rolle eines Fauns in Claude Debussys Nachmittag eines Fauns, umstritten wegen unorthodoxe Choreographie und sexueller Gesten, wurde von Bourdelle bewundert. „Ordnung und Chaos sind laut Bourdelle die beiden Pole, die Duncan und Nijinsky jeweils bewohnen.“[50]

Im Relief der Tragödie werden die Figuren Agamemnon und Iphigenie dargestellt, angeregt von dem Theaterstück Iphégenie à Aulide (Iphigenie in Aulis) seines Freundes Jean Moréas. (Foto: Wolf Jöckel)

Im Relief der Komödie (Foto: Wolf Jöckel) tauschen zwei Frauen lächelnde Masken aus, wobei die Frau rechts den geflügelten Helm des Hermes trägt. Hermes ist aber nicht nur Götterbote, sondern auch Gott der Wissenschaft, eng verbunden mit der Alchemie und Zauberkunst, und damit auch Gott der Magier und Gaukler und selbst ein „schelmischer Tunichtgut“, ein Komödiant.

Insgesamt zeichnet sich die Fassade, von der Auguste Perret behauptete, dass sie die Konstruktion des Gebäudes wiederspiegle, durch eine klare Ordnung und schlichte Eleganz aus. Aber erst  Bourdelle macht sie durch die skulpturale Dekoration in Metopen-Form, in der die Figuren hineinkomprimiert sind, sodass sie  in den architektonischen Rahmen passen, und mit der Thematik dieser Reliefs zu einem Tempel der Kunst. Hier wurden kompositorische und typologische Grundprinzipien aus dem französischen Klassizismus, hervorgegangen aus der Latinité, der lateinischer Identität, dem griechisch-römischen Erbe, fortgesetzt.

Eine Bausünde oder wie mit Geld alles zu machen ist

Ohne Respekt vor der Integrität des Baus ließ die Caisse des Dépôts et Consignations, seit 1970 Eigentümerin des Theaters, bei der Renovierung des Théâtre des Champs-Elysées Mitte der 1980er Jahre kurzerhand ohne eine Baugenehmigung [51] auf dem Dach des Gebäudes ein verglastes Restaurant setzen. Von der Architektenkammer verklagt, gab der Bauherr nicht zu, die Gedanken und den Stil der Architekten verraten zu haben, und gewann im Wesentlichen den Prozess, der mit einer geringen Geldstrafe endete.  Das Restaurant wurde nicht abgerissen. Aus dem ersten Dach-Restaurant, dem Maison Blanche, ist inzwischen ein italienisches Restaurant, das Gigi geworden.

Von der Avenue Montaigne aus ist es nicht zu sehen, wohl aber von den Ufern der Seine aus es ins Auge und sogar „an die Gurgel“, wie der damalige Kulturminister Jack Lang bemerkte.

Dachrestaurant auf dem Théâtre des Champs-Élysées [51a] 

Kapitel II:  Das Foyer und die Galerie

Im Sinn einer Wiederbelebung von Hellenismus und Klassizismus ist auch das Foyer als Peristyl, d.h. als ein von Kolonnaden umgebender rechteckiger Raum, gestaltet, in dem eine Mezzaningalerie eingefügt ist, die über zwei  gegenüberliegende Treppen erreichbar ist. (Foto: Wolf Jöckel)

Foto: Wolf Jöckel

Acht rechteckige Pfeiler und sechzehn Säulen ohne Sockel oder Kapitell bilden die Kolonnade. Die gleiche Strenge und Nüchternheit zeichnet auch die aufliegenden Deckenbalken aus, die quadratische oder rechteckige Felder bilden und ein Muster ergeben, das sich auf den Marmorplatten des Fußbodens widerspiegelt. Trotz der Strenge der reduzierten Formelemente wirkt das Foyer nicht kalt, sondern durchströmt eine Feierlichkeit und Erhabenheit.

Inschrift im Foyer über dem Zugang zum Zuschauerraum:

Le Theâtre des Champs-Élysées. Gegründet von Gabriel Astruc wurde es 1913 von Auguste und Gustave Perret errichtet.

Mit dieser Geometrie und Ausgestaltung folgt auch das Foyer der Konzeption der Vereinfachung der Formen und Typisierung und der Forderung nach Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie als Kennzeichen des modernen nationalen Stils. Auch hier ist die Dekoration im Erdgeschoss des Foyers sehr zurückhaltend.

Nur am Fuß der zur Mezzaningalerie führenden Treppen hat Antoine Bourdelle jeweils ein zweiteiliges Marmor-Bas-Relief-Paar geschaffen:

Foto: Wolf Jöckel

Unter den Bas-Reliefs nackter weiblichen Figuren, Allegorien der „heroischen Seele“ (L’âme héroïque) und der „leidenschaftlichen/pathetischen Seele“ (L’âme passionnée/pathétique) hat Bourdelle jeweils ein kleines Relief mit einem kleinen geflügelten Genius gesetzt, der eine Maske aus dem griechischen Theater in den Armen hält. Die Anspielungen auf das antike Erbe sind unverkennbar.

In der Galerie schmücken eine Reihe von Fresken von Antoine Bourdelle die Wände. Er malte diese Fresken in seinem Atelier nach traditionellem Verfahren auf frischem Mörtel auf den Betonplatten, die Perret ihm geliefert hatte. Sie zeigen Szenen aus der griechischen Mythologie: Pan mit seiner Flöte aus Schilfrohr, der Syrinx verfolgt, Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, Psyche, die von Eros entführt wird, hier ist Leda, die die Menschen den Göttern vorführt, Ikarus, der die Flügel, die ihn stürzen ließen, an seine Brust drückt; hier ist Maja, Apollon auf dem Rücken des Pegasus, der seine Leier, d.h. die Musik, die Kunst,  auf die Erde bringt; hier ist der Tod des Zentauren, des letzten Lehrers der Helden und hier ist die Delphische Sybille.

Leda und der Schwan. Foto: Wolf Jöckel

In anderen Bildern will Bordelle Adam und Eva und die Geschichte der Menschen nach der der Götter darstellen. Auch hier wird in der Verknüpfung der griechisch-römischen Antike mit dem christlichen Abendland auf die Wurzeln und die Tradition der nationalen Kultur als Bestandteil der französischen kulturellen Identität verwiesen.

Über zwei Treppen von der Galerie aus erreichen die Besucher das Vestibül.

Lalique-Leuchter im Vestibül. Foto: Wolf Jöckel

Auch die bandförmigen, fast monochromen Fresken im Vestibül über den Türen der Logen zum großen Saal stammen von Bourdelle. Sie zeigen einen Bilderzyklus aus mythologischen Figuren mit dem Titel „Les Temps fabuleux“.

Muse und Pegasus – Fresko über der Logentür im Vestibule d’Entrée  des Théâtre des Champs-Élysées (Ausschnitt)

Auf einem feinen Grau-Rot, Rot-Grau, in dem nur selten ein paar Nuancen von Gelb und Azur durchscheinen, heben sich die Figuren ab oder verschmelzen in kaum unterschiedlichen Rot- und Grautönen miteinander. Die Fresken gleichen mit ihrer reduzierten Plastizität und ihren dynamischen, kräftigen Linien dem Stil der Bas-Reliefs an der Fassade.

Ganz anders sind die Bilder von Edouard Vuillard, die das Foyer der Comédie schmücken.Édouard Vuillard (1886-1940) stand den Impressionisten nahe und gehörte wie Pierre Bonnard und Maurice Denis der Künstlergruppe Les Nabis an. Mit ihren kräftigeren Farben, einer klareren kompositorischen Struktur und der lebendigen Darstellung von Szenen auf dem Theater unterscheiden sie sich von dem klassizistischen Bilderzyklus Bourdelles.

Théâtre des Champs-Elysées, le foyer de la Comédie, Le Petit Café, par Edouard Vuillard

In Vuillards Bildern sind hier anders als bei anderen Künstlern wie Paul Gauguin, Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Georges Seurat und Paul Signac, die wie Vuillard dem Post-Impressionismus zugeordnet werden, noch keine Tendenzen zur Flächigkeit, Abstraktion, neuen Maltechniken oder Vereinfachung der Formen, erkennbar.

Édouard Vuillard, Le malade imaginaire‘ . Wandbild im Foyer der Comédie des Théâtre des Champs Élysées

Der begrenzte Raum dieses Beitrages lässt keine ausführliche Darstellung der Werke von  Jacqueline Marval, Ker-Xavier Roussel und Henri Lebasque zu, die ebenfalls zur Ausstattung des Theaters beigetragen haben. Unter diesen Werken soll aber zumindest der Theater-Vorhang von Ker-Xavier Roussel für die Salle de la Comédie gezeigt werden.

Vorhang des Théatre de la Comédie des Champs-Elysée von Ker-Xavier Roussel

Im „Festzug des Bacchus“ – so der Titel des Vorhangbildes – verschmilzt eine idyllisch- arkadische, mediterrane Landschaft mit mythologischen Figuren: Im Zentrum der in Rot gehüllte Gott des Weines, des Rausches, und der Ekstase, Girlande schwingend und tanzend wie die ihn umgebenden Bacchanten und Bacchantin, in beschwingter, fröhlicher, harmonischer Eintracht mit wilden Tieren. In einer voyeuristischen Szene am Rand des Zuges liegt die nackte schlafende, von einem Faun beobachtete, Diana.

Abgesehen von diesem Bühnenvorhang sind der Saal der Comédie (mit 500 Sitzplätzen) und das noch kleinere Studio (mit 150 Plätzen) architektonisch gesehen eher unbedeutend. Das Studio entstand übrigens erst 1923, als der ganz oben hinter der Fassade gelegene Ausstellungssaal, die Galerie Montaigne, von Louis Jouvet  in einen kleinen Theatersaal umgewandelt wurde.

Kapitel III:  Der große Saal

Architektonisch und dekorativ ist der große Saal, sieht man von der  monumentalen zentralen Leuchte ab, eher ein Kontrapunkt zur Fassade und dem Foyer. Anders als in der Fassade  und im Peristyl des Foyers ist hier die Struktur des Baus kaum ablesbar, weil die tragenden Elemente teils verdeckt sind, teils außen liegen. Anstelle der geraden dominieren hier die geschwungenen Linien der freitragenden Balkons – ein Erbe van der Veldes.

Der große Saal des Theaters. Photo: Asseline Stéphane

Bei dem gigantischen Kronleuchter von René Lalique, der schon ins Art-déco weist,  bilden die in eine Schmiedeeisenstruktur des Kunstschmieds Perrassy eingefassten Glasplatten einen Strahlenkranz um eine zentrale Wolkenformation.

Foto: Wikipedia

Um den  diesen Kronleuchter umgebenden Ring hat Maurice Denis (1870-1943) einen Zyklus allegorischer Gemälde geschaffen, die die Histoire de la Musique präsentieren.

Die Darstellung wurde stark von Paul Marie Théodore Vincent d’Indy, einem französischen Komponisten, Musiktheoretiker, Schüler von César Franck und überzeugter Wagnerianer, beeinflusst.

Die Geschichte der Musik besteht aus vier großen rechteckigen Tafeln: La Danse (Griechischer Tanz), der die Ursprünge der Musik darstellt (der Bühne zugewandt), mit L’Opéra und La Symphonie auf beiden Seiten und, gegenüber dem griechischen Tanz, Le Drame lyrique (das lyrische Drama. Diese großen Tafeln werden durch vier kleinere „Kameen“ mit den Titeln le Chœur, l’Orchestre, la Sonate und l’Orgue getrennt.

Scale Model for the Cupola of the Théâtre des Champs-Elysées; Musée d’Orsay, Paris

Eine eingehende Beschreibung und Analyse von Mauris Denis Werk im Théâtre des Champs-Élysées findet sich bei Rachel Coombes.[[52]] Der Auftrag zur Bemalung der Kuppel an Denis war von Gabriel Thomas ausgegangen. Beide waren nicht nur freundschaftlich verbunden, sondern auch von der gleichen politischen Ideologie durchdrungen, „die auf einer Synthese der katholischen Wurzeln Frankreichs mit Visionen seines griechisch-lateinischen Erbes basierte.“[53]

Angesichts der inneren Zerrissenheit Frankreichs, wie sich in der Dreyfus-Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts und bei der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 zeigte, glaubte Denis mit der Wiederherstellung der Latinité, die in den Zeitschriften L’Ermitage und L’Occident propagiert wurde, die nationale Identität Frankreichs zu erneuern. In der Latinité sah er die Manifestation  der (vermeintlich) typisch französischen Tugenden der Einfachheit, Klarheit und der zugrunde liegenden harmonischen Konstruktion. Diese „innige(n) Verbindung zwischen griechischer Form und christlichem Geist“[54] bestimmt auch die Ikonographie der Geschichte der Musik.

Maurice Denis, La Danse, Tafel aus der Geschichte der Musik, und Bronze-Reliefs „Gesang“ und „Tanz“, 1912 [54a]

Denis hilft uns beim Verständnis der vier großen allegorischen Tafeln mit darunter verlaufenden Inschriften. Bei der Tafel La Danse (Griechischer Tanz) heißt es in der Inschrift: «Aux rythmes dionysiaques unissant la Parole d’Orphée, Apollon ordonne les jeux des Grâces et des Muses» (Zu den dionysischen Rhythmen, die das Wort des Orpheus vereinen, ordnet Apollo die Spiele der Grazien und Musen an).

Wir sehen in dieser Szene Apollo im Zentrum einer mediterranen Landschaft, wie er die frei um ihn herum tanzenden Grazien dirigiert. Im Hintergrund ist ein dorischer Tempel auf einem Hügel zu erkennen. Auf der linken Seite der Szene führt Dionysos seine Tänzer, während Orpheus auf der rechten Seite, begleitet von Eurydike, mit seinem Gesang wilde Tiere zähmt – ein Thema, das wir schon in ähnlicher Weise bei Ker-Xavier Roussels Vorhang der Salle de la Comédie gesehen haben.

Einbezogen in dieses Thema sind auch die beiden Flachreliefs aus Bronze, „Gesang“ und „Tanz“ von Denis seitlich der Orgel des großen Saals. „Die Basreliefs von Denis erinnern an Bourdelles stilisierte Steinchoreografie auf der Außenseite des Theaters und sind gleichermaßen von Erkenntnissen beeinflusst, die aus den jüngsten Wiederentdeckungen antiker griechischer Tanzformen stammen.“ [55]

Am Ende der Bilder zur Geschichte der Musik steht das lyrische Drama mit „Wagners Transformation der Symphonie- und Operntraditionen durch ihre Vereinigung.“ [56]

Das lyrische Drama ist voller Anspielungen: Im Zentrum Verweise auf Wagners Opern mit Parsifal und dem Gral, Tristan und Isolde und  Brünnhilde auf ihrem Pferd Grane, an den Seiten Hinweise auf die Ballets Russes und auf César Franck und seine Schüler, die Franckisten. Denis schrieb ihnen eine musikalische Renaissance zu, und Vincent d’Indy erkannte in Francks Musik „eine Verschmelzung von Wagnerscher Großartigkeit und französischer Klarheit.“ [57]

Maurice Denis, Das lyrische Drama [57a]

Bildunterschrift: «Sur les cimes dans l’angoisse et le rêve, drame lyrique ou poème, la Musique s’efforce vers un pur idéal». „Auf den Gipfeln von Angst und Traum, lyrischem Drama oder Gedicht strebt die Musik nach einem reinen Ideal.“

 „Sowohl für Denis als auch für Wagner bedeutete die Erneuerung der Künste nicht nur eine Rückkehr zum Ideal des griechischen Gesamtkunstwerks, sondern auch zu seinen heiligen Ursprüngen, wie sie in der christianisierten Allegorie des Parsifal zum Ausdruck kommen. (…) Die Erhebung des Theatererlebnisses auf eine fast spirituelle Ebene war in den Köpfen von Denis und den französischen Symbolisten eng mit dem spirituellen Ehrgeiz verbunden, den Wagner in Religion und Kunst (1880) als „Pflicht der Kunst zur Rettung der Religion“ ausdrückte. Er argumentierte, dass mit der modernen Säkularisierung der Gesellschaft alle Künste im Niedergang begriffen seien. Allein die Künste hätten die Fähigkeit, religiöse Gefühle zu vermitteln, eine Ansicht, die völlig mit Denis‘ Sinn für künstlerische Absichten übereinstimmte.“ (…) Denis‘ „Traum“, (…) eine „innige Verbindung zwischen griechischer Form und christlichem Geist“ zu schaffen, kommt in der Symbolik des lyrischen Dramas und tatsächlich in der gesamten Erzählung der Geschichte der Musik zum Ausdruck.

Die Tatsache, dass Wagners musikalische Leistungen am „Endpunkt“ der Erzählung platziert werden, untergräbt nicht die Treue zu einer angeblich französischen Ästhetik. Vielmehr sollte damit das Theaterpublikum darauf hingewiesen zu werden, in welche Richtung sich die französische Musik (…) entwickeln sollte und dass die Heimat des französischen Gesamtkunstwerks nun hier, im Théâtre des Champs-Elysées, lag.“[58]

 

Schlusswort

Das Théâtre des Champs-Élysées –   Gemeinschaftswerk und Gesamtkunstwerk

Mit Maurice Denis‘ Geschichte der Musik kehren wir zum Anfang unserer Betrachtung des Théâtre des Champs-Élysées zurück. Hat sich Astrucs Idee eines modernen Musiktheaters erfüllt? Was sein musikalisches Programm anbetrifft, ist diese Frage zu bejahen. Mit „Benvenuto Cellini“ von Hector Berlioz eröffnete es am 30. März 1913 seine Pforten.  Am 2. April 1913 brachte in einem außergewöhnlichen Konzert die großen Komponisten der Zeit, Vincent d’Indy, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré und Claude Debussy zusammen. Und am 29. Mai 1913 in einem Ballettabend die Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ statt.

Bei der architektonischen Umsetzung wurde ein Kompromiss gefunden zwischen  einem rein auf die Musik ausgerichteten Bau und einem Theater, das auch dem Repräsentationsbedürfnis dem Pariser Publikum genügt. Das Theater ist ein Gemeinschaftswerk: An seiner Gestaltung waren eine ganze Reihe von Personen beteiligt, die die künstlerischen und geistig-politischen Strömungen der Zeit in unterschiedlicher Weise teilten.

Gabriel Astruc konzipierte an prominentem Ort einen Bau mit modernen Einrichtungen, der der angestrebten Genre- und Stilvielfalt der Musik mit mehreren Sälen unterschiedlicher Größe Raum bot und wählte mit Fivaz und Bouvard die ersten Architekten aus. Roger Bouvard entwarf für den neuen Standort an der Avenue Montaigne trotz des begrenzten Volumens die Aufteilung der benötigten Räume. Van de Velde gelang trotz der Kompromisse, die er eingehen musste, mit seinen geschwungenen Balkons des großen Saals eine maximale dekorative Wirkung und mit dem Proszenium ein modernes Bühnenmodell. Auch die Grundzüge der Fassade, zusammen mit Antoine Bourdelle, sowie die Idee den Bau in Stahlbeton auszuführen,  gehen auf ihn zurück. Den Brüder Auguste und Gustave Perret schufen eine sinnreiche Konstruktion in béton-armé und durch Reduktion architektonischer Elemente und durch eine strengere Formgebung  konnten sie das klassizistische Erbe in ein modernes, ausdrucksstarkes Bauwerk verwandeln, das seine Ära nachhaltig prägte. Und nicht zuletzt in der von Gabriel Thomas zur Gestaltung der Dekoration eingeladenen Künstlergruppe (Antoine Bourdelle, Maurice Denis, Édouard Vuillard, Jacqueline Marval, Ker-Xavier Roussel, Henri Lebasque), die die Thematik der Musen vielfältig variierten, erscheint das Théâtre des Champs-Élysées mit Recht auch als ein Gesamtkunstwerk.

Benutzte/zitierte Literatur:

Joseph Abram: An Unusual Organisation of Production – the building firm of the Perret Brothers, 1897-1954. https://www.arct.cam.ac.uk/system/files/documents/article6_1.pdf

Astruc, Gabriel: Le Pavillon des Fantômes (Paris: Mémoire du Livre, 2003), 365.; zitiert in Cesar A. Leal, ebd.

Astruc, Gabriel (1864-1938): Important Typed Letter, defending the ‘French-ness’ of the Théatre des Champs Elysées https://www.schubertiademusic.com/products/4313-astruc-gabriel-1864-1938-important-typed-letter-defending-the-french-ness-of-the-theatre-des-champs-elysees

Cité – de l’Architecture & du Patrimoine – Auguste Perret Huit chefs d’œuvre Architectures du béton armé https://expositions-virtuelles.citedelarchitecture.fr/exposition_virtuelle_perret/02-PROJET-01-DOC07.html

Rachel Coombes: MAURICE DENIS’S THE HISTORY OF MUSIC: ALLEGORISING CULTURAL TRADITION IN EARLY TWENTIETH-CENTURY FRANCE, in: Belonging, Detachment and the Representation of Musical Identities in Visual Culture, 2023, pp. 395-422 (28 pages) https://doi.org/10.2307/jj.5211766.19 

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Henry van der Velde: Der neue Stil; Die neue Rundschau, Sechstes Heft Juni 1906

Leila Zickgraf: Igor’ Stravinskijs Theater der Zukunft – Das Choreodrama Le Sacre du printemps im Spiegel der ‚Theaterreform um 1900;© 2020 bei der Autorin. Verlegt durch Wilhelm Fink Verlag. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846764596 . Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2017/18 von der  Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. .

Le Theâtre des Champs-Elysées est ouvert. 100 ans d’histoire https://artsandculture.google.com/story/xQUBfpq1GyDJKA

Théâtre des Champs Élysées – Petit histoire en images. https://www.calameo.com/read/003045515070cd8851f72 (französich) Petite histoire TCE pour Calameo Version GB-V2025-PAP (englisch)

Theâtre des Champs-Elysées. Les archives. 100 ans d’histoire à votre disposition https://www.tce-archives.fr/

Théâtre des Champs-Élysées (Paris, 8e arrondissement) Dossier d’œuvre architecture IA75000247 | Réalisé par Faure Julie ; Abram Joseph (Rédacteur) https://inventaire.iledefrance.fr/dossier/IA75000247


Anmerkungen:

[[1]] Bildquelle https://www.forumopera.com/cd-dvd-livre/gabriel-astruc-un-prodigieux-animateur-myriam-chimenes/. (Ausschnitt)

[[1a]] Cesar A. Leal, „RE-THINKING PARIS AT THE FIN-DE-SIÈCLE: A new vision of  Parisian musical Culture from the  Perspective of Gabriel Astruc (1854-1938)“ (2014) hier: “intelligemment conçus: celui de Bayreuth et celui du Prince Régent a Munich”; S.228-283. University of Kentucky,Theses and Dissertations–Music. 30. https://uknowledge.uky.edu/music_etds/30

[[2]] Astruc, Gabriel: Important Typed Letter, defending the ‘Frenchness’ of the Théatre des Champs Elysées

[[3]] Leila Zickgraf: Igor’ Stravinskijs Theater der Zukunft – Das Choreodrama Le Sacre du printemps im Spiegel der ‚Theaterreform um 1900;© 2020 bei der Autorin. Verlegt durch Wilhelm Fink Verlag. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846764596 . Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2017/18 von der  Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. .

[[4]] Cesar A. Leal, ebd.

[[5]] Cesar A. Leal, ebd.

[[5a]] Projet d’un Palais philharmonique (Theatre de musique et salles de concert), Jardin des Champs-Élysées, Henri Fivaz, Théâtre des Champs-Élysées Archives (Ausschnitt)

[[6]] zitiert nach Cesar A. Leal, ebd.

[[6a]] Projet pour le Théâtre des Champs-Élysées (non realisé) Façade principale. Théâtre des Champs-Élysées Archives

[[7]] Cesar A. Leal, ebd.

[[8]] La Libre Parole war eine 1892 von dem Journalisten und Polemiker Édouard Drumont gegründete politische Tageszeitung, die wie kaum eine andere Zeitung dazu beitrug, dass vor und während der Dreyfus-Affäre in Frankreich eine antisemitische Atmosphäre geschaffen wurde. Sie vertrat die Linie eines Antikapitalismus auf der Basis, dass der Kapitalismus von Juden beherrscht sei.

[[9]] Cesar A. Leal, ebd.

[[10]] zitiert nach Cesar A. Leal, ebd.

[[11]] zitiert aus Astrucs Memoiren (Le Pavillon des Fantômes: souverniers) nach Cesar A. Leal, ebd.

[[12]]Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020.https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[13]] Cesar A. Leal, ebd.

[[14]] z.B. bei Cesar A. Leal ebd. und Colin Nelson-Dusek ebd.

[[15]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens. https://www.dbnl.org/tekst/veld006gesc01_01/veld006gesc01_01_0011.php

[[16]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Originalveröffentlichung in: Cohen,Jean-Louis (Hrsg.): Interferenzen / Interférences: Deutschland-Frankreich; Architektur 1800 – 2000; […erscheint aus Anlass der Ausstellung „Interferenzen. Interférences. Architektur, Deutschland – Frankreich 1800 – 2000“ …], Tübingen 2013, S. 50-57

[[16a]] Bildquelle: Stefan Applis on X. JuevesDeArquitectura History of Bauhaus Weimar Kunstgewerbeschule Architecture. Theater Louise Dumont by Henry van der Velde (1902/3) 19. November 2020

[[17]] Umfangreiche Darstellung hierzu bei Christian Hecht: „Ein Streit um die richtige Moderne. Henry van de Velde, Max Littmann und der Bau des Weimarer Hoftheaters“;  Zeitschrift für Kunstgeschichte, 69. Bd., H. 3 (2006), pp. 358-392. https://www.jstor.org/stable/20474361

[[18]] Henry Van de Velde ebd.

[[19]] Henry Van de Velde ebd.

[[20]] Jacques Mesnil: Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs; Onze Kunst. Jaargang 13 (1914). [tijdschrift] Onze Kunst. Geïllustreerd maandschrift voor beeldende en decoratieve kunsten. https://www.dbnl.org/tekst/_onz021191401_01/_onz021191401_01_0043.php

[[21]] zitiert nach Jacques Mesnil, ebd.

[[21a]] Abb. aus: Mesnil, Jacques (1872-1940)  Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées

[[22]] Henry van der Velde: Der neue Stil; Die neue Rundschau, Sechstes Heft Juni 1906

[[22a]] Henry van de Velde et R. Bouvard: Plan à la hauteur des premières loges. Projet non exécuté.(Fin mars 1911) Abb. aus Jacques Mesnil: Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées (Ausschnitt)

[[23]] Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die ‚Konservative Revolution‘ in Frankreich 1900–1930, München 2003

[[23a]] Auguste Perret (1874-1954) posant devant une perspective de l’église du Raincy et coupe du théâtre de l’Exposition de 1925. Henri Manuel Nd. [vers 1925] © Fonds Perret. CNAM/SIAF/CAPA/Archives d’architecture contemporaine/SAIF. 535 AP 663 (Ausschnitt)

[[24]] zitiert nach Joseph Abram: An Unusual Organisation of Production – the building firm of the Perret Brothers, 1897-1954. https://www.arct.cam.ac.uk/system/files/documents/article6_1.pdf

[[25]] zitiert nach Joseph Abram, ebd.

[[26]] Joseph Abram, ebd.

[[27]] Anmerkung von mir: Hier ist deutlich das Argumentationsmuster der politischen Rechten, d.h. das Lager der Nationalisten, Traditionalisten, ultrakonservativen Katholiken und Monarchisten, gegen die „Dreyfusards“, die Anhänger von Hauptmann Dreyfus, das sind vor allem Personen der politischen Linken (Sozialisten und liberale Republikaner) erkennbar, denen Untergrabung der Autorität der Armee und der staatlichen Ordnung vorgeworfen wurden.

[[28]] Christian Freigang „JULIUS MEIER-GRAEFES ZEITSCHRIFT L’ART DECORATIF Kontinuität und Subversion des Art Nouveau.“ Originalveröffentlichung in: Becker, Ingeborg ; Marchal, Stephanie (Hrsgg.): Julius Meier-Graefe : Grenzgänger der Künste, Berlin 2017, S. 214-227; hier S.223.

[[29]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte: Retour à l’ordre und nationale Repräsentativität in der Art déco-Architektur der Zwischenkriegszeit in Frankreich“. Originalveröffentlichung in: Purchla, Jacek; Tegethoff, Wolf (Hrsgg.): Nation, style, modernism : [proceedings of the International Conference under the patronage of Comité International d’Histoire de l’Art (CIHA) … ], Krákow 2006, S. 257-274 (CIHA conference papers ; 1)

[[30]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[31]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[31a]] A. et G. Perret 1910-1913. Théâtre des Champs-Élysées avenue Montaigne, Paris 8e Axonométrie éclatée de l’ossature en béton armé. 1913 © Fonds Perret, Auguste et Perret frères. CNAM/SIAF/CAPa/Archives d’architecture du XXe siècle/Auguste Perret/UFSE/SAIF/2014. 535 AP 911/4

[[32]] Théâtre des Champs-Élysées, Paris – Auguste Perret https://architectona.wordpress.com/oeuvres-dauguste-perret/paris/theatre-des-champs-elysees-paris/

[[33]] Jacques Mesnil: Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs. Onze Kunst. Jaargang 13 (1914)– [tijdschrift] Onze Kunst. Geïllustreerd maandschrift voor beeldende en decoratieve kunsten

[[34]] Zitiert nach Jacques Mesnil ebd.

[[35]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Originalveröffentlichung in: Cohen,Jean-Louis (Hrsg.): Inter-ferenzen/Interférences: Deutschland-Frankreich; Architektur 1800 – 2000; […erscheint aus Anlass der Ausstellung „Interferenzen. Interférences. Architektur, Deutschland – Frankreich 1800 – 2000“ …], Tübingen 2013, S. 50-57

[[36]] Jacques Mesnil, ebd.

[[37]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens.

[[37a ]] Abb. aus: Mesnil, Jacques (1872-1940) – Henry Van de Velde et le Théâtre des Champs Elysées – 04a

[[38]] Leila Zickgraf, ebd.

[[38a]] Abb. aus: Jacques Mesnil, Henry van de Velde en het ‘Théâtre des Champs Élysées’ te Parijs

[[39]] Henry Van de Velde Geschichte meines Lebens.

[[39a]] Bildquelle www.theatrechampselysees.fr

[[40]] Henry Van de Velde ebd.

[[41]] Catherie Sabbah: Le Théâtre des Champs-Elysées – Le scandale fait partie de son charme; Le Moniteur, 03 novembre 2000. https://www.lemoniteur.fr/article/le-theatre-des-champs-elysees-le-scandale-fait-partie-de-son-charme.280079

[[42]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Ebd.

[[43]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“. Ebd.

[[44]] Christian Freigang „Nation, Politik, Architektur“, ebd.

[[44a]] Bildquelle: https://www.bourdelle.paris.fr/explorer/collections/un-musee-des-collections/fonds-photographique/bourdelle-travaillant-aux-fresques-du-theatre-des-champs-elysees

[[45]] Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020. https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[46]] Colin Nelson-Dusek ebd.

[[47]] Colin Nelson-Dusek ebd.

[[48]] Christian Freigang „Überzeitliche Stilkonzepte..“, ebd.

[[49]] Colin Nelson-Dusek: ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE AND THE MIDI: FRENCH SCULPTURE AND REGIONAL IDENTITY AT THE TURN OF THE TWENTIETH CENTURY. Dissertation submitted to the Faculty of the University of Delaware, Summer 2020. https://udspace.udel.edu/server/api/core/bitstreams/02d3f2db-d5cb-41d1-a6ea-073b53d1cd2a/content

[[50]]Colin Nelson-Dusek, ebd.

[[51]] siehe hierzu: Catharine Sabbah: „Das Champs-Elysées-Theater – Skandal ist Teil seines Charmes“. Le Moniteur, 03 novembre 2000. https://www.lemoniteur.fr/article/le-theatre-des-champs-elysees-le-scandale-fait-partie-de-son-charme.280079 und Nicolas Jaillard: „Le restaurant du théâtre des Champs joue à «qui perd gagne»“. Libération, publié le 21 décembre 1994 https://www.liberation.fr/libe-3-metro/1994/12/21/le-restaurant-du-theatre-des-champs-joue-a-qui-perd-gagne_116550/

[[51a]]  Foto aus Le Moniteur, 03 novembre 2000 (Ausschnitt) https://architecture-history.org/architects/architects/PERRET/OBJ/1913,Th%C3%A9%C3%A2tre%20des%20Champs-Elysées,

[[52]]  Rachel Coombes: MAURICE DENIS’S THE HISTORY OF MUSIC: ALLEGORISING CULTURAL TRADITION IN EARLY TWENTIETH-CENTURY FRANCE, in: Belonging, Detachment and the Representation of Musical Identities in Visual Culture, 2023, pp. 395-422 (28 pages) https://doi.org/10.2307/jj.5211766.19 

[[53]]  Rachel Coombes, ebd.

[[54]] Rachel Coombes, ebd.

[[54a]] Photo Asseline Stéphane  https://inventaire.iledefrance.fr/illustration/IVR11_20207500909NUC4A

[[55]] Rachel Coombes, ebd.

[[56]] Rachel Coombes, ebd.

[[57]] Rachel Coombes, ebd.

[[57a]] Lyric Drama, panel of The History of Music frieze, 1912. Catalogue raisonné Maurice Denis, photo Olivier Goulet.

[[58]] Rachel Coombes, ebd.

Im Reich der Sinne, Illusionen und Sensationen: Hittorffs Vergnügungsbauten – eine Synthese von Klassik und Kirmes. Von Ulrich Schläger

Einen besser geeigneten Architekten für die Umgestaltung des Parks an den Champs-Élysées als den aus Köln stammenden Jakob Ignaz Hittorff  konnte der Préfet de la Seine Claude-Philibert Barthelot Rambuteau nicht finden, als er ihn 1835 beauftragt, „de créer en faveur de la population un vaste lieu de repos et d’amusement (zu Gunsten der Bevölkerung einen großen Ort der Erholung und Unterhaltung zu schaffen).“ [1]

Abb. 1 : Jakob Ignaz Hittorf, gezeichnet von Wilhelm Hensel, 1835 (Bild beschnitten), Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Obwohl erst 43 Jahre alt, bringt Hittorff beste Voraussetzungen für die Gestaltung des Vergnügungszentrums mit:

  • seine Ausbildung bei Charles Percier und François Joseph Bélanger,
  • seine Tätigkeit als Architekt der Menus Plaisirs du Roi,
  • seine Forschungen zur Farbigkeit in der Baukunst der Antike,
  • seine Fähigkeit, neue Materialen und Technologien in seine Bauten zu integrieren,
  • seine effiziente Arbeitsweise, die schnelles und kostengünstiges Bauen ermöglichte.

Von Charles Percier an der Académie des beaux-arts wird er nicht nur von der klassizistischen Baukunst geprägt, Percier ist auch ein Meister der Farbgestaltung und -komposition. Zusammen mit Pierre-François-Léonard Fontaine ist er ein Hauptvertreter einer Strömung des Klassizismus unter Napoléon Bonaparte, des Empirestils, der Bauten und Räume von außerordentlicher Eleganz, Pracht und Anziehungskraft schuf. Ein hervorragendes Beispiel ist das  Palais Beauharnais,  mit dessen Erhaltung Hittorff beauftragt wurde.

Warum ist das hier hervorzuheben? Weil es bei dem Vergnügungszentrum um Attraktivität und Erregung der Sinne geht. Weil es gilt, durch Mittel der Architektur und Kunst prachtvolle, heitere Gegenbilder zum Grau des Alltages zu kreieren.

Um Rambuteaus Auftrag einzulösen, kann Hittorff  auch auf Erfahrungen im Bauatelier seines zweiten Lehrers, François Joseph Bélanger, zurückgreifen. Hier erlernt er nicht nur die praktischen Tätigkeiten eines Architekten. Bélanger war schon vor der Französischen Revolution Chef der Menus Plaisirs du Roi und als solcher für die Ausgestaltung  höfischer Feste und Zeremonien verantwortlich. Bei der Wiedereinsetzung der Bourbonen nach der Niederlage Napoleons hatte Bélanger dieses Amt rückerlangt.  Hittorff wirkt 1814 in Bélangers Team bei den Empfangsbauten für Ludwig XVIII mit – dazu gehörte die Nachbildung der Reiterstatue Henri Quatres auf dem pont neuf, eine Tätigkeit, die den späterer Zugang zu Charles X., Louis Philippe und Napoléon III. befördert. 1818, bereits mit dem Titel »Architecte de la ville de Paris et du Gouvernement« geehrt, folgt Hittorff nach Bélangers Tod diesem im Alter von 26 Jahren im Amt als Chef der Menus Plaisirs du Roi nach, in Zusammenarbeit mit seinem Freund Jean François Joseph Lecointe.

Deren Zeichnungen und Skizzen zeigen die Vielfalt ihrer Aufgaben, u.a. die Dekorationen in Notre Dame für die Vermählung des Herzogs von Berry und die Taufe des Herzogs von Bordeaux sowie die Gestaltung der Krönungsfeier für Charles X. in der Kathedrale von Reims. Neben den Dekorationen obliegen ihnen die Überwachung der Arbeiten, Einholung von Kostenvoranschlägen, Kontrolle der Herstellung, Lieferung und Installation, Verwaltung der Objekte, Organisation der Zeremonien.

Abb. 2: Jakob Ignaz Hittorff, dekorativer Aufbau der Vorhalle von Notre-Dame anlässlich der Taufe des Herzogs von Bordeaux,

Dies ist erwähnenswert, weil neben der Kreativität, neben der Entfaltung von Glanz, Macht und Größe auch Hittorffs Organisationsvermögen bei der Realisierung der Vergnügungsbauten gefragt ist und eine gleichwertige Rolle spielt.

Die Fähigkeit, Bauten und Räume mit aufsehenerregender Farbgestaltung zu erschaffen, hatte Hittorff schon mit der Restauration der Salle Favart, der Umgestaltung des Théâtre de l’Ambigu-Comique (zusammen mit Lecointe) und dem Bau der Kirche  Saint-Vincent-de-Paul (in der Nachfolge von Jean-Baptiste Lepère) sowie in der Stadtgestaltung mit der Place de la Concorde (ab 1833) bewiesen. Sie beruhte auch, wie wir später sehen, auf der intensiven Auseinandersetzung mit der Farbigkeit in der antiken Baukunst. Darüber sammelt Hittorff als Schüler und Assistent Bélangers Erfahrungen im Bau mit neuen Materialen wie Glas und Eisen bei der Konstruktion der Kuppel der  Halle au Blé und späteren Bourse de Commerce, heute Ausstellungsort der Pinault Collection. Er lernte Baustellen zu leiten, schnell sowie kostengünstig zu bauen, unabdingbare Voraussetzungen im Umgang mit den am Profit orientierten Investoren der Vergnügungsbauten.

Einige von Hittorffs Vergnügungsbauten an den Champs-Élysées, insbesondere das Panorama und der Sommerzirkus, sind leider verschwunden oder durch Um- und Anbauten verändert,  was am transienten Charakter dieser Bauten lag, die den Gesetzen des sich wandelnden Publikumsgeschmacks und der Rentabilität unterworfen waren. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Projekte Hittorff an den Champs-Élysées geplant und ausgeführt hatte und was davon heute noch zu sehen ist.  

Abb. 3 : Vergnügungsviertel zwischen der Place de la Concorde und dem Rond-point des Champs-Élysées

Vergnügung und gesellschaftlicher Wandel

Die Transformation der Champs-Élysées zwischen Place de la Concorde und Rond-point in ein Zentrum vielfältiger Amüsements unter maßgeblicher Beteiligung Hittorffs ist der Höhepunkt einer bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhundert anwachsenden Freizeit- und Vergnügungskultur. Sie sollte nicht nur durch eine große Anzahl der Attraktionen, sondern auch durch die Vielfalt der Angebote beeindrucken und so ein Massenpublikum befriedigen (und befrieden). 

Diese Transformation entwickelt sich einerseits als Folge des sozialen Wandels nach 1789 unter dem Banner der liberté und egalité, andererseits auch im Gefolge der einsetzenden industriellen Revolution, der damit verbundenen rasanten Zunahme der Bevölkerung in Paris und der Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Die genannten Umwälzungen ermöglichten immer breiteren gesellschaftlichen Schichten, an diversen Vergnügungen teilzunehmen,  weil sie, wenn auch in unterschiedlichem Maß, über die erforderlichen finanziellen Mittel und Mußestunden verfügten. Eine Vergnügungskultur für eine breite Bevölkerungsmasse führte zwangsläufig zu einer Verlagerung  aus den geschlossenen Räumen der Salons und Theater hin zu öffentlichen Orten.

Die genannten politischen und wirtschaftlichen Veränderungen hatten aber nicht in allen gesellschaftlichen Schichten zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen geführt. Die Situation der beständig wachsenden städtischen Lohnarbeiterschaft, die von Armut, schlechten Wohnverhältnissen, niedrigen Löhnen, langer Arbeitszeit und sozialer Unsicherheit gekennzeichnet war, sorgte für reichlich politischen Sprengstoff und führte zu wiederholten Unruhen und Aufständen.

Entsprechend unterschiedlich waren die Motivationen, die hinter der Anlage eines Vergnügungsviertels entlang der Champs-Élysées und anderen Orten standen: Die privaten Investoren bedienten den Wunsch eines immer breiteren diversen Publikums nach vielfältigen Zerstreuungen und Attraktionen aus Gewinnstreben.

Die städtischen Raumplanungen waren noch von politischen Unruhen der ersten Jahre der Julimonarchie geprägt, der sogenannten „epoche des émeutes“ (Victor Hugo). „Raumplanung war hier gleichsam Sozialpolitik, wie sie ganz auf der Linie des Präfekten Rambuteau lag, der die städtischen Verschönerungsmaßnahmen in den Dienst politischer Kalmierung gestellt sehen wollte.“[2]

Zunächst entstanden während der Julimonarchie entlang der Boulevards Montparnasse, des Capucines und des Italiens neben Theatern neuartige Unterhaltungsstätten, wie Panoramen, Neo-, Dio- und Georamen [3] sowie Tivoligärten, die mit Restaurants, Kaffee- und Konzerthäusern, Limonadiers und Spielklubs verbunden waren. Paris erlebte einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit vom Elitepublikum des ancien régime zum sozial diversifizierten Publikums des 19. Jahrhunderts“ [4] und stieg durch seine Vergnügungsviertel zusammen mit den Boulevards und Passagen zu einer vielfach gerühmten „Kapitale der Flanerie und des Amüsements“ [5] auf.

Hittorffs Vergnügungspark an den Champs-Élysées

Mit der Transformation des Parks der Champs-Élysées in einen Vergnügungspark unter der Regentschaft von Louis-Philippe verfolgt sein Präfekt Rambuteau im Sinn einer Panem-et-circenes-Strategie eine Ablenkung von sozialen Konflikten, aber auch eine große Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme, die dem sozialen Frieden dienen soll.

Abb. 4: Hittorff, Jakob Ignaz, Projekt für Verschönerungsarbeiten an den Champs-Elysées, Grundriss, 3. Zustand

Hittorffs Bebauungsplan von 1835 sieht u.a. Kaffeehäuser, ein Estaminet (eine Kombination von Café, Kneipe und Restaurant), eine Konditorei, drei Restaurants, einen Ballsaal mit Café, ein Lesekabinett, eine öffentliche Toilette, ein Konzertpavillon, einen Ausstellungs- oder Theatersaal und einen Zirkus vor.

Zu Hittorffs Aufgaben gehören die Verhandlungen mit den Investoren und Betreibern der Vergnügungsbauten, die Zuweisung der Standorte der Bauten und deren Gestaltung sowie die Raumgestaltung des Parks selbst. Die meisten Gebäude-Pläne entstehen in Hittorffs Baubüro oder werden von ihm bewilligt, wenn sie sich in sein Gesamtkonzept einfügen. Die Schaubilder zu den Bauten, adressiert an die Investoren, sind mit Hinweisen auf kurze  Bauzeiten,  günstige Baukosten, schnelle Amortisation und hohe Gewinnspanne versehen und sind auch als Werbeprospekte zu verstehen. Hittorff ist sich des Warencharakters seiner Bauten genau bewusst. Das Vergnügungszentrum wird im Verlauf der nächsten beiden Jahrzehnte immer wieder den Bedürfnissen des Publikums nach neuen Attraktionen und den Wünschen der Investoren nach Gewinnoptimierung amgepasst: Alle Parkbauten waren Spekulationsobjekte privaten Kapitals. „Der Reiz des Neuen ließ schnell nach und mit ihm die erwirtschaftete Rendite“… „Permanenter Attraktionswechsel hielt das Schwungrad der Rentabilität in Gang.“ [6] Alte Gebäude werden abgerissen, und neue treten im Wechsel an ihre Stelle. „In diesem bunten Panorama von Schaulustbarkeiten gehörte es zu den Aufgaben des Architekten, zumindest baulich, jenes Übel fernzuhalten, das die Unterhaltungsindustrie am meisten fürchtet, die Langeweile.“ [7]

Hittorffs Tätigkeit beschränkt sich nicht auf die Bauplanungen: In den Carrés der Champs-Élysées wird der alte Baumbestand durchforstet, neue Bäume werden gepflanzt,  Rasenstücke mit Fliederbüschen und Rhododendren sowie mit wechselnden Blumenbeeten werden angelegt. Mehrere Fontänen, inspiriert von Hittorffs Italienreise,  schmücken die Carrés. [7a]

Abb. 5: Fontaine du Cirque ou des Quatre-Saisons.[8]

Vier von ihnen gleichen sich in der Grundform mit einer runden Brunnenschale auf einem polygonalen Sockel inmitten eines Bassins an der Basis; drei von ihnen unterscheiden sich in den Skulpturen über der Brunnenschale: Im Carré Marigny, bei der oben abgebildeten Fontaine du Cirque, auch Brunnen der vier Jahreszeiten genannt, wird eine obere Schale des Brunnens von vier Knaben getragen, die die Jahreszeiten symbolisieren, ein Werk von Jean-Auguste Barre.

Abb. 6 : Fontaine de Diane Chasseresse, par Louis Desprez                             

Bei der Fontaine de Diane Chasseresse im Carré Ledoyen steht auf der Schale die Jagdgöttin Diana, geschaffen von Louis Desprez, und im Carré des Ambassadeurs bekrönt die Liebesgöttin Venus von Francisque Duret die Fontaine des Ambassadeurs (deshalb auch auch Fontaine de Venus genannt).

Abb. 7 : Fontaine de Venus, par Francisque Duret

Abb 8: Fontaine de la Grille du Coq 

Nur die Fontaine de la Grille du Coq hat selbst keine Skulptur. Dafür kann man die schönen Meeresmotive bewundern, mit denen Hittorff -wie auch auf der Place de la Concorde- seine Brunnen ausgestattet hat. Und sein Name ist auch in den Sockel des Brunnens eingraviert. (Abb. 9)

Benannt ist der Brunnen nach dem Hahn auf dem Tor des unweit gelegenen Parks des Élysée-Palastes (Abb. 10)

Für alle Schichten der Gesellschaft und für alle Altersstufen wurden Attraktionen aufgebaut: Bunt bemalte Karussells mit Pferden für die Herren und Kutschen für die Damen drehten sich im Kreis zu Klängen der Jahrmarktsorgel. An den Abenden verbreiteten vergoldete Kandelaber über Plätze und Alleen »eine taghelle phantastische« Beleuchtung“[9] und luden zum abendlichen Prominieren, zu einem Konzert rund um einen Musikpavillon oder zum Tanz in einem der Ballsäle im Park. 

Abb. 11 : Herbst-Nachmittag im Carré Marigny mit Karussels, der Fontaine des Quatre-Saisons und dem Restaurant Le Laurent

Abb. 12: Die Terrasse des Laurent heute

Hittorffs gärtnerische Parkanlage selbst bleibt zwei Jahrzehnte unverändert. Erst unter Haussmann wird sie von Adolphe Alphand im englischen Stil umgewandelt.

Bei den Restaurants und Café-concerts zeigt sich die Anpassungsfähigkeit Hittorffs an den Trend des gehobenen Publikumsgeschmacks. 1841 waren das Café des Ambassadeurs und das Café Morel von Hittorff umgebaut und in ein Café-Concert umgewandelt worden.

Abb. 13 : Rechts das Café des Ambassadeurs, links das Zwillingsgebäude, das Café Morel an den Champs-Élysées

Diese Café-concerts waren in den 1840er Jahren aus den  Café-chantants hervorgegangen. Sie waren deutlich größer, eleganter in der Ausstattung und hatten eine größere Bühne, anfangs für Gesangsdarbietungen und andere musikalische Unterhaltungen, später auch für Varieté-Künstler. Die Café-chantants und Café-concerts waren ein beliebtes Sujet von Künstlern wie Edgar Degas.

Abb. 14 : Edgar-Degas- Au Cafe-Concert; Washington, National Gallery of Art

Die Gäste konnten rauchen, trinken, teilweise auch speisen und wandten sich dabei einem Bühnenprogramm zu, das zwischen Chansons, Couplets, Kleinkunst und Akrobatik wechselte – meist begleitet von einem kleinen Orchester.

Hittorffs Cafés und Restaurants waren ein- oder zweistöckige Bauten  mit Kolonaden, farbig getönten dorischen und ionischen Säulen, auch Karyatiden, bunt bemalten Tür- und Fensterrahmen, Gesimsen und Friesen: schönste Beispiele einer Anspielung auf die polychrome antike Architektur.

Abb. 15 : Pavillon Morel und Pavillon Varin an der Champs-Élysée (Alcazar d’Été und Café des Ambassadeurs).

 Abb. 16 : Pavillon Gabriel im Carré des Ambassadeurs heute

Abb 17: Fries und korinthisches Kapitell vom Pavillon Gabriel

Dazu gehörte auch das Café du Cirque (später Restaurant Marigny, heute Le Laurent genannt) im Carré Marigny und der Pavillon Ledoyen im Carré Ledoyen. Das Café des Ambassadeurs wurde 1926 abgerissen. Heute ist hier das Théâtre de la Ville – Espace Pierre-Cardin). Das Café Morel hieß später Alcazar d’été, jetzt Pavillon Gabriel im Carré des Ambassadeurs.

Auch wenn diese Bauwerke, wie die Café und Restaurants,  heute durch Um- und Anbauten verändert oder nur als Zeichnung erhalten sind (Bedürfnisanstalt!), geben sie uns mit ihren Anleihen aus der Antike und ihrer dezenten Farbigkeit noch eine Vorstellung ihres Charmes und ihrer Heiterkeit.

Abb. 18: Hittorff, Jakob Ignaz, Entwurf für eine Bedürfnisanstalt auf der Champs-Elysées

Abb. 19 : Le Laurent am Carré Marigny

Abb. 20 : Pavillon Ledoyen im Carré Ledoyen mit seinen Karyatiden

Abb. 21: Ledoyen, Detail mit Karyatide

Von der Fülle der vielen kleinen Bauten wie Marionettentheater, Schießstände, Limonaden- oder Milchbuden, Blumen- oder Bäckerstände, Musikpavillons, Karussells bis hin zu den Toilettenhäusern, alle in polychromer Fassung und teilweise im klassischen Gewand, ist kaum etwas erhalten.

Abb. 22 : Eugene Charles François Guerard, Guignols an den Champs-Élysées

Völlig verschwunden ist das für Charles Auguste Guérin 1844 aus Holz erbaute Géorama im Carré Ledoyen, das eine von innen zu betretende Erdkugel beherbergte. Vorbild war das Géorama, das Charles-Antoine Delanglard im Mai 1825 in der Rue de la Paix / Ecke Boulevard de Capucines eröffnet hatte, aber schon 1832 wieder seine Tore schloss.

Abb. 23 : Vue extérieure du Géorama des Champs-Élysées, 1846  

Abb. 24 : Vue intérieur du Géorama des Champs-Élysées

Auch der Salle Lacaze,  benannt nach einem Magier, der hier seine Kunststücke zeigte, ist verschwunden. Das Etablissement, auch als „Château d’Enfer“ (Schloss der Unterwelt) bekannt, war 1849-1850 nach Plänen Hittorffs, aber nicht unter seiner Leitung, zu einem kleinen Theater umgebaut worden. Anlässlich der Weltausstellung von 1855 gestaltete Hittorff für den ebenfalls aus Köln stammenden Jacques Offenbach den Bau zum Théâtre des Bouffes-Parisiens um.  

Abb. 25 : Salle Lacaze, par A. Provost, Musee Carnavalet

Der Bau wurde 1881 abgerissen und durch ein vom Architekten Charles Garnier entworfenes Panorama ersetzt. Dieses wiederum wandelte Édouard Niemans in ein Theater um, das 1896  unter dem Namen Folies-Marigny eröffnet wurde. Heute trägt es den Namen Théâtre Marigny.

Von allen Schöpfungen Hittorffs  an den Champs-Elysées waren die  Rotunde des Panoramas und der Sommerzirkus, der Cirque d’Été, auch unter den Namen Cirque des Champs-Elysées, Cirque de l’Impératrice, Cirque National des Champs-Elysées bekannt, die bedeutsamsten. Auch diese beiden  Bauwerke sind schon längst verschwunden und uns nur in Berichten, Zeichnungen bzw. Photographien erhalten.

Der Sommerzirkus, der Cirque d’Été, und der später am Boulevard des Filles-du-Calvaire erbaute Winterzirkus, der Cirque d’Hiver, der uns als einziger großer Vergnügungsbau Hittorffs erhalten geblieben ist, werden in einem nachfolgenden eigenen Beitrag gewürdigt.

Die Rotunde des Panoramas

Mit dem Begriff Panorama, zusammengesetzt aus dem griechischen ‚pan‘ (= alles) und ‚hòrama‘ (= sehen),  bezeichnet man sowohl eine landschaftliche Darstellung, die einen 360°- Ausblick wiedergibt, als auch die Einheit von Panoramagebäude und der darin ausgestellten Rundleinwand, eine künstlerische und technische Innovation im Ausgang des 18. Jahrhunderts. „Dass das Panorama zuerst als technisch-naturwissenschaftliche Erfindung angesehen wurde“ [10] , zeigt seine Patentierung 1787 durch den irischen Maler Robert Barker, der 1792 das erste Panorama in London eröffnete. Die Panorama-Bauten wurden die großen Illusionsmaschinen des 19. Jahrhundert für ein Massenpublikum.

Abb. 26 : Schnitt durch das Panorama

Zeichnung mit einer Beschreibung durch alphabetische Markierungen. A: Eingang und Kasse; B: dunkler Zugangskorridor; C: Aussichtsplattform; D: Sichtkegel des Betrachters; E: Zylindrische Leinwand; F: Falsches Terrain; G: Trompe l’oeil oder auf die Leinwand gemalte Szene.

Die Charakteristika des Panorama-Baus waren:

  • die hermetische Abschirmung gegen Reize außerhalb des Gebäudes,
  • der dunkle Zugangskorridor, der das Bewusstsein der Besucher, illusorischen Stimuli ausgesetzt zu sein, in den Hintergrund treten ließ,
  • das mit großer Sorgfalt gefertigte, die Augen täuschende (Trompe l’oeil), dreidimensional wirkende zylindrische Panoramagemälde,
  • das  sogenannte „falsche Terrain“, d.h. der visuelle Übergang zwischen Betrachter und gemalter Leinwand mit seinen realen, auf das gemalte Thema bezogenen Gegenständen,
  • die ausgeklügelte Blickführung von der Aussichtsplattform mit Baldachin und Balustrade, die nur den Blick auf das Terrain und das Bild zuließ und so die Wahrnehmung reglementierte und kanalisierte,
  • die hinreichende Größe der Plattform als Aktionsraum, da das Rundbild einen beweglichen Betrachter verlangte, dem sich durch wechselnden Standort die Inszenierung sukzessiv erschloss.

Hierdurch wurde ein Grad der illusionistischen Täuschung erreicht, bei der die erkennbare Grenze zwischen künstlerischem Bild und Wirklichkeit verschwamm oder gänzlich verschwand. Die virtuelle Umgebung wurde als real empfunden und führte zur Illusion, spektakuläre Ereignisse mitzuerleben, inmitten großartiger Landschaften und Städte zu stehen oder an Reisen in ferne Länder teilzunehmen.

 „Ein Kriegsveteran soll vor einem Panorama des Malers Langlois begeistert in die Runde gerufen haben: ‚Das ist die Stelle, wo eine Kartätsche mein rechtes Bein zerschmetterte‘; eine um ihre Frisur besorgte Dame spannte ‚vor einem Gewitter‘ ihren Regenschirm auf; ein beträchtlicher Neufundländer war nur mühsam daran zu hindern, im gemalten Wasser ein Bad zu nehmen; energische Offiziere zogen im Angesicht des Feindes reihenweise die Degen. Und die englische Königin Charlotte soll während ihres Besuches in einem    Panorama Robert Barkers, das die russische Flotte vor Spithead auffahren ließ, tatsächlich seekrank (das heißt: seh-krank) geworden sein.“ [11]

Heute, wo es die Technologie dem Benutzer nicht nur ermöglicht, in eine virtuelle Realität einzutauchen, sondern auch mit ihr zu interagieren (Stichwort Virtual-Reality-Head-Set), lässt sich das Panorama-Konzept als die Frühform eines immersive virtual environment,  eines Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, beschreiben.

„Die Anziehungskraft der Rotunden hängt mit der Bereitschaft der Besucher zusammen, das Interaktionsangebot anzunehmen. Der Effekt hängt nicht nur mit der illusionistischen Machart zusammen, sondern auch mit erlernten Rezeptionsweisen: Bilder als Abbilder der Wirklichkeit zu erkennen und (vor allem) zu akzeptieren. … Das Wissen um ästhetische Differenz zwischen Wirklichkeit und ihrer Darstellung ist sogar ein Hauptgrund für das Vergnügen, mit dem illusionistische Darstellungen betrachtet wurden und werden.“ [12] Das gilt auch für das Virtual-Reality-Head-Set.

Erste Panoramen in Paris

Der amerikanische Erfinder Robert Fulton erwarb von Barker 1799 das Importpatent für Paris, das er wenig später an seinen Landsmann James Thayer verkaufte. Zwei Rotunden wurden von Thayer, anfangs wohl zusammen mit Fulton, der aber bald nach Amerika zurückkehrte,  in einem Teil des Gartens des ehemaligen Kapuziner-Konvents, im Jardin d’Apollon, errichtet. Hier wurden eine Ansicht von Paris und die Einnahme und Belagerung von Toulon, später weitere Ansichten, u.a. von Lyon und Rom gezeigt, gemalt von Pierre Prévost. Ende 1802 entstand eine dritte Rotunde im Jardin des Capucines, Boulevard de la Chausée d’Antin.

Nur von den beiden Panoramen, die Thayer im Bereich des Hôtel de Montmorency-Luxembourg und dessen Garten zusammen mit einer Passage am Boulevard Montmartre erbauen ließ, gibt es noch Darstellungen. Die schlichten Rotunden mit 14 m Durchmesser und 7 m Höhe, in denen Ansichten von London, Neapel, Amsterdam und Rom zu sehen waren, wurden  1831 abgerissen, erhalten blieb die Passage des Panoramas.

Abb. 27 : Théâtre des Variétés et le passage des Panoramas, Boulevard Montmartre, um 1825

Nach dem Tode von Pierre Prévost 1823 wurde Jean-Charles Langlois zu einem der wichtigsten französischen Vertreter des Grenres der Panoramamalerei und zum Bauherrn weiterer Panorama-Rotunden. Langlois, Eleve de l’X (d.h. der École Polytechnique),  Offizier der kaiserlichen Garde, wurde bei  Waterloo schwer verwundet, schied  im Rang eines Obersts aus und studierte in der Zeit der Restauration Kunst. Berühmt wurde er wegen seiner riesigen 360°-Panorama-Gemälde, die er in drei verschiedenen Einrichtungen zeigte. Das erste Panorama ließ Langlois in der Rue des Marais-du-Temple errichten, eine Rotunde mit einem Durchmesser von 35 Metern und einer Höhe von 12 Metern. Waren die ersten Themen noch den Siegen der Bourbonen gewidmet (Navarino und Algier), so folgten bei dem überzeugten Bonapartisten die Siege Napoleons I. (u.a. die Schlacht bei Moskau, die Schlacht bei den Pyramiden) und die Siege Napoleons III. (die Einnahme von Sewastopol und die Schlacht von Solferino). Alle diese Panoramen hielten die Erinnerung an die militärische Größe Frankreichs wach.

Hittorffs Panorama

1838 beabsichtigte Langlois den Bau eines weiteren Panoramas im aufstrebenden Vergnügungsviertel an den Champs-Élysées. Sein Unternehmungsgeist deckte sich dabei mit den Vorstellungen des Präfekten Rambuteau.  Langlois pachtete ein Gelände im Carré du Rond Point, und Hittorff, der sich schon längere Zeit mit diesem Thema beschäftigt und eine Reise nach England zum Studium derartiger Bauten unternommen hatte, erhielt den Auftrag. Hier zeigt sich wiederum, wie intensiv er sich auf seine Bauaufgaben vorbereitete. Wir hatten diese Arbeitsweise beim Gare du Nord gesehen, wo er zuvor die Eisenbahnhöfe in England studierte.

Der Bau hatte eine Höhe von fünfzehn und einen Durchmesser von vierzig Metern mit einer kegelförmigen Überdachung, war also wesentlich größer als die bisherigen Panoramabauten. Das eigentliche zylindrische Panorama wurde kostengünstig aus Holz errichtet und mit einem steinernen dreistöckigen geschlossenen Arkadenring eingefasst.

Abb. 28: Hittorff, Jakob Ignaz, Champs Élysées, Grand Carré, Panoramarotunde.

Über die Dachlaterne wurde das Rundbild beleuchtet. Ohne innere Stützen, die ihre Schatten auf das Panoramabild geworfen hätten, entwarf Hittorf eine kühne Dachkonstruktion. Der hölzerne Dachstuhl hing an zwölf schmiedeeisernen Zugbändern, die zum Abfangen der großen Last über gusseiserne Standsäulen geführt wurden und im umgebenden Säulenlauf des massiven steinernen Arkadenringes verankert waren.

Abb. 29 : Abb. aus Description de la Rotonde des Panoramas. (Ausschnitt)., Jacques-Ignace Hittorff, 1842

Durch diese geniale Konstruktion konnte die Dachlast, ohne einen seitlichen Druck auf die Außenwände auszuüben, senkrecht abgeleitet werden. Wir sehen hier eine ebenso hohe Ingenieurskunst, wie bei dem Lesesaal des Architekten Henri Labrouste in der Pariser Bibliothèque Nationale und seinem von Sigfried Giedion gelobten dünnen Tonnengewölbe in der Bibliothèque Geneviève. Hier wie dort ruht die Konstruktion, ohne Seitenschub, im eigenen Gleichgewicht. „Ein solch schwebendes Gleichgewicht zu erreichen, wurde eine Hauptaufgabe der Ingenieure in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.“[13]  Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass Hittorff diese Konstruktion nicht verbirgt: „Hittorff zeigte hier ganz bewusst nach außen die Konstruktion, ja er ordnete die Form dem Material und dem Konstruktionsprinzip unter. In seiner Zeit eine völlig neue Verfahrensweise.“ [14] Erst Jahre später wird man am Pariser Warenhaus La Samaritaine  die Zurschaustellung des konstruktiven Tragwerk-Systems an den Gebäudeaußenseiten sehen- und wieder Jahre später besonders eindrucksvoll am Centre Pompidou.

Der dreigeschossige steinerne Ring mit seiner polychrom bemalten Außenfassade folgte in seiner Anordnung und seinen Elementen der Tradition der klassischen Baukunst: eine Arkade mit dorischen Pilastern, die das erste und zweite, Rundbogenfenster, die das dritte Geschoss umschlossen. Von den ursprünglich geplanten vier einander gegenüberliegenden Eingängen mit vorgelagerten Balkonen, die auf Säulen-gestützten Rundbögen ruhten, wurde nur ein Eingang realisiert. Die im klassizistischen Stil gestaltete Außenfassade und die Konstruktionsform eines antiken Zeltdaches, das an die Aufhängung des Velums im Colosseum erinnert, verliehen dem Bau eine besondere Pracht. „Seine Kühnheit erregte wohl allgemeines Aufsehen, aber auch die Bedenken der um die Sicherheit der Besucher besorgten Behörden“ [15], die Hittorff aber zerstreuen konnte.

1839 wurde die Rotunde mit dem Panoramabild des brennenden Moskaus von Langlois eingeweiht. Das originale Panoramabild blieb nicht erhalten. Ein Gemälde von Langlois im  Musée des Beaux-Arts de Caen gibt uns eine Vorstellung von der Wirkung auf das Publikum, das von der Plattform in der Mitte des Baus „das schaurig-schöne Schauspiel des Brandes von Moskau“ [16] erlebte.

Abb. 30: Jean-Charles Langlois, Der Brand von Moskau, Napoleon verlässt den Kreml

Das Panorama-Gebäude wurde 1855 in die Gebäude der Weltausstellung integriert und als Ausstellungshalle genutzt.  Im folgenden Jahr, beim Durchbruch der heutigen Avenue Franklin Roosevelt zur Avenue Winston Churchill, wurde der Bau abgerissen und 1858 durch ein Panorama von Gabriel Davioud ersetzt, das später zum Palais de Glace, dem Eispalast, und dann zum Théâtre du Rond-Point umgebaut wurde.

Die große Zeit der Panoramen, die schon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert abflaute, erlebte  in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts noch einmal einen Höhepunkt. Die Themen waren jetzt nicht mehr Natur-, Landschafts- und Städtedarstellungen, sondern historische Bilder, insbesondere Schlachtendarstellungen – im Kontext zu den nationalistischen, chauvinistischen und kolonialistischen Tendenzen dieser Zeit. Sowohl auf französischer als auch auf deutscher Seite entstanden nach 1871 Panoramen, um die siegreichen deutschen Truppen auf der einen und den heldenhaften Widerstand der unterliegenden Franzosen auf der anderen Seite zu feiern und den Geist der Revanche wachzuhalten.  In Paris wurde zu diesem Zweck 1882  in einer Seitenstraße der Champs Elysées ein Panorama national genannter Bau errichtet. [17]

Die Panoramen waren, wie Franz Becker [18] schreibt, „keineswegs nur Elemente des großstädtischen Vergnügungsbetriebes, […] Sie waren Stätten eines nationalen Erinnerungskultes.“ Becker spricht vom „Doppelgesicht“ des Panoramas, „weil es gleichzeitig Massenmedium und Erinnerungsort war, […] Die neuere Forschung hat betont, in welch hohem Maße die modernen Nationalstaaten nicht nur faktisch, sondern auch kollektivpsychologisch »Kriegsgeburten« sind. Das Panorama identifizierte die Nation mit ihrem Schlachtenschicksal, und es präsentierte seine Botschaft gleichzeitig in einer Form, die so populär und eingängig war, dass sie auch die breite Mittelschicht, ja sogar die Unterschicht erreichte.“

Als „die Bilder laufen lernten“, d.h. mit dem Kino, hatte die Stunde der Panoramen geschlagen. Sie verschwanden bis auf ganz wenige Ausnahmen als Unterhaltungsmedium für das Massen-publikum. Dass sie aber auch im Zeitalter der neuen Medien noch aktuell und attraktiv sein können, zeigt der Erfolg des Pergamon-Panoramas in Berlin.[19]

In einem weiteren Teil zu Hittorffs Vergnügungsbauten werden wir uns seinen Zirkusbauwerken, dem verschwundenen Sommerzirkus an den Champs-Élysées und dem noch erhaltenen Winterzirkus (cirque d’hiver) am Boulevard der Filles du Calvaire zuwenden.

Ulrich Schläger

Aktuelles zur Orientierung und Anregung

von Wolf Jöckel

Abschließend zur Orientierung und als Anregung eine aktuelle Karte der jardins des Champs-Élysées zwischen dem Rond point des Champs-Élysée und der place de la Concorde (Abb.31). Für die Hittorff’schen Vergnügungsbauten relevant sind

  • das Carré Marigny links oben mit dem Le Laurent, der Fontaine du Cirque/des quatres saisons, dazu dem Théâtre Marigny
  • rechts davon das Carré de L’Élysée mit der Fontaine de la Grille du Coq; ganz rechts, angrenzend an die Place de la Concorde das Carré des Ambassadeurs mit dem Pavillon Gabriel und der Fontaine des Ambassadeurs/Fontaine de Venus
  • zwischen der avenue des Champs-Élysées und der Seine das Carré Ledoyen mit dem Ledoyen und der Fontaine de Diana.

Dazu gibt es noch viel mehr zu sehen und zu entdecken!

Beispielsweise die Gedenktafel für Ödon von Horvath am Théâtre Marigny (Abb.32):

Ödön von Horvath, deutschsprachiger Dramatiker und Schriftsteller, geboren 1901, gestorben am 1. Juni 1938 gegenüber dem Marigny-Theater, erschlagen von dem Ast eines Kastanienbaums, der bei einem Sturm abgebrochen war. Hommage von seinem Verleger Thomas Sessler Verlag, Wien, 3. Juni 1998[20]

Horvath, dessen Bücher 1933 in München von den Nazis verbrannt wurden, hatte 1933 zunächst Deutschland, 1938 nach dem „Anschluss“ auch Österreich verlassen, aber die Hoffnung nicht aufgegeben, wie das Gedicht zeigt, das man, auf eine Zigarettenschachtel notiert, in der Manteltasche des Toten fand:

Was falsch ist, wird verkommen / Obwohl es heut regiert
Was echt ist, das soll kommen / Obwohl es heut krepiert.

Im Carré de l’Élysée gibt es ein schönes Denkmal von Georges Jeanclos für den Widerstandskämpfer Jean Moulin aus dem Jahr 1984 (Abb.33):

Es besteht aus 5 Bronze-Stelen, von denen eine das Portrait Jeans Moulins trägt. [21]

Im Carré Ledoyen hinter dem Petit Palais steht der poppig-bunte Blumentstrauß von Jeff Koons (Abb.34):

Koons hat seinen -sehr umstrittenen- Blumenstrauß 2019 der Stadt Paris geschenkt aus Anlass der islamistischen Anschläge vom 13. November 2015 (u.a. im Bataclan), bei denen 130 Menschen ermordet wurden.

Abb. 35: Alison Saar: Salon (2024)

Die Frau mit der olympischen Flamme ist Teil einer größeren Werkgruppe der kalifornischen Künstlerin Alison Saar. Traditionell erhält die Stadt, die die Olympischen Spiele ausrichtet, vom IOC ein Kunstwerk als Geschenk, das von einem Künstler/einer Künstlerin aus der Stadt der nachfolgenden olympischen Spiele konzipiert wird. Saar will mit ihrem Werk die Weltoffenheit und integrative Kraft der olympischen Idee zum Ausdruck bringen. Neben der Frauenfigur ein israelischer Junge, mit dem und dessen Eltern ich ins Gespräch kam, als ich die Plastik aufnehmen wollte.

Das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt dessen, was die Gärten der Champs-Élysées zu bieten haben. Ein Spaziergang mit offenen Augen -nicht nur- auf den Spuren von Ignaz Hittorff lohnt sich also sehr! Wolf Jöckel


Anmerkungen:

[1] zitiert nach Karl Hammer: JAKOB IGNAZ HITTORFF – EIN PARISER BAUMEISTER 1792 – 1867. Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart, 1968

[2] Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022, hier S.244

[3]Das Panorama ist ein Rundbau, eine Rotunde, in dem sich auf einer Leinwand eineperspektivische Darstellung von Landschaften oder Ereignissen in Form eines 360°Rundbildes befindet, die von einer Plattform im Zentrum zu sehen ist und den Eindruck vermittelt, real inmitten einer Landschaft oder eines Geschehens zu stehen. Varianten ohne eine 360°-Sicht, dafür mit beweglichen Bildstreifen oder Längenbilder werden im deutschsprachigen Raum als Cyclorama bezeichnet. Beim Cyclorama wurde eine Leinwand an den Besuchern vorbeigezogen und damit beispielsweise eine Eisenbahn- oder Schifffahrt simuliert. Das Neorama (griech.) bezeichnet eine Variante des Panoramas, bei welcher man, im Unterschied zum Diorama, von der Mitte eines Raumes aus ein Rundgemälde sieht, das das Innere eines Gebäudes darstellt. Ein Neorama kann von Figuren belebt und wechselnd illuminiert werden. Das erste Neorama war 1827 in Paris zu sehen und zeigte das Innere der Peterskirche in Rom, in einem eigens dazu errichteten Gebäude. Ein Diorama war ursprünglich eine von Louis Daguerre erfundene abgedunkelte Schaubühne mit halbdurch-sichtigem, beidseitig unterschiedlich bemaltem Prospekt. Durch wechselnde Beleuchtung von Vorder- und Rückseite konnten Bewegungen und Tageszeiten effektvoll simuliert werden. Georama ist ein großer, hohler, innen begehbarer Globus, welcher auf der inneren Fläche Darstellungen der Kontinente, Meere, Gebirge, Flüsse etc. enthält, die man vom Mittelpunkt aus überschaut.

Eine besondere Panorama-Variante waren die um 1800 äußerst beliebten Panorama-Tapeten. Siehe dazu den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2021/10/21/die-einzigartige-historische-jagdtapete-la-chasse-de-compiegne-in-paris-und-im-wurttembergischen-datzingen/

[4] Salvatore Pisani: ebd. , hier S.233

[5] Salvatore Pisani: ebd. , hier S.233

[6] Salvatore Pisani: ebd. , hier S.242

[7] Salvatore Pisani: ebd. , hier S.246

[7a] Zu Hittorffs Brunnen s.a. Auguste Barre, Bassins et fontaines des jardins des Champs-Élysées. In: Jacques Barozzi, Paris de fontaine en fontaine. Parigramme 2010, S.67

[8] Siehe auch: https://www.histoires-de-paris.fr/fontaines-jardins-champs-elysees/

[9] Karl Hammer, ebda.

[10] Gabriele Schmid:  Illusionsräume – Mesdags Panorama, Monets Seerosen,  Boissonnets Hologramme und Kirchen der Gebrüder Asam, Konstruktionen und Vermittlungsstrategien; Inauguraldissertation, Berlin, 1999.

[11] zitiert nach Felix Luderer. Ein Blog: Das Panorama als Massenmedium https://felixluderer.wordpress.com/2017/11/14/massenmedium-panorama/

[12] Gabriele Schmid, ebd.

[13] Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press

[14] Karl Hammer, ebd.

[15] Karl Hammer, ebd.

[16] Karl Hammer, ebd.

[17] Siehe dazu den Abschnitt „Die Schlacht von Champigny als Gegenstand deutscher und französischer Panoramen“ in:: https://paris-blog.org/2021/11/25/champigny-sur-marne-die-letzte-grose-schlacht-des-deutsch-franzosischen-krieges-1870-1871-und-ein-deutsch-franzosischer-erinnerungsort/

s.a. https://www.napoleon.org/histoire-des-2-empires/tableaux/le-panorama-de-la-bataille-de-champigny-18811882/#:~:text=Le%20panorama%20fut%20inaugur%C3%A9e%20%C3%A0,le%20glas%20de%20son%20existence.

[18] Frank Becker: Augen-Blicke der Größe. Das Panorama als nationaler Erlebnisraum nach dem Krieg von 1870/71; Text aus:Jörg Requate: Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, Walter de Gruyter, 24.10.2013

[19] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/pergamonmuseum-das-panorama/home/

[20] Mehr zu Ödön von Horvath siehe: https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-ueber-oedoen-von-horvath-sonnenuntergang-100.html#:~:text=%C3%96d%C3%B6n%20von%20Horv%C3%A1th-,Sonnenuntergang%20im%20Wienerwald,Person%20in%20der%20NS%2DDiktatur. Bei google-maps ist die Gedenktafel übrigens eine „hommage à Thomas Sessler“…

[21] https://paris1900.lartnouveau.com/paris08/jardins_champs_elysees/monument_jean_moulin.htm

Literatur :

Abbildungsverzeichnis:

Abb.1: Jakob Ignaz Hittorf, gezeichnet von Wilhelm Hensel, 1835 (Bild beschnitten), Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Abb.2: Hittorff – Notre Dame, Taufe des Herzogs von Bordeaux, dekorativer Aufbau der Vorhalle, 19. Jh. WRM & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. H. u. L. 174. Rhein.Bildarchiv Köln

Abb.3: Vergnügungsviertel zwischen Place de la Concorde und Rond-point an den Champs-Élysées Marie-Hilaire Guesnu, Le nouveau Paris.  Panorama-Plan, donnant avec l’aspect général de la ville, ses monuments, boulevards, jardins &a (Detail) Bildquelle : Musée Carnavalet, Histoire de Paris

Abb.4: Jakob Ignaz Hittorff, Projekt für Verschönerungsarbeiten an den Champs-Élysées. Grundriss, 3. Zustand. (Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud; Rheinisches Bildarchiv, rba coo5341, April 1835 Das Bild ist im Rheinischen Bildarchiv seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend publiziert. Das wurde bei der obigen Abbildung korrigiert. Der Rond-Point zeigt nur einen zentralen Brunnen und nicht 6 Brunnen wie bei der später entstanden Vogelansicht des Vergnügungsviertels von Marie-Hilaire Guesnu (Abb.3).

Abb.5: Fontaine du Cirque, ou des Quatre-Saisons. Foto: Wolf Jöckel

Abb.6 : Fontaine de Diane Chasseresse, par Louis Desprez. Foto: Wolf Jöckel                           

Abb.7 : Fontaine de Venus, par Francisque Duret. Foto: Wolf Jöckel

Abb 8: Fontaine de la Grille du Coq. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 9: Hittorffs Name auf dem Schaft des Brunnens. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 10: Grille du Coq – Eingang zum Garten des Élysée-Palasts. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 11 : Herbst-Nachmittag im Carré Marigny mit Karussels, der Fontaine des Quatre-Saisons und dem Restaurant Le Laurent (Dimanche d’automne aux Champs-Elysées au 19e siècle); Bildquelle (MeisterDrucke-921553)

Abb.12: Die Terrasse de Laurent heute. Foto: Wolf Jöckel (2024)

Abb.13 : Rechts das Café des Ambassadeurs, links das Zwillingsgebäude, das Café Morel an den Champs-Élysées,  Bild von A. Provost, Musée Carnavalet (Auschnitt).

Abb.14: Edgar Degas: Au Cafe-Concert; Washington, National Gallery of Art

Abb. 15 : Pavillon Morel und Pavillon Varin an der Champs-Élysée (Alcazar d’Été und Café des Ambassadeurs). Teilansicht der Hauptfassade mit Angaben über den polychromen Dekor (1842). Abb. aus: Jakob Ignaz Hittorff. Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Ausstellungs-katalog. Wallraf-Richartz-Museum Köln, Graphische Sammlung, 21. Januar bis 22. März 1987, S.208, Kat.-Nr. 248 

Abb. 16 : Pavillon Gabriel heute. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 17: Fries und korinthisches Kapitell vom Pavillon Gabriel. Foto: Wolf Jöckel

Abb. 18: Entwurf für eine Bedürfnisanstalt auf den Champs-Élysées; Köln, Wallraf-Richartz-Museum, (Ausschnitt), in: Jakob Ignaz Hittorff. Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Wallraf-Richartz-Museum Köln, Graphische Sammlung, 21. Januar bis 22. März 1987, S.208, Kat.-Nr. 248

Abb.19 : Le Laurent am Carré Marigny. Foto: Wolf Jöckel

Abb.20 : Pavillon Ledoyen mit seinen Karyatiden. Foto: Wolf Jöckel (2024)

Abb. 21: Pavilllon Ledoyen, Detail mit Karyatide

Abb.22 : Eugene Charles Francois Guerard – guignols Champs-Élysées (Meister-Drucke)

Abb.23 : Vue extérieure du Géorama des Champs-Élysées, Abb. aus Le Géorama des Champs-Élysées,  L’Illustration, Journal universel, n° 166, vol. VII, 2 mai 1846 – BnF,                  

Abb.24: Vue intérieur du Géorama des Champs-Élysées ; Abb. 17 aus Le Géorama des Champs-Élysées,  L’Illustration, Journal universel, n° 166, vol. VII, 2 mai 1846 – BnF, département des Estampes et de la Photographie

Abb.25: Salle Lacaze, par A. Provost, Musee Carnavalet

Abb.26: Schnitt durch das Panorama; Abb. aus: Laurent Lescop. Panoramas oubliés : restitution et simulation visuelle. Cahier Louis-Lumière, 2016, Archéologie de l’audiovisuel, 10

Abb.27: Théâtre des Variétés et le passage des Panoramas, Boulevard Montmartre, vers 1825 (Musée Carnavalet)

Abb.28: Hittorff, Jakob Ignaz, Champs Elysées, Grand Carré, Panoramarotunde., Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. Ch. 686a. Rheinisches Bildarchiv Köln, Reproduktions-Nr: rba_c004790

Abb.29: Schnitt und Grundriss des Panoramas aus : Description de la Rotonde des Panoramas.., Jacques-Ignace Hittorff, 1842

Abb.30: Jean-Charles Langlois, L’incendie de Moscou, Napoléon quittant le Kremlin ; Musée des Beaux-Arts de Caen, M. Seyve photographe.

Abb. 31: Karte der jardins des Champs-Élysées. https://fr.wikipedia.org/wiki/Jardins_des_Champs-%C3%89lys%C3%A9es

Abb. 32: Gedenktafel für Ödon von Horvath am Théâtre Marigny. Foto: Wolf Jöckel

Abb.33: Denkmal für Jean Moulin. Foto: Wolf Jöckel

Abb.34: Jeff Koons, Bouquet de Tulipes. Foto Wolf Jöckel. Siehe dazu: https://www.beauxarts.com/grand-format/pourquoi-les-tulipes-de-jeff-koons-irritent-elles-autant/

Abb. 35: Alison Saar: Salon (2024). Foto: Wolf Jöckel. Siehe dazu: https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/l-info-culturelle-reportages-enquetes-analyses/sculpture-olympique-de-paris-2024-d-alison-saar-d-une-fonderie-auvergnate-aux-jardins-des-champs-elysees-5547090

Weitere Beiträge Ulrich Schlägers über Hittorff und Paris:

Gare du Nord – Hittorffs Triumphbau des Fortschritts. Ein Beitrag von Ulrich Schläger

„Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.  […] In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orleans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee“, schreibt Heinrich Heine am 5. Mai 1843 anlässlich der Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen nach Orléans und Rouen.[1]

Heute, wo wir in nicht einmal 10 Stunden von Frankfurt nach Peking fliegen können, vermögen wir uns kaum noch vorzustellen, was die Eisenbahn im 19. Jahrhundert bedeutete. Sie beschleunigte den Transport von Menschen und Gütern in einem nie gekannten Tempo. Die Entfernungen schrumpften zusammen, die Zeit triumphierte über den Raum.

An die neuen Technologien der Fortbewegung (Eisenbahn & Dampfschifffahrt) wurden Hoffnungen geknüpft, die uns heute, wo wir es besser wissen, euphorisch, wunderlich, zum Teil bizarr, ja absurd erscheinen.

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson sah 1844 die neue Technologie »im Begriff, den Traum der Verfassungsväter einer von Partikularismen befreiten Republik zu verwirklichen. Nun – rund vier Jahrzehnte vor Einführung einer einheitlichen Zonenzeit für die nordamerikanischen Eisenbahnen – schien die Harmonisierung des Kontinents in greifbare Nähe gerückt zu sein. Emerson verglich die neuen Verkehrsmittel mit einer Webmaschine: „Wir beobachten nicht bloß die Auslöschung der Distanz. Gleich dem Schiffchen beim Webstuhl, so gleiten auch unsere Lokomotiven und Kursschiffe täglich über die Tausende von Fäden, die unsere Nation und Arbeit sind, und verwandeln sie in ein einziges Gewebe. Jede Stunde steigert sich dieser Vorgang der Assimilation und bannt damit die Gefahr, dass lokale Besonderheiten und Feindschaften überleben können.“[2]  Wie illusorisch diese Hoffnung war, zeigte der Amerikanische Bürgerkrieg zwanzig Jahre später.

Der viermalige britische Premierminister William Ewart Gladstone schrieb der Eisenbahn beinahe magische Kräfte zu. In einer Rede vor Bahnangestellten formulierte er die Utopie einer Gesellschaft, die, indem sie sich einem einzigen Rhythmus fügt, den Schritt zur eigentlichen Moderne erst recht eigentlich vollzieht. „Während wir uns früher ständig mit der Gefahr der Unordnung konfrontiert sahen, verfügen wir heute über ein Instrument, das nichts anderes als ein geordnetes Leben zulässt (Applaus) – ein Leben, das dem alten monastischen System durchaus ähnelt, in dem alles dem Rhythmus der Uhr und der Kirchenglocke unterlag. Diese feste Ordnung bildet die Seele . . . des riesigen Eisenbahnnetzes, das unser Land nach allen Richtungen überzieht (Applaus).“«[3]

»Für den englischen Eisenbahnexperten Edward Foxwell waren die spätviktorianischen Bahnhöfe Orte der Hoffnung. […] Ähnlich wie Gladstone sah er in der Eisenbahn jene Kraft, die die verwirrende Vielzahl menschlicher Rhythmen miteinander versöhnen sollte. So verband sich auch bei ihm die Erfahrung der Beschleunigung mit der Sehnsucht nach der großen symphonischen Gemeinschaft.« [[4]] Auch diese Hoffnung erfüllte sich, wie die großen Weltkriege zeigten, nicht.

Eines aber ist sicher: Mit dem Ausbau des Schienennetzes wird die Eisenbahn weltweit zu einem der wichtigsten Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung, auch des Tourismus.

Nicht lange nach Heines Imaginationen kann die Pariserin früh morgens am Gare du Nord einen der „trains de plaisir“ zu den Stränden von Dünkirchen oder Saint-Quentin-Plage nehmen, sich in ihrer neusten Standmode präsentieren und spät abends nach Paris zurückzukehren, kurz „une journée à la mer“ (einen Tag am Meer) verbringen. Zweifellos eine Bereicherung des Freizeitvergnügens. Für einen Tag zur Ruhe und Erholung in die Wälder von Compiègne flüchten oder den Nervenkitzel auf der Pferderennbahn in Chantilly suchen: mit der Eisenbahn kein Problem.

Reklameplakat der Nordeisenbahn von Ferdinand Bac, 1897[5]

Die Eisenbahn wird zum Symbol des Fortschrittes, und die Bahnhöfe, zumal der großen Städte, sind ihre Kathedralen.

Allein in Paris entstehen bis 1900 sieben Bahnhöfe. Der erste ist la Gare Saint-Lazare. Der Impressionist Claude Monet ist von ihm fasziniert; er malt ihn zwölfmal!

Claude Monet (1877) – Gare Saint Lazare (Musée d’Orsay)

Es folgen 1840 Gare d’Austerlitz und der erste Gare Montparnasse unter dem Namen Gare de l’Ouest. Schon ein Jahr später beginnt der Bau des ersten Nordbahnhofs. Er wird 1846/47 fertiggestellt und trägt die Bezeichnung Embarcadère du Chemin de Fer du Nord. 1850 kommen Gare de l’Est, 1855 Gare de Lyon und schließlich Gare d’Orsay anlässlich der Weltausstellung von 1900 hinzu.

Alter Nordbahnhof (Embarcadère du Chemin de Fer du Nord) in Paris im „Orangerie-Baustil“ (nach der Orangerie von Versailles). Im Hintergrund ist auf dem Montmartre-Hügel der optische Telegraf von Claude Chappe mit seinen schwenkbaren Signalarmen zur Zeichenübermittlung zu sehen.

Die rasche Ausbreitung des Bahnstreckennetzes mit steigendem Verkehrsaufkommen erfordert, dass der Gare de l’Ouest 1848 bis 1852 durch einen größeren Bahnhof ersetzt werden muss. Und auch der erste Gare du Nord erweist sich angesichts der zunehmenden Zahl der Reisenden von 1.500.000 im Jahr 1858 auf 2.100.000 im Jahr 1863 bald als zu klein, sodass er 1860 abgerissen wird, um einem größerer Neubau Platz zu machen.

Das französische Eisenbahnnetz von 1837 bis 1870

Die Eisenbahngesellschaft Compagnie des chemins de fer du Nord mit Baron James Mayer de Rothschild an der Spitze hatte 1857 die Genehmigung zum Bau eines neuen Bahnhofes an gleicher Stelle auf einem größeren Gelände erhalten. Die Planungsarbeiten für den neuen Bahnhof beginnen 1858 vor dem Hintergrund der großen Haussmannschen Transformation und des Wirtschaftsbooms in der Hauptstadt. Die Architekten der Compagnie des Chemins de Fer du Nord, Jules-Léon Lejeune und Léon Ohnet, erstellen erste Studien für einen U-förmigen Kopfbahnhof, in der damaligen Zeit eine häufige Bahnhofs-form. Damit ist ein Problem vorprogrammiert, denn eingezwängt in diese Gebäudeanordnung lässt sich bei steigendem Verkehrsaufkommen die Zahl der Bahnsteige und Geleise nur begrenzt erweitern, was zu wiederholten Umbauten führen wird.

Die Hauptfassade soll an der Place Roubaix (heute Place Napoleon III) als Eingang für die Vorortpassagiere und das Bahnpersonal liegen, während der Zugang zu den Fernzügen über die Seitenfassade erfolgt, wobei die Abfahrten auf der Westseite und die Ankünfte auf der Ostseite liegen. Da diese Räumlichkeiten nicht die gleichen Zuweisungen und Bedürfnisse haben, kann der Gebäudekomplex nicht symmetrisch sein. Die ersten Entwürfe überzeugen die städtischen Behörden allerdings nicht.

Hittorffs letztes großes Werk

Hittorff wird 1861 von James de Rothschild beim Bau des Bahnhofes hinzugezogen. Er steht vor einer doppelten Aufgabe. Einerseits soll er ein Gebäude errichten, das dem Repräsentationsbedürfnis der Eisenbahngesellschaft entspricht: Der Bahnhof wird sich, wie Hittorff schreibt,  „den Blicken der Öffentlichkeit mit dem Charakter seiner Bestimmung präsentieren. Man kann mit einer imposanten Wirkung rechnen, die auf die Größe des Bahnhofs zurückzuführen ist, und die Fassadengestaltung wird seine immense Ausdehnung verdeutlichen.“ [6]

Andererseits ist neueste Technologie gefordert: Das Empfangsgebäude soll mit einer Halle verbunden sein, die dem großen Raumbedarf mit möglichst vielen Gleisanlagen und dem dazugehörigen Equipment gerecht wird.

Hittorff bereitet sich auf die für ihn neue Aufgabe mit einer Reise nach England, das Mutterland der Eisenbahn, vor. Dort standen nicht nur dank innovativer Verfahren bei der Eisenverhüttung Guss- und Schmiedeeisen in größeren Mengen und besserer Qualität zur Verfügung, sondern es wurden auch schon früher als auf dem Kontinent Konstruktionen aus Eisen, Stahl und Glas errichtet, insbesondere auch imposante Bahnhofshallen.

In Vorbereitung auf den Bau der Halle für die Gleisanlagen des Gare du Nord dürfte Hittorff sicherlich bei seiner Englandreise Joseph Paxtons Crystal Palace, vor allem aber Ingenieursbauten mit weit gespannten Tragwerken wie Londons Paddington-Station und Bristol Temple Meads-Station, beide von Isambard Kingdom Brunei, und Lewis Cubitts Kings Cross-Station und andere technische Bauten studiert haben.

Bahnhof Kings Cross. Photo Hugh Llewelyn. Creative Commons

Die ersten Entwürfe für den Gare du Nord sehen noch einen gemeinsamen Gebäudekomplex für die Verwaltung und den Bahnbetrieb vor. Es erweist sich aber als schwierig, beide Bereiche in einem repräsentativen Bau zu vereinigen. Der größere Platzbedarf für die Bahnanlagen infolge des gestiegenen Verkehrsaufkommens führt schließlich in der weiteren Planung zur Trennung von Verwaltung und Bahnbereich.

Hittorff gelingt es, die Asymmetrie der Baumassen aufgrund des unterschiedlichen Raumbedarfs für die Abfahrt- und Ankunftszone des Bahnhofs durch eine triumphale Prunkfassade mit klassischer symmetrischer Proportion zu verdecken.

Abb. 7: Hittorff (Bleistiftzeichnung) – Endgültiger Entwurf für Gare du Nord 1861 Perspektivische Außenansicht[7]     

Die Arbeiten Hittorffs werden 1866 fertiggestellt. Der Bahnhof wird aber schon 1864 in Betrieb genommen. Das äußere, von Hittorff geschaffene Erscheinungsbild hat sich seither nicht verändert. Später mussten aus besagten Gründen an seiner Ostseite neuere Teile hinzugefügt werden.

Die Verpflichtung von Hittorff, einem der bedeutendsten Pariser Architekten seiner Zeit, ist eine Prestigesache für die Eisenbahngesellschaft und wichtig für den Bahnhof selbst, der nicht allein durch seine Monumentalität beeindrucken soll. Er soll eine Demonstration des weitgespannten Schienennetzwerkes sein und durch seine künstlerische Gestaltung unter den anderen Bahnhöfen der Metropolen herausragen und neue Maßstäbe setzen.

Der nur schmale Fassadenbau verschafft, ohne Treppen zu überwinden, einen direkten Zugang zu den Zügen. Vom Vorplatz mit den Droschken bis zu den Zuggleisen sind es nur wenige Schritte. Aber mehr als diese auf die Funktion des Bauwerks gerichtete Gestaltung ist das Gebäude vor allem ein Repräsentationsbau der Compagnie des chemins de fer du Nord und ein Monument des technischen Fortschritts.

Die Fassade des Empfangsbaus

Wie Thomas von Joest in seinem Betrag über den Gare du Nord nachweist [[8]], kann die Gestaltung der Fassade nicht als alleiniges Werk von Hittorff betrachtet werden. Wesentliche Vorarbeiten zur Grundstruktur der Hauptfassade wurden bereits vom Baubüro der Eisenbahngesellschaft unter der Leitung der Architekten Jules-Léon Lejeune und Léon Ohnet geleistet, wie sich anhand der in den Archiven der staatlichen französische Eisenbahngesellschaft S.N.C.F. (Société nationale des chemins de fer français) befindlichen Zeichnungen belegen lässt.

„Wenn wir auch“, so Thomas von Joest, „Hittorf nicht das   Verdienst zuschreiben können, das Grundkonzept der Fassade kreiert zu haben, so haben wir doch ihre ausgereifte Gestaltung, die die Gliederung des Bauwerkes deutlich zu erkennen gibt, der Erfahrung des Baumeisters und seinem Sinn für Proportionen zu verdanken.“ [[9]]

Die imperiale 180 m lange neoklassizistischen Fassade gliedert sich in einen zentralen riesigen Giebel, der die Konturen der dahinter liegenden Haupthalle aufnimmt und in dessen Mitte sich ein großes Bogenfenster befindet, das von zwei kleineren Glasbögen flankiert wird.

Der zentrale Giebel wird eingerahmt von zweigeschossigen Flügeln, hinter denen sich die Seitenhallen befinden und iegbelständigen Pavillons, ebenfalls mit verglasten Bögen, die beiderseits die Fassade abschließen.

Riesige ionische Pilaster als ornamentaler Schmuck erstrecken sich über zwei Geschosse des zentralen Giebels und der Pavillons. Sie kontrastieren mit der Reihung kannelierter Säulen mit dorischem Kapitell für die Untergeschosse des zentralen Giebel-Teils und der Pavillons sowie für die beiden Geschosse der Seitenflügel.

Das Ensemble wird vervollständigt durch 23 weiblichen Figuren mit einer Mauerkrone auf ihren Häuptern als Sinnbild der Stadtgöttinnen. Sie sind die Personifikationen internationaler und französischer Städte, die von der Nordbahn bedient werden. Dreizehn der besten Künstler Frankreichs werden damit beauftragt. Ein großer Teil von ihnen hatte bereits an der Oper Garnier in Paris gearbeitet.

Abb. 10: Zentraler Giebel der Fassade.[10]

Am Eingang wird der Besucher seit 2015  von dem geflügelten Bären (angel bear) Richard Texiers begrüßt.

Foto: Wolf Jöckel

Die Figuren auf dem Dachfirst versinnbildlichen Paris – im Zentrum und an der Spitze – und die ausländischen Städte (von links nach rechts): Frankfurt und Amsterdam, Warschau und Brüssel,  London und Wien, Berlin und Köln (Cologne).

Die Allegorien von Berlin und Köln. Foto: Wolf Jöckel

Die Statuen im unteren Teil der Fassade repräsentieren die französischen Städte (von links nach rechts): Boulogne und Compiègne, Saint-Quentin und Cambrai, Beauvais und Lille, Amiens und Rouen, Arras und Laon, Calais und Valenciennes, Douai und Dünkirchen.

 Abb. 13: Allegorien der Städte Beauvais, Lille, Amiens, Rouen, Arras  und Laon[11]

Der Empfangsbau wird so zu einem Ort, an dem sich die Nähe mit der Aura der Ferne versieht. Pilaster, Säulen, Statuen und Fensterachsen lockern die langgestreckte Fassade vielfältig durch eine vorherrschend vertikale Gliederung stark auf und erinnern mit ihren vor- und zurückspringenden Partien an eine scena, den Kulissenbau im griechischen Theater. 

In der Gestaltung des Fassadenbaus zeigt sich Hittorff mit seinen Anleihen an klassizistische Elemente in der Tradition der École des beaux arts, die dem Bauwerk über seine Funktion hinaus vor allem Schönheit und Bedeutung geben soll.

Es ist Hittorff mit der Fassade gelungen, die Funktion des Gebäudes ins Macht- und Bedeutungsvolle zu steigern und die Form der dahinter liegenden Halle zum Ausdruck zu bringen.   

Die Konstruktion der Bahnsteighalle

Das 19. Jahrhundert war nicht nur das „Zeitalter des Kampfs der Stile“, „in dem die romantische Kraft der Gotik mit der machtvollen klassischen Tradition rang“, es war „ebenso sehr das Zeitalter des Eisens“[12], das sich nicht nur auf Ingenieurbauwerke wie Eisenbahnstrecken, Brücken, Markthallen, Fabriken, Gewächshäuser u.a.m. beschränkte, sondern Einzug hielt in die Architektur, samt den Vorzügen des Einsatzes standardisierter Bauteile.

Erste Erfahrungen mit der Eisenarchitektur hatte Hittorff als angehender Architekt beim Bau der Metall-Kuppel der Halle au Blé gesammelt.[13]

Abb. 14 : Monuments anciens et modernes – collection formant une histoire de l’architecture des différents peuples à toutes les époques. Tome 4; publiée par Jules Gailhabaud, Paris 1857. Bildquelle: gallica. Bnf.fr/Bibliothèque nationale de France

Dieser 1783 errichtete große Rundbau, heute ein Kunsttempel der Pinault-Sammlung,  diente als Speicher- und Handelsplatz für Getreide. Die über dem offenen Hof der Kornhalle errichtete Holzkuppel war 1802 abgebrannt und sollte nun durch eine Eisenkuppel ersetzt werden., die erste in der Geschichte der Architektur.[14] Als Commis aux attachments et aux écritures, also Mitarbeiter bei der Dokumentation der Arbeitsvorgänge, skizzierte der junge Hittorff die Entwicklung des Baus. [15]

Hittorff bleibt von seinen Erfahrungen mit der Halle au Blé und der Zusammenarbeit mit dem verantwortlichen Architekten Bélanger geprägt. Das Interesse an Eisen in der Architektur zieht sich durch sein gesamtes Werk. Das zeigen auch seine Entwürfe für einen Industriepalast (1852) und einen Palast für die Weltausstellung (1854).

Die Konstruktionszeichnungen in den Archiven der S.N.C.F. und der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule Zürich belegen, dass die Entwürfe für den Dachverband der Bahnsteighalle mit seinem Trägersystem und den Stützpfeilern mit ihren Kapitellen im Baubüro von Jakob Ignaz Hittorff, unterstützt von seinem Sohn Charles, entstanden.

Abb. 24: Die zentrale Einfahrthalle der Gare du Nord. Foto: Wolf Jöckel

Die von Hittorff und seinem Planungsbüro in Zusammenarbeit mit den Eisenbahnarchitekten entworfene Eisenbahnhalle aus Eisen und Glas ist strukturell von den sie umgebenden Steinfassaden getrennt. Ihr Grundriss ist der einer dreischiffigen Basilika mit einem mittleren Teil von 180 Meter Länge und den beiden Flügeln von jeweils 200 Meter Länge.

Foto: Wolf Jöckel

Die Eisenkonstruktion, die das 180 m lange Dach der Haupthalle trägt, überspannt eine Gesamtbreite von 72 m und ermöglicht durch eine optimale Reduktion der Stützelemente die großflächige Einrichtung der Gleise und Bahnsteige.

Abb, 26: Dachträgersystem und Säulen. Bildquelle : Vide en ville; https://videenville.paris › galeries

Zur Überdachung der Halle mit ihrer großen Spannweite wählt Hittorff die Träger-Konstruktion vom Polonceau-Typ. Das Dach der Haupthalle ruht über Stützkonsolen auf nur zwei Reihen von 38 m hohen korinthischen Säulen aus Gusseisen.

Die Säulen werden in Schottland hergestellt, dem einzigen Land zu dieser Zeit, in dem es eine Gießerei gab, die so große Säulen herstellen konnte. Zur Kontrolle der Gussteile schickt Hittorff seinen Sohn Charles nach Glasgow. Auch alle Teile der Dachkonstruktion (Sparren, Druckstützen, Zugbänder, Glas- und Zinkplatten) werden vorgefertigt und können vor Ort schnell durch Bolzen, Steckelemente und Schrauben miteinander verbunden werden. Das beschleunigt den Bau der Halle entscheidend und kommt dem zunehmenden Diktat der Wirtschaftlichkeit des Bauens entgegen.

Gussteile für die Halle des Gare du Nord in der Gießerei in Glasgow.) Aufschrift auf der Rückseite: „To Mr. Hittorff, architect, Paris, from Mr. Gromlay, Glasgow 1862“ [16]

Foto: Wolf Jöckel

Das Trägersystems der unterspannten Dachsparren war eine Erfindung des Eisenbahningenieurs Barthélemy Camille Polonceau, der dieses System erstmals 1838 bei den Dächern für die Bahnhöfe der Eisenbahn von Paris nach Versailles anwandte.[17]

Dieses Trägersystem ermöglichte große Öffnungen im Dach zum Lichteinfall, ohne die Stabilität des Gebäudes zu gefährden. Ein Vorteil war auch, dass kein Seitenschub auf die Wände der Seitenflügel ausgeübt wurde.  Die Stützkonsolen, Streben, Druckstangen- und Zugsbänder waren fast nicht wahrnehmbar, so dass sich ein Eindruck großer Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit ergab.

Abb. 28: Paris Nord – 28. Juni 1960 – Innenansicht mit der Architektur des Glasdachs und der Leichtigkeit des Polonceau-Systems (SNCF-Archiv) [18]

Mit dem Einsatz von Eisen und Glas wurden eine Reihe von Prozessen in Gang gesetzt, die nicht nur eine neue architektonische Ästhetik, neue räumliche Wahrnehmungen erzeugte und ein neues Bauen und einen neuen Baustil hervorbrachte, sondern auch die bisherigen Traditionen in Frage stellte und neue Sehweisen postulierte.

Abb. 31: Glas-Eisen-Konstruktion an der Ausfahrt der Halle. Foto: Wolf Jöckel

„Mit den neuen Materialien, die mit der Industrialisierung entwickelt wurden, vor allem mit Joseph Paxtons legendärem Kristallpalast für die erste Weltausstellung 1851 in London, wurden Hoffnungen auf eine alle materielle Schwere überwindenden Architektur aus neuen Baustoffen geschürt. Das Schrumpfen der Materialmassen im Verhältnis zum umbauten architektonischen Raum durch Eisenkonstruktionen einerseits, die optische Entgrenzung durch Glas andererseits, ließen sich in der Rezeption zur Überwindung der Schwerkraft stilisieren.“[19]

Die Entwicklung des Eisens als konstruktives Material und der Erfindung der Skelettkonstruktion führte zu einer Auflösung und Entmaterialisierung der Außenwand und ihrer Entbindung von ihrer tragenden Funktion. Eine völlige Auslöschung der Wand war dann später beim Eiffelturm zu sehen, der mit seiner Absage an die bisherige Steinbauweise heftige Kontroversen auslöste.

Um die Formlosigkeit und Strenge der reinen Eisenkonstruktion abzufedern, und den bisherigen Sehgewohnheiten entgegenzukommen, wurde der neoklassizistische Stil als ästhetische Strategie eingesetzt.  Dabei wird die „technische Reproduzierbarkeit“ gerade für Produkte aus Gusseisen ausgeschöpft: eiserne Säulen, Träger und Konsolen können samt ihrer Ornamente, anders als in Stein, schnell, preiswert und in großer Zahl hergestellt werden. [20]

Auch Henri Labroustes nutzt bei der Bibliothèque Sainte-Geneviève und dem Lesesaal der Bibliothèque Nationale[21] das Gusseisen bei der Ornamentierung der freiliegenden Metallstrukturen.

Labroustes Bibliothèque Sainte-Geneviève. Bildquelle : Revue générale de l’architecture et des travaux publics. 11.1853 (beschnitten)

Labroustes Lesesaal der Bibliothèque Nationale. Foto: Wolf Jöckel

Und auch Victor Baltard, der Schöpfer der revolutionären Markthallen, ist »zutiefst in der akademischen Tradition der École des beaux-arts verwurzelt, in der ausgebildet zu sein bis ins späteste 19. Jahrhundert unabdingbar war für eine halbwegs anständige Laufbahn in Frankreich. Baltard […] löste sich selbst nie von dieser Tradition, sondern integrierte die industriell produzierten Materialien in den ästhetischen Kanon der akademischen Baukunst. In einem Brief mokiert er sich 1863 über „die Begeisterung des Publikums für Metallkonstruktionen“.«[22]

Auch Hittorff gestaltet die augenfälligsten Elemente der Eisenkonstruktion, die Säulen der Halle, mit besonderer Sorgfalt. Hittorff hat – wie Labrouste  und Baltard – das Eisen in die klassizistische Architektur der École des Beaux-Arts eingebürgert.

Foto: Wolf Jöckel

Wiewohl die neuen Montage- und Konstruktionstechniken in Hittorffs Entwürfen einen festen Platz einnahmen, blieb die klassisch akademische Tradition ein unangefochtener Bezugspunkt.“ Die Inklusion von Technik ist „ein Schachzug ganz im Sinne der Gebietssicherung.“ [23]  

Die Öffnung gegenüber dem Eisen lässt sich insofern als eine Strategie entziffern, als Hittorff das industrielle Material durch seine Kreuzung mit dem akademischen Kanon auf das Feld der Architektur zurechtbog, ohne dabei eine Polarität zwischen dem und dem anderen aufbrechen zu lassen. Ein einprägsames Beispiel stellt Hittorffs korinthischer Kapitell-Entwurf für die gusseisernen, kolumnisierten Stützen der Einfahrtshalle der Gare du Nord dar.

Abb 37: Detail eines Kompositkapitells. Foto: Wolf Jöckel

Sie tragen statt eines Gebälks einen hohen Gitterbinder, der zwischen den horizontalen und vertikalen Tragelementen vermittelt. An diesem Baudetail wird anschaulich, was die Architektur des 19. Jahrhundert insgesamt kennzeichnet: Sie konnte das Neue bejahen, ohne das Alte zu verwerfen. Mehr noch sprengten Kreuzungen und Kreolisierungen von Klassik und Technik jene Grenzen, an denen sonst neue Formen und neue kulturelle Semantiken scheitern. Bei aller Fixierung auf die klassische Kunstdoktrin eignete der Beau-Arts-Architektur im Zeitalter von Technik- und Industrie ein symptomatischer Hybridcharakter, der den Regelkodex beibehielt und doch zugleich produktiv unterwanderte. Anders als in der postmodernen Architektur ging es nicht um Spiel und Ironie, d.h. die Aufkündigung autoritativer Denksysteme und Entwurfstraditionen, sondern um die Hybriden als eine ernstzunehmende Alternative zu reiner Stein- oder Eisenarchitektur.“ [24]

Die Rezeption von Hittorffs Gare du Nord

Charles Rivière – Gare du Chemin de Fer du Nord (Ausschnitt)[25]

Der neue Bahnhof gefiel nicht jedem. Die Reaktionen gingen weit auseinander. Der Architekt Eugène Viollet-le-Duc, bekannt durch seine Vorliebe für die Gotik, den von ihm entworfenen Dachreiter der Kathedrale Notre Dame in Paris und die Restaurierung mittelalterlicher Bauwerke nach seinen idealistischen Vorstellungen von mittelalterlicher Architektur, schmähte die Fassade im Stil à la Grèce:

Der neue Nordbahnhof ist vielleicht der gröbste Fehler, den die von der Akademie gelehrten exklusiven Doktrinen verursacht haben.[26]

Noch weiter geht Jacob Burckhardt in einem Brief an seinen Freund, den Architekten Max Alioth in Basel, vom 01.08.1879:  „Die Fassade der Gare du Nord in Paris ist und bleibt ein Scandal; die ionischen Pilaster von verschiedener Größe, die Dachschrägen welche von den Aufsätzen der kleinern zu denjenigen der großem emporsteigen, und die großen Bogenfenster welche hopopop in die dazwischen liegenden Mauerflächen einschneiden, machen zusammen eine der größten architectonischen Infamien unseres Jahrhunderts aus, was doch etwas sagen will“. [27]

Anatole de Baudot (1834-1915), Architekt, Denkmalpfleger, Architekturhistoriker, ein Schüler von Viollet-le-Duc und Labrouste, später ein glühender Verfechter des strukturellen Rationalismus, lobte zwar die Eisenbahnhalle: „…jedes Element dieser Struktur hat seine genau festgelegte Funktion, keines ist unnütz; in einem Wort: das Werk ist rational…“[28]. Er kritisiert aber schonungslos die Fassade, die nicht rational, nicht zweckmäßig sei; alles „scheint hier der Phantasie entsprungen zu sein, alles wird einem bestimmten Architekturtypus untergeordnet und nach einem dekorativen Prinzip ausgeschmückt, das sich für eine Anwendung in einem Bahnhof angeblich besonders eignen soll.“[29]

Radikaler als bei de Baudet erteilt der englische Kunstkritikers  John Ruskin (1819-1900) dem Eklektizismus mit seinen Ornamenten, noch Folge ununterbrochener alter Traditionen, eine Absage, weil er die „necessities“ verhülle, und er lehnt die künstlerischen Verzierungen der Eisenbahnstationen ab: „not to decorate things belonging to active life“ und „not to mix ornament with business“.[30] Hier kündigen sich schon das Diktum von Adolf Loos (1870-1933) „Ornament und Verbrechen“ und die berühmte Formel der modernen Architektur „form follows function” von Louis H. Sullivan (1856-1924) an, der seinen Partner Dankmar Adler zitiert, der diesen Imperativ seinerseits sinngemäß von Henri Labrouste übernommen hatte.

Wie wir sehen, kam die Kritik an Hittorffs Monumentalbau aus ganz unterschiedlichen Seiten: die einen (Viollet-le-Duc und Burckhardt) schmähten ihn, weil sein Werk nicht dem Kanon der traditionellen Architektur entsprach, während andere (de Baudot) seinen Fassadenbau als unangemessen für die Bauaufgabe verwarfen.

Noch deutlicher ist der Architekturhistoriker Sigfried Giedion, der sich zwar nicht ausdrücklich auf den Gare du Nord bezieht, aber an der Sterilität und Unbeweglichkeit der École des beaux-arts und an der eklektischen Architektur vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Kritik übt und ihr „eine ständig wachsende Isolierung der Künste vom Leben“ vorwirft.[31]

Die Architektur, hier ist die der École des beaux-arts gemeint, sei hinter den aktuellen Neuerungen und Entwicklungen sowohl in der Technik als auch in der Kunst zurückgeblieben und habe zu einer Spaltung zwischen Architektur und Technik, zwischen Architekten und Ingenieur, geführt. Sie habe die Verbindung zwischen den Methoden des Denkens [die Naturwissenschaften; die Methode des Ingenieurs] und den Methoden des Fühlens [die Kunst und Architektur] unterbrochen. „Die Naturwissenschaften – das sogenannte Denken – hätten im 19. Jahrhundert einen enormen Fortschritt erzielt und den wahren Zeitgeist erreicht, während Kunst und Architektur – das sogenannte Fühlen – dies nicht vermochten.“[32]

1877 stellte die Akademie eine Preisfrage über ‚L’union ou la seperation des ingenieurs et des architectes‘ (Die Vereinigung oder Trennung von Ingenieuren und Architekten). Davioud, der Architekt des Trocadéro, gewann den Preis mit folgender Antwort: „Die Vereinigung zwischen Architekten und Ingenieur muss untrennbar sein. Die Lösung wird erst dann wirklich, vollständig, fruchtbar sein, wenn Architekt und Ingenieur, Künstler und Wissenschaftler, in einer Person vereint sind … Wir leben seit langem in der einfältigen Überzeugung, dass die Kunst eine Wesenheit sei, die sich von allen anderen Formen der menschlichen Intelligenz unterscheide, durchaus unabhängig habe sie ihre Quellen und ihre einzige Geburtsstätte in der kapriziösen Phantasie der Künstlerpersönlichkeit.“«[33]

Auch wenn dem vielleicht nicht alle zustimmen, lässt sich von Hittorff sagen, dass er beide in sich vereint hat, den Architekten und den Ingenieur. Aber er agierte nicht im luftleeren Raum. Er konnte nicht allein bei seinen Bauaufgaben entscheiden und er war neben seinen eigenen Vorstellungen auch von jenen anderer beeinflusst, ja auch abhängig.

Thomas von Joest ist zuzustimmen, wenn er schreibt, „Hittorff aus seinen Säulen und Kapitellen einen Vorwurf zu machen, ist Böswilligkeit“.[34] Die Auftraggeber von Hittorff wussten ja, dass er „im Jahre 1861 immer noch dem Geist und den Prinzipien der Baukunst seiner Jugendzeit verhaftet“[35] war. Zu ergänzen ist, dass der Bauherr, die Eisenbahngesellschaft, gerade diesen Architekturstil wünschte.

Spätere Urteile berücksichtigen eben diese Zeitumstände: Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat der Gare du Nord keine größeren Veränderungen erfahren und ist ein großartiges Zeugnis des Selbstbewusstseins und des Erfindungsreichtums des Eisenbahnzeitalters.“ [36]  

Hittorfs Gare du Nord zeigt auf brillante Weise, wie eine Sprache, die sich letztlich an der römischen und griechischen Architektur orientierte, einem großen Eisenbahnterminal in einer Großstadt einen seiner Zeit „angemessenen monumentalen Akzent verleihen konnte“.[37]

Der Gare du Nord stellt sich den Anforderungen

Ohne die Grundstrukturen von Fassade und Halle wesentlich zu verändern, war es immer wieder gelungen, den Bahnhof den Erfordernissen der Zeit anzupassen und Hittorffs Erbe zu bewahren. Anstelle der ursprünglich 8 Geleise, konnten 1884 13 Geleise untergebracht werden, durch eine seitliche Erweiterung nach außen wurde 1889 die Zahl der Geleise zunächst auf 18 und durch eine zweite Erweiterung 1900 auf 28 Gleise erhöht.

Gare du Nord/Ostseite: rechts ist -hinter dem Olympiade-Plakat- die Glas-Eisen-Konstruktion der Bahnsteige der Vorortzüge,  der „Grande Banlieue“, zu sehen. Foto: Wolf Jöckel (Januar 2024)

1977 bis 1982 erfolgt der Ausbau des unterirdischen Bahnhofs. Ein Jahrhundertereignis war 1994 nach Fertigstellung des Kanaltunnels zwischen Dover und Calais die Ankunft des ersten „Eurostar“, der Paris in nur 2 Stunden mit London verbindet. Zuvor dauerte die Fahrt, bei günstigen Wetterbedingungen für die Fähre auf dem Ärmelkanal, sieben Stunden.

Nach Renovierung des Bahnhofsinneren dominieren mit täglich mehrfachen Hin- und Rückfahrten  der „Eurostar“ nach London, der „Thalys“ nach Brüssel, mit Verlängerungen nach Köln oder Amsterdam und die TGVs nach Lille den Fernverkehr.

2001 wurden der hässliche Beton-Parkhaus-Bau, der 1973 an die Stelle der alte Glas-Eisen-Konstruktion für die Bahnsteige der „Grand Banlieue“ bzw der „gare Transilien“ errichtet worden war, abgerissen, eine der alten Hallen restauriert, die andere zerstörte Halle wieder aufgebaut und der Eingangsbereich durch einen leichten Glasbau ersetzt.

Die Geschichte des Bahnhofes ist damit noch lange nicht zu Ende. Bis 2030 wird ein Anstieg der Reisenden von derzeit 700000 auf 900000 erwartet. Schon jetzt ist der Bahnhof, der verkehrsreichste Europas,  überlastet.

Die Auseinandersetzung um das Zukunftsprojekt StatioNord (2019-2021) zeigte zum einen, dass Hittorffs Gare du Nord nichts von seiner Bedeutung verloren hat, und zum anderen, wie leidenschaftlich um den Bahnhof der Zukunft gerungen wird.

„Unverschämt“, „absurd“ und „inakzeptabel“ – das waren nur einige der Adjektive, mit denen ein Architektenkollektiv mit Jean Nouvel, Roland Castro und Dominique Perrault die neuen Pläne für den Gare du Nord anprangerten.[38] Stadtplaner und Gewerkschafter schlossen sich dem Protest an. Die Vorwürfe reichten von einer Kommerzialisierung des Bahnhofes zu einem Shoppingcenter, einer Entstellung von Hittorffs Meisterwerk, einer zusätzlichen Belastung des Quartiers durch Einkaufsverkehr bis hin zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des benachbarten Einzelhandels. Inzwischen ist das schon genehmigte große Projekt wegen aus dem Ruder laufender Kosten- und Zeitperspektiven abgesagt und bis 2024 wurden und werden noch, vor allem im Blick auf die Olympischen Spiele, nur kleinere Änderungen vorgenommen.[39]  

Epilog

Heute ist die Eisenbahn nicht mehr Gegenstand gesellschaftlicher Verklärung und Hoffnung.  Die Bahnhöfe sind längst nicht mehr Orte feierlicher Empfänge und Verabschiedungen hoch-gestellter Personen; nur der Ausdruck „Gäste mit großem Bahnhof begrüßen“ erinnert noch daran. Nicht selten sind die Bahnhöfe zu Hinterhöfen, Rotlicht- und Rauschgiftbezirken herabgesunken und das Reisen mit der Eisenbahn hat mitunter gegenüber Automobil und Flugzeug „den Rang der Drittklassigkeit“[[40]] bekommen.

Wenn sich alle, die Gesellschaft, die Politik und die Eisenbahngesellschaften, auf unsere Umwelt und unser historisches Erbe besinnen,  dann bleiben uns die Bahnhöfe als „die räumliche Inszenierung der Sehnsucht nach der Ferne wie des Heimwehs“[41], als bedeutende Denkmäler der Architektur- und Ingenieurbaukunst erhalten und werden wieder zu attraktiven urbanen Zentren.

Hoffen wir, dass nicht nur die Reisenden aus Köln, der Geburtsstadt Hittorffs, die mit dem Zug Paris am Gare du Nord erreichen, noch lange sein letztes großes Alterswerk mit seinem grandiosen Eklektizismus bewundern können, bei dem sich prunkvolle Architektur in theatralische Effekte hüllt und sich klassische Baukunst mit Eisenarchitektur vermischt.

Literatur:

  • Jean-Roch Dumont Saint-Priest: La coupole métallique de la halle au blé de Paris (1806-1813), une architecture mécanique. ArcHistoR (Architettura Storia Restauro) anno VI (2019) n. 12; DOI: 10.14633/AHR135
  • Andrew Ayers: The Architecture of Paris: An Architectural Guide. Edition Axel Menges, 2004; hier: 10.7  Gare du Nord, Place Napoléon III; Jakob Ignaz Hittorff, Lejeune and léon Ohnet.
  • A.D. Astinus: Die neun größten Bahnhöfe der Architekturgeschichte: Die ganze Welt der Bahnhöfe – Von der Grand Central Station bis zur London Waterloo Station. neobooks, 09.12.2015 – 55 Seiten
  • Karlheinz Stierle: Paris denken – Penser Paris: Deutsch-französische Annäherungen. Suhrkamp Verlag, 2021
  • Klaus Jan Philipp: Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus. 28.03.2010; Deutschlandfunk, Archiv 31. Juli 2023
  • Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022
  • Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister  1792 – 1867. Stuttgart 1968
  • Thomas von Joest: Hittorff und der neue Nordbahnhof Gare du Nord, in: JAKOB IGNAZ HITTORFF – Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Katalog der  Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln, 21.01. – 22.03. 1987.
  • La gare du Nord: monument historique mais grande gare européenne. In : L’histoire des chemins de fer avec un docteur en histoire. Train Consultant Clive Lamming, https://trainconsultant.com  
  • Mathias Küster: Stahltragwerke im Industriebau in der historischen Entwicklung; Bachelor Thesis, Hoch-schule Neubrandenburg – Fachbereich Bauingenieurwesen. https://digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000000604/Bachelorarbeit-Kuester-2010.pdf
  • Oliver Zimmer: Züge wurden mit Engeln verglichen, Bahnhöfe galten als die Kathedralen der Neuzeit. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert waren von hochfliegenden Erwartungen begleitet, in Neue Züricher Zeitung, 10.04.2023
  • Oliver Zimmer: Die Ungeduld mit der Zeit – Britische und deutsche Bahnpassagiere im Eisenbahnzeitalter. University of Oxford – Bodleian Libraries Authenticated; Download Date | 3/19/19 9:49 AM; DOI 10.1515/hzhz-2019-0002
  • Bernhard Schulz: Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst. Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard. Bauwelt. https://www.bauwelt.de  
  • Oliver Lanz: Das Zeitalter des Eisens; http://www.oliverlanz.com  
  • Renaissance der Bahnhöfe: Die Stadt im 21. Jahrhundert: Bund Deutscher Architekten BDA, Deutsche Bahn AG, Förderverein Deutsches Architekturzentrum DAZ in Zusammenarbeit mit Meinhard von Gerkan, Springer-Verlag, 08.03.2013
  • Train Consultant Clive Lamming. La gare du Nord : monument historique mais grande gare européenne. https://trainconsultant.com  
  • SKRIPTUM BAUGESCHICHTE. Studienjahr 2021/22, Departement Architektur, ETZ Zürich. Prof. Dr.-Ing. Stefan M. Holzer, Professur Bauforschung und Konstruktionsgeschichte.
  • Anne Ridao-Tardif, “La préservation du patrimoine architectural lors des restructurations de la gare du Nord et de la gare Saint-Lazare (1990-2010)”, Revue d’histoire des chemins de fer, 54 | 2020, 131-149.
  • Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press
  • Arlette Ortis: Cohabitation entre architectes et ingenieurs: un pari; Ingénieurs et architectes suisses, Band (Jahr): 112 (1986), Heft 24
  • Zeynep Ceylani: SIGFRIED GIEDION‟S “SPACE, TIME AND ARCHITECTURE”: AN ANALYSIS OF MODERN ARCHITECTURAL HISTORIOGRAPHY. A Thesis submitted to the Graduate School of Social Sciences of Middle East technical University. Ankara, September 2008
  • Werner Hofmann: Architektur und »bloßes Bauen«. Merkur, Nr. 198, August 1964
  • Michael Kiene, 1792-1867, Hommage für Hittorff Bilder, Bücher und Würdigungen, ed. Christiane Hoffrath and Michael Kiene, 2020 https://www.academia.edu/41396599/1792_1867_HOMMAGE_F%C3%9CR_HITTORFF?email_work_card=view-paper

Anmerkungen:

[1] Heinrich Heine in „Lutetia – Berichte über Politik, Kunst und Volksleben,  Zweiter Teil“,  LVII, hier S.337-338, in: Heinrich Heine – Sämtliche Werke, Band IV; Artemis & Winkler, 3. Auflage 1997

Titelbild des Beitrags:  Gare du Nord, place Napoléon III, façade principale. Musée Carnavalet, Histoire de Paris. Kaum ein Bild erfasst mehr die Dimensionen von Hittorfs Bau als diese Fotografie von Archille Quinet von 1868.

[2] Oliver Zimmer: Züge wurden mit Engeln verglichen, Bahnhöfe galten als die Kathedralen der Neuzeit. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert waren von hochfliegenden Erwartungen begleitet, in Neue Züricher Zeitung, 10.04.2023 und Oliver Zimmer: Die Ungeduld mit der Zeit – Britische und deutsche Bahnpassagiere im Eisenbahnzeitalter. University of Oxford – Bodleian Libraries Authenticated; Download Date | 3/19/19 9:49 AM; DOI 10.1515/hzhz-2019-0002  Prof.Dr. Oliver Zimmer ist Sanderson Fellow in Modern History, der University of Oxford.

[3] Oliver Zimmer ebd.

[4] Oliver Zimmer ebd.

[5] Bildquelle : Train Consultant Clive Lamming, https://trainconsultant.com › la-gare-du-nord. Textquelle : La gare du Nord: monument historique mais grande gare européenne. In : L’histoire des chemins de fer avec un docteur en histoire. Clive Lamming ist ein französischer Historiker, der vor allem für seine zahlreichen Veröffentlichungen im Bereich der Eisenbahn bekannt ist.

[6]Elle s’offrira au regard du public avec caractère de sa destination. On peut d’ailleurs compter, sur un effet imposant, dû à la grandeur de la gare dont les dispositions de la façde feront comprendre l’immense étendue ! “

Zitiert nach Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister  1792 – 1867. Hammer zitiert aus den Arch. Nat., Archives de la Compagnie du chemin de fer du Nord, 48 AQ 13, Procès-Verbaux du Conseil d’Administration, Séance vom 11.5.1860

[7] Wallraf-Richartz-Museum Köln G.N. 278

[8] Thomas von Joest: Hittorff und der neue Nordbahnhof Gare du Nord, in: JAKOB IGNAZ HITTORFF – Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Katalog der  Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln, 21.01. – 22.03. 1987.

[9] Thomas von Joest, ebd., S.288 f.

[10] Paris, France. 30/09/2021. Gare du nord. Photography Maxime Gruss. Bildquelle: Paris 1900. L’art nouveau ; https://paris1900.lartnouveau.com

[11] © Yves Talensac / Photononstop https://www.lepoint.fr/societe/gare-du-nord-un-projet-indecent-et-inacceptable-03-09-2019-2333317_23.php

[12] Oliver Lanz: Das Zeitalter des Eisens; http://www.oliverlanz.com  2011/09

[13] Monuments anciens et modernes – collection formant une histoire de l’architecture des différents peuples à toutes les époques. Tome 4; publiée par Jules Gailhabaud, Paris 1857. Bildquelle: gallica. Bnf.fr/Bibliothèque nationale de France

[14] Sophie Flouquet, un monument réinventé. In: Éditions BeauxArts, Bourse de Commerce/Pinault Collection. 2021, S. 66

[[15]] Jean-Roch Dumont Saint-Priest: La coupole métallique de la halle au blé de Paris (1806-1813), une architecture mécanique. ArcHistoR (Architettura Storia Restauro) anno VI (2019) n. 12; DOI: 10.14633/AHR135

[16] (Bildquelle: Wallraf-Richartz-Museum, Köln

[17] Abb.28:  aus: Mathias Küster: Stahltragwerke im  Industriebau in der historischen Entwicklung; Bachelor Thesis, Hochschule Neubrandenburg – Fachbereich Bauingenieurwesen. Urn:nbn:de:gbv: 519-thesis 210-0146-1. Abb. von mir modifiziert.

[18] Les quais de la gare de Paris-Nord, SARDO Centre national des archives historiques SNCF)

[19] [[19]] Monika Wagner – Materialien des ‚Immateriellen‘. Debatten um Baustoffe der Moderne. Hornemann Institut, E-Publication, Tagungsbeitrag

[20] Karlheinz Stierle: Paris denken – Penser Paris: Deutsch-französische Annäherungen. Suhrkamp Verlag, 2021

[21] Zur Bibliothèque Nationale wird es demnächst einen Blog-Beitrag geben.

[22] Bernhard Schulz: Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst. Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard. Bauwelt. https://www.bauwelt.de › themen › Zwischen-Ingenieurskonstruktion… ; Schulz bezieht sich auf die Ausstellung im Musée d’Orsay: „Victor Baltard (1805-1874). Le fer et le pinceau (Eisen und Pinsel)“, October 16th, 2012 to January 13th, 2013)

[23 Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022

[24] Salvatore Pisani, ebd., S. 230-231

[25] http://palaisdecompiegne.fr/un-palais-trois-musees/le-musee-national-de-la-voiture

Château de Compiègne – Le musée national de la voiture

[26] „La nouvelle gare du Nord est peut-être l’erreur la plus grossière qu’aient fait commettre les doctrines exclusives professées par l’Académie.“  Zitiert nach: Gare du Nord1861-1866, Paris – Jacques-Ignace Hittorff; Cité de l’architecture & du patrimoine. https://www.citedelarchitecture.fr › documents

[27] Zitiert nach: Klaus Jan Philipp: Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus. 28.03.2010; Deutschlandfunk, Archiv 31. Juli 2023

[28] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.290

[29] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.290

[30] zitiert nach Werner Hofmann: Architektur und »bloßes Bauen«. Merkur, Nr. 198, August 1964

[31] Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press

[32] Zeynep Ceylani: SIGFRIED GIEDION‟S “SPACE, TIME AND ARCHITECTURE”: AN ANALYSIS OF MODERN ARCHITECTURAL HISTORIOGRAPHY. A Thesis submitted to the Graduate School of Social Sciences of Middle East technical University. September 2008

[33] zitiert nach: Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press; siehe auch: Arlette Ortis: Cohabitation entre architectes et ingenieurs: un pari; Ingenieurs et architectes suisses n“ 24 20 novembre 1986

[34]  zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.291

[35] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.291

[36] Andrew Ayers: The Architecture of Paris: An Architectural Guide; Edition Axel Menges, 2004, hier S. 182

[37] Encyclopædia Britannica: Classicism, 1830–1930

[38] Bild aus: https://www.archpaper.com/2019/09/gare-du-nord-expansion-questions-modern-train-station/ Kritik siehe:  https://www.lemonde.fr/idees/article/2019/09/03/le-projet-de-transformation-de-la-gare-du-nord-est-inacceptable_5505639_3232.html

[39] https://www.lemoniteur.fr/article/la-gare-du-nord-met-le-cap-sur-2024.2194032

[40] Renaissance der Bahnhöfe: Die Stadt im 21. Jahrhundert: Bund Deutscher Architekten BDA, Deutsche Bahn AG, Förderverein Deutsches Architekturzentrum DAZ in Zusammenarbeit mit Meinhard von Gerkan, Springer-Verlag, 08.03.2013

[41] Renaissance der Bahnhöfe, ebd.

Weitere Beiträge zu Hittorff in Paris:

Jakob Ignaz Hittorff, der Pariser Stadtbaumeister aus Köln: Auch eine deutsch-französische Geschichte. Von Ulrich Schläger

Vorwort

Wie nur wenige vor und nach ihm hat Jakob Ignaz Hittorff das Pariser Stadtbild geprägt. Das weltberühmte Prunkstück der Pariser Ost-West-Achse von der Place de l’Étoile um den Triumphbogen über die Champs-Élysées, „die schönste Avenue der Welt“, bis zur Place de la Concorde mit dem Obelisken von Luxor ist mit dem Namen Hittorffs verbunden.  Dazu kommen zahlreiche andere Bauten, die das Pariser Stadtbild prägen,  wie die Kirche Saint- Vincent-de-Paul und der Gare du Nord, der Cirque d’hiver und das Rathaus des 5. Arrondissements – um nur einige besonders prominente Beispiele zu nennen. Hittorff steht damit in einer Reihe mit Henrich IV., Napoleon und -nach ihm- dem Baron Haussmann. Trotzdem ist er -gerade auch im Vergleich mit den genannten Gestaltern der Stadt- eher ein Unbekannter. In Paris erinnern nur eine kleine unbedeutende Straße an ihn und eine noch kleinere und triste, Cité genannte Gasse.

Umso verdienstvoller ist es, dass Ulrich Schläger, Lesern dieses Blogs schon bekannt durch seinen Beitrag über den Engel in der rue Tourbigo, sich der Persönlichkeit und des Werks von Hittorff, seines Kölner Landsmanns, angenommen hat.

In der nachfolgenden Würdigung erläutert Schläger die Bedeutung Hittorfs als Wissenschaftler, Architekt und Stadtplaner, er zeichnet seinen Werdegang nach und er beschäftigt sich mit den Gründen, warum Hittorff weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Ich freue mich sehr über diesen Beitrag, zumal es dabei auch um eine auf diesem Blog besonders willkommene deutsch-französische Geschichte geht.

Weitere Beiträge Ulrich Schlägers über emblematische Pariser Bauten Hittorffs werden dann in lockerer Reihenfolge auf diesem Blog erscheinen.

Merci, Monsieur Schläger und allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs bonne lecture!

Wolf Jöckel

Hommage für Jakob Ignaz Hittorff

Erinnert werden soll an Jakob Ignaz Hittorff, der am 20. August 1792 in Köln geboren wurde und hochdekoriert am 25. März 1867 in Paris verstarb, „ein Künstler von umfassendem Wissen und Wirken; ein zum Franzosen gewordener Deutscher, der mit gleicher Liebe an dem alten wie dem neuen Vaterland hing“ [1].  Und auch seiner Heimatstadt Köln, die einen Teil seines reichen Erbes bewahrt, blieb Hittorff verbunden.

Abb. 1: Félix-Joseph Barrias:  Jacob Ignace Hittorff  (1869)

Dieses posthume Portrait veranschaulicht Hittorffs außerordentliche Erfolgsgeschichte. Es zeigt ihn in seinem Arbeitszimmer, seine Rechte gestützt auf den Schreibtisch mit den Insignien seines Berufs: Zirkel, Dreieck, Bleistift, Feder und Tintenfass. Die bronzene Statuette der Minerva, Göttin der Künste und Wissenschaften, Bücher und Bilder im Hintergrund illustrieren sein Selbstverständnis als Künstler und Wissenschaftler. Gekleidet ist er im grün bestickten Rock der Académie des beaux-arts, hoch dekoriert mit den Auszeichnungen illustrer Akademien und Fürstenhäuser, darunter die Orden eines Chevalier und Commandeur der Légion d‘honneur, die Goldmedaille des Royal Institute of British Architects und den preußischen Orden „Pour le Mérite“ für Kunst und Wissenschaft.

Als Architekt und Stadtplaner sind in Paris nicht nur so geschichtsträchtige und bedeutende Plätze der Stadt wie die place de la Concorde und die place de l’Étoile/ place Charles-de-Gaulle, sondern auch die Avenue des Champs-Élysées mit seinem Namen verknüpft. Seine Bauten in Paris umfassen ein breites architektonisches Spektrum: Es reicht von Vergnügungs- und Theaterbauten (Restaurants, Rotonde du Panorama, Cirque d’Éte, Cirque Napoléon, heute Cirque d’Hiver,  Théâtre de l’Ambigu sowie Théâtre Marigny), Rathäusern (im 1. und 5. Arrondissement), sozialen Einrichtungen (wie das Waisenhaus Maison Eugène Napoléon, die heutige Fondation Eugène Napoléon), der Kirche Saint-Vincent-de-Paul bis hin zu dem größten Pariser Bahnhof, dem Gare du Nord, nicht gerechnet die Entwürfe zu Brunnen, Gaslaternen, Kandelabern, sonstigem Stadtmobiliar, Privathäusern, Renovierungen und nicht ausgeführten Projekten wie u.a. ein Palais de l‘Industrie ganz aus Eisen und Glas an den Champs-Élysées oder ein Theater- und Museumsprojekt für seine Vaterstadt Köln.

Zugleich hat Hittorff als „Entdecker der Polychromie der antiken Architektur“[2]  die Altertumswissenschaft maßgeblich mitgeprägt. Er stellt damit „einen der letzten Prototypen des Architekten-Archäologen dar, der einst der Schlüssel zu den Fortschritten der europäischen archäologischen Wissenschaft war.“ [3] Das macht ihn zu einer emblematischen Figur, wie Beulé [[4]] in der bewegenden Grabrede, die er zu seinem Gedenken am 12. Dezember 1868 vor der Académie des Beaux-Arts hielt, nachdrücklich betonte:

„Es war dem 19. Jahrhundert vorbehalten, dem Studium des Altertums eine Durchdringung und einen Respekt zu verleihen, die alles wieder zum Leben erwecken. Die Ruinen Griechenlands und Italiens sind eine Schule für ganze Generationen; die geschicktesten Schüler sammeln in verlassenen oder vom Fieber bewachten Ländern die kleinsten Details der griechischen und römischen Denkmäler; sie ernähren sich von diesen gleichzeitig so schönen und so einfachen Werken, sie entdecken sie, sie restaurieren sie, sie messen sie, sie drehen den kleinsten Trümmerteil um, wie ein Kommentator die Sätze eines wertvollen Manuskripts umdreht. Mit einem Wort: Durch Genauigkeit, Feingefühl und Eklektizismus begnügen sich unsere Architekten nicht mehr damit, Wissenschaftler zu sein; sie sind zu Archäologen geworden. Der Mann, den wir heute ehren, meine Herren, war einer der Förderer dieses Triumphs der Archäologie.

Abb. 2: Farbige Restitution des Tempels des Empedokles in Selinunt (Sizilien) durch Hittorff aus seinem Werk über die Polychrome Architektur bei den Griechen. 1851

Hittorff war ein Gelehrter ebenso wie ein Künstler. Die Académie des Inscriptions et Belles Lettres hätte ebenso wie die Académie des Beaux-Arts das Recht gehabt, ihn in ihre Mitte zu berufen. Wenn er seine Kunst liebte, pflegte er die Wissenschaft mit Rausch und lebte inmitten des Altertums wie in einem Heiligtum. Er zählt zu den komplexen und interessanten Figuren unserer Zeit, aufgrund der Vielfalt seiner Fähigkeiten und der Aufrichtigkeit einer Leidenschaft, die sein ganzes Leben erfüllte. […] Deshalb, meine Herren, prägt Hittorff die französische Kunst des 19. Jahrhunderts; er hinterlässt seine Spuren als Künstler und vor allem als Gelehrter.“ [5]

Hittorff zählt zu den bedeutendsten Architekten im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Er hat nachhaltig Architekten wie Henri Labrouste und Charles Garnier in Frankreich und Gottfried Semper in Deutschland beeinflusst und fungierte „als Fährmann, als Vermittler zwischen dem Neoklassizismus und dem Eklektizismus“. (Adeline Grand-Clément)

Das Panthéon Parisien, das Album der zeitgenössischen gefeierten Persönlichkeiten, ehrte ihn in den 1860-er Jahren mit einer Auflistung seiner Werke, einer Portraitfotografie und einer Kurzvita.

Abb. 3: Albumblatt aus Étienne Carjat: Album des Célebrités comtemporaines. Paris 1861-1864

Hittorff war noch vieles mehr als „nur“ Architekt und Archäologe: als Architecte des fêtes et cérémonies de la Couronne war er Festdekorateur der Bourbonen. Als Restaurator des Palais Beauharnais [6] (der damaligen preußischen Gesandtschaft und jetzigen Residenz des deutschen Botschafters in Paris) trug er entscheidend zum Erhalt der glanzvollen, von Percier und Fontaine geschaffenen Innendekoration im Empire-Stil bei. Er war freier Unternehmer, der in emaillierten Lavaplatten ein lukratives Marktprodukt erkannte.

Als begnadeter Kommunikator, heute würden wir Netzwerker sagen, bediente er sich des kompletten Programms der Öffentlichkeitarbeit: durch Vorträge, Beiträge in Zeitschriften und Architekturjournalen, durch vielfältige Stellungnahmen zur Baukunst seiner Zeit und nicht zuletzt mit seinem intensiven Briefwechsel. Er fungierte als Übersetzer und Herausgeber bedeutsamer Werke der Altertumsforschung wie dem Werk von James Stuart über die Antiken in Athen. Er benutzte das volle publizistische Instrumentarium auch bei den aufwändigen Publikationen seiner eigenen Studien in Sizilien.

Als Präsident der Société libre des Beaux-arts, einer Vereinigung von Künstlern und Kunstliebhabern, die sich der Förderung der Künste und der Künstler widmete, pflege er engen Kontakt zur Pariser Kunstszene. Als Mitglied zahlreicher internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften reichte sein Einfluss weit über Frankreich hinaus.

Wir sehen hier eine komplexe, vielschichtige, Persönlichkeit, in der sich geradezu das 19. Jahrhundert mit all seinen Brüchen, Widersprüchlichkeiten, Irritationen, aber auch seiner Dynamik widerspiegelt. Einerseits schuf Hittorff als Subjekt durch seine Neugierde, seine schöpferische Kraft, sein Wissen  und seine Ideen ein beeindruckendes architektonisches Werk, andererseits war er aber als Objekt politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Veränderungen unterworfen und wurde von ihnen bestimmt. Und in der Tat bestimmten und beeinflussten bedeutende politische und soziale Umwälzungen sein gesamtes Leben und Wirken.

Als der 18-Jährige Hittorff 1810 nach Paris kommt, herrscht noch Napoleon I. Es folgt die Restauration der Bourbonen-Herrschaft. Mit deren Sturz in der Juli-Revolution 1830 beginnt die sogenannte Juli-Monarchie des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe, die gleichfalls mit einer Revolution im Februar 1848 endet. Die nachfolgende 2. Republik hat aber keinen Bestand. Ihr „Prinz-Präsident“ Louis Napoleon reißt mit seinem Staatsstreich im Dezember 1851 die Macht an sich und etabliert sich 1852 als Kaiser Napoleon III.

Diese politische Instabilität spiegelt die Umstrukturierung der Gesellschaft wider: der Adel verliert an Einfluss gegenüber einer immer selbstbewussteren Bourgeoisie. Im Gefolge einer wachsenden Industrialisierung mit einem stärker werdenden Proletariat, das als Bedrohung der Herrschenden wahrgenommen wird, nehmen die sozialen Spannungen zu. Gleichzeitig stellen Bevölkerungszunahme, das Wachstum der Städte, die damit verbundenen hygienischen Probleme und die gesteiger te Mobilität Städte wie Paris vor neue Herausforderungen. Zugleich eröffnen Fortschritte der Technik neue Möglichkeiten des Bauens.

An Hittorff lässt sich verfolgen, wie er auf diese wechselnden Bedingungen reagiert, die auch seine wirtschaftliche Existenz bedrohen.  Charakteristisch ist für ihn, die gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit zu erkennen und zu nutzen. Dazu gehört auch seine Fähigkeit, die technischen Möglichkeiten und Innovationen seiner Zeit in seine Arbeit einzubeziehen.

Um seine Ziele zu erreichen weiß Hittorff um die Bedeutung der Reputation und die Wege dahin. Er weiß, dass sein Ruf nicht allein von seinen künstlerischen Fähigkeiten, einem Übermaß an Einsatz und Fleiß abhängt, sondern auch davon, welche Verbindungen er knüpft, um sich Einfluss zu verschaffen. Man kann dies Opportunismus nennen oder ein Höchstmaß an Flexibilität (Anpassung, Arrangieren). All dies wird, wie wir sehen werden, sein Wirken beeinflussen und über seinen Erfolg entscheiden.

Skizze seines Werdegangs

Jakob Ignaz Hittorf wird 1792 inmitten der Kölner Altstadt am Heumarkt geboren. Zwei Jahre später besetzen französische Revolutionstruppen die Stadt. Mit der Gründung des Département de la Roër (benannt nach dem Fluss Rur) wird Kölns Einverleibung in die Französische Republik vorbereitet. Es beginnt das, was die Kölner die „Franzosenzeit“ nennen. Seit 1801, mit dem Frieden von Lunéville, gehört Köln offiziell zu Frankreich. Hittorff wird erstmals französischer Staatsbürger. Unter der französischen Administration modernisieren sich Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftssystem der Stadt. Köln löst sich aus den ständischen Verhältnissen und entwickelt sich zur größten deutschen Gewerbestadt.

Abb. 4: Hittorffs Geburtshaus (2. v.l.) am Heumarkt mit der Kirche Klein-Sankt Martin im Hintergrund

Sein Vater Franz Alexander Hittorff, ein wirtschaftlich erfolgreicher Blechschläger (= Klempner, Spengler), der überdies mit Erwerb und Verpachtung von säkularisierten Kirchenimmobilien sowie durch ein Bestattungsmonopol wohlhabend geworden ist, bestimmt, wie in dieser Gesellschaftsschicht üblich, den Bildungsweg und die Berufswahl seines Sohnes. „Die Investition in den Architektenberuf seines einzigen Kindes folgt der Formel ‚Aufstieg durch Bildung‘ der Mittelschicht des frühen 19. Jahrhunderts und der Aufstiegsperspektive einer Handwerkerfamilie. Die Berufswahl, obwohl von Jakob Ignaz nicht selbst getroffen, wird akzeptiert und ganz im Sinne der familiären und sicherlich auch der eigenen Ambitionen realisiert. Hittorffs Lebenslauf ist eine Mustergeschichte der Subjektivation“, also der Erlangung von Autonomie durch die Unterwerfung unter soziale Machtstrukturen. [7]

Dieses Verhaltensmuster wird seine Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse kennzeichnen: Hittorff kann sich mit veränderten Arbeitsbedingungen arrangieren, ohne die eigenen Ziele aus den Augen zu verlieren.

In Köln besucht er die öffentliche Zentralschule. Er hört dort Vorlesungen seines Lehrers und Förderers Ferdinand Franz Wallraf, Professor der Schönen Künste, er bekommt Unterricht von dem Architekten Christian Löwenstein und dem Maler Caspar Arnold Grein, ergänzt vom Besuch der Ateliers und Werkstätten von Michael Leidel, des Baurats Schaufs und des Steinmetzen Franz Leister.

Abb. 5: Anton de Peters, Porträt Ferdinand Franz Wallraf, 1792

Er erwirbt damit „von der Pike auf“ zielgerichtet Grundkenntnisse (Mathematik, Geometrie, Zeichnen, Materialkunde, handwerkliche Fertigkeiten) für seinen späteren Beruf.  Noch in seiner Schulzeit entwirft er im Alter von 16 Jahren (!) in der Kölner Schildergasse ein (im Zweiten Weltkrieg zerstörtes) Bürgerhaus, das „frühe Kenntnisse in Sachen klassische Entwurfsprinzipien und Formensprache“ [8] zeigt.

Abb. 6: Jakob Ignaz Hittorff – Haus Schildergasse 84 in Köln, 1808

Hittorff kommt, gefördert von Ferdinand Wallraf, zusammen mit seinem Freund Franz Christian Gau 1810 nach Paris. Anders als Leo von Klenze, Friedrich von Gärtner und Gottfried Semper geht es ihnen aber nicht um die Komplettierung ihrer Fachkenntnisse. Vielmehr wollen sie in Paris Architekten werden und wirken. Paris ist hierzu die erste Adresse. Die Stadt ist das europäische  Macht- und Kulturzentrum. Sie war nach dem Willen Napoleons zu einem „Zweiten Rom“ geworden. Hier können, auch als Folge der napoleonischen Raubzüge, die bedeutendsten Kunstwerke studiert werden; hier gilt die École des beaux-arts als Schmiede der Architekturelite.

Dank der Einstellung im Baubüro von François-Joseph Bélanger  (1745-1818) kann sich Hittorff rasch im Pariser Architektenmilieu etablieren. Bélanger ist Regierungsarchitekt (architecte du gouvernement), sein Atelier zählt „zu den ersten Adressen im napoleonischen Paris.“ [9]  Beim Bau der riesigen Kuppel der Kornhalle, der Halle au Blé, sammelt Hittorff erste Erfahrungen bei der Konstruktion mit Gusseisen und Glas: Es ist die erste Kuppel dieser Art in der Geschichte der Architektur. [10]

Abb. 7: François-Joseph Bélanger, Detail des Grabmals auf dem Friedhof Père Lachaise, division 11                

Mit dem Sturz Napoleon verliert Bélanger zwar sein Amt, avanciert unter den Bourbonen aber rasch zum Architekten der Menus Plaisiers du Roi, zum höfischen Festdekorateur, ein Posten, den er schon im Ancien Régime innehatte.  Hittorff kann von Bélanger lernen, dass „auch privatpolitische Klugheit und Flexibilität“ [11] zu einem erfolgreichen Architekten gehören.

Bereits ein Jahr nach ihrer Ankunft in Paris, also 1811, werden Hittorff und Gau als Schüler der École des beaux-arts immatrikuliert. Von den sechsunddreißig Schülern, die damals den schwierigen »concours« (Wettbewerb) um den Eintritt in die berühmte Ausbildungsstätte bestanden, und auf den sich beide ein Jahr vorbereitet hatten, erlangt Hittorff den fünfzehnten und Gau den siebzehnten Platz. Diese gute Einstufung war insofern belangvoll, als die meisten Teilnehmer des Ausleseverfahrens aus Paris stammten und über ganz andere Ausbildungsmöglichkeiten verfügten als die beiden gebürtigen Kölner.

Charles Percier, Professor an der Académie des beaux-arts, neben Pierre-François-Léonard Fontaine führender Vertreter des Klassizismus und Architekt Napoleons, wird sein zweiter Lehrer. „Beim Ersteren [Bélanger] hatte Hittorff die Baustellenluft kennengelernt beziehungsweise den Architektenberuf als einer Erwerbsbiographie, bei Letzterem [noch Prominenterem] erhielt er die Weihen der höheren Baukunst.“ [11]

Abb. 8: Robert Lefèvre, Portrait von Charles Percier, 1807

Im frühen 19. Jahrhundert wird an der École des beaux-arts Architektur nicht als Praxis, das ist die Sache der Baubüros, sondern als Bau-Kunst nach den Gesetzen der klassischen Ästhetik gelehrt. Dieses duale System bestimmt in Frankreich die Laufbahn des Architekten, wo Bau-Praxis und Bau-Kunst einander ergänzen.

Um 1820 hat Hittorff fast den Status und das Ansehen Bélangers erreicht, er war ihm 1818 als Chef der Menus Plaisiers du Roi in Zusammenarbeit mit Jean François Joseph Lecointe, gefolgt. Sulpiz Boisserée, berühmt als Kunstsammler, Kunsthistoriker und durch die Auffindung des Plans für die Westfassade des Kölner Doms, schildert Hittorff nicht ohne einen leisen Spott als  „arrivierten Hofarchitekten, zu dessen Ambiente längst die tonangebenden Kreise von Paris gehören“ (Pisani, 41). Alexander von Humboldt, bekannt für seine spitze Zunge, bezeichnet den jungen Architekten „als eine Art Dandy“. Beide, Boisserée und Humboldt, werden aber erkennen, dass Hittorff seine Position durch Leistung und weniger durch Klientelismus oder „Weiberprotektion“ verdankt.

Was Hittorff noch fehlt, ist die akademische Anerkennung. Hittorff hatte 1815 nach dem Sturz von Napoleon Bonaparte durch Beschluss des Wiener Kongresses seine französische Staatsbürgerschaft verloren. Er kann zwar in Paris bleiben, aber für das Stipendium der französischen Akademie in Rom, den großen Prix de Rome, nicht kandidieren.

Hittorff findet einen Weg, der zugleich seine Arbeit als Architekt akademisch vertieft und ihm ein Renommée ähnlich dem eines Prix de Rome-Trägers verschafft: Er lässt sich immer wieder beurlauben, reist 1820 nach England, 1821 nach Deutschland, wo er Karl Friedrich Schinkel in Berlin trifft. 1822 begibt er sich frei von akademischen Verpflichtungen zusammen mit seinem jungen Mitarbeiter Ludwig Zanth (1796-1857)  über Norditalien nach Rom.  Zanth wird später württembergischer Hofarchitekt und geadelt. In Rom knüpft Hittorff rasch Kontakt zu den Künstlerkreisen um Berthel Thorvaldsen und zu der Académie de France in der Villa Medici. Rom ist nur eine Etappe. Für die Erforschung der griechischen Tempelanlagen auf Sizilien, das eigentliche Ziel der Reise, engagiert Hittorff  den in Rom lebenden jungen deutschen Maler und späteren Architekten Wilhelm Stier, der die Bauzeichnungen anfertigt. Paestum, besonders aber Pompeji und Herculaneum werden besucht und in über 200 Blättern gezeichnet. Von September 1822 bis Juni 1824 forscht die Gruppe in Sizilien. Hittorff wird das seine „nützliche Pilgerfahrt“ nennen. Es seien „die schönsten Tage seines Lebens“ gewesen. [12]

Abb. 9: Jacob Ignaz Hittorff  in Italien von Moritz Daniel Oppenheim, 1824. Im Hintergrund die Ruinen von Agrigent.

Frucht dieser „Pilgerfahrt“ sind die z.T. in Zusammenarbeit mit Ludwig von Zanth publizierten Werke zur Architektur in Sizilien:

  • Antiquités de l‘Attique, L‘Architecture antique de la Sicile,
  • L‘Architecture moderne de la Sicile, De l’architecture polychrôme chez les Grecs, ou restitution complète du temple d’Empédocles dans l’acropolis de Sélinunte,
  • Restitution du temple d’Empédocle à Sélinonte, ou L’architecture polychrome chez les Grecs.

Diese Werke bilden die Grundlage zu seiner Farbtheorie der griechischen Architektur. Durch sie wird er zum Vorreiter ihrer Farbigkeit (Polychromie) in einer Jahrzehnte-langen Auseinandersetzung. Sie sind das Eintritts-Billett zur akademischen Architektenelite.

 Abb. 10: Portrait Hittorffs von Carl Joseph Begas, 1821  

Nach seiner Italienreise heiratet er 1824 Rose Élisabeth Lepère. Darüber zerbricht die Freundschaft zu seinem Weggefährten Franz Christian Gau, mit dem zusammen er um die Tochter von Jean-Baptiste Lepère geworben hatten.

Abb. 11: Madame Hittorff als Göttin Juno. Von Jean-Auguste-Dominique Ingres, einem Freund Hittorffs

Auch wenn man beiden mit der Werbung keine Karriereabsichten unterstellen will, so bedeutete doch Hittorffs Heirat die Aufnahme in einen einflussreichen Personenkreis um diesen französischen Architekten, der als Künstler Napoleon Bonapartes Ägyptenkampagne begleitet und einen Großteil der Entwürfe zum wenig später entstandenen, berühmten Monumentalwerk der Description de l’Égypte beigesteuert hatte. Überdies hatte er die Metallarbeiten an der Siegessäule auf der Place Vendôme geleitet. Später wird Hittorff nach Lepères Tod den Bau der Église Saint-Vincent-de-Paul weiterführen.

1842 wird Hittorff per Beschluss von König Louis-Philippe wieder französischer Staatsbürger. Als Krönung seiner Laufbahn, die er als 18-Jähriger in Paris begonnen hatte, wird er am 22. Januar 1853 zum ordentlichen Mitglied der Académie des beaux-arts, Sektion Architektur, gewählt. Er ist damit „membre de l’Institut“ und gehört nun zur crème de la crème der französischen Wissenschaft.

Am Ende seines Lebens kann Hittorff auf ein vielfältiges, internationales  Werk zurückblicken, gegründet auf eine exzellente Fachausbildung im renommierten Baubüro von Bélanger und bei Percier an der École des beaux-arts (1811-1816), auf Fortbildungs- und Forschungsreisen, auf eine nie nachlassende Neugierde, einen  ungeheuren Fleiß und Organisationsvermögen und nicht zuletzt auf die Fähigkeit, Verbindungen zu  führenden gesellschaftlichen Kreisen, zu wissenschaftlichen, akademischen Institutionen und Gesellschaften zu knüpfen – Hittorff spricht neben deutsch und französisch auch italienisch und englisch – sowie auf die Pflege oft lebenslanger Bekanntschaften und Freundschaften zu Künstlern und Berufskollegen.

Ein zu Unrecht Vergessener

Dass heute Hittorff dennoch in der breiten Öffentlichkeit, nicht aber in Fachkreisen, in Vergessenheit geraten ist, hat mehrere Gründe.

Zum einen liegt es daran, dass „die Scheidung zwischen der Welt der Künstler und der Welt der Archäologen begann… Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde jede Welt autonom und die Hellenisten waren nicht mehr auf die Künstler angewiesen, um ihre Forschungen durchzuführen, da sie ihre eigenen Untersuchungsinstrumente und Arbeitsmethoden entwickelt hatten.“ [13] Darüber hinaus war der Polychromie-Streit am Ende des Jahrhunderts ausgefochten.

Zum anderen verringerte sich in Hittorffs Zeit der Einfluss der Architekten aus der Tradition der École des beaux-arts zugunsten der Technokraten der École polytechnique und der École centrale des arts et manufactures bei der Umgestaltung von Paris, maßgeblich forciert durch Georges-Eugène Haussmann, seit 1853 Präfekt des damaligen Départements de la Seine, das Paris einbezog.

Dabei beruhte der Wirkungsverlust von Hittorff keineswegs in seiner Prägung durch die École des beau-arts, der – so bei Walter Benjamin und Sigfried Giedion- eine Hemmung des Fortschritts und damit der Moderne unterstellt wurde. [14].  Hittorff – und das gilt auch für Victor Baltard und Henri Labrouste, beide auch Eleven der École des beaux-arts – war autonom genug und verstand sehr wohl, neuartige Techniken (Einsatz von Fertigbauteilen, innovative Tragkonstruktionen) und Materialien (Glas und Eisen) für eine Architektur zu verwenden, in der moderne Technik und die Formensprache der Hochkunst verbunden waren. Beispiele dafür sind der Pariser Nordbahnhof, Gare du Nord, und die Bibliothèque Sainte-Geneviève. Von einem Kampfplatz zwischen „Konstrukteur und Dekorateur“ [15] kann da keine Rede sein.

Abb. 12: Portrait de Baron Haussmann, par Henri Lehmann (1860, Musée Carnavalet)

Der wesentliche Grund, warum Hittorff in Vergessenheit geriet, lag in der Dominanz von Effektivität und Funktionalität, die unter Haussmann die städtische Planung und die Transformation von Paris bestimmten und mit den Boulevards, Markthallen, Bahnhöfen, Grands Hotels, Warenhäusern und Parks, den groß dimensionierten Verkehrsschneisen, dem unterirdischen leistungsfähigen Abwasser-, Trinkwasser- und Verkehrssystem (Métro) auf den Trümmern des vieux Paris die „Hauptstadt de 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin) erschufen.  Der „ehemals fraktale Stadtraum [ging] in einen logistischen Gesamtorganismus“ [über], „in dem Menschen, Transportmittel, Waren und Kapital zu zirkulieren begannen[16].

Für Haussmann war die Stadt nicht mehr die Summe einer repräsentativen Architektur, eine „Stadt als Werk der Kunst“[17]. Im Mittelpunkt standen nicht mehr wie bei Hittorff Ästhetik, Streben nach Schönheit und mit Bedeutung aufgeladene Objekte, seien es Plätze, Bauten, Säulen, Obelisken und anderes, sondern strukturierter Raum, der der Nutzung zu dienen hatte, wie die Place de l’Ètoile mit ihren 12 Achsen als riesiger Verteiler und Zirkulationsraum.

Zuvor hatten in der Lebensspanne von Hittorff in Paris andere Kriterien für die Gestaltung der Stadt gegolten:

Unter Napoleon Buonaparte sollte Paris als kulturelles und machtpolitisches Zentrum mit seinen Kunstsammlungen und seinem an der römischen Antike orientierten Klassizismus als neues, glanzvolleres Rom, als Zentrum eines neuen Imperiums alle Hauptstädte Europas überstrahlen und seine Macht und den Ruhm seiner Armee demonstrieren. Diese Botschaft war nicht nur nach außen gerichtet, sondern auch an die eigenen Untertanen. Im Stolz, im Bewusstsein einer so machtvollen Nation anzugehören, sollte die durch die Wirren der Revolution zerbrochene Einheit der Nation wieder beschworen werden.

Die Bourbonen verfolgten mit ihren Aufträgen an die Architekten andere Ziele. Mit ihren Kirchen-Bauten und -Renovierungen wollten sie den Ikonoklasmus an der Sakralarchitektur während der Französischen Revolution auslöschen. Insbesondere Karl X. wollte die Allianz zwischen Thron und Altar wiederherstellen, an das ancien regime anknüpfen und die Erinnerung an das ermordete Königspaar wachhalten. Diesen Zielen dienten die aufwändigen höfischen Inszenierungen einschließlich ihrer ephemeren Architekturen, die Sühnekapelle (chapelle expiatoire) auf dem ehemaligen Friedhof Madeleine (Cimetière de la Madeleine) und die Umwidmung der Place Louis XV in Place Louis XVI. Die Umgestaltung des Platzes mit der Statue Ludwig XVI. wurde nicht mehr realisiert.  

Die Julimonarchie unter Louis-Philippe schließlich, gekennzeichnet durch Bereicherung der produzierenden und finanziellen Bourgeoisie und extremer Armut der Arbeiterklasse, evozierte wiederholte Unruhen der unteren Schichten. In der Beschwörung einer kollektiven Einheit (Stichwort: Place de la Concorde) sollte die gespaltene Gesellschaft durch ikonologische Bilder zusammengeführt und der Terror der Revolution verdeckt werden. Mit der Restaurierung einiger Wahrzeichen von Paris (Notre-Dame, Église Saint-Germain-des-Prés u.a.m.) sollten kollektive Erinnerungsorte neu belebt und ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. Mit Gebäuden in verschiedenen historischen Stilen wollte man der Stadt neuen Glanz verleihen, mit Zonen für Freizeit, Unterhaltung und Spiel die Bürger ruhigstellen. Eine Sanierung der Arbeiterviertel unterblieb bei all diesen Aktivitäten.

Jacques Ignace Hittorff beherrschte als Absolvent der École des beau arts, als ehemaliger Architecte des fêtes et cérémonies de la Couronne der Bourbonen und als Künstler in hohem Maße die Fähigkeit, den architektonischen und städtebaulichen Projekten Glanz und Bedeutung zu verleihen. Hittorff dachte in emblematischen Bildern und Räumen, aufgeladen mit Geschichte und kulturellen Traditionen. Diese Fähigkeit schätzten auch Louis Philippe und danach Napoleon III., der an das Erste Kaiserreich anknüpfen wollte. Doch die Zeiten hatten sich geändert.

Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert und das damit verbundene rasche Wachstum der Bevölkerung und des Verkehrs hatten in Paris, wie in anderen europäischen Großstädten, zu überfüllten städtischen Zentren, schlechten Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen geführt. Die teilweise noch mittelalterlichen Infrastrukturen mit Mangel an Licht, frischer Luft, sauberem Trinkwasser und leistungsfähigem Abwassersystem waren Brutstätten für die massive Ausbreitung von Krankheiten und haben zu den katastrophalen Epidemien des 19. Jahrhunderts geführt. Gleichzeitig stellte das wachsende Proletariat, das in diesen überfüllten, ungelüfteten und ungesunden Wohnungen leben musste, einen potentiellen revolutionären Sprengsatz dar. Eine umfassende Umwandlung und Sanierung von Paris waren unumgänglich, weil die Stadt als Gemeinwesen nicht mehr richtig funktionierte.

Diese Transformation wurde flächendeckend rigoros, ja oft brutal, aggressiv und diktatorisch von Haussmann vorangetrieben, der die bis dahin dominierende Beaux-Arts-Elite, zu der Hittorff gehörte, in der städtischen Bauverwaltung ablöste, weil er der Auffassung war, dass diese die Modernisierung von Paris nach ihren Beaux-Arts-Normen und wegen ihres Elitebewusstseins nicht bewältigen und mittragen könnten. Das Heer von Architekten wurde zugunsten von Ingenieuren der École des ponts et chaussées und der École polytechnique reduziert, „denn die Ingenieure seien Beamte, die einer straff organisierten Hierarchie angehören und sich ausschließlich dem öffentlichen Dienst widmen…Deren Hierarchieergebenheit befördere die Disziplin und den reibungslosen Ablauf behördlicher Vorgänge.“ [18] Es ging um die Etablierung  technokratischer Regime, „in denen sich Verwalten und Verhalten und nicht zuletzt Gestalten den Kategorien der Rationaliät unterstellen.“ [19]

Die Architekten Victor Baltard und Hittorff behielten zwar ihre Stellen im Service d’architecture. Haussmann wird später in seinen Memoiren behaupten, beiden gleichsam ‚Vernunft‘ eingebläut zu haben. Der Konflikt zwischen Haussmann und Hittorff wird hier überdeutlich und führte zu der zunehmenden Ausgrenzung Hittorffs bei der Gestaltung von Paris. Diese Ausgrenzung hatte ihren primären Grund nicht in Haussmanns technokratischem Regime, wie Pisani meint, sondern sicherlich gleichwertig in einer sehr persönlichen von Neid, Eifersucht und Vorurteilen geprägten Aversion gegenüber Hittorff, wie Haussmanns Memoiren und andere Quellen zeigen.

Hittorffs Wirken in Paris wird im Gedächtnis verschattet und verdrängt von der übermächtigen Gestalt Haussmanns. Und die Stadt Paris hat leider dieser Missachtung Hittorffs Vorschub geleistet.

Während einer der großen Boulevards nach Haussmann benannt wurde, fand sich für Hittorff nur eine kleine, unbedeutende Straße im 10. Arrondissement, die als Sackgasse in der tristen Cité Hittorff endet. [20]

Abb. 13. & 14: Straßenschild rue Hittorff und cité Hittorff, Paris 10. Arrodissement

Ein weiteres Beispiel für die Verdrängung Hittorffs aus dem Gedächtnis der Stadt ist die Informationstafel vor dem repräsentativen Rathaus des 5. Arrondissements am Pantheon-Platz.

Auf dieser Tafel wird der Innenarchitekt genannt, nicht aber die Architekten Jean-Baptiste Guénepin, der den Bau begonnen, und vor allem Hittorff, der dem Rathaus seine charakteristische neo-klassizistische Fassade gegeben hat. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Paris nicht sehr respektvoll mit Hittorff umgeht. In Köln gibt es ein Sprichwort: Me moss och jönne könne (Man muss auch gönnen können). Haussmann konnte das nicht und manche Verantwortliche in Paris auch nicht.

Bestattet wurde Hittorff auf dem Pariser Friedhof Montmartre. Dort befindet sich auch das Grab eines weiteren in Köln geborenen und dann in Frankreich eingebürgerten Deutschen, der ebenfalls Bedeutendes für Paris geleistet hat: gemeint ist der Violoncellist und Komponist Jacques Offenbach.

Abb. 15 Grabmal Hittorffs auf dem Cimetière de Montmartre, 4. Division, Avenue de Montebello.  Hittorff ist dort zusammen mit seinem Schwiegervater Jean-Baptiste Lepère bestattet.

Die neben dem Grabmal Hittorffs liegende prächtige neogotische -und natürlich polychrome- Kapelle der Gräfin Potocka ist übrigens auch sein Werk…

Abb. 16: Grabmal der in St. Petersburg geborenen und in 1845 in Paris verstorbenen comtesse Marie Potocka, princesse Soltikoff

In den nachfolgenden Beiträgen soll Hittorffs Wirken in Paris am Beispiel einiger Plätze und Bauwerke veranschaulicht werden. Ausgewählt werden Werke, in denen sich die künstlerischen Vorstellungen Hittorffs am eindrucksvollsten niederschlagen und für deren Bau er neue Techniken und Materialen zu nutzen verstand; weiterhin soll auch berücksichtigt werden, inwieweit sich an den ausgewählten Bauten die Anpassung an die wechselnden Herrschaftsverhältnisse aufzeigen lässt und wo sich die Konflikte mit Haussmann am deutlichsten manifestierten:

– Place de la Concorde

– Place de l’Étoile  (place Charles-de-Gaulle)

– Gare du Nord (Nordbahnhof)

– Sommer- und Winterzirkus (cirque d’étè und cirque d’hiver)

Ulrich Schläger, Köln im September 2023

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Jacob Ignace Hittorff, 1869 (?), von FélixJoseph Barrias ; Quelle: Sammlung Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Abb. 2: Élévation principale du temple, in: Restitution du temple d’Empédocle à Sélinonte, ou L’architecture polychrome chez les Grecs. 1851. Quelle: Heidelberger historische Bestände – digital https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/hittorff1851bd2/0007/image,info,thumbs

s.a.https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reconstruction_of_the_Temple_of_Empedocles,_Selinunte,_Sicily,_by_Jacques_Ignace_Hittorff,_1830_(published_in_1851).webp

Abb. 3: Albumblatt aus Étienne Carjat: Album des Célebrités comtemporaines. Paris 1861-1864

Abb. 4: Hittorffs Geburtshaus (2. von links) am Heumarkt mit der Kirche Klein-Sankt Martin im Hintergrund. Quelle: Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historische Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart.

Abb. 5: Anton de Peters, Porträt Ferdinand Franz Wallraf, 1792; Quelle Sammlung Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln

Abb. 6: Jakob Ignaz Hittorff – Haus Schildergasse 84 in Köln, 1808; Quelle: Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historische Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart. Siehe auch: https://www.wikiwand.com/de/Schildergasse#Media/Datei:K%C3%B6ln_-_Schildergasse_links_Antonsgasse_mit_Apotheke_zum_goldenen_Kopf,_rechts_Nr._84_altes_Polizeipr%C3%A4sidium,_erbaut_1808,_RBA.jpg

Abb. 7: Henri-Victor Roguier: François-Joseph Bélanger portrait de profil en relief enchâssé dans une couronne de lauriers,  marbre, cimetière du Père Lachaise. https://fr.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7ois-Joseph_B%C3%A9langer

Abb. 8: Charles Percier von Robert Lefèvre;   Château de Versailles. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charles_Percier_par_Robert_Lef%C3%A8vre_-_Ch%C3%A2teau_de_Versailles.jpg

Abb. 9: Jacob Ignaz Hittorff in Italien, Moritz Daniel Oppenheim, 1824, zugeschrieben; Quelle: Kölner Stadtmuseum. Siehe dazu: Michael Keine, Jacques-Ignace Hittorff: The Discovery of Polychromy in the Ancient Architecture of Sicily and the Consequences for Contemporary Art and Archaeology in France 

https://www.nga.gov/research/casva/research-projects/research-reports-archive/kiene-2013-2014.html

Abb. 10:  Jakob Ignaz Hittorff, von Carl Begas, 1821; Quelle: Sammlung Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud   https://www.stylepark.com/de/news/stadtplanung-oeffentlicher-raum-best-practice-jakob-ignaz-hittorff-place-de-la-concorde-paris-ausstellung-    

Abb. 11: Portrait von Madame Jacques Ignace Hittorf als Göttin Juno, von Jean-Auguste-Dominique Ingres. 1864 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_Madame_Jacques_Ignace_Hittorf_as_Juno,_by_Jean-Auguste-Dominique_Ingres,_1864,_oil_on_canvas_-_Krannert_Art_Museum,_UIUC_-_DSC06234.jpg

Abb. 12: Portrait de Baron Haussmann, par Henri Lehmann (circa 1860, Musée Carnavalet) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Henri_Lehmann_-_Portrait_du_baron_Haussmann_%281809-1891%29,_pr%C3%A9fet_de_la_Seine_%281853-1870%29_-_P2213_-_Mus%C3%A9e_Carnavalet.jpg

Abb. 13. & 14: Straßenschild rue Hittorff und cité Hittorff Paris 10. Arrodissement Fotos: Wolf Jöckel (September 2023)

Abb. 15: Stele des Grabmals von Hittorff auf dem Friedhof Montmartre. http://voyageursaparistome18.unblog.fr/2015/04/05/la-chapelle-sepulcrale-de-la-comtesse-potocka-1845/

Abb. 16: Das von Hittorff entworfene Grabmal der Gräfin Potocka auf dem Friedhof Montmartre http://voyageursaparistome18.unblog.fr/2020/11/28/les-chapelles-neogothiques-du-cimetiere-de-montmartre-1842-1910/

Literatur

  • Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historische Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart. Auch zugänglich unter: https://perspectivia.net//publikationen/phs/hammer_hittorff
  • Uwe Westfehling: J. I. Hittorffs Pläne für ein Denkmalforum in Paris. Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Vol. 36 (1974), pp. 273-294 (22 pages); https://www.jstor.org/stable/24657147
  • Jakob Ignaz Hittorff. Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts.
  • Wallraf-Richartz-Museum Köln, Graph. Sammlung, 21. Januar – 22. März 1987. In Zusammenarbeit d. Musée Carnavalet Paris u.d. Wallraf-Richartz-Museums Köln. Red. der ins Dt. übertr. Fassung: Uwe Westfehling u. Antje Zimmermann
  • M. Christine Boyer: The City of Collective Memory: Its Historical Imagery and Architectural Entertainments. MIT Press, 1994
  • Bruno Klein: Napoleons Triumphbogen in Paris und der Wandel der offiziellen Kunstanschauungen im Premier Empire, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 59. Bd., H. 2 (1996), pp. 244-269
  • Adeline Grand-Clément. Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce. In:  Anabases – Traditions et réceptions de l’Antiquité, 6, 2007, 6, S.135-156. https://journals.openedition.org/anabases/3459
  • Pierre Pinon, Jacques Ignace Hittorff. Institut nationale d’histoire de l’art 2009. Mit einem Verzeichnis der Publikationen Hittorffs und einem Literaturverzeichnis (die deutschen Titel sind allerdings zum Teil fehlerhaft wiedergegeben). https://www.inha.fr/fr/ressources/publications/publications-numeriques/dictionnaire-critique-des-historiens-de-l-art/hittorff-jacques-ignace.html
  • Paris erwacht! Hittorffs Erfindung der Place de la Concorde. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln (07.04. – 09.07.2017)
  • Christiane Hoffrath und Michael Keine, 1792 – 1867, Hommage für Hittorff. Bilder, Bücher und Würdigungen. Inventar der Zeichnungen von Jacob Ignaz Hittorff in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Band 6. Köln 2020 https://fliphtml5.com/igjcc/gajt/basic
  • Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gruyter Oldenburg 2022


Anmerkungen

[1] Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister 1792-1867. Pariser Historische Studien; hrsg. Deutsches Historisches Institut in Paris, Band 6, 1968, Anton Hirsemann, Stuttgart.

[2] NDB 9, 1972  https://www.deutsche-biographie.de/sfz32651.html#ndbcontent

Siehe dazu auch: Adeline Grand-Clément, Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce. In: Varia, Traditions du patrimoine antique 6/2007  https://doi.org/10.4000/anabases.3459

[3] Adeline Grand-Clément: Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce  (Anabases 6 ,2007, p. 135-156; hier p. 155)

[4]  Charles Ernest Beulé (1826-1874), Archäologe und Numismatiker. Mitglied derAcadémie des Inscriptions et Belles-Lettres und seit 1862 Secrétaire perpétuel der Académie des Beaux-Arts.

[5] zitiert nach: Adeline Grand-Clément. Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce. Anabases – Traditions et réceptions de l’Antiquité, 2007, 6, pp.135-156.  Übersetzung von U. Sch.)

[6] Siehe dazu die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2023/04/22/das-palais-beauharnais-in-paris-ein-bedeutender-ort-der-deutsch-franzosischen-beziehungen-und-ein-juwel-des-empire-stils-teil-1-bau-und-geschichte/ und https://paris-blog.org/2023/05/01/deutschlands-schonstes-haus-steht-an-der-seine-das-palais-beauharnais-in-paris-teil-2/

[7]Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022,  S.26 und 24

[8] Salvatore Pisani, ebd., S.27.

[9]  Salvatore Pisani, ebd., S.30

[10]  Sophie Flouquet, Un Monument réinventé. In: Éditions Beaux Arts. Heft Bours de Commerce. 2021, S. 66

[11]  Salvatore Pisani, ebd., S.40

[11] Salvatore Pisani, ebd., S.36

[12]  Die Alben von Jakob Ignaz Hittorff. Band 5: Sicile ancienne. Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2017https://www.academia.edu/31923660/2017_Sicile_Ancienne_Hittorff_and_the_Architecture_of_Classical_Sicily_Die_Alben_von_Jakob_Ignaz_Hittorff_vol_5_?email_work_card=view-paper Zitat auf der inneren Umschlagseite.

[13] Adeline Grand-Clément. Hittorff, un architecte à l’école de la Grèce. Anabases – Traditions et réceptions de l’Antiquité, 2007, 6, pp.135-156.

[14] siehe hierzu Salvatore Pisani ebd. S.16

[15] siehe hierzu Salvatore Pisani ebd. S.16

[16] Salvatore Pisani, ebd., S. 271.

[17] M. Christine Boyer: The City of Collective Memory: Its Historical Imagery and Architectural Entertainments. MIT Press, 1994

[18] Salvatore Pisani, ebd., S. 271.

[19] Salvatore Pisani, ebd., S. 272.

[20] Bei Wikipedia (abgerufen am 13.9.2023) sind noch alte Straßenschilder mit falschem Namen (Hittorf) und falschem Geburtsdatum (1793) abgebildet. https://de.wikipedia.org/wiki/Rue_Hittorf#/media/Datei:Paris_10e_Cit%C3%A9_Hittorf_175.JPG

Auf der offiziellen Seite des Rathauses (https://mairie10.paris.fr/pages/contact-7603  abgerufen am 13.9.2023) wird ebenfalls noch die falsche Schreibweise des Namens verwendet.

Weitere Beiträge zu Hittorffs Bauten in Paris:

Der Engel in der Rue de Turbigo – Hintersinniges am Bau. Ein Gastbeitrag von Ulrich Schläger

Wer an der Metro-Station Arts et Métiers  (3. Arrondissement)  die U-Bahnlinie 3 oder 11verlässt, kann auf der Fassade des Wohnhauses in der Rue Turbigo mit der Hausnummer 57 einen kolossalen Steinengel mit weit sich ausbreitenden Flügeln entdecken, der sich über drei Stockwerke in die Höhe erstreckt.

Bild: Ulrich Schläger

Geradezu augenfällig ist die Ähnlichkeit seines Kopfes und seines gewellten Haars mit den berühmten Karyatiden der Korenhalle des Erechtheions in Athen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Engel und den Karyatiden ist das plissierte Gewand, das bei den Karyatiden allerdings nur ein Bein bedeckt. Die Karyatiden übten nämlich eine Doppelfunktion als Wächterin und tragendes Element aus. Die Standbeine haben jeweils ihre menschliche Kontur verloren und sich, aufgelöst in langestreckte Plissees,  in stilisierte Baustämme verwandelt.

Foto: Wikipedia

Anders als die Karyatiden im antiken Griechenland, die einer Säule gleich die Last eines Gebälks mit ihrem Kopf tragen, stützt dieser Engel auch mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln den Balkon darüber.

In der linken Hand hält er einen Myrrhe-Zweig, in seiner Rechten eine schlauchförmige Geldbörse. Der Geldstrumpf (englisch „wallet purse“, „miser“) war seit dem späten 18. Jh. weit verbreitet. Es sind lange, schmale Beutel mit Zugbandverschluss oder Verschlussring. Eine zweite Form, heute meist fälschlich als „Geldkatze“ bezeichnet, war bis in die 60er Jahre des 19. Jh. außerordentlich beliebt. Sie besteht aus zwei gegeneinander gesetzten, schlauchförmigen Beuteln mit Eingriffsschlitz in der Mitte.

Diese bourses à deux coulants oder sogenannte Louis-Börsen kamen in der Restaurationszeit auf und waren reich verziert. Sie wurden auch bourses d’avare (englisch „miser’s purse“) genannt.

Welche Bedeutung haben diese Attribute? Worauf verweisen die Accessoires (Quasten, Bommeln, Trotteln, Perlen-Halskette, Bänder) des Engels? Ist die Skulptur eine Allegorie, eine Personifikation? Und wenn ja, für was?

Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir einen Blick auf die Baugeschichte und die städtische Entwicklung des Bezirks werfen, in dem sich dieses Haus befindet. Überdies sollten wir uns kurz mit der Kulturgeschichte der Myrrhe und der Bedeutung des Geldbeutels in der darstellenden Kunst beschäftigen.

Die Baugeschichte des Quartiers

Im Zweiten Kaiserreich Napoleons III. wurde die französische Hauptstadt durch die grands travaux haussmanniens, die großen Arbeiten unter der Regie des Präfekten Georges-Eugène Haussmann, von 1853 bis 1870 radikal umgestaltet und modernisiert. Im Zuge dieser Maßnahmen  wurde die Rue Réaumur bis zur Rue Turbigo an der heutigen Métro-Station Arts et Métiers verlängert.

Die Rue de Turbigo verdankt ihren Namen dem Sieg der verbündeten Italiener und Franzosen über die österreichische Armee bei einer Schlacht am 3. Juni 1859 bei dem lombardischen Ort Turbigo.  Sie war keine Straße mit Häusern der Aristokratie, wie im nahe gelegenen Marais, an der Place des Victoires oder der Place Vendôme, sondern mit ihren repräsentativen Mietshäusern Wohnort der aufstrebenden Bourgeoisie, die im Zweiten Kaiserreich zunehmend an Einfluss gewann. Deren Auswüchse attackierte Émile Zola in seinem Roman La Curée (die Beute) scharf, insbesondere diejenigen, die nach der Devise des Enrichissez-vous! (dt. „Bereichert euch!“) verfuhren und den Staat und die Stadt Paris als ihre Beute betrachteten.

Unter den ersten Mietern befanden sich Stoffhändler, Miedermacher, Schneider, Hutmacher und andere Modeproduzenten. Produktion und Handel mit Textilen bestimmten die Gegend um die Rue Turbigo. Im unweit gelegenen Quartier du Sentier etablierten sich schon unter Ludwig XIV. Posamenten- und Dekorations-Manufakturen, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweite Blüte erlebten. Die in diesem Pariser Bezirk produzierten Pompons, Troddeln, Fransen und Bänder fanden sich an Frauenkleidern, Militäruniformen, an Accessoires oder waren Teil der Dekoration pompöser Wohnräume.

Die Bedeutung der Myrrhe

Bild: Ulrich Schläger

Die Myrrhe ist ein Baum mit kleinen Blättern und auch der Name des zu einem Harz eingetrockneten Sekretsafts dieses Baumes.  Für die alten Ägypter hatte die Myrrhe eine doppelte Bedeutung, sie war ein Mittel, um sich zu wappnen und Unheil abzuwehren und war bedeutsam für den Übergang zur Unsterblichkeit. Deshalb war sie fester Bestandteil der Einbalsamierung von Mumien. Ein mit Myrrhe gewürzter Wein wurde auch Jesus bei der Kreuzigung gereicht, zum einen als Narkotikum, zum anderen aber auch, um den Übergang ins Jenseits zu erleichtern.

Die Myrrhe war auch eine der Gaben der Heiligen Drei Könige. Sie schenkten Gold, Weihrauch und Myrrhe. Gold ist ein Symbol des Reichtums. Es wird Königen als Tribut dargebracht und steht für Körperlichkeit und irdische Welt. Weihrauch dagegen wird den Göttern dargebracht und gilt als Symbol für die Göttlichkeit Christi. Myrrhe aber ist ein Symbol der Heilung, der Magie und der Fähigkeit, die Elemente zu beherrschen. Die Myrrhe galt als ein universelles Allheilmittel für Körper und Seele. Gold, Weihrauch und Myrrhe stehen hier für die drei Welten Körper, Geist und Seele.

In der griechischen Mythologie war Smyrna (Myrrha) die Tochter des Priesters und Königs Kinyras von Zypern. Smyrna ist das griechische Wort für Myrrhe. Smyrna verliebte sich durch einen Zauber Aphrodites in ihren Vater und verführte ihn zwölf Nächte lang. Die Liebesnächte blieben nicht ohne Folgen: Smyrna wurde schwanger. Als der König erkannte, wer ihn verführt hatte, wollte er sein Kind töten. Verfolgt von ihrem Vater flüchtete Smyrna und bat die Götter, sie unsichtbar werden zu lassen. So wurde sie in einen Baum verwandelt und ihre Tränen wurden zum Myrrhenharz. Aber nach neun Monaten brach der Baum auf und ihr Kind Adonis wurde geboren. Die Königstochter Smyrna (Myrrha) erscheint hier als Ausdruck der Großen Göttin, die vom Himmel (Vater) befruchtet wird und dadurch Schönheit (Adonis) gebiert. In dieser Geschichte spiegelt sich unter anderem der magische Schutzaspekt der Pflanze wider.

Die Kostbarkeit der Myrrhe ist auch der Grund, der Braut an ihrem Hochzeitstag einen Myrrhe-Zweig zu schenken. Er steht für langes Leben, Erfolg und Glück, die man der Braut damit wünscht.

Wenn wir also die mythologischen, kulturellen und historischen Aspekte der Myrrhe betrachten, so können wir in ihr die folgende Symbolik erkennen: Die Myrrhe steht für eine Transformation, aber sie dient auch der Abwehr gegen Unheil (insbesondere in der Verbindung mit dem „Schutz“-Engel). Sie ist ein Heilmittel und sie steht für Erfolg (zusammen mit der Geldbörse) und Glück.

Die Bedeutung des Geldbeutels

Bild: Ulrich Schläger

Schon in der Antike galt der Geldbeutel als Symbol des Handels und war deshalb dem Gott der Kaufleute, Merkur resp. Hermes, als Attribut beigegeben. Ein gefüllter Geldbeutel signalisierte Reichtum, Wohlstand, Macht und Einfluss. Die Geldbörse spiegelt zudem Moden und persönlichen Geschmack wider. Bommeln, Troddel, Quasten, Fransen oder Pailletten an den Börsen der Damen entsprachen dem Hang zum aufwändigen Dekor im Second Empire, dem Zweiten Kaiserreich. Ein schönes Beispiel dafür ist die nachfolgend abgebildete bourse d’avare, die bei Druot versteigert wurde.

Die Entwurfsgeschichte des Engels

Die Skulptur geht auf einen Entwurf von Emile-Auguste Delange, Student an der Ecole des Beaux-Arts et Architecture, zurück, der   zusammen mit Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch und Jean-Edme-Victor Pertuisot 1851 an einem von Professor Guillaume Abel Blouel initiierten Wettbewerb für ein Leuchtturm-Projekt teilnahm.

Publikation der Leuchtturmentwürfe durch César Daly. Der dritte Leuchtturm von links ist von Emile-Auguste Delange entworfen.

Projets de phares, concours à l’Ecole des Beaux-Arts, Décembre 1851 (Architects Léopold Amédée Hardy, Jean Juste Gustav Lisch, Auguste-Émile Delange, Jean-Edme-Victor Pertuisot). Extrait de la Revue générale de l’architecture et des travaux publics, 1852, pl.9.

Delanges Entwurf zeigt einen riesigen Engel, der über die Leuchtturmlaterne hinausragt und einen Myrrhezweig in der Hand hält. Die Schutzfunktion, die ein Leuchtturm schon an sich für die Schiffe hat, wird unterstrichen durch die Figur eines Schutzengels mit dem Myrrhezweig in der Hand.

César Daly publizierte 1852 Delanges Entwurf zusammen mit den Leuchtturm-Zeichnungen der anderen drei Studenten in der von ihm herausgegeben renommierten Fachzeitschrift Revue Générale de l’Architecture et Travaux.   Auf welche Weise Eugène Démangeat, der Architekt des Wohnhauses Nr. 57 an der Rue Turbigo an Delanges „Engel“ gekommen ist, wissen wir nicht. Unzweifelhaft ist aber, dass der Engel an diesem Haus eindeutig auf Delanges Entwurf zurückgeht.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Die Figur des Engels verweist kunstgeschichtlich auf die Karyatiden als tragendes, dekoratives Bauelement und zugleich auf seine Aufgabe als Wächter. Seine Symbolik muss im Kontext seines lokalen, sozialen und kulturellen Umfeldes gesehen werden. Das griechische Profil des Engels und seine Renaissance-Frisur und seine Quasten und Pompons passten zum eklektischen Stil des Zweiten Kaiserreichs. Die Geld-Börse mit ihren langen Quasten, die Troddel-artigen Ohranhänger, das Band um das plissierte Gewand sowie die Perlenkette des Engels spiegelten zeitgenössischen Geschmack wider und können, losgelöst von Delanges Entwurf, als Reminiszenz an das Gewerbe des Viertel verstanden werden. Überdies fügte sich der Engel ein in die strengen Haussmannschen Vorschriften, die jedes Element verbaten, das stärker aus der Fassade des Gebäudes herausragte.

Trotz allem Hintersinn, den wir in dem Engel sehen können, ist er vor allem Dekor. Er ist hier nicht mehr in seiner transzendentalen Rolle als Mittler zwischen Mensch und Gott dargestellt, auch nicht primär als Schutzengel, sondern ist nur noch Symbol für Glück, Erfolg, Wohlstand und vielleicht auch Schönheit. Eine Allegorie auf die Nächstenliebe, die einige in dieser Figur zu erkennen glauben, erscheint mir allerdings sehr unwahrscheinlich. Wir befinden uns hier immerhin in einer Straße, die im Rahmen der Transformation der Stadt angelegt wurde, die- wie andere Straßen dieser Zeit auch- Objekt groß angelegter Immobilien-Spekulation war, was aufgrund höherer Mieten eine Vertreibung der ärmeren Schichten zur Folge hatte.

Im kurzen Dokumentarfilm von Agnes Varda über Pariser Karyatiden aus dem Jahr 1984 zitiert die Autorin angesichts des Engels in der Rue de Turbigo die erste Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht  Reversibilité.

Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse,

La honte, les remords, les sanglots, les ennuis,

Et les vagues terreurs de ces affreuses nuits

Qui compriment le coeur comme un papier qu’on froisse?

Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse?

Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Qual,

Scham, Reue, Schluchzen, Ärger,

Und die vagen Schrecken dieser schrecklichen Nächte,

Die das Herz zusammenziehen wie ein zerknittertes Papier?

Engel voller Fröhlichkeit, kennst du die Angst?

Literatur:

Ich bin natürlich nicht der Einzige, der von dem großen Engel fasziniert ist. Deshalb möchte ich an dieser Stelle besonders einen Aufsatz von Rosemary Flannery nennen, der 2012 publiziert wurde und vom dem ich einige Anregungen erhielt:

Rosemary Flannery,  Der Engel der Rue Turbigo.  France Today Editors – October 16, 2012.  Abdruck aus: Rosemary Flannery, An Architectural Tour Through the History of Paris. The Little Bookroom 2012.

Weitere Quellen/Literatur zum Engel in der rue Turbigo:

Zur Geschichte und Bedeutung der Myrrhe: tps://www.satureja.com/i/die-myrrhe-ein-antikes-allheilmittel    

L’ange de la passementerie. Ouvrages de Dames. canalblog.com vom 19.4.2020  http://ouvragesdedames.canalblog.com/archives/2020/04/19/38210885.html

Oliver Gee, The enormous angel you’ve probably never noticed in Paris. https://theearfultower.com/2017/08/19/the-enormous-angel-youve-probably-never-noticed-in-paris/

Sheily Parisienne, L’Ange qui domine la rue de Turbigo, In: Paris, Maman & Moi, 8. August 2012

Agnès Varda, Les dites cariatides. 1984  https://www.cine-tamaris.fr/les-dites-cariatides/

La gigantesque cariatide de la rue de Turbigo, in: Un jour de plus à Paris; Découvertes, Histoire, Visites Guidées (https://www.unjourdeplusaparis.com/paris-insolite/cariatide-rue-de-turbigo)

Énigme architecturale : l’ange de Turbigo. 6 décembre 2017  https://un-flaneur-a-paris.com/