Das Centre Pompidou wird im September 2025 für fünf Jahre geschlossen: Grund sind umfangreiche Renovierungsarbeiten, vor allem die Beseitigung von Asbest. Die Schließung des 1977 eingeweihten Kulturzentrums mit seinem Museum für moderne Kunst und der großen Bibliothek ist ein großer Verlust für das kulturelle Leben der Stadt. Das scheint auch die Tricolore an der südwestlichen Ecke des Gebäudes auszudrücken.

Fotos: Wolf Jöckel 18.6.2025[1]
Dass das Centre Pompidou nach 48 Jahren seines Bestehens allerdings eine Renovierung gebrauchen kann, lässt sich schon mit bloßem Auge erkennen.

Seit Beginn des Jahres wurde das Centre Pompidou schon sukzessive geräumt und in Teilen geschlossen.

Andere kulturelle Einrichtungen, wie das Atelierhaus von Jean Arp und Sophie Taeuber in Meudon profitieren durch großzügige Ausleihungen von Kunstwerken davon. Jetzt aber noch einmal eine Ausstellung im Centre Pompidou, die letzte vor seiner Schließung.

Titelbild der Ausstellungsbroschüre
Die Ausstellung von Werken des Fotografen Wolfgang Tillmans findet in den fast vollständig leergeräumten Räumen der Bibliothek statt: Eine große Herausforderung.

Hier sind auf Tischen der Bibliothek Spiegel installiert: Die Deckenkonstruktion des Centro Pompidou wird damit gewissermaßen zum Ausstellungsobjekt:

Ich muss gestehen, dass ich den Namen Wolfgang Tillmans noch nie vorher gehört hatte- obwohl er immerhin von 2003 bis 2006 Professor an der Frankfurter Städelschule war und obwohl er, wie ich dann erfuhr, als erster Fotograf und Nichtengländer 2000 den renommierten Turner-Preis erhielt.

Wolfgang Tillmans im Januar 2025 in der noch nicht ausgeräumten Bibliothek des Centre Pompidou. © Centre Pompidou[2]
In die Ausstellung sind wir vor allem deshalb gegangen, weil ein ganzseitiger Bericht in Le Monde unser Interesse weckte[3] und weil ein Pariser Freud ganz begeistert von der Ausstellung berichtet hatte; außerdem eine gute Gelegenheit, vom Centre Pompidou, jedenfalls für die nächsten fünf Jahre, Abschied zu nehmen.

Tillmans erhielt vom Centre Pompidou carte blanche, ein besonderes Privileg: Er konnte also selbstständig Arbeiten für die Ausstellung auswählen und vor allem: Er konnte selbst darüber entscheiden, wie sie präsentiert werden sollten. Dazu richtete Tillmans sogar in seinem Berliner Atelier ein Modell der Pariser Bibliothek ein.

Tillmans hat nicht nur die alten Teppichböden der Bibliothek übernommen, sondern auch noch einzelne Tische, Sessel und Regale, die er für seine Ausstellung nutzt.



Titel der Ausstellung: Rien ne nous y préparait/Tout nous y préparait. Eine offizielle deutsche Version gibt es, auch wenn Tillmans Deutscher ist, nicht. In der deutschsprachigen Pressemitteilung des Centre Pompidou wird der englische Ausstellungstitel verwendet: Nothing could have prepared us- Everything could have prepared us.[4] Tillmans bezieht sich damit, wie er im Interview mit Le Monde darlegt, auf die Frage, wie es kommt und seit wann die Idee des Fortschritts aufgehört habe, große Teile unserer Gesellschaften anzuziehen. Es geht ihm damit um das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsradikaler Bewegungen. Der Titel lässt sich aber auch auf aktuelle weltpolitische Krisen und Kriege beziehen wie die in der Ukraine und im Nahen Osten. Tillmans präsentiert sich als politisch engagierter Fotograf. Aber natürlich kann man in der Ausstellung, so breit und vielfältig sie auch ist, höchstens Anregungen zum Nachdenken, aber keine Antworten erwarten.

Immer wieder wird in den Ausstellungsberichten die auffallende Vielfalt des visuellen Universums Tillmans‘ hervorgehoben, das sich einer genauen Identifizierung entziehe. „Tillmans dekonstruiert die disziplinäre Logik der Geschichte der Fotografie. Körper von Jungen, Portraits von Stars, Zigarettenkippen, sonnige Früchte, Orangenschalen, halbierte Kiwis, befleckte T-Shirts, hängende Drapierungen, Meeresufer, abstürzende Flugzeuge, wütende Demonstranten, abstrakte Bilder etc: Das Spektrum von Tillmans‘ fotografischer Produktion ist inhaltlich und formal extrem breit und entzieht sich jeder Klassifizierung.“[5]


Geldwechsel, Bahnhof Zoo 1990



Frank in the shower 2015

Aus der Ratten-Serie von 1995: Rats coming out
Sehr eindrucksvoll ist das nachfolgend abgebildete Foto: Ein bewegtes Meer, ganz weit hinten der Horizont, aber darüber nur ein schmales Band Himmel.

The State We’re In, A, 2015/L’état dans lequel nous nous trouvons, A. Dieser Titel passte für die Welt im Jahr 2015 und noch viel mehr heute, 10 Jahre später…

New Years Note, 1923: Drei Reihen von Jahreszahlen zum Nachdenken…

Engagement für das vereinte Europa: In 22 Sprachen….


Memorial for the Victims of Organized Religions II, 2024
Diese Würdigung der Opfer eines religiösen Fanatismus und Fundamentalismus stellte Tillmans zuerst 2006 in Washington D.C. aus. Seitdem hat sie nichts an Aktualität eingebüßt- im Gegenteil: Gerade in Paris, das mehrfach Schauplatz islamistischen Terrors war, ist das besonders deutlich, und aktuell werden ja religiöse Argumente/Verweise auf die Bibel herangezogen, um den unerbittlichen Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung Gazas zu rechtfertigen.
Bei näherem Hinsehen kann man übrigens feststellen, dass die Tafeln farblich und strukturell unterschiedlich gestaltet sind. Tillmans will damit den „Absolutheitsanspruch vieler organisierter Religionen“ symbolisch infrage stellen. [6]

Moon in earthlight 2015
Für Tillmans spielt neben der Fotografie auch die Musik eine große Rolle. Das zeigen etwa eine seit 1984 entstandene Reihe von Musikerportraits und seine Nachtklub-Bilder der 1990-er Jahre. Aber er ist nicht nur Fotograf, sondern auch Komponist. Seit zehn Jahren hat er mehrere Alben veröffentlicht, 2022 Moon in earthlight. In der Ausstellung werden auch mit seiner Musik unterlegte Videos von Tillmans gezeigt.

Die anstehende Renovierung des Centre Pompidou wird die zunächst höchst umstrittene Struktur des Gebäudes mit seinen offen liegenden Tragwerksteilen und den Rohren für Gebäudetechnik und Erschließung achten und bewahren; auch die von blau (Klimaanlage), weiß (Tragwerk und Belüftungsrohre) und rot (Treppen) dominierte charakteristische Farbigkeit.


Auch der Invader wird sich dann sicherlich wieder einfinden…

Die lange Schließung soll auch genutzt werden, um das Innere des Gebäudes zu modernisieren und nutzerfreundlicher zu machen.[7]

Modell des geplanten neuen Foyers im Erdgeschoss. © Moreau Kusunoki en association avec Frida Escobedo Studio[8]
Während der Staat die Mittel für die Asbestentfernung aufbringt, muss das Centre Pompidou die Kosten der Modernisierung seiner Innenausstattung selbst aufbringen. Das scheint noch nicht in vollem Umfang gesichert.

In jedem Fall aber wird man ab 2030 wieder den schönen Blick auf den Strawinsky-Platz mit dem Brunnen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely genießen können.

Und dann werden auch wieder die spektakulären Blicke über die Stadt möglich sein.


Das Geschäftsviertel La Défense im Abendlicht

Nächtlicher Blick auf ein Lüftungsrohr auf der place George-Pompidou vor dem Centre Pompidou
[1] Alle Fotos des Beitrags, wenn nicht anders angegeben, von Wolf Jöckel
[2] Siehe Le Monde 17. Juni 2025 und DIE ZEIT 26/2025: Was man kurz vor dem Ende sieht.
[3] Claire Guillot, La bibliothèque personelle de Wolfgang Tillmans. Le photographe a, de façon inédite, installé ses œuvres visuelles et sonores au niveau 2 du Centra Pompidou avant sa fermeture. Le Monde 17. Juni 2025, S. 24
[4] https://www.centrepompidou.fr/en/program/calendar/event/nSlcbMZ
[5] https://www.lesinrocks.com/art/wolfgang-tillmans-au-centre-pompidou-a-quoi-faut-il-sattendre-665820-09-06-2025/
[6] Ausstellungsbroschüre zu Nr. 28
[7] Jo7éphine Bindé, À quoi ressemblera le Centre Pompidou en 2030 ? Après les critiques, l’ambitieux projet architectural dévoilé. https://www.beauxarts.com/grand-format/a-quoi-ressemblera-le-centre-pompidou-en-2030-apres-les-critiques-lambitieux-projet-architectural-devoile/
24 juin 2024
[8] Projet de rénovation du Centre Pompidou pour 2030. Vue d’artiste du pôle Nouvelle génération, 2024

In 15 Metro- und RER-Stationen zeigt die Pariser Verkehrsgesellschaft RATP während der Ausstellung Fotografien von Wolfgang Tillmans. Ein schöne Alternative zur üblichen Werbung….


„Nichts hat uns darauf vorbereitet / Alles hat uns darauf vorbereitet – Tillmans bezieht sich damit (…) auf die Frage, wie es kommt und seit wann die Idee des Fortschritts aufgehört habe, große Teile unserer Gesellschaften anzuziehen. Es geht also [Hervorhebung von mir) um das Erstarken rechtspopulistischer und rechts-radikaler Bewegungen.“
Lieber Herr Wolf, beim besten Willen, das verstehe ich nicht. Welche Idee des Fortschritts ist gemeint? Die Ideen, was Fortschritt bedeutet, sind vielfältig. Was für den einen „Fortschritt“ ist für den anderen das Gegenteil. Wenn nicht klar ist, welche Idee des Fortschritts gemeint ist, erschließt sich für mich auch nicht der Zusammenhang mit dem Erstarken rechtspopulistischer und rechts-radikaler Bewegungen. Und im Kontext mit den beschrieben und gezeigten Bilder wird mir dieser Zusammenhang auch nicht klar. Auch kann ich zwischen den Bildern keinen inneren Zusammenhang oder eine übergeordnete „Idee“ entdecken. So bleibe ich – nicht ausgestattet mit der nötigen Sensibilität und Phantasie – draußen vor der Tür.
Und nun zum Centre Pompidou selbst. Allein die Asbestsanierung kostete beim „Palast der Republik“ ca. 30-35% der Summe für einen Neubau. Hinzu kommen Verbesserung der Energieeffizienz, der Barrierefreiheit, die Erneuerung der Klimatechnik, der Korrosionsschutz insbesondere bei außen liegender Trag- und Versorgungsstruktur usw. Nicht gerechnet der Innenausbau. Das wird dauern und kosten. Hier gilt in Abwandlung des Ausstellungsmotto: Alles hat darauf hingedeutet/Alles hat man vor sich hingeschoben. Ulrich Schläger
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Lieber Herr Schläger, Tillmans hat in dem Interview mit Le Monde, auf das ich mich beziehe, in der Tat nicht erläutert, welche Art von Fortschritt er meint und welchen Zusammenhang mit dem Erstarken des Rechtspopulismus er sieht. Ich denke, dass er einen -national wie international- auf zunehmende soziale Gleichheit zielenden Fortschrittsbegriff vertritt – während in vielen Ländern und vor allem weltweit ja auch durchaus gegenläufige Tendenzen zu beobachten sind. (siehe z.B. die Arbeiten von Pickety). Und da gibt es durchaus einen Zusammenhang mit dem Rechtspopulismus: Siehe die America-First Politik Trumps und seine radikalen Kürzungen bei USAID. Man könnte sicherlich die Ausstellung unter diesem Blickwinkel betrachten und die Bildauswahl
eines Berichts darauf konzentrieren. Das habe ich in der Tat nicht gemacht habe, um etwas von der Spannweite der Arbeiten Tillmans zu zeigen. Mit besten Grüßen Wolf Jöckel
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Die Einkommensverteilung zeigt, dass die ökonomischen Ungleichheit in den westlichen Industrie-nationen zugenommen hat. Das hat interessanterweise nicht zur Stärkung der SPD geführt. Die sozialdemokratische Wählerschaft umfasst heute vor allem die Kohorte der Akademiker an Stelle der früheren Arbeiterschichten, was zu einem Stimmenverlust bei den Wahlen geführt hat und durch den demütigender Repräsentationsverlust der Arbeiterschichten, auch zu einer Anfälligkeit gegenüber Popolisten und Parteien der Rechten geführt hat. Die klassischen sozialdemokratischen Parteien sind tendenziell auf dem Rückzug (sofern sie sich nicht einem pragmatisch rechten Kurs anpassen wie in Dänemark oder Schweden) und die rechtspopulistischen Kräfte sind im Hoch. „Liegt es daran, dass rechte Themen wie die Migration oder der clash of civilizations dominanter werden, oder haben sich die Linksparteien verändert? Gibt es unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung überhaupt einen plausiblen Gesellschaftsentwurf von linker Seite, oder wird die Sozialdemokratie auf lange Sicht in der Defensive bleiben? Ist der partizipativer Sozialismus (den Terminus Sozialdemokratie hält Piketty nach den Irrungen der 1990er-Jahre für zu beschädigt, als dass er ihn benutzen wollte) die Lösung? Sein Konzept ruht neben den dargelegten Vorschlägen zur Bildungspolitik auf drei Säulen:
Alle drei Rezepte sind im 20. Jahrhundert bereits extensiv erprobt worden. Worauf es ankommt, ist, sie in der richtigen Dosis einzusetzen.“ (Daniel Binswanger, 12.10.2019; https://www.republik.ch/2019/10/12/ungleichheit-ist-kein-naturgesetz) Im Übrigen ist Pikettys Analyse, soweit ich das als Nicht-Wirtschaftswissenschafter verstanden habe, nicht unumstritten.
Und was Trumps America first anbetrifft, so ist das für mich mehr Ausdruck eines nationalistischen Egoismus, Isolationismus und eine Verkennung globaler Abhängigkeiten. Also alles zusammengenommen ist die Sachlage viel komplexer. Wir werden das hier nicht ergründen können. Genauso wenig wird ein Arbeiter mit durchschnittlichem Bildungsgrad Herr Wolfgang Tillmanns‘ Ausstellung verstehen, was ja eigentlich schade ist.
Ulrich Schläger
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Lieber Wolf, danke für die kurze Retrospektive. Tja, nichts hält ewig. Aber in der Architektur können Gebäude wieder „auferstehen“, oft besser und langlebiger als zuvor. Diese Hoffnung habe ich für das Centre Pompidou auch.🙂
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