Sonia Branca-Rosoff kenne ich seit mehreren Jahren. Wir haben einiges gemeinsam: So ist sie Mitglied des gleichen Pariser Chors, und auch sie unterhält, seitdem sie (als Linguistik-Professorin an der Sorbonne) in Ruhestand gegangen ist, einen sehr empfehlenswerten Blog mit persönlich gefärbten, sehr sachkundigen und anregenden Beiträgen: https://passagedutemps.com/
Dazu gehört auch ihr Bericht über die Ausstellung George de La Tour. Entre ombre et lumière, die derzeit im Pariser Musée Jacquemard-André zu sehen ist.
Ich freue mich deshalb, ihren Beitrag -ins Deutsche übersetzt- in diesen Blog aufzunehmen.
Wolf Jöckel
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Auch wenn Kunsthistoriker Malraux (den französischen Kultusminister zu Zeiten des Generals de Gaulle, W.J.) kritisieren mögen, war er doch ein großartiger „Betrachter”. Auf jeden Fall hat er mir in seinem Buch Les Voies du silence beigebracht, den Maler nächtlicher Bilder zu lieben, als sich noch kaum jemand für ihn interessierte.
Gorges de La Tour ist auch für seine hellen Bilder bekannt. Es sind Szenen der Täuschung, in denen die Schönheit der Körper, die unschuldigen Gesichter und die kostbaren Gewänder nur dazu dienen zu täuschen. Keine krampfhaften Bewegungen wie bei Caravaggio, sondern eingefrorene Gesten und spähende Blicke… doch Hände bereiten sich darauf vor, eine Geldbörse zu stehlen, eine Goldkette durchzuschneiden, Gewinnkarten zu verstecken. Auch unsere Blicke werden zu Voyeuren, zu Komplizen von Dieben und Betrügern. Aber diese Bilder sind in der Ausstellung nicht zu sehen. So auch nicht das nachfolgend abgebildete: Le Tricheur à l’as de carreau (Der Betrüger mit dem Karo-Ass) aus dem Louvre.
Die Ausstellung beginnt mit Porträts armer Menschen, die er zu Beginn seiner Karriere gemalt hat. Hätte er nur die Apostel von Albi, die Vielleurs oder die vom Hunger geplagten Erbsenesser (1620) dargestellt, wäre er Velasquez oder Louis Le Nain, ein Maler der Würde der Demütigen, und das wäre schon sehr schön.

Le Vielleur au chien, vers 1620. (Der Drehleierspieler mit seinem Hund). Musée du Mont-de-Piété de Bergues
So ist sein blinder Musiker weder erbärmlich noch grotesk, und der kleine Hund mit den flehenden Augen, der ihn führt, weckt nur noch mehr Sympathie.

Aber La Tour ist bereits der Maler des Dialogs zwischen Licht und Schatten. Und das schon sehr früh, denn „Die Frau mit dem Floh“ stammt aus dem Jahr 1632: Eine Frau, die sich entkleidet hat, um sich zu entlausen, taucht aus der Dunkelheit auf, halb beleuchtet von einer Kerze. Kein Dekor, außer einem roten Stuhl, kein Hintergrund.

La Tour hat zweifellos seine Themen und dunklen Hintergründe von Caravaggio übernommen, lehnt jedoch bereits die Farbenpracht und die Gestik der Figuren ab.
Ein Kind, ein Engel, Jesus
Die unvergesslichen Gemälde sind jedoch diejenigen, in denen der Wechsel zwischen Licht und Schatten mit der Darstellung des Unsichtbaren verschmilzt.
Das berühmteste Gemälde ist das mit dem Titel „Das Neugeborene“: Zwei Frauen schweigen, vereint in der Betrachtung des Neugeborenen. Einige Teile ihres Körpers heben sich dank des Lichts der Kerze ab, die von der Hand der älteren Frau verdeckt wird: Der Blick der Älteren ruht auf der jungen Frau. „Ist sie es, meine Tochter, die Mutter geworden ist?“ Die Augenlider der jüngeren Frau senken sich über ihr Kind. Ihre Formen sind schematisch dargestellt: die Rundungen der Schultern, der Brust, des Gesichts; der Winkel des Ellbogens und der Nase, das Dreieck des bestickten Saums des Hemdes. Die Farben sind auf jeder Ebene gleichmäßig verteilt. Rot umhüllt den Körper, und das Baby ruht auf dem pyramidenförmigen Hintergrund dieses vereinfachten, homogenen Rots.

Quignard schreibt: „Man weiß nicht, ob es ein Kind oder Jesus ist. Oder besser gesagt: Jedes Kind ist Jesus. Jede Frau, die sich über ihr Neugeborenes beugt, ist Maria, die über einen Sohn wacht, der sterben wird“ (1991, S. 48). Nichts trennt die heilige Welt von der profanen Welt.
La Tour hat mehrere Magdalena-Gemälde geschaffen. Die Magdalena/Madeleine, die in der Ausstellung präsentiert wird, sitzt allein mitten in der Nacht in einer Zelle. Ein Nachtlicht beleuchtet einige fromme Bücher und einen Schädel. Die Büßerin hat noch das glatte Gesicht und die langen, dunklen Haare der Jugend, und doch steht sie außerhalb der Zeit des Lebens. Sie bewegt sich nicht. Sie starrt auf die Flamme und wartet nur auf die Erlösung. Der Schädel erinnert an den Tod am Ende des irdischen Lebens, aber alles ist ruhig in diesem Bild, das dazu einlädt, sich aus der Welt zurückzuziehen, um nur das Unsichtbare zu betrachten.

Trösterin oder grausame Spötterin?
Das Gemälde, das mir am besten gefällt, ist eine Szene, die durch das Missverhältnis zwischen einer riesigen Frau und einem alten Mann an Traum- oder Alptraumszenen erinnert.
Die Frau beugt sich zu einem verzweifelten Mann hinunter. Sie ist so groß, dass sie nicht in das Bild passt und sich vorbeugen muss, um nicht aus dem Rahmen der Komposition herauszutreten. Ihr weites, unter den Brüsten eng anliegendes Kleid betont ihre Formen noch zusätzlich. Ist sie eine Trösterin oder die Frau Hiobs, die ihren vom Unglück gebeutelten Mann zum Fluchen auffordert? Im Museum ist der Titel eindeutig. Es handelt sich um Hiob, der von seiner Frau verspottet wird; auf dem Boden sieht man übrigens die Scherbe, mit der der magere und fast nackte Hiob seine Geschwüre kratzt.

In Epinal hieß das Gemälde „Der Gefangene“, und unter diesem Titel beschrieb René Char während des Krieges diesen roten Engel mit dem bauschigen Gewand, der eine Metapher für die Poesie ist.
„Die Worte, die aus dieser irdischen Gestalt eines roten Engels fallen, sind wesentliche Worte, Worte, die sofort Hilfe bringen. (…) Das bauschige Gewand füllt plötzlich den ganzen Kerker aus. Das Wort der Frau bringt das Unerwartete besser zur Welt als jede Morgendämmerung.“ (Anerkennung für Georges de la Tour, der die Finsternis Hitlers mit einem Dialog zwischen Menschen bezwang. Feuillets d’Hypnos, um 1944, S. 76-77)
Pascal Quignard hingegen schwankt zwischen der bedrohlichen Frau Hiobs und der monumentalen Gestalt der Philosophie, die dem inhaftierten Boethius zu Hilfe kam (1991, S. 58). Während der Herrschaft Theoderichs, um 524, wurde der Philosoph Boethius, Übersetzer von Aristoteles und Platon und Meister der Senatsämter, beschuldigt, ein Bündnis mit Byzanz anzustreben. Der Kaiser ließ ihn ins Gefängnis werfen und foltern. Als er vom Unglück niedergeschlagen war und in seiner Zelle auf den Tod wartete, erschien ihm die Philosophie, um ihn zu trösten. Sie hatte eine majestätische Statur und beugte sich zu ihm hinunter. Er kauerte auf seinem Hocker, blickte zu ihr auf und gestärkt durch die Kraft ihrer Weisheit, die von überragender Schönheit strahlte, schrieb er „Der Trost“, einen der bedeutendsten Texte des Mittelalters.
Es ist seltsam, welche Macht ein Gemälde auf uns ausüben kann. La Tour hat als Magier des Lichts* ein Bild geschaffen, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: der verlassene Mensch, der Angst und Schrecken ausgesetzt ist; die Poesie oder Philosophie, die Hilfe bringen und die Dunkelheit besiegen.
* Im französischen Original findet sich hier der Ausdruck grand imagier. Da ich das Wort imagier nicht kannte, habe ich nachgeschlagen und als Übersetzung Bilderbuch (für Kinder) gefunden. Das passt offensichtlich nicht. Ich hatte darauf die Idee, imagier als eine schöne Wortschöpfung anzusehen, zusammengezogen aus image (Bild) und magicien (Zauberer, Magier) und daraus dann den Magier des Lichts gemacht. Sicherheitshalber bei der Autorin nachgefragt erhielt ich die Auskunft, dass das Wort imagier im Mittelalter einen Bildhauer oder Maler bezeichnete. Sie habe mit dem grand imagier zum Ausdruck bringen wollen, dass das besprochene Bild wie etwa auch „Die Freiheit führt das Volk” von Delacroix Ikonen sind, die die Menschen im Kopf haben. Nicht alle Künstler seien in der Lage, Bilder von einer solchen Kraft zu schaffen. Da Sonia Branca-Rosoff meine Interpretation von imagier aber sehr schön fand, habe ich den Magier des Lichts beibehalten.
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Die Besuchsbedingungen im musé Jacquemard-André sind mittelmäßig. Die acht Räume sind zu klein für die Menschenmassen, die sich vor den Gemälden drängen. Sie ermöglichen keinen Abstand zu den größten Werken. Dennoch sind wir hier. Wenn man kleinlich sein wollte, könnte man sich fragen, warum der Louvre nicht „Der Betrüger” oder „Die Anbetung der Hirten” ausgeliehen hat… Aber um nichts in der Welt würden wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen, 23 Gemälde eines der seltensten Maler zu sehen. Die zusätzlich ausgestellten Gemälde von Zeitgenossen ermöglichen es Liebhabern vielleicht, den Einfluss Italiens (eine ohnmächtige Magdalena von Finson, ein Heiliger Petrus von Saraceni…) und den Einfluss des Nordens (wunderschöne Stiche von Callot und Bellange) in dem Wunder zu erkennen, das die meditative Einfachheit des Meisters des Hell-Dunkel für den Betrachter darstellt.
Praktische Informationen
Dauer der Ausstellung bis 25. Januar 2026
Musée Jacquemart-André, 158 boulevard Haussmann 75008 Paris
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Metro Linien 9 und 13, Stationen Saint-Augustin, Miromesnil oder Saint-Philippe du Roule
Öffnungszeiten Montag bis Donnerstag 10-18 h; Freitag bis 22h, Samstag und Sonntag bis 19 h
Ticket-Reservierung: https://www.musee-jacquemart-andre.com/fr/tickets/68418c5d3d96ad850fa9ebe8
Literatur
CHAR René, Feuillet d’Hypnos, Paris Gallimard.1946.
VANPETEGHEM E. (éd. et trad.), BOÈCE, La Consolation de Philosophie, Paris, 2008.
MALRAUX André, Les Voies du silence Paris, Gallimard, 1951.
QUIGNARD Pascal, La Nuit et le Silence : Georges de la Tour, Flohic, 1991.
Anmerkung zum Museum (von Wolf Jöckel):
Das Musée Jacquemart-André befindet sich in einem denkmalgeschützten feudalen Stadtpalais (hôtel particulier) aus dem Jahr 1875, einem der glanzvollsten von Paris (Le Monde). Es wurde von dem Bankier und Politiker Édouard André (* 1833; † 1894) und seiner Frau Nélie Jacquemart (1841-1912) errichtet, um die von ihnen seit den 1860-er Jahren gesammelten Kunstwerke aufzunehmen. (André war übrigens zusammen mit den Rothschilds wesentlich daran beteiligt, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 im Vertrag von Frankfurt auferlegte gewaltige Reparationssumme von 5 Mrd. Francs aufzubringen.) Die Sammlung Jacquemart-André reicht von Meisterwerken der italienischen Renaissance und des niederländischen „goldenen Zeitalters“ bis zu französischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts. Ausgesuchte Gäste konnten anlässlich von Bällen, Empfängen oder Galadiners die Kunstwerke sehen und bewundern. In ihrem Testament verfügte Nélie Jacquemart, dass die Sammlung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Sie vermachte 1912 das Stadtpalais und ihren Sommersitz, die königliche Abtei von Chaalis, dem Institut de France, das beide Häuser bis heute als Museen betreibt.

Lieber Herr Jöckel,
in Ergänzung zu dem wunderbaren Beitrag von Madame Sonia Branca-Rosoff empfehle ich das TV-Video auf Arte: https://www.arte.tv/de/videos/123972-000-A/georges-de-la-tour-menschen-in-licht-und-schatten/
Herzlichen Gruß und Dank an Madame Sonia Branca-Rosoff
Ulrich Schläger
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Lieber Herr Jöckel,
in Ergänzung zu dem wunderbaren Beitrag von Madame Sonia Branca-Rosoff emfehle ich das TV-Video auf Arte: https://www.arte.tv/de/videos/123972-000-A/georges-de-la-tour-menschen-in-licht-und-schatten/
Herzlichen Gruß und Dank an Madame Sonia Branca-Rosoff
Ulrich Schläger
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Cher Wolf
Je mets ces quelques mots en français, mon allemand étant quasi inexistant. Comment te remercier. De ton initiative bien sûr, mais aussi du soin que tu as pris pour traduire (y compris ta note concernant « imagier » qui donne envie de tirer le mot dans ta direction… C’est un bel effet de la traduction que de donner à rêver à une interlangue renouvelée.) Bon séjour en Allemagne puisque tu seras absent quelques temps de Paris.
A bientôt et plein d’amitiés
Sonia
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Wunderbar ! Dieser Text spornt mich erst recht an, in diese Ausstellung zu gehen ! Die Autorin ist eine wahre Text-Imagière (um die Worterklärung aufzunehmen). DANKE !
Kathrin Rousseau
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