Das Musée de Cluny in Paris: Das Preziosen-Kabinett des Mittelalters

Seit 2013 wurde das Musée de Cluny, offiziell:  Musée national du Moyen Âge aufwändig renoviert, ein neuer Eingangsbereich gebaut und ein neuer Parcours eingerichtet. Nachdem das Museum zuletzt fast zwei Jahre lang nicht mehr zugänglich war, wurde es im Mai 2022 wieder geöffnet und präsentiert sich nun stolz als eine moderne Präsentation des Mittelalters: Le Moyen Âge. Nouvelle Génération.

Auf den Werbeplakaten, die zur Neueröffnung überall in Paris zu sehen waren, sind die Stars des Museums mit modernen Accessoires zu sehen: ein Ritter mit Rockgitarre, ein Prediger als DJ, Nonnen mit Sonnenbrillen; eine halb nackte Skulptur schlürft am Grill einen Smoothie.  Mittelalter goes Neuzeit.[1] Dazu passt auch der architektonische Hintergrund: Hinten links im Bild der mittelalterliche Ehrenhof, rechts der neue Eingangsbereich.  Die Dame mit dem Einhorn, „diese Mona Lisa des Mittelalters“, darf natürlich nicht fehlen.[2]


Ich könnte mir vorstellen, dass manche von denen, die von diesen Plakaten angelockt werden, nicht auf ihre Kosten kommen. Vielleicht und wahrscheinlicher aber werden sie von der Kostbarkeit und Vielfalt der Ausstellungsstücke und dem grandiosen Ambiente, in dem sie  präsentiert werden, überwältigt.  Denn das Musée Cluny ist eine Abfolge von Preziosen-Kabinetten mit den berühmten Teppichen der „Dame mit dem Einhorn“ als Höhepunkt. Und all das in einem einzigartigen, grandiosen Bau aus Antike und Mittelalter.

Der erste Eindruck, den dieses wunderbare Museum vom Mittelalter vermittelt: Das war offenbar eine Zeit, in der grandiose Kunstwerke aus Marmor, Gold, Silber, Elfenbein, Edelsteinen und leuchtendem Glas entstanden. Worüber man eher weniger erfährt: Das sind die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen, in deren Rahmen sich diese Kunst entfaltete – Entwicklungen übrigens, zu deren Kenntnis gerade die französische Geschichtswissenschaft erheblich beigetragen hat. Hubert Spiegel rühmt allerdings in der FAZ die „Fähigkeit der Kuratoren, komplexe Vorgänge in wenigen Worten zu umreißen. So werden vielfältige Bezüge sichtbar, Handelsverbindungen, kultureller Austausch, die verschlungenen Wege von Stilen und Moden durch ein Europa, das Latein sprach, aber Einflüsse aus Byzanz oder der arabischen Welt begierig aufnahm. Kriege, Seuchen und Hungersnöte bestimmten das Alltagsleben der Menschen und beförderten oft die Hinwendung zu Reliquienkult und Heiligenverehrung.“[3] „Seuchen und Hungersnöte“ werden in dem Museum aber nicht thematisiert, Kriege nur am Rande.  Das ist vielleicht auch zu viel verlangt von einem Museum, das über einen reichen Bestand von 24 000 Kunstwerken verfügt und mit der Präsentation einer kleinen Auswahl davon -1 600- schon hinreichend ausgelastet ist. Und auch wenn es um den Alltag im Mittelalter geht, dienen kostbare Ausstellungsstücke als Illustration: Kämme und Messer sind mit Elfenbein verziert, und von einem Bad, wie es auf diesem Wandteppich dargestellt ist, konnten damals -und können heute-  die Menschen- mit ganz wenigen Ausnahmen- nur träumen….

Für mich ist das „Museum des Mittalters“ eher ein grandioses „Museum mittelalterlicher Kunst“, das sich den Marketing-Gag der Eröffnungsphase hätte sparen können. Den hat es nämlich wirklich nicht nötig: Der einzigartige Bau mit seinen imposanten Anfängen in der Antike, mit seinem spätgotischen Kern und den einfühlsamen modernen Ergänzungen und dann vor allem die Fülle und Schönheit der dort präsentierten Kunstwerke sprechen für sich.

Das Frigidarium der spätrömischen Thermen ist Teil des Museums

Hier treffen römisches und mittelalterliches Mauerwerk aufeinander

Die Benediktiner von Cluny hatten wie andere Orden auch 1269 in Paris, auf dem Gelände der heutigen place de la Sorbonne, ein Kolleg für die jungen Mönche des Ordens gegründet, die an der Pariser Universität studierten. Die Abtei von Cluny  war als Ausgangspunkt bedeutender Klosterreformen eines der einflussreichsten religiösen Zentren des Mittelalters. Ihre Kirche war zeitweise das größte Gotteshaus des Christentums. Im 14. Jahrhundert beschlossen die mächtigen Herren der Abtei von Cluny, dass es höchste Zeit sei, für eine angemessene Unterkunft in Paris zu sorgen. Reichtum und Einfluss der Äbte von Cluny waren zunehmend bedroht, und man legte Wert darauf, am Königshof präsent zu sein. So kaufte man ein Areal südlich der Seine mit den Resten einer römischen Bäderanlage und errichtete dort ein herrschaftliches Stadtpalais (hôtel particulier).

Es handelt sich um eines der ersten entsprechenden Bauwerke von Paris, die mit der typischen Abfolge von Hof, Wohngebäude und Garten die noble Architektur der Stadt bis zur Französischen Revolution prägten. Hinter der Umfassungsmauer mit den burgartigen Zinnen, Ausdruck des aristokratischen Anspruchs der Anlage bzw,. ihrer Erbauer befindet sich der Ehrenhof (cour d’honneur), heute ein wunderbarer Ort für das Museumscafé.  Aus der Fassade des Wohntrakts ragt ein fünfeckiger Turm heraus (« hors d’œuvre »), in dem eine große Wendeltreppe die wesentlichen Räume des Stadtpalais zugänglich macht.

 Auch dies ist ein aristokratisches Element, wie man es ja auch von dem Tour Jean-sans-Peur, einem Überrest des aus dem Beginn des 15. Jahrhunderts stammenden mächtigen Hôtel de Bourgogne in Paris her kennt. (In späteren Anlagen wurde dann die Treppenanlage meistens zu einem repräsentativen Architekturelement erweitert und in das Gebäude integriert).  

Auf der Außenwand des Turms ist nicht nur eine schöne Sonnenuhr angebracht, sondern vor allem wird hier das Familienwappen des Bauherrn, Jacques d’Amboise, präsentiert: Ein Pilgerstab mit Jacobsmuscheln und dazu die Devise ‚Initium sapiencie timor domini‘: Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit und  ‚Servas mandata tua‘.[4] Jacques d’Amboise war 1485 Abt von Cluny geworden und hatte sofort mit dem Bau des Pariser Stadtpalais begonnen. Sein Familienwappen ist dort überall präsent, zum Beispiel auch auf den Ziergiebeln über den Fenstern.

Glanzvoller Höhepunkt des Baus ist die im spätgotischen Flamboyant-Stil gehaltene Kapelle mit dem kunstvoll verzweigten Gewölbe und dem an Flammen erinnernden Maßwerk zwischen den Gewölberippen.

Unter den Baldachinen entlang der Wände standen einst Statuen von Familienmitgliedern des Bauherrn, die allerdings der Französischen Revolution zum Opfer gefallen sind. Damit ist auch das Thema des Verlusts angesprochen: die teils offensichtliche, teils subkutane Spur der Zerstörung, die sich durch dieses grandiose Museum mit seinen exquisiten Exponaten zieht.

Das wird gleich am Anfang des Rundgangs deutlich: Im Frigidarium sind nämlich Fragmente  von Statuen der Kathedrale Notre Dame de Paris ausgestellt, zum Beispiel 12 kopflose Apostel vom Südportal der Kathedrale.

Köpfe gibt es aber auch zu sehen: Zwar nicht von den Aposteln, aber von der Königsgalerie der Westfassade. 

Auch die war den Revolutionären ein Dorn im Auge: Zweifellos handelte es sich -passend zu einer „Notre Dame“ geweihten Kathedrale-  um die Könige von Juda, die als die Vorfahren von Maria angesehen wurden. Aber gleichzeitig wurde mit der Königsgalerie der Anspruch der französischen Könige auf Heiligkeit untermauert.  Sie führten sich auf die biblische Ahnenreihe zurück und allmählich vermischten sich diese Zuschreibungen der Königsstatuen.  Grund genug für die Revolutionäre, sie 1793 zu zerschlagen und als Baumaterial zu verkaufen. So verschwanden sie im wahrsten Sinne des Wortes in der Versenkung. Noch 1974 beklagte der französische Kunsthistoriker und Notre-Dame-Spezialist Erlande-Brandenbourg den unschätzbaren Verlust der Statuen. Aber 1977 kamen 21 Königsköpfe  bei Ausschachtungsarbeiten für einen Bankneubau in der Chaussée d’Antin zufällig ans Tageslicht- eine der wichtigsten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Immerhin ist die Königsgalerie von Notre Dame de Paris die älteste ihrer Art und diente als Vorbild für die Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens. Von den 28 ursprünglichen Statuen sind die 21 wiederaufgefundenen -und zum Teil übel zugerichteten- Köpfe im Frigidarium ausgestellt.

Man kann sie nun -anders als die Menschen des Mittelalters- aus nächster Nähe betrachten und die für Zeitgenossen nicht erkennbare Feinheit der Steinmetzkunst bewundern. Und man kann auch noch Reste der ursprünglichen Bemalung erkennen: Rot für die Lippen, rosa für die Backen, blau-grau für die Haare und den Bart, schwarz oder grün für die Pupillen…

Etwas sorgefältiger und gezielter sind die Revolutionäre bei dieser Grabplatte eines Bischofs aus  dem Collège de Cluny vorgegangen, wo fein säuberlich die christlichen Symbole herausgeschnitten wurden.

Die Hakenkreuze auf dem Gewand allerdings haben sie nicht entfernt. Wenn sie gewusst hätten…

Dieser leicht lädierte Kopf eines lächelnden Engels stammt aus der Kirche Saint-Louis-de Poissy.

Dass auch diese Kirche im Verlauf und in Folge der Französischen Revolution völlig zerstört bzw. als Steinbuch verwendet wurde, wird im kurzen Begleittext übrigens nicht mitgeteilt. Man kann es fast verstehen…

Victor Hugo hat den zerstörerischen revolutionären Furor, dem nicht nur die Kathedrale Notre Dame de Paris, sondern weitere unermessliche Kunstschätze zum Opfer gefallen sind, heftig beklagt und angeprangert.[5] Umso bedeutsamer waren deshalb  die Anstrengungen zur Rettung und Bewahrung mittelalterlicher Kunst. Als während der Französischen Revolution zahlreiche historische Monumente – verhasste Symbole der Aristokratie und des Klerus – Vandalismus und Verfall ausgesetzt waren, setzte sich der Archäologe Alexandre Lenoir als Mitglied der Commission des Arts für die Bewahrung der bedeutenden Kunstwerke ein. Zahlreiche gerettete Kunstwerke wurden in das Hôtel des Nesle und das ehemalige Konvent der Petits Augustins, die als Depots dienten, verbracht. Lenoir wurde 1791 zu deren Leiter berufen. 1795 gelang es ihm schließlich, im Konvent der Petits Augustins das Musée des Antiquités et Monuments français (kurz: Musée des Monuments français) für das Publikum zu öffnen.[6] Dies war die Keimzelle des Musée Cluny. Dazu kam die umfangreiche Sammlung mittelalterlicher Kunst, die Alexandre Du Sommerard zusammengetragen und 1832 in einem Teil des hôtel Cluny installiert hatte. Nach seinem Tod erwarb der Staat die Sammlung, und gleichzeitig überließ die Stadt Paris dem Staat die Reste der römischen Thermen und die dort ausgestellten Kunstwerke. So konnte 1843 das Museum eröffnet werden, das seit 1980 den offiziellen Beinamen Musée national de Moyen Âge trägt.

Vielleicht hat der große Verlust mittelalterlicher Kunst in Frankreich dazu beigetragen, dass im Musée Cluny auch hervorragende Werke des europäischen und vor allem des deutschen Mittelalters präsentiert werden. In Deutschland ist ja das „Kirchenmobiliar weitgehend erhalten, wir aber hatten die Französische Revolution“, wie Damien Berné, Konservator des Museums, lakonisch feststellt.[7]

Aus Deutschland stammt zum Beispiel dieses Tuch aus Samt und Seide mit einer Abbildung einer Quadriga. Hergestellt wurde es im 8. Jahrhundert in Konstantinopel, gelangte dann aber bald nach Aachen. Der Legende nach handelt es sich um das Leichentuch Karls des Großen, was aber nicht verbürgt ist. Nach der beigefügten Informationstafel kam das Tuch 1895 in den Besitz des Museums. Es erscheint allerdings recht unwahrscheinlich, dass das damals zur preußischen Rheinprovinz gehörende Aachen diesen Schatz nach Frankreich verkauft hat. Ist das Tuch vielleicht Teil der Kriegsbeute der französischen Revolutionstruppen aus dem Jahr 1794?  Sie brachen ja nicht nur Säulen aus der Pfalzkapelle Karls des Großen heraus, von denen einige heute zum Dekor des Louvre gehören, sondern erbeuten auch den spätrömischen Proserpina-Sarkophag,  ein singuläres Prunkstück des Doms.  In ihm soll 814 Karl der Große bestattet worden sein.[8] Warum also nicht auch das (vermeintliche) Leichentuch Karls? Gerne wüsste man da mehr…

Das wohl bedeutendste Beispiel deutscher Kunst des Mittelalters im Musée Cluny ist sicherlich das sogenannte Baseler Antependium, auch Goldene Altartafel oder Goldene Tafel genannt.[9]

Es ist ein in Fulda oder Bamberg angefertigter Goldaltar, der zu den herausragenden Beispielen ottonischer Goldschmiedekunst gehört. Im Zentrum steht der segnende Christus, der in der linken Hand eine Weltkugel trägt mit dem Christus-Monogramm und den Buchstaben Alpha und Omega, dem ersten und letzten Buchstaben des klassischen griechischen Alphabets, die für Anfang und Ende stehen.

Fotos: Wolf Jöckel

Zu seinen Füßen sieht man klein die Stifterfiguren Heinrich und seine Frau Kunigunde: Zeichen der Unterwerfung unter Gott, aber auch der eigenen Erhöhung als Repräsentanten Gottes auf Erden.[10]

Umrahmt wird Christus von drei Erzengeln und ganz links dem von Heinrich II. besonders verehrten heiligen Benedikt von Nursia, dem Gründer des Benediktinerordens. Er ist mit Tonsur, Mönchskutte, Sandalen, Krummstab und Regelbuch als Abt gekennzeichnet. Die lateinische Inschrift besagt übersetzt: „Wer ist wie Gott ein starker Arzt, ein gesegneter Heiland – Sorge, milder Mittler für die menschlichen Wesen.“ Kaiser Heinrich II. schenkte 1019 den Altaraufsatz dem Basler Münster, dessen Neubau in seiner Anwesenheit damals geweiht wurde. Im 16. Jahrhundert wurde das kostbare Stück aus Angst vor den Bilderstürnern versteckt und – in Vergessenheit geraten- erst 1827 wiederentdeckt. 1833 gelangte es in den Besitz des neugegründeten und finanziell klammen Kantons Basel-Landschaft, der es 1836 aufgrund seines Goldwertes versteigerte. Seit 1852 gehört es zum Bestand des Musée Cluny.[11]

Zwei weitere Beispiele der ganz unterschiedlichen aus Deutschland stammenden Ausstellungsstücke:

Ein Manuskript über Kampftechniken aus Augsburg (um 1480). Es ist unvollendet – die erläuternde Schrift fehlt.

Und hier eine entzückende Heilige Familie vom Anfang des 16. Jahrhunderts aus Schwaben:  Josef hätte ja gerne seine Ruhe, aber das kleine Jesuskind hat Spaß daran, ihn am Bart zu zupfen. Immerhin kann dann Maria mal ungestört ein Buch lesen. Eine Familienszene wie im richtigen Leben….

Diese kleine Skulptur ist ausgestellt in einem großen Saal (Nummer 21) mit  beeindruckendem kirchlichen Mobiliar. Dazu gehört auch ein Sessel aus der chapelle de la nation de Picardie im 5. Arrondissement von Paris. Auf dem Sitz lagen bei unserem Besuch im September 2022 getrocknete Zweige des Einjährigen Silberblatts (lunaria annua) mit den markanten Samenschötchen: sehr dekorativ und beziehungsreich. Denn das Einjährige Silberblatt hat sowohl im Deutschen wie im Französischen auch einen religiösen Bezug: Im Deutschen wird es auch Judaspfennig oder Judassilberling genannt, im Französischen heißt die Pflanze Monnaie du Pape: In Frankreich kann man sie also mit gutem Gewissen auf den Sessel eines kirchlichen Würdenträgers legen…    

Insgesamt ist Hubert Spiegel zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Schönheit vieler Objekte, die Vielfalt der Materialien und die Präzision ihrer künstlerischen Gestaltung sind oft schlichtweg atemberaubend.“

Zu den beeindruckend verarbeiteten Materialien gehört natürlich das Elfenbein.

Kleiner Elfenbein-Kästchen mit ritterlichen Kampfszenen. Paris, Anfang 15. Jahrhundert

Auch einige hervorragende Beispiele der im Mittelalter bedeutenden Emailkunst von Limoges sind in dem Museum ausgestellt.

Und dann gibt es wunderbar leuchtende Glasfenster. Beispielsweise ein großes Ensemble aus der noch vor der totalen Zerstörung geretteten Sainte Chapelle in Paris.

Die Auferstehung der Toten (um 1200)

Manche Glasfenster der Sainte Chapelle – und natürlich die mit der verhassten Bourbonen-Lilie- haben allerdings bei dem revolutionären Bildersturm einige Blessuren davongetragen.

Fotos: Wolf Jöckel

Rouen, Anfang 16. Jahrhundert, Ausschnitt.  Foto: Wolf Jöckel

Besonders eindrucksvoll sind bei dieser Darstellung von Rebhühnern die feine Zeichnung mit Hilfe der Grisaille-Technik, die Verwendung der intensiven, aus Eisenoxyd hergestellten roten Farbe und die echten leuchtenden Blumen, die im Prozess der Glasherstellung in das entstehende Bild integriert wurden.

Es gibt aber nicht nur Glasmalereien aus christlichen Zusammenhängen.

Foto: Wolf Jöckel

Dies ist ein sehr seltenes Exemplar eines nicht geistlichen Glasfensters mit höfischem Motiv.  Es ist um 1450 in Lyon entstanden und stammt aus einem hôtel particulier in Villefranche-sur-Saône. Der Mann hat offensichtlich gerade im Schachspiel die Spielfigur der Dame geschlagen, Zeichen seines Sieges. Die junge Frau bestätigt zwar mit erhobener rechter Hand ihre Niederlage, weist allerdings mit ihrem auf den Arm des Partners gelegten linken Hand seine Erwartungen zurück, nun auch die junge Dame zu erobern. Die Enttäuschung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Auch hier ist die Grisaille-Technik mit großer Meisterschaft angewandt.[12]

Fast am Ende des Rundgangs durch das Museums warten dann in dem großen, abgedunkelten Raum 20 die sechs Wandteppiche der „Dame mit dem Einhorn“, der mit einem Zitat aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke angekündigte Glanzpunkt des Museums.  

Hier der Beginn der entsprechenden wunderbaren Passage:

„Es gibt Teppiche hier, Wandteppiche. komm, lass uns langsam vorübergehen. Aber erst tritt zurück und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind, nicht? Es ist wenig Abwechslung darin. Da ist immer diese ovale blaue Insel, schwebend im zurückhaltend roten Grund, der blumig ist und von kleinen, mit sich beschäftigten Tieren bewohnt. Nur dort, im letzten Teppich, steigt die Insel ein wenig auf, als ob sie leichter geworden sei. Sie trägt immer eine Gestalt, eine Frau in verschiedener Tracht, aber immer dieselbe. Zuweilen ist eine kleinere Figur neben ihr, eine Dienerin, und immer sind die wappentragenden Tiere da, groß, mit auf der Insel, mit in der Handlung. Links ein Löwe, und rechts, hell, das Einhorn; sie halten die gleichen Banner, die hoch über ihnen zeigen: drei silberne Monde, steigend, in blauer Binde auf rotem Feld.“

Alle Fotos der Wandteppiche: Wolf Jöckel

Fünf der sechs Teppiche sind den menschlichen Sinnen gewidmet. Die Dame hält dem Einhorn einen Spiegel vor: Sehen.  Die Dame berührt das Einhorn und hält den Schaft der Standarte: Tasten.

Das Wappen mit den drei Halbmonden ist das der aus Italien stammenden Lyoner Familie La Viste, der im 14. Jahrhundert der soziale Aufstieg gelang. Ein Mitglied dieser reich gewordenen Tuchhändler-Dynastie hat die Teppiche gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Auftrag gegeben. Entdeckt wurden die Teppiche im Schloss von Boussac (Département Creuse) von Georges Sand. Sie machte den damaligen inspecteur des monuments historiques Proper Merimée, einen früheren Liebhaber, auf sie aufmerksam, und so wurden sie Anfang der 1840-er Jahre auf die Liste der geschützten Kulturgüter gesetzt und dann in den Bestand des Cluny-Museums übernommen.

Eine ganz entgegengesetzte Tasterfahrung macht übrigens der Affe auf dem Bild: Er ist angekettet.

Die Dame füttert einen Papagei: Schmecken.

                                

Die Dame flicht einen Kranz aus Blüten, an denen ein kleiner Affe schnuppert: Riechen

Dazu Rilke: „Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe der nächsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält, während sie die vorige anreiht. Hinten auf einer Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen, den ein Affe entdeckt hat.“

Dann das Hören:

Dazu noch einmal Rilke:

„Musste nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon verhalten da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt. So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefasst, so dass es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch. Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.“

Und dann der letzte Teppich:

Er zeigt die Dame „in ihrem fürstlichen Kleid“ vor einem Zelt, „aus blauem Damast und goldgeflammt.“ (Rilke) mit der Inschrift über dem Eingang: „Mon seul désir“, mein einziges Verlangen. Hier ist alles rätselhaft: Tritt die Dame aus dem Zelt, wie Rilke meint oder ist sie dabei hineinzugehen?  Welche Bedeutung hat die Szene, die hier dargestellt ist: „Die Dienerin hat eine kleine Truhe geöffnet, und sie hebt nun eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das immer verschlossen war.“ (Rilke)?   „Folgt das Bildprogramm einer religiösen Symbolik? Dann stünde die Dame für Maria und das Einhorn für Jesus. Aber suggeriert die sehr weltliche Szenerie der kostbar gekleideten Dame nicht einen ganz anderen, eher erotischen Hintergrund? Ist das „einzige Verlangen“ so etwas wie die Summe aller Sinneswahrnehmungen und zugleich ihre Überwindung“?[13]

Viele Geheimnisse, die die „Mona Lisa des Mittealters“[14] umgeben….


Anmerkungen:

[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/mittelaltermuseum-in-cluny-wiedereroeffnet-100.html 

[2] Bild aus: https://www.google.com/search?q=Reouverture+musee+Cluny&rlz=1C1ONGR_deDE950DE950&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwimhcWYjNH5AhWPHOwKHStmAzoQ_AUoAnoECAEQBA&biw=936&bih=598&dpr=1.56#imgrc=Z_9eoHDcNAx8jM

Zitat aus: https://www.challenges.fr/lifestyle/reouverture-du-musee-de-cluny-un-nouvel-ecrin-pour-la-dame-a-la-licorne_812894

[3] Hubert Spiegel, Das Verlangen nach Vergangenheit. FAZ 31.7.2022

[4] https://www.collecta.fr/image.php?id=8349,span-classnum-inventaire112span-devise-du-cardinal-d-amboise Bei dem zweiten Teil der Devise  handelt es sich danach um ein Deformation eines Wortes  aus dem biblischen Buch der Sprichwörter Kapitel 7,2: „Achte  auf meine Gebote“. Siehe:  https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/spr7.html

[5] Siehe dazu: https://paris-blog.org/2019/05/02/napoleon-de-gaulle-und-victor-hugo-notre-dame-die-geschichte-und-das-herz-frankreichs/

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Mus%C3%A9e_des_Monuments_fran%C3%A7ais

[7] Zit. in: Stefanie Markert,  Musée de Cluny in Paris wiedereröffnet. Fabelhaft lebendiges Mittelalter

https://www.deutschlandfunkkultur.de/mittelaltermuseum-in-cluny-wiedereroeffnet-100.html

[8] Mehr dazu bei: https://paris-blog.org/2021/05/01/vivant-denon-der-kunstrauber-napoleons-und-sein-musee-napoleon-louvre-teil-1-die-grose-ausstellung-deutscher-raubkunst-1806-1807/

[9] Bild aus: https://www.musee-moyenage.fr/collection/oeuvre/devant-autel-cathedrale-bale.htm

l Von I, Sailko, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5845232

[10] Bild aus: https://www.musee-moyenage.fr/collection/oeuvre/devant-autel-cathedrale-bale.html

[11] https://www.musee-moyenage.fr/collection/oeuvre/devant-autel-cathedrale-bale.html   Siehe auch: Die Goldene Altartafel aus dem Basler Münsterschatz. Historisches Museum Basel 2019 und https://www.unibas.ch/de/Aktuell/Uni-Nova/Uni-Nova-124/Uni-Nova-124-Goldene-Altartafel.html

[12] Siehe: https://www.musee-moyenage.fr/collection/oeuvre/joueurs-echec.html

[13] Hubert Spiegel in FAZ vom 31.7.2022

[14] https://www.challenges.fr/lifestyle/reouverture-du-musee-de-cluny-un-nouvel-ecrin-pour-la-dame-a-la-licorne_812894

Frankreich und Deutschland: ein romantisches Wunschbild deutsch-französischer Vereinigung aus den 1840-er Jahren

Mit den deutsch-französischen Beziehungen steht es derzeit nicht zum Besten. Da ist von einer Beziehungskrise die Rede oder von einem coup-de-froid (Erkältung). „Der einstige Mitterand-Berater Jacques Attali hat sogar den nächsten Kriegsausbruch zwischen den Erbfreunden noch in diesem Jahrhundert für möglich erklärt“. [1] Das ist sicherlich maßlos übertrieben. Aber in der Tat stottert der vielgerühmte deutsch-französische Motor der Europäischen Union ganz beträchtlich.

Umso schöner und berührender ist es, gerade in dieser Situation ein entzückendes altes Wunschbild deutsch-französischer Verständigung und Einheit zu entdecken.

©Freies Deutsches Hochstift [2]

Es handelt sich um eine Zeichnung Armgart von Arnims (1821 -1880), die kürzlich in der Sonderausstellung „Zeichnen im Zeitalter Goethes“ des Deutschen Romantikmuseums Frankfurt zu sehen war.[3] Angefertigt wurde sie -laut beigefügter Informationstafel- nach Ende Februar 1843 mit „Pinsel in Aquarell- und Deckfarben, Gold und Silber über Bleistift, stellenweise über Applikationen plastischen Materials, auf elfenbeinfarbenem Karton.“[4]  Es waren der in schwarzer und goldener Farbe aufgetragene Titel „Deutschland und Frankreich“, der unsere Aufmerksamkeit erregte, und die malerische Umsetzung dieses Themas. Es handelt sich ja gewissermaßen um ein „Wimmelbild“, und da fängt man fast unwillkürlich an, genauer hinzusehen, wo in diesem fein gezeichneten bunten Gewimmel Deutschland und Frankreich zu finden sind und wie ihre Beziehung dargestellt ist.

Gehen wir also auf Entdeckungsreise:

In der Mittelachse „umwinden sich zwei nach oben wachsende verschiedenfarbige Baumstämme, die das Bildfeld in zwei Hälften teilen. Die Stämme wachsen jeweils aus mehrgliedrigen Wurzeln, die in der linken und rechten unteren Ecke des Bildes ihren Ausgangspunkt haben, sich in der Mitte treffen“, sich umwinden, oben vereinigen. Daraus sprießen dann eine Vielzahl von Blüten- und Fruchtzweigen.  Die beiden Baumstämme „teilen das Bildfeld in eine französische (links) und eine deutsche Seite (rechts). Verschiedene Tier-, Pflanzen- und Figurenmotive sind über das ganze Bild verteilt. Es fallen Gegensatzpaare auf, die dem Titel Rechnung tragen: Weiße Lilien stehen Ästen mit Eichenlaub gegenüber, der gallische Hahn dem deutschen Adler.“[5]

Unten im Bild erkennt man links eine brütende Glucke und rechts einen Beute reißenden Raubvogel; „ein französischen Ritter mit blau-weiß-roter Helmzier“ links entspricht „einem deutschen Ritter mit Adler auf dem Wappenschild“.  (Katalog 2022, Nr. 81)

Aber diese Reiter sind nicht Ausdruck von Feindschaft, sondern eine Erinnerung an frühere Zeiten.

Im Zentrum der Zeichnung steht die Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland, symbolisiert durch die beiden sich umwindenden und sich vereinigenden Baumstämme und durch die Motive in der Mittelachse:

Da ist das Fest in der Bildmitte, Ausdruck der Freude,  eingerahmt von Früchten und Weintrauben, von Reichtum und Genuss…

…. unten das Schiff, das auf einem Fluss zwischen den Wurzeln des deutschen und des französischen Stamms  schwimmt, bei dem es sich eigentlich nur um den Rhein handeln kann. Dieses Schiff trägt auf seinem Segel ein Herz….

….. und oben ein friedlich schlafendes Kind, weich gebettet auf einer Rosenblüte und getragen von einem Spinnennetz. Eine Spinne, die dem Kind Unheil bringen könnte, gibt es allerdings nicht. Dafür aber eine Libelle, die über dem Kind schwebt und ihm Luft zufächelt.

Es gibt andere Motive, deren Sinn im Kompositionsschema des Bildes sich nicht unmittelbar erschließt.

Zum Beispiel die Jagdszene rechts im Bild: Da wird eine Schlange von einem auf einem Elefanten reitenden bärtigen Mann und einem eingeborenen Bogenschützen erlegt. Möglicherweise gab es einen poetischen Text, der die Darstellungen erläuterte, der aber verloren ist oder noch nicht identifiziert wurde. [6] So darf der Betrachter sich überlegen, was die Szene bedeuten könnte. Vielleicht personifiziert der Reiter Europa und der Elefant, königliches Symbol von Stärke und Klugheit, Afrika und Asien. [7] Der Bogenschütze könnte vielleicht von der Südamerika-Reise Alexander von Humboldts inspiriert sein und Amerika repräsentieren. Und alle gemeinsam bekämpfen das Böse in Gestalt der Schlange.

Wenn auch dies und manches Andere im Ungewissen bleibt:  Insgesamt ist die Botschaft doch deutlich: Deutschland und Frankreich sind eng umschlungen, vereint, und aus der Verbindung entsteht etwas Wunderschönes, Neues: eine in dem Kind symbolisierte gemeinsame Zukunft.

Und wie sehr dies Anlass zur Freude ist, darauf verweist das noch einmal oben rechts in der Zeichnung aufgenommene Festmotiv:

Hier sind es keine Elfen, die tanzen,  sondern es sind einfache, in ihre heimische Tracht gekleidete Menschen, vielleicht Deutsche und Franzosen, die mit Sektgläsern auf die deutsch-französische Freundschaft anstoßen….

Diese Freundschaft war im Hause von Arnim eine gelebte Selbstverständlichkeit. Herward Sieberg schreibt in seinem Buch über die Schriftstellerin Elisabeth von Heyking, eine Tochter Armgarts: „Der populäre Dichter und Politiker Alphonse de Lamartine hatte nach dem Sturz des ‚Bürgerkönigs‘ Louis-Philippe … das Amt des Außenministers übernommen“ und seinen Freund, den Comte de Circourt, als Geschäftsträger nach Berlin entsandt. Der war im Haus der Arnims ein gern gesehener Gast, und er und seine Frau Anastasia „fassten besondere Zuneigung zu Armgart, woraus später eine lebenslange enge Brieffreundschaft herrührte. Diese Korrespondenz belegt beispielhaft, wie selbstverständlich und unvoreingenommen Angehörige der deutschen und französischen Elite miteinander verkehrten, nachdem die Wunden der napoleonischen Kriege verheilt waren und solange sich noch keine nationalistischen Barrieren zwischen beiden Völkern auftürmten.“ Und Lamartine selbst, der Bettine sehr schätzte, bezeichnete galant Armgart als „Meisterwerk der Mutter“. [8] Circourts Nachfolger war der weltgewandte François-Emmanuel Arago, Sohn des berühmten französischen Naturwissenschaftlers und Politikers Dominique François Arago. Die unerfüllte Liebe Armgarts zu Arago hat vermutlich eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Zeichnung gespielt. Dazu später mehr.

Frankreich und Deutschland: Eine „Salon-Arabeske“ aus dem Kreis der Töchter Bettines von Arnim

Im März 1843 gründeten Armgart, Maximiliane und Gisela, die drei Töchter Bettines von Arnim, gemeinsam mit den Schwestern Caroline und Wilhelmine von Bardua in Berlin den spätromantisch-biedermaierlichen „Kaffeter“-Kreis. Er bestand aus einem festen Mitgliederstamm vor allem kunstbegeisterter junger Damen, aber es wurden auch immer wieder illustre Gäste eingeladen wie Hans Christian Andersen, Emanuel Geibel oder Prinz Waldemar, Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Zu den regelmäßigen Sitzungen hatte jedes Mitglied, wie es in den Aufzeichnungen von Maximiliane heißt, „einen Beitrag eigener Erfindung einzureichen: Gedichte, Novellen, Memoiren, Zeichnung, Malerei oder Komposition. Diese Beiträge werden in der Sitzung verlesen und beurteilt und dann in einem Heft zu einer Nummer der Kaffeterzeitung vereinigt“.[9] In diesem Rahmen entstand auch eine Kassette mit Zeichnungen, den sogenannten Salon-Arabesken, vor allem aus der Feder Armgarts von Brentano.[10]

Arabesken haben eine lange kunsthistorische Tradition, die gerade im Klassizismus um 1800 wiederentdeckt und in der Romantik popularisiert wurde.  So schmückten „romantische“ Arabesken diverse Werkausgaben von Armgarts Vater, Achim von Arnim, und ihres Onkels, Clemens Brentano. „Die Erstausgabe der erweiterten Fassung von Clemens Brentanos Gockel Hinkel Gakeleja erschien 1838 mit einem lithographierten Titelblatt, das verschiedene Figuren und Schlüsselmotive des Märchens zu einem dekorativ-arabesken Arrangement verdichtet.“ [11]

Die 1821 in Berlin geborene Armgart war damit schon rein familiär mit der Kunst im Allgemeinen und der Arabeske im Besonderen vertraut. Dies gilt auch für ihre Schwester Maximiliane. Mit ihr gemeinsam wurde Armgart von Oktober 1829 bis Oktober 1834 zu Onkel Georg Brentano geschickt, der teils in Frankfurt und teils im nahe gelegenen Rödelheim lebte. „Dadurch dass Maximiliane und Armgart zusammen aufwuchsen, schlossen sich die zwei Mädchen eng aneinander an, was sich auch nach ihrer Rückkehr nach Berlin fortsetzte. So wurden beide Ende Februar 1840 gemeinsam bei  Hof eingeführt und besuchten Einladungen zu offiziellen gesellschaftlichen Veranstaltungen immer zu zweit.“[12]

Caroline Bardua: Doppelportrait Maxe und Armgart von Arnim (1837) ©Freies Deutsches Hochstift [13]

Wie alle Arnim‘schen Töchter war auch Armgart vielseitig begabt: Sie besaß eine ausdrucksvolle Sopranstimme und war schriftstellerisch tätig:  Sie verfasste das Märchen „Das Heimelchen“, das von ihrer Schwester Maximiliane und anderen Mitgliedern der Kaffeter-Runde illustriert wurde. Vor allem aber verfügte Armgart über eine „virtuose Zeichenkunst“, wie die Salon-Arabeske „Frankreich und Deutschland“ zeigt und ebenso das Huldigungsbild für Friedrich Wilhelm IV., das sie auf Wunsch des preußischen Königs anfertigte. Mehr als zwei Jahre arbeitete Armgart daran. Während die Mutter Bettine führende Vertreter des Vormärz in ihrem Salon empfing, engagiert mit dem König korrespondierte und ihn unmissverständlich zu Veränderungen aufforderte – „Die Welt umwälzen- denn darauf läufts hinaus“-  zeichnet die „streng konservative und glühend monarchistische“ Armgart eine biedermeierliche „Huldigung an einen romantischen König“.[14] Der hatte immerhin bei seiner Thronbesteigung Hoffnungen geweckt: Als eine seiner ersten Amtshandlungen berief er -u.a. auf Initiative Bettines- die Gebrüder Grimm, nach Berlin. Die hatten  wegen ihrer Beteiligung am Protest der „Göttinger Sieben“ ihre Professuren verloren und erhielten nun aus dem Privatvermögen des Königs eine Pension für ihre Arbeit an dem „Deutschen Wörterbuch“.

Armgart und Maximiliane übergaben dem König die Zeichnung mit den Initialien des königlichen Paares am 29. März 1843 in Schloss Sanssouci in einer feierlichen Audienz, gefolgt von einem Konzert mit Felix Mendelssohn Bartholdy.[15] Maximiliane hatte dazu ein erläuterndes Gedicht verfasst, das sie vortrug, während Armgart auf die entsprechenden Stellen des Bildes deutete. Maximiliane schrieb später zu dem Bild:

„In der Mitte saß ein Elfenkönigspaar auf einem Blumenthron, auf dessen Stielen muntere Elfengeisterchen geschäftig ein Fest vorbereiteten, während in den Wurzeln kleine Köche und Konditoren und Küfer tätig waren. Rund herum waren die Elemente, die Weltgegenden, die Jahreszeiten, das Tierreich, und alle huldigten dem Königspaar. Ganze Regimenter von kleinen Käfern und Schmetterlingen in den Farben der Garde-Infanterie und -Kavallerie waren aufmarschiert. Umrahmt war das Ganze von einem arabeskenartigen Gewinde von Eichenlaub und Lorbeer.“[16]

Von dem Huldigungsbild wissen wir also ganz genau, wann es entstanden ist und dem König übergeben wurde. Bei der Salon-Arabeske Frankreich und Deutschland ist das anders. Allerdings scheint es einen Hinweis für die Datierung zu geben, nämlich die Tanzszene im Mittelpunkt des Bildes. Sie bezieht sich, wie im Katalog der Salon-Arabesken-Ausstellung von 2006 und dem der Ausstellung von 2022 mitgeteilt wird, auf das „Fest von Ferrara“, das Maximiliane und Armgart zur Fastnacht Ende Februar 1843 am preußischen Hof besuchten. Sie tanzten dort als Nymphen verkleidet in „weißen Gewändern mit Lotusblumen und Schilf bekränzt, mit den verzauberten Rittern“. Danach wird die Zeichnung im Katalog von 2006 auf das Jahr 1843 datiert und mit der Rheinkrise der Jahre 1840/1841 in Beziehung gesetzt. In Frankreich forderten damals Regierung und Öffentlichkeit von Preußen die Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich. Sogar mit Krieg wurde gedroht: Der Rhein sei die natürliche Grenze zwischen Frankreich und Deutschland- eine Position, die auch Victor Hugo 1842 in seinem Buch „Le Rhin“ vertrat. (Noch heute wirkt das ja -sicherlich eher unbewusst- in der gängigen Bezeichnung „outre-Rhin“ für Deutschland nach). Dort heizten diese Forderungen nationalistische Strömungen und antifranzösische Emotionen an, und die „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern wurde beschworen.  Vor diesem Hintergrund wird im Katalog von 2006 die Zeichnung Armgarts als „Wunschbild für eine friedliche Lösung des Konflikts“ interpretiert.

Es gibt aufgrund neuer Forschungen inzwischen allerdings auch -verbunden mit einer späteren Datierung- eine biographische Deutung der Zeichnung. Bettine Zimmermann schreibt im Katalog der Ausstellung von 2022:

„Möglicherweise spielt das Bild auf Armgarts unerfüllte Liebe im Revolutionsjahr 1848 zum französischen Gesandten in Berlin, François-Emmanuel Arago, an. Dieser war nach der Februarrevolution von der neuen provisorischen französischen Regierung als Gesandter eingesetzt worden und traf im Juni in Berlin ein. Schon bald war er regelmäßiger Gast Bettina von Arnims, die den politischen Umwälzungen in Frankreich aufgeschlossen gegenüber stand und sich auch für Preußen Veränderungen erhoffte. Armgart war von Aragos weltmännischem Auftreten beeindruckt, erteilte ihm sogar Deutschunterricht. Leider blieb er nur bis zum Ende des Jahres im Amt und kehrte im Januar 1849 nach Paris zurück. Die sich umwindenden Stämme, das Schiff mit dem Herz auf dem Segel und das friedlich schlafende Kind sind in diesem Fall als Wunschbild für eine glückliche Verbindung zwischen Armgart und Arago zu deuten.“ [17]

Ich bin weder hinreichend kompetent, vor allem aber glücklicherweise nicht verpflichtet, mich für eine dieser Deutungen entscheiden zu können bzw. zu müssen. Beide, die politische und die persönliche, sind mir nämlich ausgesprochen sympathisch: Die Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich hat natürlich eine eminente poltische Dimension, aber sie ist auch getragen von vielfachen persönlichen Verbindungen und Sympathien. Deshalb musss es einem auch nicht bange sein, wenn es einmal (wieder) auf der politischen Ebene etwas hapert….

Zum Schluss soll noch auf eine andere, fast gleichzeitige künstlerische Darstellung des Themas der deutsch-französischen Verständigung hingewiesen werden. Sie findet sich auf einem Relief, das David d’Angers 1842 für das Grabmal Ludwig Börnes auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise anfertigte.

Foto: Wolf Jöckel

Die Bronzeplastik trägt den Titel: „La France et l’Allemagne unies par la Liberté“/Frankreich und Deutschland von der Freiheit vereint. Hier ist -passend zu dem Engagement des politischen Publizisten Ludwig Börne- die deutsch-französische Einheit kulturgeschichtlich fundiert und politisch konzipiert.

Mehr dazu auf dem Blog-Beitrag:  Das Grabmal Ludwig Börnes auf dem Père Lachaise in Paris – Eine Hommage an den Vorkämpfer der deutsch-französischen Verständigung:  https://paris-blog.org/2018/07/10/das-grabmal-ludwig-boernes-auf-dem-pere-lachaise-in-paris-eine-hommage-an-den-vorkaempfer-der-deutsch-franzoesischen-verstaendigung/

Armgarts Zeichnung und das Grabrelief für Ludwig Börne sind ganz unterschiedlich, aber ich denke, dass sie sich gut ergänzen und ein Gegengewicht bilden zu den (nicht nur!) in der damaligen Zeit wuchernden nationalistischen Tendenzen. Und man darf beide, Zeichnung und Relief, wohl auch als „Vision deutsch-französischer Verständigung und Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg begreifen.“ [18] 


Anmerkungen

[1] https://www.dw.com/de/deutsch-franz%C3%B6sische-beziehungskrise-macht-europa-handlungsunf%C3%A4hig/a-63543178 und https://www.ifri.org/fr/espace-media/lifri-medias/coup-de-froid-relations-franco-allemandes-0 

Daniel Cohn-Bendid und Claus Leggewie, Europa abgemeldet. FAZ 17. 11. 2022.  Jacques Attali in Les Echos vom 27.10.2022: https://www.lesechos.fr/idees-debats/editos-analyses/la-guerre-entre-la-france-et-lallemagne-redevient-possible-1873570  Siehe dazu auch: Jürgen Kaube, Keiner sieht den andern. FAZ 10.11.2022

[2] Ich danke dem Freien Deutschen Hochstift für die Abdruckgenehmigung der Zeichnung und vor allem Frau Dr. Neela Struck für Ihre wichtigen Hinweise zu der Zeichnung

[3] Zeichnungen und Aquarelle aus den Beständen des Freien Deutschen Hochstifts, 27.8. bis 6.11.2022 

[4] Bild aus: https://www.ebay.de/itm/283483698383?mkevt=1&mkcid=1&mkrid=707-53477-19255-0&campid=5338722076&customid=&toolid=10050  (Zugriff 24.10.2022)

[5] Zitate aus dem Katalog der Ausstellung „Salon-Arabesken. Die beiden Salons im Hause der Bettine von Arnim“ im Deutschen Romantik-Museum/Frankfurter Goethe-Haus (1.1. – 31.12.2006) und dem Katalog der Ausstellung von 2022.

[6] Gerhard Kölsch, Ein Album der Bettine-Töchter aus den Jahren 1839 bis 1846. In: Gerhard Kölsch/Hartwig Schultz, Salon-Arabesken. Ein Album von Armgart, Maximiliane und Gisela von Arnim. [begleitende Publikation zur Ausstellung „Salon-Arabesken“ im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 12. März bis 21. Mai 2006], S. 18

[7] Zur Symbolik des Elefanten siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2022/02/02/der-elefant-der-bastille/

[8] Herward Sieberg, Elisabeth von Heyking. Ein romanhaftes Leben. Hildesheim/Zürich/New York 2012, S. 51/52 Das Buch enthält ein langes Kapitel über Armgart von Arnim, in dem der neueste Forschungsstand berücksichtigt ist. Den Hinweis darauf verdanke ich Frau Neela Struck vom Freien Deutschen Hochstift.

[9] Hartwig Schultz, Arabesken der Arnim-Familie. In: Kölsch/Schultz, Salon-Arabesken, S. 21/22

[10] Zu der Kassette siehe den Beitrag von Neela Struck in museum-digital: hessen https://hessen.museum-digital.de/object/70386

[11] Gerhard Kölsch, Ein Album der Bettine-Töchter aus den Jahren 1839 bis 1846. In: Kölsch/Schultz, Salon-Arabesken, S.17  Bild aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Brentano_Gockel_Hinkel_Gackeleia_1838.jpg

[12] Wolfgang Bunzel, Einleitung zu: Armgart von Arnim, Das Heimelchen. Darmstadt 2012, S.9 

[13] Bild mit freundlicher Genehmigung des Freien Deutschen Hochstifts aus:  https://nat.museum-digital.de/object/1102742

[14] Zitat zu Bettine aus: Gerhard Kölsch/Hartwig Schultz, Salon-Arabesken. Ein Album von Armgart, Maximiliane und Gisela von Arnim. Zum Geleit.

Zitat zur politischen Gesinnung von Armgart (und ihrer Schwester Maximiliane) aus: Herward Sieberg, Elisabeth von Heyking, a.a.O., S. 44

[15] Bild aus: FAZ vom 11.11.2020. Beitrag von Florian Balke, Gute und böse Feen. (Kunstwerke in Rhein-Main)

[16] Zitiert von Bunzel a.a.O., S. 10 nach Johannes Werner, Maxe von Arnim, Tochter Bettinas/Gräfin von Oriola 1818-1894. Ein Leben und Zeitbild aus alten Quellen geschöpft. Leipzig 1937, S. 111f

[17] Bettine Zimmermann folgt hier der Darstellung Siebergs (a.a.O., S 61), der die Zeichnung Armgarts als Ausdruck ihrer Seelenstimmung interpretiert angesichts der unerfüllten Liebe zu Arago.

[18]  Sieberg a.a.O., S. 61/62 Sieberg bezieht das nur auf „Armgarts Malerei aus ferner Biedermeierzeit“, aber es gilt sicherlich auch bzw. umso mehr für das Grabrelief Börnes.

Frank Gehrys Fondation Louis Vuitton und eine Ausstellung mit überraschenden Bezügen: Der späte Monet und der abstrakte Expressionismus der Amerikanerin Joan Mitchell

Wieder eine bemerkenswerte Ausstellung in der Fondation Louis Vuitton: Es geht um das Spätwerk des Impressionisten Claude Monet und die amerikanische Malerin Joan Mitchell. Die wurde kurz vor Monets Tod geboren, hat ausdrücklich auf ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von dem Werk Monets bestanden. Gleichwohl gibt es faszinierende Bezüge zwischen beiden, denen die Ausstellung nachgeht. Und dies in einem gleichfalls faszinierenden Rahmen, nämlich dem von Frank Gehry entworfenen Ausstellungsgebäude der Fondation Louis Vuitton.

Alle Fotos dieses Beitrags: F. und W. Jöckel
Erste Entwurfszeichnung aus dem Jahr 2014

Gehry träumte davon, ein großartiges Schiff zu entwerfen, und hier konnte er seinen Traum wahr werden lassen: Es entstand ein Bau mit eindrucksvollen, geblähten Segeln aus Glas, den ich zwar einerseits bewundere, aber in mancher Hinsicht auch befremdlich finde.

Zunächst schon deshalb, weil dieses Schiff ja nach offizieller Lesart an einem -übrigens akustisch und optisch sehr eindrucksvollen-  Wasserfall vor Anker gegangen sei.[1]

Aber wie passen zu einem vor Anker gegangenen Schiff die vom Wind geblähten Segel? Diese Kritik mag kleinkariert sein, und sie betrifft ja zunächst lediglich die Schiffsmetapher und nicht den Bau als solchen.  Allerdings haben die sogenannten Segel, wenn ich das richtig sehe, für die Funktion des Gebäudes als Ausstellungsort keine wesentliche Bedeutung. Bei einem Segelschiff ist das ganz anders: Da treiben die Segel das Schiff voran; sie nutzen die Naturkräfte, beuten sie aber nicht aus, sie sind nützlich, ja unabdingbar, und gleichzeitig schön.

Bei Gehrys „magnificent vessel“ mögen die vielgerühmten „gläsernen Segel“ zwar auch ihren ästhetischen Reiz haben, aber sie passen, wie ich finde, nicht mehr in unsere Gegenwart.  Wir wissen doch inzwischen, dass wir haushälterisch mit den knappen Ressourcen unseres Planeten umzugehen haben, und die Tugenden von Sparsamkeit und Bescheidenheit sind wieder aktuell. Von Bescheidenheit kann bei Gehry aber ganz und gar keine Rede sein: Hinter der gläsernen Außenhaut verbirgt sich eine Konstruktion aus Holz und vor allem Stahl, die äußerst aufwändig ist.

Und stellenweise entbehrt sie auch jeder Leichtigkeit und Eleganz.

Insofern sind die verschwenderischen Segel ein grandioser Luxus : Aber das passt zu dem Hausherrn:  Dies ist „Frankreichs Luxuskönig“ Bernhard Arnault, der inzwischen im Rennen um den Titel des reichsten Mannes der Welt vor Elon Musk und dem Amazon-Besitzer Jeff Bezos die Nase vorn hat. [2] Arnault ist Besitzer von LVHM, des weltweit führenden Luxusgüter-Produzenten. Dass er bei der Vermehrung seines Vermögens und mit den von ihm beschäftigten Menschen ziemlich rabiat umgehen konnte, zeigte François Ruffin 2016 mit seinem satirischen Dokumentarfilm „merci patron!“ Aber wenn es um publicity geht, spielt Geld bei Arnault keine Rolle. Das zeigte sich beim Brand von Notre Dame de Paris: Noch während die Kathedrale brannte, spendete Arnaults Unternehmer- und Kunstsammler-Rivale Pinault 100 Millionen Euro für den Wiederaufbau. Das konnte Arnault nicht auf sich sitzen lassen:  Er zückte umgehend sein Portemonnaie und  legte 200 Millionen auf den Spendentisch. Und auch bei dem Gehry-Bau war Arnault nicht knauserig: Wenn man seinen Reichtum mit Luxusgütern erworben hat, dann muss natürlich auch das Ausstellungsgebäude entsprechend gestaltet sein.

Aber genug gelästert: Der Bau ist -trotz alledem- grandios, und die dort gezeigten Ausstellungen sind es desgleichen. Das gilt auch für die aktuelle Ausstellung, in der das eher weniger bekannte Spätwerk von Monet in Beziehung gesetzt wird zu der ebenfalls eher weniger bekannten amerikanischen Malerin Joan Mitchell. Ich muss jedenfalls gestehen, dass ich noch nicht einmal ihren Namen vorher gehört hatte. Immerhin befand ich mich dabei aber in tröstlicher Gesellschaft mit einer kunstsachverständigen jungen Dame, die sich gegenüber der von ihr durch die Ausstellung geführten Gruppe zu ihrer bisherigen Unwissenheit bezüglich Joan Mitchells bekannte.

Nachfolgend möchte ich anhand einiger Bilder einen Eindruck von dieser Ausstellung vermitteln, dazwischen aber auch von dem Ort, an dem sie präsentiert wird: Beides ist ja nicht voneinander zu trennen: Da die Ausstellungsräume sich über mehrere Stockwerke erstrecken, wird man beim Rundgang immer wieder mit dem Werk Gehrys konfrontiert: Der Ausstellungsort ist auch ein Kunstwerk, ist Ausstellungsstück.

Dazu gehören die in dem Gebäude dauerhaft installierten Kunstwerke.

Kunst am Bau

Die Monumentalskulptur Where the slaves live des Argentiniers Adrian Villar Rojas, 2014. In seiner Form soll sie an eine Wasserzisterne in südlichen Ländern erinnern. Die Außenwände sind zusammengesetzt aus bzw. verziert mit Steinen, Pflanzen  und gefundenen Objekten, wie auch im Untertitel des Werks mitgeteilt wird: Objets trouvés/Found objects.

Neu in der Fondation Louis Vuitton ist das nachfolgend abgebildete, aus 8 Aluminium-Platten zusammengesetzte monumentale Werk von Katharina Grosse. (Canyon 2022, Höhe 14,5 Meter, 3,7 Tonnen).

Sie hat es speziell für diesen Ort konzipiert „in engem Dialog mit dem Gebäude und seinem Architekten“, wie es auf der beigefügten Informationstafel zu lesen ist.  Zu dem stählernen Inneren der gläsernen Segel bietet es -trotz seines großen Gewichts- einen Kontrast von Farbigkeit und Leichtigkeit.

Die Ausstellung Monet/Mitchel

In den Werbeplakaten für die Ausstellung wird schon der Ton angeschlagen: Es werden jeweils drei Ausschnitte von Gemälden beider Künstler wiedergegeben, allerdings ohne eine entsprechende Zuordnung. Die Intention dahinter ist deutlich: Der Passant soll auf den ersten Blick nicht erkennen können, welcher Ausschnitt zu Monet und welcher zu Mitchell gehört. Das macht natürlich neugierig: Da ist der berühmte impressionistische Monet, den man ja nun hinreichend kennt -oder zu kennen glaubt- und dazu die viel weniger bekannte  -oder ganz unbekannte- amerikanische Malerin, die ein Jahr vor Monet geboren wurde, die als Vertreterin des sogenannten abstrakten Expressionismus gilt,  der in den USA der Nachkriegszeit die Kunstszene beherrschte und die 1988 über ihr  Verhältnis zu Monet sagte: „Das ist nicht mein Maler. Ich habe Monet niemals besonders geschätzt.“

Aber die Beziehungen sind doch eindeutig; jedenfalls zu dem „späten Monet“, der in der Ausstellung präsentiert wird und der sich in vielen seiner Bilder der letzten Phase der Abstraktion nähert. Stilistisch, farblich, thematisch und in der Auswahl der (großen) Formate gibt es da durchaus Parallelen, wozu auch noch eine räumliche Beziehung kommt: Mitchell besaß ein Haus mit großem Garten  und Atelier in Vétheuil an der Seine, avenue Claude Monet, von wo aus sie  einen  Blick auf das Haus hatte, das Monet von 1878 bis 1881 wohnte, bevor er sich in Giverny niederließ. Da konnte sie dem Vergleich mit dem allgegenwärtigen Monet natürlich nicht ausweichen. Anlässlich ihrer ersten große Retrospektive 1982 im musée d’Art moderne de  la Ville de Paris äußerte sie sich dazu so:

„Früh am  Morgen ist es hier violett: Monet hat das schon gezeigt… Wenn ich morgens hinausgehe, ist es violett… Ich kopiere Monet nicht.“

Aber sie lebt und arbeitet da, wo auch Monet gelebt und gearbeitet hat, und das hat eine prägende  Wirkung auf die Bilder gehabt, die  hier von den beiden gemalt wurden. Und der „späte“ Monet ist so modern, dass Mitchel auch bekannte:

„Ich liebe den Monet des Endes, nicht den seiner Anfänge“.[3]

Nachfolgend werden einige Bilder und Bildausschnitte von Monet und Mitchell nebeneinander präsentiert, die einen Eindruck von den vielfältigen Beziehungen zwischen den Werken beider Künstler vermitteln sollen und vielleicht auch Lust darauf machen, den „Dialog“ zwischen dem alten Claude Monet und der jungen Mitchell am Anfang und Ende des letzten Jahrhunderts näher zu betrachten.

Blick in einen Ausstellungsraum mit Werken von Monet (rechts und links) und Mitchell (Mitte)

Trauerweide und Linde

Claude Monet, Trauerweide. (1921-1922) Musée Marmottant Monet, Paris
Joan Mitchell, Tilleul. 1978 (Privatsammlung)

Blumen am Wasser

Claude Monet, Iris jaunes, 1914-1917. (Musée Marmottan Monet, Paris)
Claude Monet, Les Hémérocalles, 1914-1917 (Musée Marmottan Monet, Paris)
Joan Mitchell, Un jardin pour Audrey, 1975 (Ein Garten für Audrey, Private Sammlung)

Seerosen

Seerosen zu malen wurde bei Monet zu einer Obsession. Ende der 1890-er Jahre, da war er schon 12 Jahre in Giverny und hatte den Garten eingerichtet,  erscheinen sie als Motiv, von 1903 bis 1908 malt er nichts anderes, und sie lassen ihn nicht mehr los bis zu seinem Tod. Insgesamt widmet er ihnen 250 Bilder!

Claude Monet, Nymphéas, 1914-1916  (Ausschnitt)
Claude Monet, Le bassin aux nymphéas, 1918-1919 (Musée Marmottan Monet)
Claude Monet, Nymphéas 1917-1919 (Ausschnitt)
Joan Mitchell,  Row Row, 1982  (Ausschnitt)

Die Fondation Louis Vuitton am Abend

Dekoration im Café/Restaurant der Fondation
Diskothek im Auditorium der Fondation
Der Wasserfall bei Nacht
Am Wasserbecken unterhalb des Wasserfalls
Blick vom Wasserfall ins Auditorium

L’Agapanthe

Das Triptychon L’Agapanthe geht zurück auf das Projekt der sogenannten Grandes Décorations – einer Serie großformatiger Gemälde, die Monet dem französischen Staat schenken wollte. Monet dachte dabei zunächst an einen runden Pavillon im Garten des Hôtel Biron, des heutigen Musée Rodin. Der Staat entschied sich allerdings für die Orangerie, und so blieben einige der dafür vorgesehenen Gemälde wie der Agapanthus-Triptychon und die Glycines im Atelier von Giverny. 1957 wurde das Triptychon von einer amerikanischen Galerie gekauft und dann aufgeteilt und an drei verschiedene amerikanische Museen weiterverkauft.  Jetzt werden sie zum ersten Mal seit 1978 wieder zusammen ausgestellt.

Und Bernard Arnault lässt sich diese einzigartige Gelenheit nicht nehmen, Reklame für seine Produkte zu machen….

Claude Monet, L’Agapanthe, 1915-1926, The Cleveland Museum of Art (Ausschnitt)

Die Bezeichnung „L’Agapanthe“ ist missverständlich. Denn Monet übermalte die ursprüngliche Version der Bilder so oft, dass von diesen Blumen nichts mehr zu sehen ist. Immer mehr entwickelte sich dabei die Malweise von Monet hin zur Abstraktion. Das fällt zusammen mit Monets Augenproblemen, die sich 1923 deutlich verschlechterten. So mag man die Modernität von Monet als geniale Antwort auf seine eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten interpretieren – so wie das ja auch bei anderen Malern wie Matisse oder Hans Hartung zu beobachten ist. Den innovativen, ja visionären Charakter der Werke des „späten“ Monet schmälert das aber nicht.[4]

Claude Monet, L’Agapanthe, 1915-1926, The Saint Louis Art Museum (Ausschnitt)
Claude Monet, L’Agapanthe, 1915-1926, The Saint Louis Art Museum (Ausschnitt)
Claude Monet, Glycines 1919-1920 (Ausschnitt)
Joan Mitchell, Edrita Fried 1981 (New York, Joan Mitchell Foundation)

Ausblicke

Blick auf das Geschäftsviertel La Défense (bei Tag)
Blick auf das Geschäftsviertel La Défense (bei Nacht)

Praktische Informationen:

Ausstellung Claude Monet-Joan Mitchell. Dialogue et Rétrospective

5. Oktober 2022 bis 27. Februar 2023

Fondation Louis Vuitton

8, avenue du Mahatma Gandhi, Bois de Boulogne

75116 Paris

Erreichbar mit Metro Linie 1 bis Les Sablons. Von dort ausgeschildeter Fußweg von ca 15 Minuten

Öffnungszeiten:

Montag, Mittwoch und  Donnerstag  11h bis 20h. Freitags von 11h bis 21h. Samstag und Sonntag 10h bis 20h. Am ersten  Freitag jeden Monats 11h bis 23h. Dienstags geschlossen. Weihnachtsferien und Februar von 10 bis 20 Uhr.

Reservierung von Eintrittskarten:

https://www.fondationlouisvuitton.fr/fr/programme


Anmerkungen:

[1]  Auf der Informationstafel zur Installation „Canyon“ von Katharina Grosse (siehe unten) wird das Gebäude als „ce navire amarré à une cascade“ bezeichnet.

[2] Siehe: FAZ vom 15. 12.2022: Frankreichs Luxuskönig. Bernard Arnault hat Elon Musk als reichsten Menschen der Welt abgelöst.

Etwa älterer Stand: https://www.manager-magazin.de/lifestyle/bernard-arnault-lvmh-chef-ueberholte-jeff-bezos-in-der-forbes-liste-aber-nur-kurz-a-2c06759e-9b34-4664-abf4-466c45890aaa und https://www.forbes.com/sites/daviddawkins/2021/05/24/bernard-arnault-becomes-worlds-richest-person-as-lvmh-stock-rises/

[3] Zitate aus: Judicaël Lavrador, le face-à-face de deux icônes. Joan Mitchell-Claude Monet: une confrontation pas si abraite. In: Monet Mitchell, Dialogue et rétrospective. Éditions Beaux Arts 2022, S.30f

[4][4] Siehe Stéphane Lambert, Le fabuleux destin du triptyque L’Agapanthe. Un bout d’étang de Giverny outre-Atlantique. In: Monet Mitchell a.a.O., S. 65f

La Défense: Die Skulptur, die dem Geschäftsviertel von Paris ihren Namen gab

Jeder Paris-Besucher kennt zumindest die Silhouette von La Défense, dem Geschäfts- und Hochhausviertel von Paris. Es liegt zwar außerhalb von Paris, aber in der großen Ost-West-Achse, die von der rue de Rivoli und dem Louvre über die place de la Concorde, die Champs-Elysées und die place de l‘ Étoile  bis hin zu La Défense auf der anderen Seite der Seine reicht.

Besonders eindrucksvoll ist der Blick vom Arc de Triomphe über die breite Avenue (der immer noch gefeierten) Grande Armée Napoleons auf das Viertel mit der Grande Arche im Zentrum, die aus Anlass des 200. Jahrestages der Französischen Revolution errichtet wurde. Und auch das Viertel ist groß- zumindest von der Ausdehnung her ist es das größte Geschäfts- und Hochhausviertel Europas.

Foto: Wolf Jöckel

Benannt wurde das zwischen den Pariser Vororten Courbevoie und Puteaux gelegene Viertel nach einer Statue, die dort 1883 zu Ehren der Verteidiger von Paris im deutsch-französischen Krieg 1870/1871 errichtet wurde: Deshalb der Name La Défense, die Verteidigung.

Das Bronze-Denkmal steht auf einem niedrigen Podest vor der Hochhausgruppe Cœur Défense im Zentrum von La Défense.

Stolz und hoch erhobenen Hauptes blickt die in die Uniform der Nationalgarde gekleidete Allegorie von Paris auf ihre Stadt, deren Wappen am Fuß der Statue zu sehen ist.

Gerade hier passt auch der darunter eingravierte Pariser Wahlspruch besonders gut: Fluctuat nec mergitur: Das Schiff schwankt, geht aber nicht unter.

Man hat von hier aus, wenn man sich entsprechend positioniert, einen Blick auf die Ost-West-Achse mit dem Arc de Triomphe im Hintergrund auf der einen und der Grande Arche auf der anderen Seite.

Das Denkmal nimmt aber in dem großen Areal nur einen Randplatz ein. Und in dem Plan von La Défense, den man in dem benachbarten Informationsbüro erhält, ist die Statue nicht eingezeichnet. Auch bei den vier vorgeschlagenen themenbezogenen Rundgängen ist sie nicht berücksichtigt. 

Das ist bedauerlich; nicht nur weil sie -gewissermaßen- die Namenspatronin des Viertels ist, sondern auch wegen ihrer interessanten und wechselvollen Geschichte. Die soll nachfolgend erzählt werden:

Dort etwa, wo heute die Skulptur steht, lag zur Zeit des deutsch-französischen Krieges der zur Gemeinde Puteaux gehörende rond-point de Courbevoie, ein Verkehrsknotenpunkt.  1870 wurde er im Zuge der Verteidigung des von deutschen Truppen eingeschlossenen Paris befestigt. Nach dem Scheitern des großen Ausbruchsversuchs bei Champigny-sur-Marne im November/Dezember 1870[1] unternahmen die Franzosen am 19. Januar 1871 einen letzten verzweifelten Durchbruchsversuch nahe dem preußischen Hauptquartier in Versailles. Dabei dienten die Befestigungsanlagen am rond-point de Courbevoie als Durchgangsstation. Der Ausbruch wurde allerdings in der Schlacht von Buzenval zurückgeschlagen: Die Fortführung der Kämpfe erschien damit aussichtslos, so dass die französische Regierung in Waffenstillstandsverhandlungen eintrat.[2]

Der rond-point de Courbevoie ist also für Frankreich eigentlich kein sehr ruhmreicher Ort. Es ist aber kein Zufall, dass gerade dort das Défense-Standbild aufgestellt wurde.  Es ersetzte nämlich gewissermaßen eine Napoleon-Statue, die dort seit 1863 gestanden hatte.

Dies war eine 4 Meter hohe Statue, gefertigt aus der Bronze von 16 von Napoleon 1805  in der Schlacht von Austerlitz erbeuteten österreichischen und russischen Kanonen. Napoleon war sehr volkstümlich als Soldat dargestellt mit Mantel, Zweispitz und der Hand in der Weste:  als „petit caporal“, wie es im Volksmund hieß. Ursprünglich krönte die Statue die Vendôme- Säule  in Paris.  Napoleon III. beschloss aber, den „petit caporal“ durch eine imperiale, an antiken Vorbildern orientierte Version zu ersetzen. Natürlich war es völlig ausgeschlossen, die bisherige Statue in ein Depot zu verbannen oder gar einzuschmelzen. Als alternativer Standort bot sich der rond-pont de Courbevoie oberhalb der Seine und mit Blick auf Paris an, hatte doch Napoleon I. in seinem Testament verfügt, seine Asche solle „an den Ufern der Seine ruhen“. Und ganz in der Nähe waren ja die sterblichen Überreste des Kaisers nach einer Schifffahrt von Sankt Helena bis in die Seine hinauf angelandet worden, bevor sie in den Invalidendom überführt wurden.[3]  An diesem Platz stand die Statue bis 1871. Damals wurde Paris von deutschen Truppen belagert und es wurde beschlossen, die Statue einem möglichen Zugriff der Preußen zu entziehen. Allerdings versank sie dabei in der Seine. Seit 1912 steht sie im Ehrenhof des Hôtel des Invalides.[4]

Der große Sockel auf dem rond-point de Courbevoie stand damit seit 1871 leer da. Indem dort das Denkmal für die Verteidiger von Paris errichtet wurde, wurde aus dem monarchistischen ein republikanischer Erinnerungsort. Durch ein an die Verteidigung von Paris erinnerndes Denkmal sollte auch nach der blutigen Niederschlagung der Commune und dem nachfolgenden Rachefeldzug der Reaktion ein Zeichen nationaler Einheit gesetzt werden. Auch dafür bot sich gerade dieser Ort besonders an. Denn die ersten Kämpfe zwischen den Truppen der nach Versailles ausgewichenen Regierung, den sogenannten Versaillais, und den Truppen der Commune, den Fédérés, fanden gerade hier statt: In der Schlacht von Courbevoie vom 2. April 1871, die mit einem Sieg der Versaillais und der ersten Erschießung von Kommunarden endete.[5]

Die  Umsetzung des Projekts wurde ermöglicht durch die Wahlen von 1879: Damit endete  die Präsidentschaft des monarchistischen Präsidenten Mac Mahon, und die Republikaner errangen die Mehrheit in der Nationalversammlung. Nun schrieb also die Préfecture de la Seine einen Wettbewerb für eine Skulptur auf dem rond-point de Courbevoie zur Erinnerung an die Verteidiger von Paris aus: Ein prestigeträchtiges Projekt, an dem die bedeutendsten damaligen französischen Bildhauer wie Carrier-Belleuse, Bartholdi, der Schöpfer der New Yorker Freiheitsstatue[6],  Boucher, der Lehrer von Camille Claudel, und auch Auguste Rodin teilnahmen. Der Entwurf von Rodin wurde allerdings nicht berücksichtigt.[7]

Rodins Entwurf, der heute im Pariser Rodin-Museum ausgestellt ist, zeigt einen verletzten Krieger, der von einer geflügelten Siegesgöttin gehalten wird.  Da der Entwurf nicht berücksichtigt wurde, bat die niederländische Regierung 1916 darum, eine Bronzeversion anfertigen zu dürfen, um sie der „glorreichen Stadt Verdun“ zu schenken. So geschah es auch, und die Rodin’sche Version von La Défense steht seit 1920 in Verdun, heute auf der promenade des frères Boulhaut.

© Camille  Florement/Tourisme Grand Verdun[8]

Den Zuschlag erhielt statt dessen der Entwurf von Louis Ernest Barrias. Er steht heute in der Eingangshalle des Petit Palais.

Man kann hier aus nächster Nähe die drei Figuren betrachten, die zusammen die Skulptur bilden: Die republikanische Allegorie der stolzen Stadt Paris und der Kämpfer der Nationalgarde, der zwar am Fuß verletzt ist, aber mit wild entschlossenem Gesichtsausdruck sein Gewehr lädt, um weiterzukämpfen.

Das kleine notdürftig in ein Tuch gehüllte Mädchen am Sockel der Skulptur verkörpert die unter der Blockade an Hunger und Kälte leidende Pariser Bevölkerung.  Das Leid des Krieges war damit zwar präsent, aber betont werden Stolz und Kampfeswille- und dies in einer Zeit, in der der Gedanke der Revanche ein konstituierendes Element nationaler Einheit war.

Am 12. August 1883 wurde das Denkmal feierlich in einem Staatsakt auf dem rond-point de Courbevoie eingeweiht, der damit zum rond-point de la Défense wurde.

Postkarte, um 1900[9]

Bis Ende der 1950-er Jahre stand La Défense dort – auch noch als das Centre des nouvelles industries et technologies -heute in Einkaufszentrum und Hotel- als erstes Gebäude des neuen Viertels im Westen von Paris errichtet wurde.[10]

Prefecture des Hauts-de-Seine, Nanterre, 1971 – Rond-Point de La Defense, 1962

Dann allerdings mussten der rond-point und damit auch die Skulptur in seiner Mitte den jahrelangen Bauarbeiten zur Gestaltung des neuen  Geschäftsviertels weichen. La Défense verschwand buchstäblich in der Versenkung, bis sie 2017 an ihrem heutigen Platz am farbenprächtigen Agam-Brunnen aufgestellt wurde.

Vor der Skulptur ist eine marmorne Informationstafel in den Boden eingelassen.

Unter etwa 100 Bildhauern, darunter Auguste Rodin, gewann Barrias den 1879 ausgerufenen Wettbewerb, um an die Verteidigung von Paris gegenüber den Preußen 1870-71 zu erinnern. Diese bronzene Allegorie befand sich anfangs im Zentrum eines in der Perspektive des Arc de Triomphe gelegenen Kreisels, der heute der Umgestaltung des Viertels zum Opfer gefallen ist. Paris in Gestalt einer die Uniform der Nationalgarde tragenden Frau hält stolz das Banner. Mit dem kleinen Mädchen und dem Soldat zu ihren Füßen verkörpert sie den heldenhaften Widerstand der Stadt Paris. Als einziges Werk des 19. Jahrhunderts auf der Esplanade hat die Skulptur ihren Namen dem Viertel gegeben.


Anmerkungen:

[1] Siehe den Blog-Beitrag https://paris-blog.org/2021/11/25/champigny-sur-marne-die-letzte-grose-schlacht-des-deutsch-franzosischen-krieges-11-und-ein-deutsch-franzosischer-erinnerungsort/

[2] Siehe:  Rainer Kaltenboeck-Karow,  Eingekesselt: Epos zur Tragödie der deutschen Völker. BoD Norderstedt, S. 35/36

[3] http://www.souvenir-francais-92.org/2021/04/la-statue-de-napoleon-a-courbevoie.html

[4] Siehe dazu die Blog-Beiträge zum Hôtel des Invalides und zur Säule auf der place Vendôme: https://paris-blog.org/2017/03/12/napoleon-in-den-invalides-es-lebe-der-kaiser-vive-lempereur-3/ und   https://paris-blog.org/2021/06/02/150-jahre-abriss-der-vendome-saule-durch-die-commune-teil-1-ein-blick-auf-ihre-bewegte-geschichte-vive-lempereur-a-bas-lempereur-auch-ein-beitrag-zum-napoleonjahr-annee-napoleon-20/

[5] Bataille de Courbevoie : définition de Bataille de Courbevoie et synonymes de Bataille de Courbevoie (français) (leparisien.fr)

[6] Zu Bartholdi siehe  den  Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2017/02/23/die-freiheitsstatue-von-new-york-und-ihre-schwestern-in-paris-teil-2-die-vaeter-von-miss-liberty/

[7] Bild und Informationen zu dem Entwurf bei: https://www.musee-rodin.fr/ressources/focus-sur-oeuvre/defense  und Antoinette LE NORMAND-ROMAIN « La Défense de Paris », Histoire par l’image (pdf, 247.2 ko) en ligne

[8] Bild aus: https://www.tourisme-verdun.com/decouverte/post/sculpture-la-defense-de-rodin

[9] Bild aus: https://fr.wikipedia.org/wiki/La_D%C3%A9fense_de_Paris_(groupe_sculpt%C3%A9)#/media/Fichier:Carte_postale_-_Puteaux_-_Monument_de_la_D%C3%A9fense_-_9FI-PUT_84.jpg

[10] https://fr.wikipedia.org/wiki/Centre_des_nouvelles_industries_et_technologies Bild aus: https://www.leparisien.fr/hauts-de-seine-92/puteaux-92800/la-statue-de-la-defense-sort-de-son-trou-06-01-2017-6534642.php

Zum Tod von Sempé: Sein Wandbild im 3. Arrondissement von Paris

Am 11.8.2022 ist der Karikaturist und Zeichner Jean-Jacques Sempé kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben: Für mich Anlass, einen Blick auf zwei -mir besonders liebe- seiner wunderbaren Paris-Zeichnungen zu werfen und dann sein großes Wandbild in der rue Froissard im 3. Arrondissement vorzustellen.

Es gibt ein Bild, das, wie Andreas Platthaus in seinem Nachruf in der FAZ vom 12.8. schreibt, die Kunst von Sempé auf den Punkt bringt. „eine Ansicht von Saint-Sulpice, nur wenige Fußminuten entfernt von seinem Appartement, aber nicht der monumentalen Kirche mit ihrem weltberühmten Delacroix-Altarbild des mit dem Engel ringenden Jakob, sondern des baumbestandenen Vorplatzes, um den Passanten und Motorradfahrer kreisen – ‚Paris comme elle  faut‘. Und ganz oben überm Häuserrand der Platzbebauung reckt sich auf dem halbmetergroßen Blatt die moderne Tour Montparnasse in den Himmel. Dieses Hochhaus empfand Sempé als Gruß seiner ersten an die zweite Lieblingsstadt, an New York.“[1]

Der Platz, von dem aus diese Perspektive sich öffnet, ist -etwas erhöht- das Café de la Mairie. Dort sitzen wir gerne nach einem Chorkonzert, an dem ich -wie zuletzt ein paar Tage vor dem Tod Sempés- teilnehmen durfte. In diesem Café hatte sich auch der französische Schriftsteller Georges Perec niedergelassen, um ein kleines außergewöhnliches Büchlein über diesen Platz zu schreiben: tentative d’épuisement d’un lieu parisien.  An drei aufeinander folgenden Tagen hatte Perec alles aufgeschrieben, was er beobachtete: gewöhnliche, eigentliche unbedeutende Dinge des täglichen Lebens. Der volle Bus Nummer 96, der vorbei fährt,  ein Mann, der die Kirche verlässt, das Geräusch der vom Wind bewegten Blätter, die Tauben auf dem Platz, zwei kleine Hunde „genre Milou“- (der Hund Tintins) – und so weiter- auf 41 Seiten: „Die tausend unbeachteten kleinen Details, die das Leben in einer großen Stadt ausmachen“, wie es auf dem Klappentext des Buches heißt. Dort wird eine Parallele zu den Beobachtungen Monets an der Kathedrale von Rouen hergestellt: „un regard, une perception humaine, unique, vibrante, impressioniste, variable“.  Passt das nicht auch zu Sempé?[2]

Eine andere Zeichnung mit einem für uns ganz persönlichem Bezug ist diese Ansicht auf die typischen Pariser Zinkdächer mit ihren kleinen tönernen Kaminschloten.[3] Es gibt sogar Bemühungen die „toits de Paris“ in das immaterielle UNESCO-Welterbe aufzunehmen. Sempé wirft aber einen ganz besonderen und für ihn charakteristischen Blick darauf. Da haben es sich zwei auf dem Dach -über einem der typischen Dachfenster, den sogenannten œils de bœuf, gemütlich gemacht und genießen die Sonne… Wäre da nicht die Frau oben in einem der früher für die Hausangestellten  bestimmten  bonne-Zimmer unter dem Dach, die gerade ihr Spülwasser in den  Ausguss schüttet. Und wäre da nicht das Leck in der Dachrinne…. Wie treffend! Wir können davon ein Lied singen: In unserem kleinen Appartement unter den Dächern von Paris haben wir schon zweimal einen Wasserschaden gehabt wegen eines Lecks im Zinkdach. Beim zweiten Mal habe ich den von der Hausverwaltung zur Reparatur engagierten Dachdecker (couvreur-zingueur) etwas entnervt gefragt, ob wir denn nun damit rechnen könnten, von weiteren Wasserschäden verschont zu bleiben. Da zuckte er nur mit seinen Achseln: Wer könne das schon wissen… les toits de Paris…

Aber nun zum Wandbild Sempés in der rue Froissard im 3.  Arrondissement von Paris:

Foto: Wolf Jöckel, September 2022

Als dieses Wandbild entstand -eingeweiht wurde es im Februar 2019- war Sempé schon 86 Jahre alt, also etwas zu alt dafür, ein solches monumentales Wandbild zu erstellen, das bis auf eine Höhe von 10 Meter heranreicht. Die Aufgabe wurde also Jean-Marie Havan übertragen, einem Maler mit 40-jähriger Berufserfahrung.[4] Der erzählt:

„Seit meiner Jugend war ich ein Fan von Sempé. Also war ich glücklich über diesen Auftrag. Meine größte Angst war, es könne ihm nicht gefallen. Ich habe deshalb zuerst lange und ausführlich seine Art zu zeichnen und zu malen studiert und eine ganze Reihe von Kopien der originalen Zeichnung angefertigt, bevor ich mich an die Arbeit gemacht habe.“

Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, dass dieses Original 50 mal 30 cm maß, die Mauer aber 4,5 mal 6,5 Meter, die kleine Zeichnung musste also entsprechend vergrößert werden, dabei aber ihren ursprünglichen Charakter bewahren.

Jean-Marie Havan bei der Arbeit auf dem vierstöckigen Gerüst [5]

Eine andere  Schwierigkeit bestand darin, dass es sich bei  dem Original um ein Aquarell  handelte und Havan versuchen musste, auch diese Technik auf die Hauswand zu übertragen. Dazu kam, dass diese  Wand nicht ganz glatt war, was entsprechende Anpassungen erforderlich machte.

200 Stunden arbeitete Havan an seinem Werk. Sempé hat ihn dabei besucht. Er sei zufrieden gewesen gewesen und und habe dem Bild seinen Segen gegeben, so dass es auch mit seinem Signum versehen werden konnte.

Foto: Wolf Jöckel, September 2022

Dass Sempé gerade dieses Motiv für das Pariser Wandbild ausgewählt hat, ist sicherlich seiner großen Leidenschaft, dem Fahrradfahren, zu verdanken. In seinem Leben und Werk spielt das Fahrrad ja eine bedeutende Rolle.  Für Sempé war das Fahrradfahren „ein einfaches Mittel, frei zu sein. Du nimmst deine Hände vom Lenker und kannst fahren, wohin du willst.“[6]

Freiheit auf dem Fahrrad: Sempé-Münze von 2014

Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat dieses Thema bei der Einweihung des Wandbildes natürlich gerne aufgenommen, will sie doch -mit einer bei französischen Politikern verbreiteten Großmäuligkeit- Paris zur „capitale mondiale du vélo“, zur „Welthauptstadt des Fahrrads“, machen. In ihrer Rede betonte sie deshalb auch die Rolle des Fahrrads für die Stadt Paris, wo die Abhängigkeit vom Auto geringer sei als anderswo, und sie rühmte dann auch gleich ihre (in der Tat beeindruckende) Bilanz bei der Schaffung von Fahrradwegen in der Stadt.[7]

Aber es geht bei der Zeichnung/dem Wandbild ja nicht einfach nur um ein Lob des Fahrradfahrens, sondern es geht auch um (fehlende) Kommunikation: Die Fahrradfahrerin und der Fahrradfahrer fahren aneinander vorbei. Sie fahren zwar aus unterschiedlichen Richtungen kommend genau aufeinander zu, aber dann biegt der jeweilige Weg ab, sie sehen sich nicht an, fahren in entgegengesetzter Richtung weiter… Das ist Sempé…

Foto: Wolf Jöckel, 14. September 2022

Und das ist sein petit Nicolas, sein kleiner Nick. Der wurde -vermutlich von Jean-Marie Havan- nach dem Tod Sempés dem Wandbild hinzugefügt und weint seinem Schöpfer eine Träne nach. Eine schönere und anrührendere Würdigung Sempés kann es kaum geben.


Anmerkungen:

[1]Andreas Platthaus, Frankreich für die ganze Welt. Er liebte das Leben, und weil er das zeichnete, wurde er zurückgeliebt: Zum Tod des Jahrhundertcartoonisten Jean-Jacques Sempé. In: FAZ vom 12.8.2022

 Bild aus: https://www.mutualart.com/Artwork/Saint-Sulpice/0161015D6CDF81B7

[2] https://paris-blog.org/2017/07/22/die-kirche-saint-sulpice-in-paris-teil-2-der-gnomon-der-kampf-mit-dem-engel-von-delacroix-und-das-cafe-de-la-mairie/

[3] Siehe dazu den Blog-Beitrag Über den Dächern von Paris: Blicke von unserer Terrasse. https://paris-blog.org/2016/03/31/sonnenuntergang-in-paris/

[4] https://jeanmarie-havan.com/  Dort gibt es auch einen kleinen Film über die Entstehung des Wandbildes von Sempé

[5] Dieses und das nachfolgende Bild aus: https://www.paris.fr/pages/une-fresque-de-sempe-dans-le-3e-arrondissement-6490

[6] Zitiert bei: https://www.paris.fr/pages/une-fresque-de-sempe-dans-le-3e-arrondissement-6490

[7] https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2019/02/28/l-inauguration-d-une-fresque-sempe-croquee-a-la-maniere-du-dessinateur_5429510_4500055.html

Street-Art XXL entlang des Boulevard Vincent Auriol:  Eine Open-Air-Kunstgalerie im 13. Arrondissement von Paris (= Street-Art in Paris 6)

Man hat das 13. Arrondissement als das „Mauerblümchen der Pariser Stadtviertel“ bezeichnet.[1] Lange Zeit war es geprägt von kleinen Arbeitersiedlungen und Industriebetrieben und galt als eines der ärmsten Viertel von Paris. Dann kamen die Hochhäuser südlich der Place d’Italie, die dann -entgegen der ursprünglichen Konzeption- Ort des Chinesenviertels wurden. Und es kamen die Hochhäuser entlang des Boulevards Vincent Auriol, der sich von der Seine  bis zur Place d’Italie hinzieht: Ein breiter Boulevard, aber eher ernüchternd gemessen an romantischen Boulevard-Vorstellungen: Auf seinem breiten  Mittelstreifen ist die Stahlkonstruktion der Metro-Linie 6 errichtet, die das südliche Paris von der Place de la Nation bis zur Place de l’Étoile umrundet. In diesem Abschnitt verläuft sie nicht unterirdisch, sondern als Hochbahn.

Foto: Wolf Jöckel

Seit mehreren Jahren gibt es nun eine Initiative, in diesem Viertel eine Freiluftgalerie mit Werken  der Street-Art „im XXL-Format“ (Stéphanie Lombard) zu etablieren. Die Initiative geht zurück auf die im 13. Arrondissement ansässige Galerie Itinerrance, die von der Mairie des Arrondissements aufgegriffen und unterstützt wurde und wird.

Inzwischen haben renommierte Street-Art – Künstler aus aller Welt dazu beigetragen, das Viertel auf diese Weise mit Farbe und Leben zu erfüllen. Die Open-Air-Kunstgalerie ist damit zu einer viel beachteten und preisgekrönten Attraktion des 13. Arrondissements geworden.[2]

Kunst gibt es an (je)der Straßenecke. Foto: Wolf Jöckel

Einen ersten, wenn auch flüchtigen Eindruck erhält man, wenn man mit der Linie 6 von der Metrostation Quai de la Gare zur Place d’Italie fährt: Wo hat man schon sonst die  Möglichkeit, eine Kunstausstellung vom Metrofenster aus wenigstens flüchtig in Augenschein zu nehmen? Allerdings hat man zu manchen Zeiten nur geringe Chancen, einen Sitzplatz am Fenster zu ergattern; und selbst dann ist die Aussicht ja nur auf eine Seite des Boulevards beschränkt.

Einen geruhsameren und intensiveren Eindruck erhält man, wenn man die Strecke entlang des Boulevard Vincent Auriol mit dem Fahrrad oder -noch besser- zu Fuß zurücklegt. Dann kann man auch noch den einen oder anderen lohnenden Abstecher in eine der Seitenstraßen machen, in denen weitere große Wandgemälde zu sehen sind. Ein solcher Spaziergang wird nachfolgend vorgeschlagen. Allerdings erhebt er keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts der Vielzahl großer Formate im 13. Arrondissement bietet es sich an, den Spaziergang auf den Boulevard Vincent Auriol mit wenigen kleinen Abstechern in Seitenstraßen zu beschränken. Dort ist die „Street-Art-Dichte“ besonders groß und man erhält einen  intensiven Eindruck von der thematischen und ästhetischen Vielfalt der Open-air-Galerie des 13. Arrondissements. Da die ausgewählten Street-Art-Werke rechts und links des Boulevards liegen, habe ich jeweils die Straßenseite (von der Seine ausgehend wie die Hausnummern) angegeben.

Eine gute Orientierung bietet auch der Plan der Galerie Itinerrance, der allerdings den Stand von 2019 wiedergibt, sodass neuere Werke nicht berücksichtigt sind:

https://itinerrance.fr/app/uploads/2019/06/Carte-BoulevardParis13-mai-2019.pdf

  1. Invader: PA 1240 

46, boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)

Unser Spaziergang beginnt mit zwei großformatigen space-invader-Mosaiken, die ganz oben an der Fassade des Hauses Nummer 46 angebracht sind. Es gibt zwar schon vorher ein XXL-Format am Boulevard (Les Yeux/die Augen  von Tristan Eaton an einem Wasserturm des Krankenhauses Salpêtrière,  29, boulevard Vincent Auriol), aber die beiden space-invader erscheinen ein idealer Beginn des Spaziergangs.  

Der Invader ist nämlich einer der bekanntesten französischen Street-Art-Künstler und mit weit über 1000 Werken allein in Paris sicherlich der mit Abstand präsenteste Street-Artist der Stadt. Er nummeriert alle seine Arbeiten: Hier ist es das Pariser Mosaik Nummer 1240.  In Paris begann der Invader 1998, seine Mosaikbilder von Figuren des Videospiels Space Invaders nachts und heimlich anzubringen. Inzwischen ist er international bekannt und gefragt. Er stellt in Galerien aus, ist selbst im Museum of Modern Art in New York vertreten, und  wer als Hausbesitzer eine invader-Figur an seiner Hauswand vorweisen kann, wird nicht mehr die Polizei rufen, sondern sich glücklich schätzen.[3]

Foto: Wolf Jöckel

Hat der Invader ein Werk abgeschlossen, spricht er von Invasion. Hier sind space-Invaders gerade dabei, in der Stadt zu landen.  Und sie landen gewissermaßen als Vorhut der Street-Art, die dieses Viertel insgesamt „eingenommen“ hat. Was für einen besseren Beginn für unseren Spaziergang könnte es also  geben?

2. Inti: Madre secular II             

81, boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)

Sonia Branca – Rosoff schreibt zu diesem Bild:  Wir nehmen zuerst die Harmonie der Farben Lila und Gelb wahr, die im Pop-Universum der Wandkunst selten sind. Es ist eine „Madonna“, eingehüllt in ihr großes Gewand, blass vor einem dunklen Rosenhimmel. Es ist ein Bild von beruhigender Weiblichkeit, die bescheiden ihren Blick abwendet. Ganz anders als Failes Sprung über die Dächer auf der anderen Seite des Boulevards (siehe Nummer 9 dieses Spaziergangs).

Fotos: Wolf Jöckel

Wenn man sich dem Bild nähert, wird seine Süße morbide. Warum hält diese Frau einen Apfel mit der Aufschrift G (wie Google?) –  oder ist der rote Apfel der Giftapfel des Märchens? Und warum ist die Halskette aus Totenköpfen? Was meinte der Chilene Inti (Sonne in Quechua) mit dem Namen Madre secular, der säkularisierten Jungfrau? [4]

3. Conor Harrington: Étreinte et lutte/Umarmung und Kampf

 85, boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)

Foto: Sonia Branca-Rosoff

Doppeldeutig wie die Madre secular Intis ist auch das benachbarte große Wandbild des Iren Conor Harrington.[5]  Man könnte zunächst vermuten, dass hier zwei Freunde dargestellt sind, die sich umarmen. Aber -wie der Titel unterstreicht- es kann sich auch um einen Kampf handeln.

        Foto: Wolf Jöckel

Dafür spricht nicht nur die Fensterreihe, die die beiden trennt. Harrington hat das Werk ausdrücklich auf den französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 bezogen und auf die Zerrissenheit der französischen (und europäischen) Gesellschaft(en).[6]

4. Pantonio: Fragile agile  

91, boulevard Vincent Auriol  (linke Seitenstraße)

Der von den  Azoren stammende Pantonio ist mit seinen Vögeln und Fischen in Paris wohlbekannt. 2014 bemalte er die Seitenfassade eines 66 Meter hohen Hochhauses im Chinesenviertel (13. Arrondissement), das größte Wandbild Europas.[7]

Am Boulevard Vincent Auriol hat er, dem Ort entsprechend und als Kontrapunkt zu den umgebenden Hochhäusern, sein Bild horizontal angelegt, aber genau so leicht und farbig. 

Fische, Vögel und Lianen sind spielerisch miteinander verwoben. Pantonio ging es dabei nicht um eine Botschaft, sondern -angeregt von der Kinderkrippe, die in dem Gebäude ihren Platz hat-  allein „um die Liebe an der Zeichnung“.[8]

5.   David de la Mano: ohne Titel

  6, rue Jenner (rechte Seitenstraße)

Fotos: Wolf Jöckel

Dieses Werk wurde von den Bewohnern des Wohnblocks unter drei verschiedenen Entwürfen ausgewählt: Das Profil eines Gesichts, das aus vielen phantasievollen Gestalten gebildet ist.

6.  Seth: gamin de Paris/Kind von Paris

Ecke boulevard Vincent Auriol/ 110, rue Jeanne d’Arc (rechte  Straßenseite)

Auch Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt, wie zum Beispiel dieses Mädchen in der Rue Émile Deslandres im 13. Arrondissement, in der Nähe der Manufacture des Gobelins.

        Foto: Wolf Jöckel

Am Boulevard Vincent Auriol ist es ein kleiner Junge, der für ihn die Kindheit in unseren großen Metropolen repräsentiert. Dazu Seth:

„Ich bin in der banlieue von Paris aufgewachsen, in einer grauen Stadt aus Beton und Asphalt. Die Farben, die mich geprägt haben, habe ich in meinen Büchern gesucht, in meinen Spielen und phantasierten Reisen. Dieser neugierige Junge, der auf die andere Seite der Mauer blickt, bestrahlt mit Licht und Farbe die umliegenden Häuser. Die Macht der Vorstellung verändert unsere Umgebung“[9]

Foto: Wolf Jöckel

7. Die Pandas von Nilko/Tignous

107, rue Jeanne d’Arc (rechte Seitenstraße)

Fotos: Wolf Jöckel, September 2022

Seit 2020 gibt es dieses Panda-Wandbild in der rue Jeanne – d’Arc. Es bezieht sich auf den Comic Panda dans la Brume (éd. Glénat, 2010). Der Zeichner und Karikaturist Tignous, der im Januar 2015 bei dem islamistischen Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo ermordet worden war, hatte in diesem Comic am Beispiel der Pandas die Ursachen und Folgen der Umweltzerstörung satirisch veranschaulicht. [10]

Der Street-Artist Nilko hat das Wandbild im Stil der Zeichnungen von Tignous angefertigt.

Hier hat sich einer der letzten Pandas ganz oben auf einen Baum geflüchtet. Aber offensichtlich ist er sich dessen bewusst, dass seine Tage gezählt sind…

8.  Jana & JS: Photographes de la  rue Jeanne-d’Arc

110, rue Jeanne d’Arc (rechte Seitenstraße)

Gleich in der Nähe findet man die Selbstportraits des  französisch-österreichischen Duos Janna und JS: Links Jana knieend, rechts JS, der seine Kamera direkt auf den Betrachter richtet.

Fotos: Wolf Jöckel

Beide sind vor dem Hintergrund bienenwabenartiger Hochhauswohnungen platziert, die -wie bei ihnen üblich- in Schablonentechnik angefertigt sind und die man auch auf dem Quai 36 des Pariser gare  du Nord findet.[11]

Foto: Wolf Jöckel

9. FAILLE: Et j’ai retenu mon souffle/Und ich hielt den Atem an

  98, rue Jeanne d’Arc  (rechte Seitenstraße) )

Hinter dem Künstlernamen FAILE verbirgt sich das amerikanische Street-Art-Duo Patrick McNeil und Patrick Miller. Die beiden leben und arbeiten in Brooklyn. Das Bild stellt eine Tänzerin dar, die  sich über der Stadtlandschaft New Yorks in die Lüfte emporschwingt.

        Foto: Wolf Jöckel

9 a. Horor: Das galoppierende Pferd (Equus ferus caballus)

121, rue Jeanne d’Arc

Horor ist ein Street- Artist, der sich vor allem auf Tiere und besonders auf große Wandbilder mit Pferden spezialisiert hat.

Foto: Frauke Jöckel

10. Shepard Fairey: Rise above rebel   

93, rue Jeanne d’Arc  (linke Seitenstraße)

Shepard Fairey, alias Obey, ist einer  der Stars der internationalen Street-Art-Szene. Bekannt wurde er vor allem durch „Hope“, das legendäre Portrait von Barack Obama, das Obey für dessen Präsidentschaftskampagne entwarf, die er nach Kräften unterstützte. [12]

Das politische Engagement Obeys ist auch bei dieser Arbeit deutlich zu erkennen.

Foto: Wolf Jöckel

Gemalt ist eine Frau, ein Opfer von Unterdrückung, eingezwängt zwischen Hauskante und Fensterreihe. Als Farben hat Obey schwarz und rot verwendet, die für Gewalt, Angst und Tod stehen, aber auch für den Kampf gegen Unterdrückung: Der Blick der Frau ist nach oben gerichtet auf ein Mandala der Hoffnung und der göttlichen Harmonie.

11. Shepard Fairey: Delicate Balance

60, rue Jeanne d’Arc (linke Seitenstraße, allerdings in etwas größerem Abstand zum   Boulevard Vincent Auriol)

Fotos: Wolf Jöckel

Auch dies ist ein Mandala Shepard Faireys: Angelegt in blau-grüner Farbe weist es auf die unserer Welt drohenden Umweltgefahren und mögliche Abhilfen hin.[13]

Ausgehend von diesem Bild entwickelte Fairey seine Installation Earth Crisis unter dem Eiffelturm während der Pariser Uno-Klimakonferenz COP 21.[14]

Wenn man die rue Jeanne d’Arc noch weiter geht bis über die Place Jeanne d’Arc mit der Kirche Notre dame de la Gare hinaus, kann man das ukrainische Mädchen von C 215 sehen. (Siehe Spazierung Nummer 13)

12. Shepard Fairey: Marianne

 186 rue Nationale  (linke Seitenstraße) 

Auf diesem Foto sieht man gleich zwei große Wandbilder- ein Beispiel dafür, wie nah beieinander die „Ausstellungsstücke“ der open-air-Galerie des 13. Arrondissements manchmal liegen.

Foto: Wolf Jöckel (November 2019)

Links ein Katzenkopf von C 215, rechts eine Marianne des uns nun schon bekannten Shepard Fairey. Es handelt sich dabei um das größte existierende Marianne-Bild:   ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise  Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.  

Foto: Wolf Jöckel (November 2019)

Im Dezember 2020 ließ eine anonyme Gruppe in einer Aufsehen-erregenden nächtlichen Aktion die Marianne Shepard Faireys (alias Obey) blutige Tränen weinen. Gleichzeitig wurde die Devise der Französischen Revolution mit weißer Farbe übermalt. An der Seite die Worte: Marianne pleure und der Name einer Internetplattform, auf der die Aktion verbreitet und begründet wurde.[15]

Die Aktion verstand sich als Protest gegen die verschärften französischen Sicherheitsgesetze, die als Reaktion auf den islamistischen Terror unter der Präsidentschaft Macrons eingeführt wurden. In einem seiner Büros im Elysée-Palast hängt übrigens eine Kopie des originalen Bildes.[16]

Obey reagierte durchaus verständnisvoll auf diese spektakuläre Aktion: Er sei auf der Seite derer, die sich gegen Ungerechtigkeiten wehrten, vor allem wenn es sich um Menschenrechte handele. Als er seine Marianne wieder in den ursprünglichen Zustand versetzte, fügte er gleichwohl eine (dezente) blaue Träne hinzu.

Foto: Wolf Jöckel (September 2022)

Und den Erlös der Drucke, die er von dem neuen Bild anfertigen ließ, stellte er den Restos du cœur zur Verfügung. Eines dieser allen Bedürftigen offenstehenden Restaurants befindet sich ganz in der Nähe von Obeys Marianne…. [17]

Liberté Égalité with tear, 18 x 24, 2021/©Studio Obey/Galerie Itinerrance

13. C 215: untitled      

      141, boulevard Vincent Auriol

C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten  französischen Street-Art-Vertreter. Manchmal wird er sogar als französische Antwort auf Banksky beschrieben. Vor allem ist C 215 Portraitist: Seine Motive sind dabei oft Obdachlose, Straßenkinder und alte Menschen, womit er die Gesellschaft auf die Vergessenen unseres Lebens aufmerksam machen möchte. Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf  Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte.

Foto: Wolf Jöckel

Aber auch bedeutende Persönlichkeiten werden von ihm portraitiert: Zum Beispiel berühmte Männer und Frauen des Marais oder des Pantheons, für die er in den Straßen aufgestellte Strom-Verteilerkästen  als Unterlage wählte.[18]

Foto: Wolf Jöckel

Am Boulevard Vincent Auriol hatte C 215 eine  ganze Hauswand zur Verfügung und als Motiv wählte er eine Katze – ausgewählt wegen ihrer Schönheit, aber auch wegen ihrer Symbolik: einerseits ist sie ein geselliges Haustier, andererseits aber auch auf ihre Unabhängigkeit und Freiheit bedacht…

Foto: Wolf Jöckel

Ebenfalls im 13. Arrondissement, in der rue Patay Nummer 131, hat Christian Guémy nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein großes Wandbild gemalt. Er versteht es nicht nur als Zeichen der Solidarität mit dem ukranischen Volk, sondern auch als „message universel“ gegen den Krieg.

Es handelt sich um das Portrait eines kleinen Mädchens in den ukrainischen Nationalfarben und mit einem landestypischen Kranz aus Blumen. C 215 bezieht sich dabei auf einen Wunsch des ukrainischen Präsidenten, keine Präsidenten-Portraits in den Amtsstuben aufzuhängen, sondern Bilder von Kindern. [18a]

Fotos: F. Jöckel

14. Bomk:  Jeune graffeuse avec sa bombe de peinture

 126 boulevard Vincent Auriol (rechte  Straßenseite)

Fotos: Wolf Jöckel

                

15. Add Fuel: untitled

  120, boulevard Vincent Auriol 

Add Fuel ist ein portugiesischer Künstler. Wesentliche Anregungen für seine Arbeiten erhält er, wie auch hier zu beobachten ist,  von den azulejos, den traditionellen portugiesischen Keramikfliesen. Die gestalterische Herausforderung für den Künstler war hier die architektonische Tristesse des Wohnblocks aufgrund des strengen, gleichförmigen Aufbaus der Fassade. Add Fuel durchbrach die Aneinanderreihung horizontaler Fassadenbänder durch die dynamische Verwendung von „Kacheln“ unterschiedlicher Farben und Formen und macht die Fassade damit lebendig.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevards (Nummer 135) gibt es eine weitere Arbeit Add Fuels mit dessen unverkennbarer „Handschrift“.

Auch hier hat sich der Künstler bei der Neugestaltung der Fassade von den traditionellen portugiesischen azulejos inspirieren lassen, mit denen er  gewissermaßen das Haus einhüllt. Darauf verweist auch der Titel: Envolvente/umhüllend.  Die zweifache Verwendung ähnlicher gestalterischer Mittel versteht Add Fuel als Hinweis auf die große portugiesische Gemeinde in Paris, eine der größten weltweit.

16.  Invader: PA 1205 Dr. House

 122, boulevard Vincent Auriol (rechte  Straßenseite)

Dies ist ein außergewöhnliches Werk des Invaders: außergewöhnlich wegen seiner Größe und außergewöhnlich auch, weil es sich um eine Auftragsarbeit handelt. Beides hängt insofern zusammen, als ein aus kleinen Kacheln zusammengesetztes Mosaik  dieser Größe nur mit einem erheblichen Aufwand – zum Beispiel einem Gerüst- hergestellt werden kann und eine längere Arbeitszeit erfordert: keine Voraussetzungen also für eine nächtliche illegale Aktion. Das Mosaik gehört damit nach den Worten des Invaders in die Kategorie seines „1% legal“, zu dem einen Prozent seiner Arbeiten also, die in aller Legalität entstanden sind.[19]

Foto: Wolf Jöckel

Es handelt sich um die Figur des Dr. House,  der einer populären  Fernsehserie seinen Namen  gegeben hat. Der etwas schräge, aber sehr kompetente Arzt ist mit all seinen Attributen ausgestattet: dem Dreitagebart, dem offenen Hemd und Jackett, den Turnschuhen und dem Stock; ein passendes Motiv also für das hôpital de la Pitié-Salpêtrière, zu dem der vom Invader geschmückte Bau gehört.  Das für den Diagnostiker Dr.  House unentbehrliche Stethoskop wird von dem gerade anfliegenden space invader gebracht. Diese Figur steht damit zwar nicht im Mittelpunkt wie bei den großen Mosaiken am Anfang dieses Spaziergangs- und bei den meisten  Arbeiten des Invaders- aber fehlen darf dieses Erkennungszeichen auch nicht.

Der Invader hat sich selbst zu dieser sehr medienwirksamen Arbeit geäußert:  Pourquoi le Dr House ? « J’avais envie de faire un grand portrait, ce qui est difficile à faire de manière non officielle, car cela prend du temps. Ce personnage, que j’aime bien, est un symbole de la culture populaire de notre époque, et le contexte s’y prêtait », s’amuse Invader. Pour l’artiste, il s’agit aussi d’un « exercice de style » : « Aujourd’hui, le carreau de mosaïque et l’esthétique 8 bits, très pixelisée, sont devenus ma­ signature, plus que les personnages Space Invader eux-mêmes. » [20] 

 17. MAYE: Étang de Thau/die Lagune von Thau

  131, boulevard Vincent Auriol  (linke Straßenseite)

Die Heimat von MAYE ist Südfrankreich, er stammt aus Montpellier. Sein großes Wandbild am Boulevard Vincent Auriol ist nach dem Étang de Thau benannt, einer großen Lagune bei Sète.

Die Anklänge an den Süden sind unübersehbar: Da ist vor allem der in der Farbe der Melonen gehaltene Untergrund und da ist der Flamingo, der hier einer phantastischen Figur als Reittier dient. Gekleidet ist der Ritter wie ein cavalier camarguais, ein berittener Rinderhirte der Camargue- hier dargestellt gewissermaßen als ein Don Quichotte der Camargue. So bringt MAYE einen Hauch des Südens in die Steinlandschaft des 13. Arrondissements.  

18.  D*Face:  Love won’t tear us apart

   10, place Pinel (Platz an der rechten Straßenseite)

Foto: Wolf Jöckel

Der Engländer Dean Stockton, alias D*Face hat ein etwas verstörendes Liebespaar an die Wand gemalt: Ein blondes pin-up-girl, das an Comic-Figuren (oder auch an Roy Lichtenstein) erinnert, umarmt einen jungen Mann mit einem Totenkopf-ähnlichen Gesicht. Die Botschaft, die  D*Face damit vermitteln will: Der Totenkopf-Liebhaber stehe für die Personen, die man geliebt habe, die zwar nicht mehr Teil unseres Lebens seien, dafür  aber unseres Gedächtnisses.[21] Ich kann das -ehrlich gesagt- nicht ganz nachvollziehen. Aber D*Face fordert ausdrücklich die Betrachter dazu auf, seine Werke auf eigene Weise zu interpretieren. Also: Ich sehe in dem Bild eher einen Todeskuss und würde ihm den Titel: Der Tod und das Mädchen geben… 

19. Jorge Rodriguez-Gerada:  Portrait Philippe Pinel

4-10, place Pinel

Die place Pinel ist benannt nach dem französischen Psychiater Philippe Pinel (1745-1826).  Pinel war von 1792 bis 1794 medicin chef de l’hospice de Bicêtre, eines Gefängnisses und Krankenhauses, danach war er auch in der Salpêtrière tätig. Sein großes Verdiebst war es, die „Irrsinnigen“ nicht mehr wie Zuchthäusler, sondern wie Kranke zu behandeln. Er arbeitete daran, Geisteskrankheiten empirisch zu erfassen und adäquate Behandlungsmethoden zu entwickeln. Damit schuf er die Grundlage für die Anerkennung der Psychiatrie als eines Zweiges der Medizin.

Pinel befreit die Kranken aus der Bicêtre in 1793. Gemälde von Charles Louis Lucien Müller in der Lobby des Académie Nationale de Médecine; Paris [22]

20.  ST 4: The project

   10, place Pinel

ST 4 ist ein aus Tunesien stammendes Street-Art-Duo. Sie haben ein Haus an der Place  Pinel mit einer graphischen Komposition versehen, die auf arabischen Schriftzeichen beruht, allerdings keine konkrete Botschaft enthält. Hier sind es abstrakte Formen, die rein ästhetischen Charakter haben.

Foto: Wolf Jöckel

21. BTOY: Evelyn Nesbit

  3, rue Esquirol  (rechte Seitenstraße)

Foto: Wolf Jöckel

Das Motiv für dieses Wandbild wurde von den Bewohnern des Hauses selbst ausgewählt. Es handelt sich um Evelyn Nesbit, ein amerikanisches Mannequin/eine Schauspielerin aus der Zeit um 1900. Sie war die schönste und berühmteste Revue-Tänzerin der Gibson Girls. Berühmt wurde sie allerdings vor allem wegen ihres turbulenten Lebens: Als junges Mädchen wurde sie von dem Stararchitekten Stanford White, dem Schöpfer des Madison Square Gardens, vergewaltigt. 1905 heiratete sie Harry Kendall Thaw, den Sohn eines Kohlen- und Straßenbaumagnaten, der nicht nur kokainabhängig und sadistisch war, sondern auch hochgradig eifersüchtig auf die frühere Beziehung Nesbits mit White. Thaw trug immer eine  Pistole bei sich, um „seinen Besitz“  zu verteidigen. 1906 erschoss Thaw während einer Theateraufführung im Madison Square Garden White. Thaw wurde  verurteilt, genoss aber nach seiner Entlassung  „das Ansehen eines Volkshelden, der die Entehrung eines unschuldigen Mädchens gerächt hatte“ – von dem er sich dann allerdings umgehend scheiden ließ…  Ist es dieses turbulente Leben, so kann man mit Sonia Branca-Rosoff fragen, das dem Portrait von Evelyn Nesbitt sein melancholisches Flair verleiht? [23]

22. « LA NUEVE DE LA 2E DB »

20, rue Esquirol

Ein paar Schritte weiter gibt es auf der rechten Seite der rue Esquirol ein großes 2020 entstandenes Wandbild zur Erinnerung an die spanischen republikanischen Soldaten, die 1944 bei der Befreiung von Paris eine wesentliche Rolle gespielt haben. „La Nueve“ war die 9. Kompanie der 2. Panzerdivision des Generals Leclerc, die am 24. August in Paris einrückte: Die Spitze bildete die „Colonne Dronne“ mit spanischen Soldaten, die nach der Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg in Frankreich Zuflucht gesucht hatten.

Für die Initiatoren des Wandbildes wird allerdings die Rolle der spanischen Truppen bei der Befreiung von Paris nicht hinreichend gewürdigt. Sie weisen in diesem Zusammenhang auf eine Umfrage unter der Pariser Bevölkerung mit entsprechenden Ergebnissen hin und auf die Wirkung der berühmten Rede de Gaulles, der die Befreiung von Paris allein als Werk von Franzosen dargestellt habe: „Paris martyrisé mais Paris libéré, par lui-même et par la France éternelle.[24]

Immerhin gibt es entlang des Einmarschwegs der Division Leclerc eine Reihe von Markierungen, die an die spanischen Soldaten an der Spitze der Befreiungstruppen erinnern.

Hier zum Beispiel eine auf dem Pont d’Austerlitz:

Und jetzt gibt es dieses neue Wandbild, das auch an das lange Exil der spanischen Republikaner erinnert.

Fotos: Wolf Jöckel (September 2022)

23.  D*Face: Turncoat

155, Boulevard Vincent Auriol  (linke Straßenseite)

Auf der anderen Seite des Boulevard Vincent Auriol befindet sich der jardin de la raffinerie Say, eine kleine Parkanlage auf dem Gelände einer früheren Zuckerraffinerie. Dort hat D*Face 2018 das 25  Meter hohe Bild einer Frau als Comic-Figur an die  Hauswand gemalt.

Foto: Wolf Jöckel

Dazu Sonia Branca-Rosoff: „Es gibt wenige Fresken, die ich verabscheue, aber dieses: ja! Große Comic-Köpfe zu produzieren macht für mich keinen Unterschied zur Werbung. Die  Zeichnung ist grob, die Farben sind aufdringlich.“

Foto: Wolf Jöckel

Man kann darin -wie Sonia Branca-Rosoff- einen Ausdruck der „américanisation triomphante“ sehen. Allerdings scheinen die beiden Frauen auf den Parkbänken davon unbeeindruckt und unbeeinflusst zu sein…

24. DALeast: The  confettier

 154, boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)

Daleast @Paris, France [25]

Dies ist ein beeindruckendes Werk des chinesischen Künstlers DALeast. Auf einem blauen Untergrund hat er zwei Leoparden in voller Bewegung dargestellt.  Mehdi Ben Cheik, der Direktor der Galerie Itinerrance und Initiator der Open-air-Galerie im 13. Arrondissement, sieht hier sogar einen Bezug zu Delacroix‘ berühmtem Bild La Chasse aux lions (Löwenjagd).

Foto: Wolf Jöckel

Kämpfen die beiden Tiere miteinander? Ist es das Spiel von -immerhin miteinander verbundenen- Jungtieren oder sogar ein Liebesspiel? Dem Betrachter bleibt die Deutung überlassen.

25.   Hush: untitled

         169, boulevard Vincent Auriol

Am Ende dieses Spaziergangs entlang des boulevard Vincent Auriol sind auf engstem Raum vier große und ganz unterschiedliche Wandbilder zu sehen. Hush, der das nachfolgend abgebildete Fresko gemalt hat, stammt aus England, hat aber viele Jahre in Asien  verbracht. Das ist an seinem Beitrag zur open-air-Galerie des 13. Arrondissements deutlich zu erkennen.

Abgebildet ist eine asiatische Frau, eine Geisha, allerdings, was den  Kontrast von Farben und Materialien angeht, „fast im Stil von Klimt“. [26]

26. Hownosm, Sun Daze

167, boulevard Vincent Auriol

Hinter dem Künstlernamen Hownosm verbirgt sich ein deutsches Street-Art- Zwillingspaar, das 2019 von der Galerie Itinerrance eingeladen wurde, eine monumentale Wand am boulevard Vincent Auriol zu bemalen: Hier ein Ausschnitt:

Foto: Wolf Jöckel

Der Titel „Sun Daze“ ist ein Wortspiel, weil es an „Sundays“ erinnert. Das soll nach Aussage der Künstler dazu anregen, sich ab und zu – zumindest jedenfalls am Sonntag- „auszustrecken, zu entspannen und wahrzunehmen, dass es mehr im Leben gibt als arbeiten, arbeiten, arbeiten.“ [27]

27. Pakone und Wen2: „Les Perdrix “

167, boulevard Vincent Auriol

Seit 2021 gibt es dieses Wandbild eines französischen Street-Art-Malers aus Brest. Der Titel bezieht sich auf einen Leuchtturm der Bretagne, und dass wir uns in der Nähe des Meeres befinden, ist unverkennbar.

28. Cryptik: Écriture latine calligraphiée, Poème W. Soroyan

   171, boulevard Vincent Auriol

Gleich um die Ecke des Wohnblocks ist der Eingang zur Librairie Nicole Maruani, die eine „Lecture Gourmande“ verheißt, also gewissermaßen eine „Feinschmecker-Lektüre“. Und eine ganz  besondere Lektüre erwartet hier den Street-Art- Passanten. Denn  Cryptik stammt aus Korea und seine bevorzugte künstlerische Ausdrucksform ist die Kalligraphie. Auf der Hauswand über der Buchhandlung hat er eine kalligraphische Botschaft angebracht mit dem Gedicht von William Soroyan  The time of your life (1939).

Für mich ist die Schrift zwar sehr schön, aber der Inhalt eher kryptisch. Ich kann das Gedicht auf der Fassade leider nicht entziffern – und anderen wird das vielleicht ja ähnlich ergehen. Ich gebe deshalb den Anfang und das Ende des Gedichts hier wieder:

In the time of your life, live — so that in that good time there shall be no ugliness or death for yourself or for any life your life touches. Seek goodness everywhere, and when it is found, bring it out of its hiding-place and let it be free and unashamed.  (…)   „In the time of your life, live — so that in the wondrous time you shall not add to the misery and sorrow of the world, but shall smile to the infinite delight and mystery of it.“[28]

Dies scheint mir ein schöner Abschluss dieses Spaziergangs zu sein.

Wer aber noch Energie, Zeit und Lust auf mehr hat, dem empfehle ich das kleinstädtische Idyll La Butte aux Cailles auf der anderen Seite der place d’Italie: auch ein Eldorado der Street-Art. Allerdings gibt es da nicht die Hochhäuser und passend dazu eher nicht die großen Formate wie entlang des Boulevard Vincent Auriol, sondern hier gibt es vor allem eine kleinformatige Street-Art.  Da wird man Künstler wie Seth wiederfinden und dazu andere -wie Miss Tic-, für deren Arbeiten die großen, repräsentativen Formate nicht passen. Mehr dazu bei:

https://paris-blog.org/2019/07/01/la-butte-aux-cailles-ein-kleinstaedtisches-idyll-in-paris/

Hier zum Beispiel ein schöner typischer Beitrag Seths zum Krieg in der Ukraine in der Rue Buot (13. Arrondissement)

Verwendete Literatur:

Mehdi Ben Cheikh, Boulevard Paris 13. Paris: Albin Michel/Galerie Itinerance 2020. Vorworte von Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, und Jérôme Coumet, Bürgermeister des 13. Arrondissements

Stéphanie Lombard, Guide du street art à Paris. Paris  2020. Darin Kapitel über die „Formate XXL“ im 13. Arrondissement

Sonia Branca-Rosoff, https://passagedutemps.com/2019/04/19/les-fresques-du-boulevard-vincent-auriol/  (Bei einem Spaziergang mit Sonia Branca-Rosoff lernte ich 2019 die Street-Art entlang des Boulevard Vincent Auriol kennen. Damals sind viele meiner in diesen Beitrag aufgenommenen Fotos entstanden, andere danach bis September 2022. Einige Bilder und Texte habe ich auch dem schönen Blog von Sonia Branca-Rosoff  passage du temps entnommen. Merci, Sonia!)


Anmerkungen:

[1] https://help-tourists-in-paris.com/paris-entdecken/viertel/tipps-zum-13-arrondissement-in-paris/

[2] https://itinerrance.fr/hors-les-murs/le-parcours-street-art-boulevard-paris-13/ 

Marianne d’or pour le street art dans le 13e arrondissement (francetvinfo.fr) Siehe auch: https://www.lefigaro.fr/arts-expositions/boulevard-paris-xiii-visite-du-musee-du-street-art-qui-ne-dit-pas-son-nom-20190629

[3] Zum Invader siehe: https://paris-blog.org/2018/10/01/street-art-in-paris-3-der-invader/

[4] Text und Bild aus: https://passagedutemps.com/2019/04/19/les-fresques-du-boulevard-vincent-auriol/

[5] Bild aus: https://passagedutemps.com/2019/04/19/les-fresques-du-boulevard-vincent-auriol/

[6] Harrington: „Je pense que  la  fresque sera plutôt appropieée avec les élections présidentielles qui approchent. La manière dont j’ai peint les personnages (…)  est assez significative des changements de la  société  françaises (et européenne).“  Boulevard Paris 13, S. 60

[7] Bild aus: https://www.blocal-travel.com/world/france/paris/street-art-in-paris-13th-district/  Das Wandbild ist von der Place de Vénétie aus zu sehen, auf der Höhe der avenue de Choisy Nummer 20.

[8] Pantonio: „je me suis … inspiré de la crèche et des enfants se mouvant derrière  mes murs. Je  n’avais pas de message prédéfini à faire passer, mais  en voyant leurs dessins, j’ai réalisé qu’il n’etait question ici que d’amour du dessin.“ Boulevard Paris 13, S. 36

[9] Boulevard Paris 13, S. 40

[10] https://itinerrance.fr/la-nouvelle-fresque-du-boulevard-paris-13-en-hommage-a-tignous/

https://www.babelio.com/livres/Tignous-Pandas-dans-la-brume–Dans-les-forets-de-bambous/262101

[11] Siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2020/04/08/street-art-in-paris-5-gare-du-nord-quai-36/

[12] http://www.xgames.com/action/skateboarding/article/8349476/skater-artist-shepard-fairey-sentenced-probation-obama-hope-poster

[13] Bildausschnitt aus Boulevard Paris 13, S. 47

[14] Bild aus: https://modernevolution.com/post/134408030064/shepard-faireys-eiffel-tower-installation

[15] https://www.leparisien.fr/paris-75/paris-75013/paris-detournee-la-fresque-d-obey-representant-marianne-pleure-des-larmes-de-sang-14-12-2020-8414138.php

[16] Bild aus: Quelle est cette oeuvre de street art dans le bureau de Macron ? – Le Parisien (vom 27. Juli 2017) Über Frankreich im Ausnahmezustand siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/04/01/paris-ausnahmezustand/

[17]  https://www.20minutes.fr/paris/2978583-20210216-paris-marianne-artiste-obey-13e-retrouve-couleurs-continue-pleurer

Bild aus: https://www.connaissancedesarts.com/arts-expositions/street-art/street-art-obey-restaure-sa-marianne-a-paris-et-lui-ajoute-finalement-une-larme-bleue-11153203/

[18] Siehe die Blog-Beiträge: https://paris-blog.org/2020/05/10/grosse-maenner-und-frauen-des-marais-eine-ortsbesichtigung-anhand-der-portraits-des-street-art-kuenstlers-c-215-teil-2-grosse-frauen/  und https://paris-blog.org/2020/04/20/grosse-maenner-und-frauen-des-marais-eine-ortsbesichtigung-anhand-der-portraits-des-street-art-kuenstlers-c-215-teil-1-grosse-maenner/

[18a] Bild aus: https://www.francetvinfo.fr/culture/arts-expos/street-art/street-artist-engage-c215-realise-une-oeuvre-en-soutien-aux-populations-d-ukraine-sur-une-facade-du-13e-arrondissement_5014266.html

[19] Boulevard Paris 13, S. 52

[20] http://www.lemonde.fr/arts/article/2016/06/24/le-dr-house-fait-le-mur-a-l-hopital-de-la-pitie-salpetriere_4957092_1655012.html  

[21] Boulevard Paris 13, S. 62

[22] https://de.wikipedia.org/wiki/Philippe_Pinel

[23] https://de.wikipedia.org/wiki/Evelyn_Nesbit und https://passagedutemps.com/2019/04/19/les-fresques-du-boulevard-vincent-auriol/

[24] https://www.radiofrance.fr/franceculture/liberation-de-paris-la-nueve-et-ses-republicains-espagnols-enfin-pleinement-reconnus-9924544

[25] Bild aus: https://barbarapicci.com/2019/05/21/streetart-daleast-paris/

[26] Boulevard Paris 13, S. 76

[27] https://itinerrance.fr/nouvelle-fresque-de-hownosm/

[28] Quelle: https://en.wikiquote.org/wiki/William_Saroyan   

Weitere Blog-Texte zur Street-Art in Paris:

Max Ernst und seine „Windsbraut“ Leonora Carrington in Saint -Martin – d’Ardèche

Ein Zufall führte uns auf die Spur von Max Ernst und Leonora Carrington und ihr Haus in Saint-Martin d’Ardèche. Wir hatten auf dem Weg an die Côte d’Azur ein Zimmer in einer Pension des Ortes gebucht, in der rue Max Ernst. Das machte uns neugierig. Die Wirtin erklärte uns, Max Ernst habe sogar hier bei ihrer Großmutter übernachtet. Genaueres wusste sie allerdings nicht- und sie verwies uns an das am Anfang der Straße gelegene Tourismus-Büro.

Dort ist in einer Ecke ein kleiner „espace Max Ernst“ eingerichtet, wo man einige Informationen über den Aufenthalt des surrealistischen Malers Max Ernst und seiner damaligen Geliebten Leonora Carrington, ebenfalls Malerin und Schriftstellerin,  erhält, „zwei der ersten Europäer, die Saint-Martin- d’Ardèche liebten“, wie es in einem dort ausliegenden Faltblatt über „Max Ernst à Saint Martin d’Ardèche“ heißt.

Fotos: Wolf Jöckel

Auf einem kleinen Bildschirm kann man sich -von der Dame im Tourismus-Büro entsprechend vorgewarnt-  einen älteren Film in schlechter Qualität, aber in verschiedenen Sprachen -auch deutsch- mit Originalbildern aus den gemeinsamen Jahren an der Ardèche (1938-1940) ansehen.

Über dem Bildschirm ein Portrait von Max und Leonora, aufgenommen im Sommer 1939 von der amerikanischen Fotoreporterin Lee Miller.

„Max, schon weißhaarig, aufrecht, mit strahlenden Augen in die Linse blickend. Schützend, besitzend hat er für die Fotografin seinen Arm um das Mädchen gelegt, das sich klein macht in seiner Umarmung und dessen Lächeln sich im Unendlichen verliert.“[1]

Von der freundlichen Dame  im Tourist-Büro erhält man auch einen Plan, in den sie die Lage des Hauses einzeichnet, das Max Ernst und Leonora Carrington damals bewohnten – verbunden mit dem bedauernden Hinweis, viel sei da allerdings nicht mehr zu sehen. Es handele sich um Privatbesitz, „une résidence privée“, die man nicht besichtigen könne, „qui ne se visite pas.“

Natürlich lassen wir uns davon nicht entmutigen. In dem Viertel Les Alliberts, auf dem Höhenzug über Saint-Martin- d’Ardèche,  finden wir nach einigem  Suchen schließlich das Haus- die Dame vom Tourismus-Büro hatte es auf dem Plan nicht richtig markiert….  Aber es ist mit seinem großen Relief an der Außenwand nicht zu verfehlen:

Das Relief besteht aus zwei bzw. drei Figuren:  

Fotos: Wolf Jöckel

Die männliche links ist ein mächtiges Vogelwesen, das bedrohlich die Arme hebt und seinen scharfen Schnabel aufreißt. Das muss doch „der Vogelobre Loplop“ sein, den Max Ernst 1938 im „Dictionnaire abrégé du Surréalisme“ als „Maler, Dichter und Theoretiker des Surrealismus von den Anfängen bis zum heutigen Tag“ vorgestellt hatte. Max Ernst hat sich eindeutig mit diesem Vogelwesen identifiziert und so erscheint er immer wieder in dieser Gestalt in seinen Werken.  Loplop, sein „Privatphantom“, wie er es selbst einmal nannte, erlaubte es ihm, sich gleichzeitig von seinem Werk zu distanzieren als es auch zu präsentieren.[2]

Das  Vogelwesen besitzt einen doppelten Unterleib: Auf einer Wandstütze, aus der oben Hals, Kopf und Arme ragen, tanzt eine kleine, mit Schuppen und Federn geflügelte Froschmaul- Figur. Auch dieser wilde Geselle gehört zu Loplop.  

Fotos: Wolf Jöckel

Diese Figur besteht also gewissermaßen aus zwei Loplops: dem großen, mächtigen beschützenden, und dem kleinen, wilden Kobold, dem ganz offensichtlich nachträglich sein Geschlecht abhandengekommen ist.

Und wer oder was ist die andere Figur? Ein weibliches Wesen, offenbar, mit einem langen Hals und einem Kopf, der ebenfalls ein Vogelkopf sein könnte, einem Emu ähnlich oder einem Strauß. Bedeckt ist der Kopf mit einem Fisch.

Die eine Hand ist beschwichtigend-beschwörend abgespreizt, die andere trägt ein die Zähne bleckendes Monster.

Fotos: Wolf Jöckel

Es ist klein, aber es könnte vielleicht noch viel größer werden. Und hat sich vielleicht sogar der Daumen in ein Monster verwandelt? Max und Leonora haben sich zur Bedeutung dieser Mischwesen nicht geäußert- man darf sich also seinen eigenen Phantasien überlassen…. [3]

Die Bewohner waren abwesend, als wir da waren. So konnte man sich immerhin etwas in dem umliegenden Gelände umsehen – was kaum möglich gewesen wäre, wenn die sehr Besucher-abweisenden Hausbesitzer dagewesen wären.[4]  Wo also sind die – im Tourismus-Büro abgebildeten-  phantastischen Gestalten,  mit denen der Garten bevölkert war?

Die gibt es offensichtlich nicht mehr.

Zu gerne hätten wir natürlich einen Blick ins Haus geworfen, um zu sehen, was innen noch aus der Zeit geblieben ist, in der Max und Leonora hier wohnten.

Aus dieser Zeit stammen doch sicherlich die Plastiken, die man immerhin nach ein bisschen Kletterei in der offenen Loggia des Hauses erkennen kann.

Fotos: Wolf Jöckel

Da spätestens wird man neugierig, mehr zu erfahren über dieses Haus, das eigentlich „eine Kultstätte des Surrealismus sein müsste.“ [5]  

Die Begegnung

Beginnen wir mit Leonora. Eine Carrington: Also Tochter aus allerbestem Hause. Der Vater hatte seine Firma an das Chemiekonglomerat ICI verkauft und war damit zu einem Hauptaktionär der Firma geworden; mit der deutschen I.G. Farben und der amerikanischen DuPont eines der drei größten Chemieunternehmen der Welt. Die Tochter wurde -noblesse oblige/(Geld-) Adel verpflichtet- bei Hof vor- und in die bessere Gesellschaft eingeführt, und sie war dazu bestimmt, die ihr zugedachte Rolle als „gute Partie“ auszufüllen.  Dazu passte -wenn es denn in geordneten Bahnen und maßvoll bliebe- das große Interesse des jungen Mädchens an Kunst. Als Schülerin einer von einem französischen Maler geleiteten Kunstschule traf sie im Juni 1937 auf einer dinner party in London Max Ernst, der dort eine Ausstellung seiner Werke eröffnete.

Für beide war dies eine schicksalshafte Begegnung: ein coup de foudre, ein Blitzeinschlag, eine ganz elementare und gewaltige Liebe auf den ersten Blick. Für die gerade 20-jährige Leonora war Max der bewunderte Maler, dessen Bilder sie magisch anzogen, der erträumte Mann ihres Lebens:   „Max was at that moment the man that every woman waits for; there it was, the man that I had always imagined.“[6]

Für Max Ernst war Leonora eine junge Frau von überwältigender Schönheit. Ihm muss es wohl ähnlich ergangen sein wie seinem Sohn Jimmy, der über sein erstes Zusammentreffen mit Leonora in Paris schrieb: „Eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte…. Ihre dunkle, glutvolle Schönheit riss mich so hin, dass es mir schwerfiel, zusammenhängend mit ihr zu reden.“[7]  Leonora erschien  geradezu als Verkörperung des in surrealistischen Kreisen gepflegten Idealbilds einer femme enfant, einer kindhaften, erotisch anziehenden Frau und Muse.[8] 

Nach einigen Tagen kehrte Max nach Paris zurück;  Leonora Carrington an seiner Seite.

Mit Leonora in Paris

Für Leonora bedeutete dies den Bruch mit der Familie, bzw. vor allem mit dem Vater. Der hatte zunächst vergeblich versucht, einen Haftbefehl gegen Max Ernst wegen öffentlicher Präsentation pornographischer Bilder zu erwirken.[9] Auch die skandalöse Liaison seiner Tochter mit einem verheirateten älteren Mann und (für ihn) anrüchigen Maler konnte er nicht verhindern. Aber seine Reaktion war eindeutig: Keinen einzigen pence mehr für Leonora und Hausverbot: ‚Never will my door be darkened by your shadow‘[10] – was dann auch so geschah…

In Paris bezogen Leonora und Max zusammen eine kleine Wohnung und führten ein bewegtes Leben. Dazu Leonora:

In Paris, Max taught me a new way to live, of coming into my own; he made my ideas develop, the visions that had lived in me since childhood: he drew me to him, to surrealism. He gave me all his support, his love: in our home there were always friends, they arrived continually, Paul Eluard, André Breton, Louis Aragon, Marcel Duchamp, and Yves Tanguy who were from the group. We held formidable reunions, we wrote, we painted, we created poetry: we communicated ideas, feelings… [11]  Hier hat Leonora nur einige der damaligen Freude genannt:  Giacometti, Salvador Dalí, Man Ray und die Photographin Lee Miller sollten wenigstens noch zusätzlich genannt werden.

Leonora genoss dieses Leben einer avantgardistischen Bohème und sie passte gut dazu: So berichtet der Surrealismus-Papst André Breton, wie Leonora in einem feinen Pariser Restaurant die Abendgesellschaft schockierte, weil sie während des Diners ihre Schuhe auszog und zum Entzücken der surrealistischen Freunde die Füße seelenruhig mit Senf bestrich….[12]

Aber da gab es ja noch die Ehefrau, mit der Max Ernst immer noch offiziell eine Wohnung in der rue des Plantes teilte. Marie-Berthe war einiges gewohnt und hatte viele Eskapaden ihres Ehemanns erduldet und hingenommen. Aber derart abserviert und aufs Abstellgleis verbannt zu werden, war dann doch zu viel. Es kam zu öffentlichen Szenen, einmal wurde Marie-Berthe sogar auf offener Straße handgreiflich, aber Leonora schlug -im wahrsten Sinne des Wortes- die Ehefrau in die Flucht.  Auch die einflussreichen, tief katholischen und tief gekränkten Schwiegereltern blieben nicht untätig: Sie machten in Paris systematisch Stimmung gegen Max Ernst, so dass sich bald unverkaufte Bilder bei ihm stapelten. Da war es dann doch für das jungverliebte Paar besser, Paris zu verlassen.

Saint-Martin- d‘Ardèche als Rückzugsort

Warum ausgerechnet dorthin?  Die Ardèche hatte Max Ernst durch Marie-Berthe kennen- und lieben gelernt, die aus dieser Gegend stammte. Saint-Martin bot sich an: ein ruhiger, am Ausgang der Ardèche-Schlucht gelegener 300-Seelen-Ort mit einem typischen südfranzösischen kleinen Dorfplatz mit Platanen und Sankt Martins-Statue…

… einer alten Kirche….

… und einem Kieselstrand mit Blick auf das malerische Aiguèze hoch oben auf der anderen Seite des Flusses.  

Foto: F. Jöckel

Und es gab im Ort das Hotel und Café du Centre von Alphonsine Garrigou, genannt Fonfon, wo die beiden Liebenden in einem Dachzimmer unterkamen.

Allerdings währte dieses Glück nur kurze Zeit. Denn Marie-Berthe hatte noch nicht aufgegeben. Sie hatte die Adresse der beiden Liebenden herausbekommen, war hingefahren und hatte bei Fonfon ihren Gefühlen freien Lauf gelassen.  Max Ernst war hin- und hergerissen zwischen Ehefrau und Geliebter. „Er war ein schwacher Mann“, sagte Leonora später. Im Winter 1937/38 fuhr er nach Paris zurück, um, wie Leonora sarkastisch bemerkte, seinen „genitalen Verpflichtungen“ als Ehemann nachzukommen. Für Leonora war dies eine Zeit großer Verlassenheit und Angst. „Ich glaubte, Max würde niemals zurückkommen. Ich wusste nicht, was aus mir werden sollte“, erzählte sie 50 Jahre später ihrer Biographin.[13]

In dieser Zeit entstand wohl ihr Portrait Max Ernsts- mit schlohweißem Haar in einer Eiswüste. Auch das Pferd -Leonoras alter ego- ist zu Eis erstarrt.

Es gibt noch ein zweites Pferd auf dem Bild, und zwar in der Laterne, die Max Ernst in der Hand hält: Es könnte dort eingeschlossen, gefangen sein; es könnte aber auch dem Mann in der Eiswüste als Wegweiser dienen; oder die Laterne könnte Wärme spenden, um das zu Eis erstarrte Pferd wieder zum Leben zu erwecken….  So macht das Portrait etwas von der Ambivalenz deutlich, die damals die Beziehung zwischen Max Ernst und Leonora Carrington bestimmte. [14]

Doch im Frühjahr 1938 kehrte Max Ernst zurück, zurück nach Saint-Martin und zurück zu Leonora. Er hatte sich endgültig von seiner Frau getrennt. Er hatte sich auch dafür eingesetzt, dass noch 1938 Leonoras Text „La Maison de la peur“, „das Haus der Angst“ mit einem Vorwort von ihm und drei seiner Collagen in Paris erschien. Und er hatte die spektakuläre Pariser Surrealisten-Ausstellung mit eingerichtet, in der auch Leonora mit zwei Gemälden vertreten war. Er traf in dieser Zeit auch seinen Sohn Jimmy. Der war dabei, nach Amerika zu emigrieren- anders als seine Mutter, Luise Straus-Ernst, die „Notre Dame de Dada“ aus Kölner Tagen.  Max Ernsts erste Frau war als Jüdin vor den Nazis nach Paris geflüchtet, eine Emigration in die USA erschien ihr aber weder notwendig noch gar verheißungsvoll – ein tragischer Irrtum.[15]  Jimmy aber begann, wie später dann auch sein Vater-  ein neues Leben in den USA. Max Ernsts Traum war dagegen viel näher liegend und bescheidener, wie er seinem Sohn erklärte:

„Alles, was ich jetzt möchte, ist, Paris für lange Zeit hinter mir zu lassen und mit Leonora in Ardèche zu leben … und sie zu lieben… wenn die Welt uns nur lässt.“ [16]

Loplop und die Windsbraut im Zauberhaus

Der Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft materialisierte sich im Kauf eines Hauses in Saint- Martin. In den autobiografischen Notizen Max Ernsts, die er 1963 für einen Katalogtext erstellte, ist unter der Jahreszahl 1938 vermerkt:

„M.E. verlässt die Surrealistengruppe, zieht mit Eleonora Carrington nach Saint-Martin d’Ardèche bei Pont Saint-Esprit, etwa 50 km nördlich von Avignon. Kauft ein Haus und schmückt es mit Wandgemälden und Flachreliefs.“[17]

Bemerkenswert ist hier die ausführliche Ortsangabe. Erklärbar wohl auch damit, dass bei der Auswahl von Saint -Martin- d’Ardèche einerseits die Distanz von Paris, andererseits aber auch die relativ gute Erreichbarkeit wohl eine wesentliche Rolle gespielt hat. In den beiden Jahren, die Max und Leonora hier verbringen werden, sind auch immer wieder Pariser Freunde zu Gast bei ihnen. Gekauft hat das Haus allerdings nicht Max Ernst, sondern allein Leonora. Vielleicht weil Max Ernst ja verheiratet war, was die Sache möglicherweise komplizierter gemacht hätte, vielleicht auch, weil es Max noch nicht gelungen war, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, er also formal immer noch (Nazi-)Deutscher war.  Angesichts der aufziehenden Kriegsgefahr war eine Engländerin wohl eine seriösere Käuferin, und die 2000 Franc für den Kauf hatte Leonora wohl von der Mutter zugesteckt bekommen. Merkwürdig, dass Max Ernst das anders darstellt und dass seine Version immer wieder übernommen wurde- selbst in dem grundlegenden Werk des Max Ernst-Spezialisten Werner Spies.[18]  

Das alte Winzerhaus war damals völlig heruntergekommen, im Grunde eine unbewohnbare Ruine.  Mehr als ein Jahr lang waren örtliche Handwerker, vor allem aber Max und Leonora selbst mit der Renovierung und dem Ausbau beschäftigt. Die Loggia beispielsweise mit dem Blick auf Saint Martin und die Ardèche entstand erst jetzt.  Vor allem aber: Max und Leonora schmückten Haus und Garten mit Skulpturen und Wandgemälden und formten es so zu einem „surrealistischen Zufluchtsort“ um.[19]

Max Ernst bei der Arbeit am Relief der Südseite[20]

Mit großer Freude arbeitete Max Ernst an den Reliefs und Skulpturen. Sie hatten hier ihren Platz wie die Liebe, für die das Haus ein Zufluchtsort war. Für Max Ernst gab es da deutliche Parallelen. Er verglich die Arbeit an Skulpturen gerne mit der Liebe: „Die Skulptur entsteht in einer Umarmung, zweihändig, wie die Liebe. Sie ist die einfachste, die ursprünglichste Kunst. Ich brauche mich nicht zu zwingen und mir keine wirkliche Leitlinie zu setzen“.[21]

Leonora  posiert neben dem fertigen (und unverstümmelten)  Loplop und legt den  Arm an seinen Schuppenflügel….[22]

Auch sie hat mit ihrer phantastischen Malerei viel zur Verschönerung des Hauses beigetragen. [23]

Zum Beispiel durch die „ wunderschöne weiße Chimäre -halb Pferd, halb Fisch – mit wallender Mähne und ihrem Gesicht“ auf der grünen Holztür zum Garten.“[24] 

2006 hat Leonora Carrington, inzwischen eine in Mexiko gefeierte Künstlerin, in einem Interview das Gleichgewicht in der Beziehung mit Max Ernst hervorgehoben: Die beiden arbeiteten gemeinsam am Haus, er illustrierte ihre Texte und kümmerte sich um ihre Publikation.  Für André Breton und die Surrealisten sei die Frau dagegen auf die Rolle als Schmuckstück und Muse reduziert worden. „Sie legten die Frau nackt und mit einem Lächeln auf einen Diwan und ließen sie dort zurück. Aber Max war anders.“ So sei die Zeit mit ihm in Saint-Martin- d’Ardèche eine der fruchtbarsten ihres Lebens gewesen.[25]  

„Loplop stellt die Windsbaut vor“ steht über Max Ernsts Vorbemerkung zu Eleonora Carringtons im schlimmen Winter 1937 verfasster Novelle „Das Haus der Angst“: Ein Text voller erotischer Glückseligkeit des Vogeloberen, der endlich „seine wahre Windsbraut gefunden hatte, nicht schwach und untertan wie zunehmend Marie-Berthe Aurenche, sondern verführerisch-wild, ihm ebenbürtig und unentbehrlich in der gegenseitigen Beflügelung der Phantasie“.[26]

Und so stellte Max Ernst die Windsbraut vor:

„Sie ist geschnitzt aus ihrem lichten Leben, aus ihrem Geheimnis, aus ihrer Poesie. Sie hat nichts gelesen, doch sie hat alles getrunken. Sie kann nicht lesen. Und doch hat die Nachtigall sie auf dem Stein des Frühlings sitzen und lesen sehen. Und obwohl sie nicht laut las, hörten ihr die Tiere des Waldes und die Pferde zu.“

Foto: Lee Miller 1938

Und über Loplop:

„Seht diesen Mann dort, wie er, bis zu den Knien im Wasser, stolz dasteht. Wilde Liebkosungen haben auf seinem herrlichen, perlmutternen Leib ihre leuchtenden Spuren hinterlassen. Was zum Teufel treibt dieser Mann mit dem türkisfarbenen Blick, mit Lippen, die purpurrot sind von edlen Begierden? Dieser Mann macht die Landschaft heiter“.[27]

Bei dem Mann, „bis zu den Knien im Wasser“, denkt man natürlich an Max Ernst beim Bad in der Ardèche. Denn die beiden Liebenden gingen gerne den steilen Weg durch die Weinberge hinunter zum Fluss. Im Dorf erzählte man sich: „Die Badeslips trugen sie dabei mit Vorliebe auf dem Kopf. Splitternackt gingen sie.“ Jedenfalls bis zum Dorfrand.  Und sie seien fast jeden Abend zu Fonfon gegangen und hätten sich mit Wein oder Marc vollaufen lassen. Ihn nannten sie im Dorf „Le Max“ oder „Monsieur Erneste“, sie war die „Anglaise.“ Einig war man sich: „Ausländer sind Spinner“.[28] Aber offenbar ließ man die exotischen Vögel in Ruhe und hatte manchmal sogar eine heimliche Freude dabei, sie beim Weg zum Fluss zu beobachten….

Lee Miller hat bei ihren Besuchen an der Ardèche das kurze Glück Loplops und der Windsbraut fotografisch festgehalten.[29]

In dieser Zeit entstand auch eines der bedeutendsten Werke Max Ernsts: Un peu de calme.   Etwas Ruhe für sich und die Windsbraut wünschte sich Max Ernst in den damaligen unruhigen, ja bedrohlichen Zeiten.[30]

Das Bild hängt in der National Art Gallery, Washington. Anlässlich einer Max Ernst-Ausstellung 2013 in der Fondation Beyeler, zu der auch Un peu de calme gehörte, wurde das Bild so beschrieben:     Das über drei Meter breite „Panorama einer undurchdringlichen Waldlandschaft spannt Max Ernst vor unseren Augen auf. Schemenhaft sind riesige Vögel, wilde Bestien und andere Tiergestalten zu erkennen.“

„Über der harten, scharfkantigen Waldkulisse steht leicht deformiert der Mond, der die gesamte Landschaft in ein fahles Licht taucht. Eine schildkrötenförmige Wolke scheint links aus dem Bild zu fliehen. Das riesenhafte Gemälde erzeugt eine eigenartige Stimmung; man spürt förmlich eine Katastrophe herannahen. Un peu de calme – Ein wenig Ruhe: Der Titel des Werks verharmlost diese schwelende Anspannung und beschwört gleichzeitig die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm herauf. Es ist das Bild einer Natur, die sich ins Bedrohliche und Unheimliche gewendet hat. Im Rückblick ist die Katastrophe, auf die Max Ernst anspielt, leicht auszumachen: Das Gemälde entstand am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, der dem Künstler Internierung, Flucht und Exil bringen sollte. Im Jahr 1939 stellt sich die Welt als undurchdringliches, auswegloses Dickicht dar.“[31]  Am rechten unteren Bildrand hat sich allerdings „ein winziges Vögelchen eingeschmuggelt, umhüllt und beschützt von einer weiblichen Silhouette- Loplop und seine Windsbraut“.[32]

Un peu de calme ist das einzige seiner in Saint-Martin zurückgelassenen Werke, das Max Ernst nach dem Krieg wieder in Besitz nehmen konnte.  Im Salon seines letzten Wohnortes, in Seillans in Südfrankreich, nahm es einen Ehrenplatz ein.

Erste Internierung in Les Milles

Doch die ersehnte Ruhe war nur von kurzer Dauer.  Am 1. September marschierte die Wehrmacht in Polen ein, Großbritannien und Frankreich erklärten Nazi-Deutschland den Krieg. Und dann standen Gendarmes vor der Tür in Saint-Martin, legten Max als „feindlichem Ausländer“ Handschellen an und führten ihn ab. Zunächst in das Gefängnis von Largentière bei Aubenas. Leonora mietete sich in der Nähe ein und versorgte Max mit Malutensilien und Essen. Doch im Oktober 1939 wurde Max Ernst in das große Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence verlegt, eine ehemalige Ziegelei.

Foto: Wolf Jöckel

Lion Feuchtwanger hat die schlimmen Zustände in der Fabrik, die als Lager völlig ungeeignet war, eindrucksvoll in seinem Buch „Teufel in Frankreich“ beschrieben.  Es gibt auch in einem früheren Blog-Beitrag über die deutsche Emigration in Frankreich einen Abschnitt über Les Milles, in dem es auch um Max Ernst geht:

https://paris-blog.org/2016/04/18/exil-in-frankreich-sanary-les-milles-und-marseille/

Immerhin wurde Max Ernst am 23. Dezember 1939 wieder aus dem Lager entlassen. Sein Freund Paul Eluard hatte direkt an den Staatspräsidenten geschrieben, um die Freilassung von Max Ernst gebeten und sich persönlich für ihn verbürgt. So konnte Max Ernst nach Saint-Martin- d’Ardèche zurückkehren.

Letztes kurzes Glück

Zurück aus der Lagerhaft malte Max Ernst das Bild  Leonora in the Morning Light, ausdrücklich versehen mit dem Zusatz To Leonora.[33]

Leonora in the Morning Light, 1940 (Bildausschnitt)

Die schöne Leonoras taucht hier mit makellosen Zügen und wilder Löwenmähne aus dem Urwald auf. Titel und Gegenstand veranschaulichen die große Freude des aus dem Dunkel des Lagers befreiten Malers, seine auf ihn sehnsüchtig wartende Geliebte wiederzusehen.

Den beiden ist noch einmal eine kurze Zeit des Glücks in Saint-Martin-d’Ardèche vergönnt. Leonora  schreibt in ihr Tagebuch:

„I’m in my house with Max. For two years I have been desperately and madly in love with Max. I’m still painting but only to keep me from going crazy. Every second…. I want him to live only for and with me. I wish that he had no past…I want him forever. I want to be in the same body as him … I want absolute love….“[34]

Das Ende

Im Mai 1940 beginnt der „Blitzkrieg“ der Wehrmacht gegen Frankreich. Das Land gerät von einem Zustand illusionärer Selbstgewissheit in den einer absoluten Panik. Überall werden Verräter und Spione gewittert. Max Ernst wird denunziert, erneut verhaftet und wieder nach Les Milles gebracht. Leonora ist verzweifelt, bricht psychisch zusammen. Zwei Freunde, auf der Flucht aus Paris vor den vorrückenden deutschen Truppen, kommen nach Saint-Martin und fordern Leonora dringend auf, mit nach Spanien zu kommen. Die Wirtin des ortsansässigen Hotels, die schon lange ihr Auge auf das renovierte Haus und den umliegenden Weinberg geworfen hat, nutzt die Gunst der Stunde: Es sind noch Rechnungen offen, die vor der Abreise beglichen werden müssen. Sie schickt Leonora zu einem willigen Notar. Der werde sich nach ihrer Abreise um alles kümmern. Auf seinen Rat unterschreibt Leonora eine Vollmacht für die Hotelbesitzerin, in ihrem Namen und Auftrag das Haus mit seinem gesamten Inventar, einschließlich der Bilder, zu verkaufen. Schon eine Woche später geht die Transaktion über die Bühne.  Der Kellner und spätere Ehemann der Wirtin erwirbt Grundstück und Haus und vor allem die darin enthaltenen Kunstwerke eines international gehandelten Künstlers für lächerliche 20. 000 Francs. Ob Leonora wenigstens die jemals erhalten hat, ist auch nicht sicher: Skrupellose Kriegsgewinnler -kleine wie große- gab es damals und gibt es heute wieder….

Für Max Ernst und Leonora Carrington beginnen nun dramatische Monate der Flucht – vor den Nazis, dazu für Leonora vor den Nachstellungen der Eltern. Sie treffen sich noch einmal 1941 in Lissabon. Da ist Leonora wieder verheiratet mit einem mexikanischen Diplomaten, den sie noch aus Paris kennt  und der ihr den Weg in ihre neue Wahlheimat Mexiko eröffnet; und Max ist in Begleitung der Kunstsammlerin und Millionärin Peggy Guggenheim, die ihn nach New York begleitet und seine dritte Ehefrau wird.  

Max Ernst kommt nach dem Krieg noch einmal nach Saint-Martin-d’Ardèche zurück. Von den Bildern, die er zurückgelassen hat, ist nichts mehr da, außer Un peu de calme, das offenbar den gierigen Augen der neuen Besitzer entgangen ist: Die Leinwand klebte im Untergeschoss an der Wand, man hielt es für ein Fresko.  Gerne hätte Max Ernst das Haus zurückgekauft, aber das scheitert an zu hohen Preisvorstellungen. Empört und mit wilden Flüchen verlässt er Saint-Martin-d’Ardèche. „C’est un village pourri“, „ein verfaultes Dorf“, habe er damals geschimpft, wie sich Dorfbewohner erinnern. [35] 1957 verkauft das geschäftstüchtige Paar das Anwesen für den Gegenwert eines Deux-Chevaux an einen Industriellen aus Lyon. Die Übernahme des Hauses von Leonora zum Schnäppchen-Preis hat sich für sie ja schon reichlich ausgezahlt. [36] Und auch der neue Besitzer will Kasse machen: Nach und nach werden die noch erhaltenen fragilen, oft aus Fundstücken zusammengesetzten Skulpturen aus dem Zusammenhang gelöst und -auch als Bronzeabgüsse- auf dem Kunstmarkt feilgeboten. Die Skrupelllosigkeit, mit der dabei vorgegangen wurde, ist erschreckend. Es lohnt sich sehr, dazu den Bericht von Silvana Schmid zu lesen: ein beeindruckendes Werk eines investigativen Journalismus. 1991, im Jahr des 100. Geburtstages von Max Ernst, organisiert das Centre Pompidou eine große Retrospektive des Künstlers. Stücke aus Saint-Martin-d’Ardèche sind nicht dabei. Im gleichen Jahr werden im Hotel Président in Genf „trois sculptures originales majeures“ von Max Ernst aus Saint-Martin öffentlich versteigert.

Die Plünderung des wunderbaren, einzigartigen Künstlerhauses in Saint-Martin: Eine Mischung aus Gier, Desinteresse, Banausentum, Wegschauen… Und kein Ruhmesblatt für die französischen Kulturbehörden und den Denkmalschutz….

Die wunderbaren Reliefs an der Südwand immerhin bleiben. Die sind „classé“, stehen also unter Denkmalschutz. Aber auch für sie allein lohnt sich der Weg…

Literatur: 

Julotte Roche, Max et Leonora. Récit d’investigation. Cognac: Le temps qu’il fait 1997

Silvana Schmid, Loplops Geheimnis. Max Ernst und Leonora Carrington in Südfrankreich. Frankfurt/Main: Anabas 2003

Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben. Erinnerungen an meinen Vater Max Ernst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991

Karoline Hille, Gefährliche Musen. Frauen um Max Ernst. Berlin 2007

Ulrich Bischof, Max Ernst 1891-1976. Jenseits der Malerei. Herausgegeben  von Ingo F. Walter. Köln: Benedikt Taschen Verlag 1987

Werner Spies (Hrsg), Max Ernst. Leben und Werk. Köln: Dumont 2005

Max Ernst. Skulpturen, Häuser, Landschaften; hrsg. von Werner Spies (Ausstellungskatalog Paris, Musée national d’art moderne/Centre Georges Pompidou, 5.5.-27.7.1998; Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 5.9.- 29.11.1998); Köln: DuMont 1998 (DB

Facebook-Seite von Leonora-Carrington: https://www.facebook.com/leonoracarringtonweisz/photos


Anmerkungen

[1] Schmid, Loplops Geheimnis, S. 10

[2] Siehe Ulrich Bischoff, Max Ernst 1891-1976. Jenseits der Malerei. Herausgegeben von Ingo F. Walther. Köln: Benedikt Taschen Verlag 1987

[3] Zur Beschreibung der Figurengruppe siehe: http://www.cdgeissler.com/blog/tag/saint-martin-dardeche/ und Tobias Gohlis, Traumtrümmer aus der Ardèche. Silvana Schmid hat die Geschichte des Hauses rekonstruiert, in dem Max Ernst und Leonora Carrington wohnten. https://www.zeit.de/2003/18/SM-Max_Ernst

[4]  In einer Master-Arbeit des deutsch-französischen Studiengangs der Universitäten  Aix-Marseille und Tübingen über Max Ernst-Erinnerungsorte in Deutschland und Frankreich aus dem Jahr 2019 wird Saint -Martin -d’Ardèche zu den „Lebensorten mit geringerer Erinnerungskultur“ gezählt und es wird berichtet, wie unwirsch die Besitzer des Hauses auf die Studentin reagierten, die lediglich das Haus fotografieren wollte. (S. 63)

[5] Schmid, Loplops Geheimnis,  S. 12

[6] Zit. auf der facebook-Seite von Leonora Carrington, die auch nach ihrem Tod weitergeführt wird:  Leonora Carrington Facebook Page Administrated, Edited & Moderated by JOAQUÍN HERNÁNDEZ HINOJOSA. Text zu:  ‚Leonora in the Morning Light,‘ by Max Ernst. https://www.facebook.com/photo/?fbid=1839777676052020&set=a.222057264490744

Der selbe Text findet sich als Begleittext zur  Versteigerung von „Leonora in the Morning Light“ bei Sotheby’s: https://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2012/impressionist-modern-art-evening-sale-n08850/lot.48.html  Leonora gibt da ihr Alter zur Zeit der ersten Begegnung mit Max mit 19 an. Allerdings war sie im April 1937 20 Jahre alt geworden.

[7] Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 159

[8] Portrait aus der facebook-Seite von Leonora Carrington

[9] Siehe Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben,  S. 193

[10] Wie Anmerkung 6

[11] Wie Anmerkung 6. Ähnlich hat sich Leonora Carrington noch als 88-Jährige in einem Interview aus dem Jahr 2006 geäußert: Su vida con Max Ernst sólo duró dos años, pero ¿fue él su gran amor?
– L.C.: Fue amor a primera vista. Me fui con él y mi compañero, Serge Chermayeff, me llamó puta. Yo le contesté: «Así son las cosas, ¿qué quieres que haga?». Fue maravilloso. No puedo decir que fuera la relación más importante; fue un gran amor y un gran mentor. Pero no creo en superlativos ni en categorizaciones. Sin embargo, Max me mostró otro universo y me llevó por caminos a los que en mi pequeña vida ordinaria de burguesa jamás habría tenido acceso. Lo adoraba como artista y como intelectual.  Facebook-Seite von EC vom 11. August 2017)

[12] siehe  Hille, Gefährliche Musen,  S. 103/104 

[13] Schmid, Loplops Geheimnis,  S. 46

[14] Bilder aus:  https://www.countrylife.co.uk/luxury/art-and-antiques/focus-extraordinary-portrayal-max-ernst-surrealist-pioneer-inspired-dali-lover-fled-paris-191577 Erläuterung zum Bild

https://www.nationalgalleries.org/art-and-artists/164061/bird-superior-portrait-max-ernst

[15] Zu Louise Straus-Ernst siehe den Blog-Beitrag: Von der ‚Notre-Dame-de-Dada‘ im Köln der 1920-er Jahre über das Exil im ‚Zauberkreis Paris‘ nach Auschwitz: Das dramatische Leben von Luise Straus-Ernst. https://paris-blog.org/2022/04/01/von-der-notre-dame-de-dada-im-koln-der-1920-er-jahre-uber-das-exil-im-zauberkreis-paris-nach-auschwitz-das-dramatische-leben-von-luise-straus-ernst/

[16] Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 193

[17] Zitiert bei Hille, Gefährliche Musen,  S. 104/105

[18] Auf S. 140  des von Werner Spies herausgegebenen Buches Max Ernst, Leben und Werk ist unkommentiert der entsprechende Tagebucheintrag von Max Ernst übernommen, ohne ihn als solchen zu kennzeichnen.

[19] Wie Anmerkung 6

[20] https://m.facebook.com/222054157824388/photos/a.519787921384342/519789854717482/

[21] Zitiert von Valérie-Anne Sircoulomb in: Journal für Kunstgeschichte 3, 1999, Heft 3 file:///C:/Users/wolfj/Downloads/31921-Artikeltext-96895-1-10-20160706%20(4).pdf

[22] Bild https://www.facebook.com/photo/?fbid=2128819153814536&set=a.222057264490744

(Ausschnitt)

[23] https://twitter.com/studiomuseums/status/955413540113960963/photo/1 und https://en.leonoracarringtonmuseo.org/el-taller-de-leonora

[24]  Text und Bild bei Hille, Gefährliche Musen,  S. 111 und 114

[25] Aus einem Interview mit der 88-jährigen Leonora Carringten aus dem Jahr 2006. Facebook-Seite von LC vom 11. August 2017

[26] Hille, Gefährliche Musen, S. 111 Nachfolgendes Bild  by Lee Miller, 1939 aus:

https://www.facebook.com/photo/?fbid=2147072528655865&set=a.222057264490744 Bild auch bei: https://www.wikiart.org/de/leonora-carrington

[27] Zitiert bei Hille Gefährliche Musen, S. 111 und 114. Vorausgehendes Bild  aus: https://www.faz.net/aktuell/stil/mode-design/die-frau-in-hitlers-badewanne-lee-miller-fotografierte-mode-und-krieg-17886281/die-surrealisten-max-ernst-und-17887248.html

[28] Schmid, Loplops Geheimnis, S. 40

[29] Bild aus: http://i-art-rachel.blogspot.com/2011/06/leonora-carrington.html

[30]  Bild aus: https://mitue.de/?p=936

[31]https://www.fondationbeyeler.ch/fileadmin/user_upload/Ausstellungen/Vergangene_Ausstellungen/Max_Ernst/saalheft_d_ernst.pdf

[32] Hille, Gefährliche Musen, S. 114/115

[33] Bild aus: https://www.facebook.com/photo/?fbid=1839777676052020&set=a.222057264490744

[34] Wie  Anmerkung 6

[35] Schmid, Loplops Geheimnis, S. 24

[36] Siehe Roche, Max et Leonora,  S. 165

Das Château de By von Rosa Bonheur: ihre Arche Noah im Wald von Fontainebleau

Die Tiermalerin Rosa Bonheur: Die erfolgreichste Malerin des 19. Jahrhunderts, um deren Bilder sich internationale Sammler rissen; die erste Frau, die zum Offizier der Légion d’honneur erhoben wurde-  „une artiste de génie“, eine geniale Künstlerin, die aber, gewissermaßen von der Avantgarde überholt,  bald in Vergessenheit geriet. [1] War sie künstlerisch an der klassischen Tier- und Landschaftsmalerei orientiert und damit eher traditionell, so war sie umso moderner als eine emanzipierte Frau mit einer unkonventionellen, alle rollenspezifischen Konventionen ihrer Zeit sprengenden Lebensweise. Damit ist sie heute eine Kultfigur des Feminismus. Und auch die Ökologiebewegung hat den Blick auf die engagierte Tiermalerin und Tierschützerin wieder verändert. [2] In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag dieser außerordentlichen Malerin gebührend gefeiert: unter anderem mit einer großen Retrospektive, die bis zum 18. September im Musée des beaux-arts in Bordeaux, der Geburtsstadt Rosa Bonheurs, und vom 18. Oktober 2022 bis zum 15. Januar 2023  im Pariser Musée d’Orsay zu sehen ist. Dazu gibt es auch einen Blog-Beitrag:

Berühmt, vergessen und wiederentdeckt: Die Tiermalerin Rosa Bonheur im musée d’Orsay. https://paris-blog.org/2022/12/15/beruhmt-vergessen-und-wiederentdeckt-die-tiermalerin-rosa-bonheur-im-musee-dorsay/

Der 200. Geburtstag von Rosa Bonheur ist Anlass für einen Besuch des inzwischen auch nach ihr benannten  Château de By am Rand des Waldes von Fontainebleau. Dort hat die  Malerin 40 Jahre lang bis zu ihrem Tod 1899 gelebt und gearbeitet: ein  wunderbarer und von Paris problemlos zu erreichender Erinnerungsort. [2a]

1860 erwarb Rosa Bonheur das Anwesen in Thomery, ein eher bescheidenes Jagdschlösschen aus dem 16./17. Jahrhundert auf einem mehrere Hektar großen Grundstück mit englischem Park, Obst- und Gemüsegarten und Wald. Rosa Bonheur war damals schon eine äußerst bekannte und erfolgreiche Malerin: 1848 hatte sie einen Staatsauftrag für „Labourage nivernais“ erhalten: Ochsen ziehen einen Pflug über den schweren Ackerboden. Das Bild war ein großer Erfolg: Ursprünglich für das Museum in Lyon vorgesehen, beanspruchte es Paris für sich. Heute ist es im Musée d’Orsay ausgestellt. [3]

Ihr größtes und wohl berühmtestes Bild, Le Marché aux chevaux (der Pferdemarkt), war zunächst weniger erfolgreich.

244,5 × 506,7 cm, Metropolitan Museum of Art, New York.

1853 in Paris präsentiert, fand sich zunächst kein Käufer für das Bild, obwohl Delacroix und Vernet es als Meisterwerk erkannten.  Auch ihre Geburtsstadt Bordeaux, der sie es für 12 000 Franc anbot, griff nicht zu. Dafür Ernest Gambart, ein belgischer Sammler, der es ein Jahr später für 40 000 Franc erwarb und mit dem Vertrieb der Werke Bonheurs zum Millionär wurde. Er ließ mehrere kleinere Kopien und jede Menge Grafiken anfertigen und bediente damit eine immer größere Nachfrage. Besondere Resonanz fand  Rosa Bonheur im angelsächsischen Raum. Gambart organisierte für sie eine Tournee durch England und Schottland, wo sie gefeiert wurde.  Le Marché aux chevaux/The Horse Fair war das erste Bild einer noch lebenden Künstlerin/eines noch lebenden Künstlers, das in der National Gallery in London ausgestellt wurde.[4]  Sogar Queen Victoria gab ihr die Ehre und empfing sie. Die geschlechtsspezifische Rollenverteilung im victorianischen England war ihr allerdings zuwider: „Ich habe keine Geduld mit Frauen, die zum Denken um Erlaubnis bitten.“[5]

In Paris, wo sie bisher ihr Atelier hatte, wurde sie nun von Bewunderern, Neugierigen und Kaufinteressenten belagert und fand nicht mehr die nötige Ruhe für ihre Arbeit. Da sie inzwischen über die nötigen finanziellen Mitteln verfügte, konnte sie das Anwesen in Thomery erwerben. Sie war damit in Frankreich die erste Frau überhaupt, die mit ihrer Hände Arbeit eine Immobilie kaufte.[6]

Im Château de By richtete sich Rosa Bonheur mit ihrer Jugendfreundin und Lebensgefährtin Nathalie Micas und deren Mutter ein. Bei ihnen war sie nach dem frühen Tod der Mutter aufgenommen worden und  aufgewachsen.  Das zur Gemeinde Thomery gehörende kleine Schloss vermittelte ihr „das Gefühl, ein Leben auf dem Land ohne gesellschaftliche Zwänge führen zu können, in einer Umgebung, in der sie sich ungestört ihrer Arbeit widmen“ konnte. Gleichzeitig ermöglichte das kurz zuvor an das französische Eisenbahnnetz angeschlossene Thomery einen schnellen Kontakt mit der Hauptstadt, wo sie eine Malschule betrieb und ihr Atelier in der rue  d’Assas gewissermaßen als pied-à-terre weiterführte.[7]

Vor dem Einzug ließ Bonheur eine grundlegende Renovierung des vorhandenen Gebäudes vornehmen.

Foto: Wolf Jöckel

Dazu gehörte vor allem der Ausbau eines Seitengebäudes zu einem großen Atelier.

Rosa Bonheur: „Ich musste viele Reparaturen in dem Haus durchführen und vieles herrichten lassen. Es wird jetzt zu meinem Atelier.“[8]

Für diese Renovierung und Erweiterung engagierte sie niemanden geringeren als Jules Saulnier, der sie auch beim Kauf beraten hatte. Saulnier war „Chefarchitekt“ der Familie Menier, die damals die weltgrößte Schokoladenfabrik in Noisiel an der Marne betrieb. Für die Meniers baute Saulnier unter anderem eine hydraulische, einen Seitenarm der Marne überspannende Ölmühle. Sie ist – innen nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet und außen reich verziert-  eines der berühmtesten Bauwerke der französischen Industriearchitektur.[9]

Die verspielte Formensprache Saulniers ist am Chateau de By deutlich zu erkennen.

Fotos: Wolf Jöckel

Mittelpunkt des Hauses ist das Atelier der Künstlerin, das von den späteren und heutigen Besitzern des Hauses im ursprünglichen Zustand erhalten wurde und wird. Im Rahmen von Führungen kann man es besichtigen. Dort ist auch das Portrait eines Löwen ausgestellt,  Motiv für die Sonderbriefmarkte zum 200. Geburtstag von Rosa Bonheur.

Rosa Bonheur, Le Cid, 1879. musée du Prado, Madrid
Alle Fotos des Ateliers: Wolf Jöckel

Es sieht aus, als habe Rosa Bonheur es nur für kurze Zeit verlassen; alles ist bereit für sie…

… die Palette mit den Farben…

… der Schreibtisch mit Brille und geschäftlichen Unterlagen….

… vor dem Kamin die Utensilien für die Arbeit in der Natur….

Das Atelier ist „ein einziges Denkmal der Liebe zur Tierwelt.“[10] Tiere sind überall präsent:

An den Wänden….

… auf dem  Fußboden….

… in den Regalen…

Einen Ehrenplatz im Atelier nimmt dieses kapitale Hirschgeweih über dem Kamin ein.

Rosa Bonheur:

„Seit ich mich in By niedergelassen hatte, beschäftigte ich mich mit Leidenschaft für das graziöse Wild des Waldes; die Hirsche und Rehe interessierten mich jetzt unendlich viel mehr als bisher die Rinder“.[11]

Aber es ging dabei nicht nur um die Betrachtung:

„Mit den Sonnenaufgang ging ich los, meinen Farbkasten auf dem Rücken, gefolgt von meinen Hunden; mit dem Gewehr in der Hand war ich bereit, das Wild zu erlegen, das ich antraf. Nathalie war darauf vorbereitet, dass sie mit einem schönen Stück Fleisch rechnen konnte.“

So kann das Hirschgeweih über dem Kamin durchaus eine Jagdtrophäe Rosa Bonheurs sein. Bemerkenswert sind auch hier die in sich verschlungenen Initialien RB, die von aristokratischem Selbstbewusstsein zeugen. Sie sind überall im Schloss zu finden.

Foto: F. Jöckel

Der Stolz auf die eigene Leistung war nur allzu berechtigt. Denn Rosa Bonheur hatte eine sehr schwierige Jugend: Der Vater war ein Landschaftsmaler, der eher schlecht als recht seine Familie von dem Ertrag seiner Arbeit ernähren konnte. Er stand der frühsozialistischen Bewegung der Saint-Simonisten nahe, die die Emanzipation der Frauen förderten, was der jungen Rosa  durchaus zugute kam. Von ihm erlernte sie nicht nur die Technik des Malens, sondern auch die Ehrfurcht vor der Natur. „Ich bin Schülerin meines Vaters und der schönen und grandiosen Natur“.[12] Allerdings verließ der Vater die Familie, um sich einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten anzuschließen. So musste die Mutter alleine sich und ihre vier Kinder durchbringen. Rosa bewunderte und verehrte ihre Mutter sehr. Ihrer Biographin erzählte sie die Geschichte, wie die Mutter „eine erleuchtende Idee“ hatte, dem bockigen Kind das Alphabet beizubringen: Es solle doch neben dem A einen Esel (âne) zeichnen, neben dem B ein Rind (bœuf), neben dem C eine Katze (chat) und so fort bis zu dem Zebra (zèbre) für das Z.  Die Mutter verstarb noch jung -die kleine Rosa war damals 11 Jahre alt- und in so  großer Armut, dass die Familie nicht die Kosten für ein Grab aufbringen konnte: So wurde die Mutter in einem Massengrab (fosse  commune) verscharrt.

Die  große Verehrung Rosas für ihre Mutter wird auch im Atelier deutlich: Ihr Portrait nimmt neben dem repräsentativen Kamin einen Ehrenplatz  ein.

Als Hommage an die Mutter darf wohl auch der Flügel im Atelier verstanden werden, vielleicht das Instrument der Mutter, die Musiklehrerin gewesen war.

Es ist ein Flügel der Firma Erard, im 19. Jahrhundert eine der großen französischen Piano-Marken. Bei Musikliebhabern sind die alten Erard-Instrumente begehrte Sammlerstücke.

Rosa schwor sich, dank ihres künstlerischen Talents reich zu werden und gewissermaßen die Mutter zu rächen: Das Schloss von By ist Ausdruck dieses Erfolgs – ebenso wie das Selbstportrait auf der anderen Seite des Kamins.

Auch der Name Rosa Bonheur ist der Mutter zu verdanken: Als die am 16. März 1822 geborene Marie Rosalie Bonheur nämlich ihre ersten Bilder verkaufte, riet ihr der Vater, sie mit Raimond zu signieren. Der Name Bonheur sei doch angesichts des desolaten Zustands der Familie ein Hohn. Aber Rosa Bonheur bestand auf ihrem Namen. Sie wolle so erfolgreich werden, dass der Name seine Berechtigung habe und ihr Ruhm auch auf den Namen der Mutter ausstrahle. Und die habe sie in zärtlichen Momenten Rosa genannt: Also Rosa Bonheur.[13]

Ein besonderer Ausdruck der öffentlichen Anerkennung der Künstlerin war ihre Ernennung zum Chevalier der Légion d’honneur durch Kaiserin Eugénie, die Frau Napoleons III. Sie kam im Juni 1865 persönlich nach By, um ihr die Auszeichnung zu überreichen. Sie wolle damit, wie sie bei dieser Gelegenheit sagte, zeigen, „dass das Genie kein Geschlecht“ habe (que le génie n’a pas de sexe“). Und sie sei glücklich, diese Auszeichnung zum ersten Mal an eine Künstlerin verleihen zu können. Rosa Bonheur war damit erst die zweite Frau überhaupt, der diese immerhin schon 1802 geschaffene Auszeichnung zuerkannt wurde. [14]

„Ihre Majestät, die Kaiserin, besucht Mademoiselle Rosa Bonheur in ihrem Atelier in Thomery“

1894, also zur Zeit der Dritten Republik, wurde Rosa Bonheur dann sogar noch -als erste Frau überhaupt- zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.[15] Und 1898 erwies ihr  Königin Isabella von Spanien die Ehre, sie im Château de By zu besuchen.

Tiere gab es in und um das Schloss aber nicht nur als Jagdtrophäen und konservierte Köpfe von Tieren, die Rosa Bonheur ganz besonders lieb waren.  Zu dem Besitz gehörte auch eine Menagerie mit allerlei, auch wilden Tieren Die lebten überall. Hühner, Bären, Enten, Pferde, Ponys, Gazellen bevölkerten Ställe und Gehege. Affen und gezähmte Löwen bewegten sich frei im Haus und in dessen Umgebung, für Rosa Bonheur eine kleine „Arche Noah“ inmitten des großen Anwesens mit Weideflächen und Wald. [16]

Im Park sind noch einige ältere „fabriques“ wie dieser „Pavillon des Muses“[17] erhalten, ebenso wie spätere Bauten aus der Zeit Rosa Bonheurs.

Und es gibt im Park noch ein zweites Atelier, das Rosa Bonheur 1898, kurz vor ihrem Tod bauen ließ, da sie das alte als zu eng und zu dunkel empfand.

Das neue Atelier besaß große Fenster und war auch für große Formate geeignet.

Es sollte als gemeinsames Atelier für sie und Anna Klumpke dienen. Ein Schmuckstein mit den Initialien der beiden Malerinnen ist in die Wand des Ateliers integriert.

Die 34 Jahre jüngere amerikanische Malerin Anna Elizabeth Klumpke war nach Frankreich gekommen, um die von ihr seit ihrer Studienzeit in Paris verehrte Tiermalerin zu portraitieren.

Anna Klumpke und Rosa Bonheur. 1898

Sie blieb bei Bonheur bis zu deren Tod: „le dernier bonheur de Rosa.“[18]  Hier posieren die beiden, und Rosa Bonheur präsentiert stolz die ihr verliehenen Auszeichnungen, darunter übrigens auch den Verdienstorden des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha.[19]

Vorausschauend hatte Rosa Bonheur ihre Freundin, die sie um 43 Jahre überleben sollte, testamentarisch zur Erbin und Nachlassverwalterin bestimmt. Klumpke gründete eine Malschule für Frauen und schrieb die von Rosa Bonheur diktierten Lebenserinnerungen ihrer Gefährtin auf.[20]

Der heutigen Besitzerin des Château de By, Katherine Brault, ist es ein Anliegen, Schloss und Park zu einem lebendigen Erinnerungsort an Rosa Bonheur zu machen.  Dazu gehörte in den letzten Jahren die aufwändige Restaurierung des Schlosses und -rechtzeitig zum Jubiläum- die Eröffnung eines Ausstellungsraums im Dachgeschoss.[21]

Besonders eindrucksvoll sind dort die großformatigen Reproduktionen akribischer anatomischer Pferdestudien, die einem Atlas der Biologie oder Tiermedizin entnommen sein könnten.

Für diese Studien besuchte Rosa Bonheur Schlachthäuser und erhielt dafür sogar -wie vorher Georges Sand- eine offizielle polizeiliche Genehmigung, Männerkleidung tragen zu dürfen.

Eindrucksvoll sind auch die Erinnerungsstücke an die Reise in die USA, wo sie die Welt der Trapper, Indianer und Bisons kennen- und lieben lernte.

Am 25. Mai 1899 verstarb Rosa Bonheur im Château de By, ihrer „Arche Noah“ im Wald von Fontainebleau. Bestattet wurde sie auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris neben ihrer Lebensgefährtin Nathalie Micas und deren Mutter, mit denen Rosa die ersten Jahre im Schloss von By verbracht hatte..

74. Division
Grabbilder von Wolf Jöckel, aufgenommen am 12.8.2022

Später wurde dort auch Anna Klumpke bestattet. Passend dazu der Grabspruch:

À Rosa Bonheur. L’amitié est une affection divine / Die Freundschaft ist ein Geschenk der Götter

Praktische Informationen

Adresse :
12 Rue Rosa Bonheur, Thomery, 77810, France

Telefon:  +33 09 87 12 35 04

Ein Besuch des Schlosses ist nur im Rahmen von Führungen möglich.

Information über Öffnungszeiten und Reservierung:

https://www.chateau-rosa-bonheur.fr/informations-et-r%C3%A9servations

Die Führungen sind üblicherweise auf französisch, es werden aber auch Führungen in englischer Sprache angeboten: Nachfragen dazu:

contact@chateau-rosa-bonheur.fr

Es gibt auch einen kleinen, feinen Salon de Thé. Reservierungen dafür werden empfohlen.

Das Schloss erreicht man von Paris (gare de Lyon) mit dem Zug Linie R Richtung Montargis in 50 Minuten. Ausstieg Bahnhof Thomery. Dann gut 15 Minuten Fußweg durch den Wald.


Anmerkungen:

[1]  Fiona Magbaddam, Rosa Bonheur, une artiste de génie tombée dans l’oubli. France culture 16.3.2022

https://www.radiofrance.fr/franceculture/rosa-bonheur-une-artiste-de-genie-tombee-dans-l-oubli-6362270

[2] Patricia Bouchenot-Déchin stellt sie in ihrem Rosa Bonheur-Roman (J’ai l’énergie d‘une lionne dans un corps d’oiseau) als „égerie du féminisme“ vor. Le Monde verweist im Beitrag über die Retrospektive in Bordeaux auf die Vertreter/innen von gender studies und animal studies, die zum Umdenken in Sachen  Rosa Bonheur beigetragen hätten. Siehe:  Emmanuelle Lequeux, À Bordeaux, Rosa Bonheur et son arche de Noé. Au Musée des beaux-arts, une rétrospective témoigne du regain d’intérêt pour la peintre célébrée au XIXe siècle. Le Monde 11. August 2022

[2a] In einer Zusammenstellung der 12 „plus belles maisons d’artistes à visiter en France“, die am 10. August 2022 von Beaux Arts veröffentlicht wurde, ist das Château de By auch vertreten. https://www.beauxarts.com/lifestyle/tour-de-france-des-maisons-dartistes-a-visiter/

[3] Bild aus: https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/labourage-nivernais-68

[4] Alina Christin Meiwes, Die Tiermalerin Rosa Bonheur. Künstlerische Stragegien und kunsthistorische Einordnung im Kontext der Vermittlung. Baden-Baden 2020, S. 2

[5] Siehe: Joëlle Chevé, Rosa au Bonheur des dames  https://www.journalistes-patrimoine.org/wp-content/uploads/2020/07/HISTORIA-MAI-2020.pdf

[6] https://inventaire.iledefrance.fr/dossier/maison-atelier-de-rosa-bonheur/fbf55ec3-3529-43d3-b67d-ccd143115e72

[7] Gerard-Georges Lemaire (Texte) und Jean-Claude Amiel, Künstler und ihre Häuser. München: Knesebeck 2004, S. 86f

Florent Tesnier, Rosa Bonheur, Jules Saulnier et l’achat du domaine de By à Thomery (2017) https://amisderosabonheur.asso.fr/wp-content/uploads/2017/09/Article-2017-Achat-By-H04-1.pdf

[8] Lemaire/Amiel, S. 91

[9] Siehe dazu den Beitrag über die Schokoladenfabrik der Meniers in Noisiel- heute Sitz von Nestle France: https://paris-blog.org/2019/05/23/le-chocolat-menier-1-die-schokoladenfabrik-in-noisiel-an-der-marne-repraesentative-fabrikarchitektur-und-patriarchalischer-kapitalismus-im-19-jahrhundert/

[10] Künstler und ihre Häuser, S. 91

[11] Paroles d’artiste, S.30

[12] Zit. in Le Monde a.a.O. 11.8.22

[13] Rosa Bonheur. Paroles d’artiste. 2020, S. 6

[14] https://www.napoleon.org/histoire-des-2-empires/articles/la-famille-imperiale-et-rosa-bonheur/

[15]  https://www.legiondhonneur.fr/fr/decores/rosa-bonheur/133#:~:text=En%201894%2C%20sous%20la%20III,promue%20au%20grade%20d’officier

In Veröffentlichungen zu Rosa Bonheur gibt es zu diesen Auszeichnungen einige Ungereimtheiten.  In einer ansonsten schönen Würdigung Rosa Bonheurs durch die NZZ wird z.B. mitgeteilt, sie habe 1894 (!) von Kaiserin Eugénie das Kreuz der Ehrenlegion erhalten. Eine Kaiserin Eugénie gab es allerdings schon seit 1871 nicht mehr… https://www.nzz.ch/feuilleton/sie-ebnete-den-weg-fuer-das-dritte-geschlecht-rosa-bonheur-ld.1670891 An anderer Stelle wird Eugénie als Königin bezeichnet (Meiwes, Die Tiermalerin Rosa Bonheur, S. 2) oder es wird als Datum der Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion das Jahr 1890 angegeben….  

[16] https://www.nzz.ch/feuilleton/sie-ebnete-den-weg-fuer-das-dritte-geschlecht-rosa-bonheur-ld.1670891

[17] Bild aus: https://www.chateau-rosa-bonheur.fr/fonds-de-dotation

[18] https://www.liberation.fr/arts/2020/07/24/anna-klumpke-le-dernier-bonheur-de-rosa_1795151/ Diesem Artikel ist auch das vorstehende Bild entnommen.

[19] https://www.legiondhonneur.fr/en/actualites/le-musee-celebre-rosa-bonheur/1912/2 

[20] https://www.nzz.ch/feuilleton/sie-ebnete-den-weg-fuer-das-dritte-geschlecht-rosa-bonheur-ld.1670891

[21] Bild aus: https://www.chateau-rosa-bonheur.fr/bicentenaire

Mit Odysseus im Labyrinth: Die Jahresausstellung 2022 der Stiftung Carmignac auf Porquerolles

Nach den beiden Ausstellungs – highlights 2019 und 2021, die schon Gegenstand dieses Blogs waren[1], präsentiert die Fondation Carmignac in diesem Jahr Le songe d’Ulysse  (Der Traum des Odysseus): Auch diesmal wieder eine grandiose Ausstellung, vielleicht sogar die eindrucksvollste dank der Einheit von Thema, Ort, Objekten und Form ihrer Präsentation .

Diesmal geht es um Odysseus, den Helden des Homer’schen Epos, der 10 Jahre vor Troja kämpfte und dann 10 Jahre auf dem Meer herumirrte, bis er schließlich wieder in seine Heimat Ithaka zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Menelaos zurückfand.

Porquerolles ist ein idealer Ort für eine solche Ausstellung: Das Licht, das Meer, die Bäume und die Grotten sind noch immer so wie zur Zeit des Homer. Und es geht die Sage, dass Odysseus auf seinen  Irrfahrten auch auf Porquerolles gewesen sei und die Insel  von dem Riesen Alycastre befreit habe. Der sei von Poseidon, dem Feind des Odysseus, geschickt worden.

Eine von Miquel Barceló geschaffene Skulptur des Ungeheuers empfängt den Besucher am Eingang der Villa  Carmignac.

Eintauchen in die Welt des Wassers

Wie schon bei der Jahresausstellung 2021 zum Thema La mer imaginaire ist das Wasser das vorherrschende Element der Ausstellung.  Denn auf dem Wasser irrte Odysseus umher und durchstreifte das Mittelmeer von Troia über die griechischen Inseln bis -vielleicht- Nordafrika, Italien und eben Porquerolles….  Wenn man wie üblich am Empfang der Villa seine Schuhe ausgezogen hat, geht man die Treppe hinunter und taucht auch schon ein in die faszinierende Welt des Wassers.[2]

Illustriert wird das Eintauchen durch eine Wandtapete, angefertigt nach dem Grabstein des Tauchers (480-470 v. Chr.) im Nationalmuseum von Paestum. Zur Unterwasserwelt der Ausstellung gehören auch zwei große Kunstwerke, die in der Villa  Carmignac  ihren festen Platz haben:

Da ist zunächst Bruce Naumanns One Hundred Fish Fountain (2005). Der Brunnen besteht aus 97 Bronze- Fischen. Es sind sieben verschiedene Arten vertreten, die Naumann in seiner Jugend selbst gefischt hat. Der Brunnen nimmt einen ganzen abgeschlossenen Raum ein: Ein wunderbares Erlebnis, wenn sich das Wasser aus den unzähligen kleinen Fischfontänen ins große Wasserbecken ergießt. Man kann sich auf eine der Bänke am Rand setzen oder einfach auf den Boden und zu- und in-sich hineinhören.

Das andere ist das große Unterwasser-Panorama von Miquel Barceló.

Der schrieb dazu:

Ich habe das große Bild so konzipiert, dass man sich wie in einem Aquarium voll mit diesen schrecklichen Tieren fühlt, diesen Riesen-Kraken und -Calamaren… Ich wollte das Gefühl vermitteln, von der Malerei umgeben zu sein – wie bei den Seerosenbildern von Monet, wie in einer Kapelle, aber mit einem bedrohlichen, ungeheuerlichen Aspekt.“[3]

Schiffbruch, Tod und Leben

Von dem Fische-Brunnen und den Riesen-Kraken und -Kalamaren ist es nicht weit zum zentralen Raum des Gebäudes mit einer -auch diesmal wieder-  spektakulären Installation, in der es -wie auch schon bei der Jahresausstellung von 2021- um Leben und Tod geht. Damals war es das riesige Skelett eines Wals, das aber Grundlage für neues Leben ist.

Diesmal ist es eine aus zerbrochenen Masten und heruntergerissenen Segeln zusammengesetzte Metapher eines Schiffbruchs – passend zu Odysseus, der „auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet“, wie es gleich am Anfang des Epos heißt.

Zu diese vielen Leiden gehörte auch der Schiffbruch: Nach dem Sieg über Troja gerät Odysseus in einen Sturm, und die Nymphe Kalypso nimmt den Schiffbrüchigen bei sich auf, verliebt sich in ihn und hält ihn sieben Jahre fest. Doch als sie ihn endlich auf Wunsch der Götter ziehen lässt, beginnt die Irrfahrt erst wirklich. Denn der Meeresgott Poseidon sinnt auf Rache für die Blendung seines Sohnes Polyphem, des einäugigen Riesen, der Odysseus und seine Gefährten in einer Höhle gefangen gehalten hatte und dabei war, alle zu verzehren…  Rache bedeutete für den Gott des Meeres, die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Menelaos  zu verhindern, also auch Schiffbruch…

Die Installation ist eine für diese Ausstellung konzipierte Koproduktion von Jorge Peris und der Fondation Carmignac:  heroes boca a bajo. Es ist ein Moment der Stille, das Schiff geht unter, die Segel fallen in sich zusammen, Rettung ist nicht mehr möglich. Das Gesicht der Helden blickt nach unten, in den Tod.  Aber der wird nicht siegen: Dafür sorgen die Sonne und die Wolken, die durch die Decke, ein Wasserbecken, ständig sich verändernde Spiegelungen auf den hellen Segeln bilden. Ein grandioses Schauspiel von flimmerndem Licht und Schatten. Sogar aus der Unterwelt, konfrontiert mit dem Tod, kehrt Odysseus unversehrt, ja gestärkt wieder ans Licht. Auch wenn er seine Gefährten auf seinen Irrfahrten verliert, er findet schließlich auch wieder den Weg zu Frau und Kind nach Ithaka.

Faszinierend ist es auch, wenn man -bei unserem Besuch stand gerade eine Tür offen- das Wasserschauspiel von oben beobachten kann.

Die Ausstellung als Labyrinth

Francesco Stocchi, der Kurator der Ausstellung, hatte die Idee, die Ausstellungsräume in ein Labyrinth zu verwandeln. Um den zentralen Raum herum ist eine Folge von engen Kabinetten mit Spiegelungen und Scheintreppen eingerichtet. Das ist äußerst raffiniert gemacht:  Nach dem Ausstellungsbesuch hatten wir uns am Ausgang mit Freunden verabredet und tauschten kurz unsere ersten Eindrücke aus. Und da stellten wir gemeinsam fest, dass allen das eine oder andere -für den einen oder die andere besonders Wichtige- entgangen war.  Also eine neue Runde im Labyrinth….

Durch die Wahl des Labyrinths als Leitidee der Ausstellungsarchitektur wird der Besucher ein wenig in die Situation des Odysseus versetzt. Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, keinen Pfeil, der zum Ausgang weist. So muss jeder sich auf seine eigene Suche begeben, seinen eigenen Weg finden.

Das Labyrinth strukturiert aber nicht nur die Szenographie, sondern es ist auch direkt Gegenstand der Ausstellung.

Dieser geknüpfte Teppich von Marinus Boezem (Collection du Mobilier National, Paris), nimmt das Motiv des Labyrinths der Kathedrale von Chartres auf.[4] In ihm kann man sich nicht verlieren- es gibt nur einen Weg, den man nicht verfehlen kann, und der führt zu Gott.  Aber -wie es im Begleittext heißt: Es ist auch ein Weg der Meditation, der den Besucher „zu sich selbst führt“. Nur konsequent also, dass dieser Teppich im Eingangsbereich der Ausstellung angebracht ist, bevor der Besucher in das nachfolgende „Labyrinth“ eintritt… 

Aber daneben gibt es auch noch den Leinen-Stoff aus der peruanischen Nazca-Kultur, entstanden zwischen 80 vor Chr. und 50 nach Chr. Das Motiv erinnert auch an ein Labyrinth, aber in seiner Mitte lauert der Tod, eine Spinne.

Dies ist ein kleiner Ausschnitt einer Boje von Mark Bradford (The loop of deep waters 1, 2014). Die Oberfläche ist mit bemaltem Pappmaché und Reisverschlüssen neu gestaltet: Jahrhunderte-alte chinesische Wasserwege, die für Handel,  Austausch, Kolonisation und Eroberung genutzt wurden – so wie auch die Wasserstraßen im Mittelmeer, auf denen Odysseus bei seinen Irrfahrten unterwegs war.

Keith Haring (Untitled 1982) hat unter vielfältigen Einflüssen wie der steinzeitlichen Wandmalerei (la peinture rupestre) und den indianischen Kulturen Amerikas eine eigene „Iconographie sous forme de labyrinthe narratif“ entwickelt. Dazu gehören das christliche Kreuz als Ausdruck seiner Skepsis gegenüber den Religionen und die ägyptischen Hieroglyphen.

Penelope, die sehnsüchtig Wartende, Hoffende, Ärgerliche…

Gewissermaßen der Bezugsrahmen der 20 Jahre Krieg und Irrfahrten des Odysseus war seine Frau Penelope. Und mit zwei Arbeiten von Martial Raysse zu Penelope beginnt und endet auch die Ausstellung.

Martial Raysse, Faire et défaire Pénélope that’s the rule, 1966  (Fondation Carmignac)

Penelope wartet 20 Jahre lang treu auf ihren Gatten und glaubt fest an seine Rückkehr. Drei Jahre lang erwehrt sie sich ihrer aufdringlichen Freier. Sie gibt vor, erst ein  Totentuch für ihren Schwiegervater Laërtes weben zu müssen, bevor sei eine neue Ehe eingehen kann. Aber nachts trennt sie immer auf, was sie tagsüber gewebt hat. Die aus beweglichen Bruchstücken zusammengesetzte Arbeit von Martial Raysse bezieht sich auf diesen Prozess des Machens und des Rückgängig-Machens (faire et défaire).  

Man Ray, Objet indestructible (1965) 

Dieses Werk ist zusammengesetzt aus einem Metronom und dem darauf befestigten Bild eines Auges.  Man Ray setzte es ein, wenn er malte. Es war sein akustischer und rhythmische Begleiter und Beobachter. In seiner ursprünglichen Version hieß es Object à détruire. 1957 wurde das Objekt gestohlen und schließlich von Man Ray durch ein neues, reproduzierbares -und damit unzerstörbares- ersetzt. Das Metronom gibt zwar ein bestimmtes Tempo vor, aber das kann/muss man selbst wählen – und die Dauer ist unbegrenzt…

Man Rays unzerstörbares Objekt verweist auf die Dimension der Zeit: 10 Jahre kämpft Odysseus in Troja, 10 Jahre dauert seine Irrfahrt, bis er endlich zu sich und nach Hause gefunden hat: sehr lange also, gerade auch bezogen auf die damalige kürzere Lebenserwartung. Vielleicht darf man das als Botschaft an die Besucher verstehen, sich auf ihrem eigenen Weg Zeit zu nehmen und zu geben…

Tony Matelli, Weed  (2017) Dauerinstallation

Die äußersten Widrigkeiten zum Trotz sich behauptende Pflanze Tony Matellis und das nachfolgend abgebildete Bild von Roy Lichtenstein verstehe ich als Ausdruck von Hoffnung und Sehnsucht, die die Beziehung von Penelope zu ihrem verschollenen Mann geprägt hat.

Dieses Bild von Martial Raysse aus dem Jahr 1962 hat keinen Titel. Aber im Zusammenhang dieser Ausstellung bezieht es sich auf Penelope, es dient auch als Motiv für Katalog-Cover und Ausstellungspräsentation. Der nachdenkliche fragende Blick der jungen Frau passt gut zu Penelope. Oftmals wurde sie in ihren Hoffnungen enttäuscht, sie zieht sich zurück und träumt von ihrem abwesenden Gatten. Im Traum lebt sie die Sehnsucht nach Odysseus aus und hält sein Bild wach, wie es war, als er in den Troianischen Krieg aufbrach- und dabei wird sie selbst noch schöner und begehrenswerter.[5]

Den Abschluss der Ausstellung bildet ein weiteres Patchwork Bild von Martial Raysse, bei dem der Bezug zu Odysseus und Penelope ganz explizit ist:  Ulysses, why do you come so late poor fool? – eine immerhin doch etwas befremdliche Begrüßung des endlich zurückgekehrten und herbeigesehnten Gatten.

Aber sie passt doch auch zu dem kühl distanzierten, nahezu abweisenden Verhalten Penelopes im Epos: Immerhin kehrt Odysseus -von Athene perfekt als Bettler getarnt-  gealtert, mit Glatze und Runzeln zurück, und Penelope will und muss ganz sicher sein, dass sie es auch wirklich mit ihrem Mann zu tun hat. Und schließlich war Odysseus ja 20 Jahre verschollen und hatte sich/bzw. wurde 10 Jahre auf dem Meer herumgetrieben, und die eheliche Treue, die Penelope auszeichnete, galt dabei für ihn eher nicht ….  Da darf sie den armen Teufel durchaus fragen, warum er denn erst so spät kommt…

Wind und Wellen, die Sonne und die Sterne…

Winde und Wellen begleiten Odysseus auf seinen Irrfahrten, und heftige Stürme bringen ihn vom Weg in die Heimat ab und machen ihn zum Schiffbrüchigen.[6] In der Ausstellung wird auf sehr originelle Weise die Macht des Windes den Besuchern erfahrbar gemacht: Da ist ein Instrument in die Wand eingebaut, dem Anschein nach ein altes defektes Gebläse, das ab und zu und für einige Minuten einen starken Windstoß erzeugt, der die davor stehenden Besucher erfasst.

Micol Assaël, Senza Titolo (Dielettrico) 2002

Wie müssen da erst die Winde des zürnenden Meeresgottes Poseidon und die von Odysseus‘ Gefährten mutwillig freigelassenen fürchterlichen Stürme von Aiolos, dem Gott der Winde, gewesen sein. Das Werk soll uns aber auch die Gefahren unserer Umwelt bewusst machen, wie es in der  beigefügten Erläuterung heißt: Der historisch/literarische Bezug und die aktuelle Erfahrungsdimension sind in der Konzeption der Ausstellung immer präsent.

Eine außergewöhnliche Idee, die Macht der Winde anschaulich zu machen, ist hier zu sehen: Allessandro Piangiamore hat aus Erde, die er an verschiedenen Orten von Porquerolles gesammelt hat, kleine Formen hergestellt. Die hat er dann an exponierten Stellen der Insel wie dem Leuchtturm an der Spitze oder den Forts im Westen und Osten den winterlichen Winden der Insel ausgesetzt. So wurden sie von ihnen geformt, es sind Skulpturen der Winde. Und die  Farben -von ocker bis violett- stammen ebenfalls von verschiedenen Orten der Insel. (Alessandro Piangiamore, tutto il vento che c’é, 1021/22 und Il cacciatore  di polvere, 2022)  Eine Gemeinschaftsproduktion des Künstlers und der Stiftung Carmignac).

Hier ein spätes Werk von Roy Lichtenstein, eines Lieblingsmalers der Stiftung: Fishing Village, 1987. Eine farbige wilde, den geradezu explosiven Kräften der Natur ausgesetzte Landschaft.

Willem de Kooning, Untitled XLIII (1983)

Das Icarus-Thema, das in diesem Werk von Adger Covans thematisiert ist (Icarus 1970), verweist nicht nur auf die Macht der Elemente, sondern auch auf menschliche Grenzen. Die berücksichtigt Odysseus bei seinen Irrfahrten: So lässt er sich von seinen Gefährten am Mast seines Schiffes festbinden, um nicht dem Gesang der Sirenen zu erliegen…

Hier zwei Ausschnitte eines wunderbaren Sternenhimmels, den Miguel Rothschild aus kleinen Stecknadeln kreiert hat. Ich musste dabei unwillkürlich an den „bestirnten Himmel über uns“ denken, der Kants Gemüt „mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllte. Und für diese Bewunderung gibt es auch seit der Zeit Kants immer neuen Anlass. Es geht aber um mehr: Rothschild hat seine Arbeit mit einem berühmten Shakespeare-Zitat aus dem Drama „Julius Caesar“ überschrieben: The fault is not in our stars, but in ourselves that we are underlings.  Brutus möchte Cassius von der Notwendigkeit überzeugen, Caesar umzubringen, um die Republik zu retten. Da kommt dann Kants „moralische Gesetz in uns“ ins Spiel. Es geht hier also auch um die Grundlagen und Antriebe menschlichen Handelns und um Handlungsspielräume. Im Epos von Homer sind es wesentlich die Götter, die über das Schicksal des Odysseus entscheiden: Athena, Poseidon, letztendlich sogar das Götterkollegium auf dem Olymp mit Zeus als oberstem Richter. Aber selbst in diesem von der Götterwelt bestimmten Kosmos hat Odysseus Raum für eigenständiges Handeln…  

Verführerische, bedrohliche Frauen und andere Gefahren der Reise

Odysseus muss während seiner Reise äußerste Gefahren bestehen, wobei ihm die Götter helfen, aber auch seine Vorsicht, Tapferkeit und List. Da gibt es zunächst die beiden der Götterwelt zuzurechnenden Frauen, die sich in ihn verlieben und ihn bei sich behalten wollen.

Carol Rama, Dorina (1944)

7 Jahre lang wird er von der „schönlockigen Kalypso“ aufgehalten, die sich in ihn verliebt und nicht mehr gehen lassen will. Da muss erst Zeus ein Machtwort sprechen und der Meernymphe befehlen, ihren geliebten Gefangenen freizugeben.

Und dann ist es die Zauberin Circe, auf deren Insel es Odysseus und seine Männer verschlägt. Sie verwandelt die von Odysseus zur Erkundung vorausgeschickten Männer in Schweine. Der Götterbote Hermes versorgt den Helden aber mit einem Kraut, das das Gift der Circe unwirksam macht. Mit dem Schwert in der Hand erreicht Odysseus, dass Circe seine Gefährten wieder zurückverwandelt und  Circe verliebt sich in Odysseus: Zwei Frauen also mit großer Machtfülle, die eine sexuelle Beziehung zu dem Helden eingehen und sein Heimkommen gefährden… [7]   

John Baldessari, Raised Eyebrows/Furrowed Foreheads (Part three) Knife (with hands) 2009

Ein Jahr lang lässt es sich Odysseus bei Circe gut gehen, dann setzt er endlich auf Drängen seiner Gefährten seine Heimreise fort.

Und dann gibt es ja noch die verführerisch singenden und Tod bringenden Sirenen und das männermordende Monster Skylla mit dem Oberkörper einer jungen Frau….

Louise Bourgeois, femme couteau (Die Messerfrau), 2002[8]

In den für die Ausstellung ausgewählten Werken klingen diese Episoden an.  Da gibt es -anders als in der Ausstellung von 2019- keine makellose, jungfräuliche Botticelli’sche Venus, die der Muschel entsteigt … selbst Niki de Saint  Phalles Venus von Milo ist blutverschmiert:  Die „ambiguïté du désir“ ist, wie der Katalog bestätigt, ein zentrales Thema der Ausstellung…

Noch viele andere Gefahren bedrohen Odysseus. Am berühmtesten ist da wohl der einäugige Riese Polyphem, der Odysseus in seiner Höhle gefangen hält und viele seiner Gefährten verzehrt. Aber der listige Held ersinnt einen Ausweg, den Oliver Laric gestaltet hat.  (Ram With Human, 2021).

Die Gefahr und die Angst um sich und seine Gefährten sind ständige Begleiter des Odysseus auf seinen Irrfahrten. Mit dem Thema Angst beschäftigt sich auch das Bild von Rashid Johnson Anxious Red Painting August 19th.  Es ist entstanden 2020 während der ersten Coronavirus-Welle. Die Wiederholung und Intensität dieser roten Figuren verkörperten, so der Begleittext, „ein tiefes Gefühl physischer und psychischer Isolation“ und könnten so eine allgemeinere und zeitlosere Angst symbolisieren.

In diesem Bild klingt aber auch der Lebens- oder Schicksalsfaden an, der gerade in der antiken Mythologie und bei Homer eine zentrale Rolle spielt. In Friedrich Schillers Nachdichtung der „Turandot“ Carlo Gozzis ist das so formuliert:

Es führt das Schicksal an verborgnem Band
Den Menschen auf geheimnißvollen Pfaden,
Doch über ihm wacht eine Götterhand,
Und wunderbar entwirret sich der Faden.[9]

Das passt auch zu Odysseus. Bei Rashid Johnson allerdings mag man an eine wunderbare Entwirrung des Lebensfadens nicht so recht glauben.

 Und wie ist es bei den Bootsflüchtlingen?

Deren Schicksal und Odyseen hat William Kentridge 2017 eindrucksvoll thematisiert.

 Refugees (You Will find no Other Seas)

Vergangenheit und Gegenwart, das bestätigen diese Arbeiten noch einmal eindringlich, sind in der Jahresausstellung der Villa Carmignac immer präsent. Der Weg durch das Labyrinth des Odysseus  führt durch die antike Mythologie, aber er lädt auch dazu ein, sich auf eine ganz persönliche und ganz aktuelle Odyssee zu begeben.

Praktische Hinweise:

Dauer der Ausstellung bis 16. Oktober 2022

Die Ausstellung ist geöffnet von Dienstag bis Sonntag (montags geschlossen) von 10-18 Uhr. Letzer Kartenverkauf um 16 Uhr. Es werden auch Nocturnes angeboten, die aber nur für Besucher infrage kommen, die auf Porquerolles übernachten.

Es ist äußerst empfehlenswert, Eintrittskarten (Tag und Zeit) zu reservieren unter https://billetterie.villa-carmignac.com/

Zwischen der Presqu‘île de Giens/Tour Fondue und Porquerolles gibt es regelmäßige Fährverbindungen. Auch hier ist eine Reservierung von Tag und Uhrzeit der Hinfahrt dringend zu empfehlen unter https://www.resa-tlv.com/resinternet  Die Uhrzeit der mitgebuchten Rückfahrt ist nicht festgelegt.

Am Tour Fondue stehen hinreichend bezahlte Parkplätze zu Verfügung.  

Von der Anlegestelle zur Villa Carmignac sind es ca 30 Minuten Fußweg. Im Tourismus-Büro am Hafen liegt ein Plan des Ortes aus.

Literatur:

Le Songe d’Ulysse. Katalog der Ausstellung Villa Carmignac Porquerolles. Éditions Dilecta, Paris, 2022

Éditions Beaux Arts. La Fondation Carmignac. Île de Porquerolles.  Paris, 2019

Homer, Odysseus. In der Übersetzung von Wolfgang Schadewald. Rororo Taschenbuch 2008


Anmerkungen:

[1] https://paris-blog.org/2018/10/15/die-insel-porquerolles-natur-und-kunst/ und https://paris-blog.org/2021/08/01/la-mer-imaginaire-die-jahresausstellung-2021-in-der-villa-carmignac-auf-porquerolles/

[2] Die nachfolgend präsentierten Fotos wurden von Wolf und Frauke Jöckel während des Ausstellungsbesuchs aufgenommen. Es handelt sich dabei meist um Ausschnitte. Die vollständigen Exponate sind in dem hervorragenden Katalog zu sehen.

[3] Beaux Arts, La Fondation Carmignac

[4] Siehe den Blog-Beitrag: https://paris-blog.org/2016/04/08/das-labyrinth-von-chartres/

[5] Anton Bierl, Die Wiedererkennung von Odysseus und seiner treuen Gattin Penelope. Uni Basel 2018

[6] Es sind nicht nur die Winde des Poseidon, sondern auch die des Aiolos, des Gottes der Winde.  Der hatte Odysseus freundlich aufgenommen und ihm zum Abschied einen Schlauch geschenkt, in dem alle ungünstigen Winde  gefangen waren. Um sicher nach Hause zu kommen, durfte Odysseus diesen Schlauch auf keinen Fall öffnen. So segelten sie mit gutem Wind zehn Tage lang und konnten bereits die Küsten Ithakas, ihrer Heimat, in der Ferne erkennen. Doch da übermannte Odysseus, der bisher kein Auge geschlossen hatte, der Schlaf. Seine Gefährten hatten schon lange darüber gerätselt, was sich wohl in dem prall gefüllten Schlauch verbarg – vielleicht Schätze, die Odysseus aus Troia mitbrachte? Sie beschlossen, die Gelegenheit zu benutzen und den Schlauch zu öffnen. Kaum war dies geschehen, brachen alle Winde in fürchterlichem Sturm hervor und trieben das Schiff geradewegs von Ithaka weg.  http://www.latein.ch/goetter/odysseus/index.php?file=odysseus&item=3&sort=

[7] https://www.researchgate.net/publication/354650824_Der_Heros_und_die_starken_Frauen

[8] In der beigefügten Erläuterung wird allerdings der bedrohliche Eindruck des Werkes relativiert. Louise Bourgeois habe hier die familiäre Erfahrung der Restaurierung von Teppichen verarbeitet.

[9] https://www.friedrich-schiller-archiv.de/uebersetzungen/turandot-prinzessin-von-china-von-gozzi/vierter-aufzug-fuenfter-auftritt

Zeichnungen der Razzia des Vel d’Hiv von Cabu : Eine Ausstellung im Mémorial de la Shoah in Paris

Von dem, was am 16./17. Juli 1942 in Paris geschah, gibt es -mit Ausnahme eines erst 1990 von Serge Klarsfeld entdeckten Fotos- keine Bilder, nur Augenzeugenberichte. [1] Sowohl den deutschen Initiatoren als auch den französischen Exekutoren dieser größten Verhaftungsaktion von Juden in Westeuropa während des Zweiten Weltkriegs war daran gelegen, das Geschehen möglichst wenig publik zu machen. Umso bedeutsamer sind gerade deshalb die 16 Illustrationen, die der Zeichner Jean Cabut 1967 anfertigte. Jean Cabut,  eher bekannt als Karikaturist unter dem Pseudonym Cabu, war eines der 12 Opfer des islamistischen Anschlags auf die Zeitschrift Charlie Hebdo, deren Mitarbeiter er war:  So wurde er, dem es so eindrucksvoll mit seinen Zeichnungen gelang, die Barbarei anschaulich zu machen, schließlich selbst Opfer der Barbarei…  

Anlass der Zeichnungen war 1967 die Veröffentlichung des Buches von Claude Lévys und Paul Tillards „La grande rafle du Vel d’Hiv“. Beide Autoren hatten sich im kommunistischen Widerstand engagiert: Lévys Eltern wurden 1944 deportiert und in Auschwitz ermordet, Tillard war Häftling im Konzentrationslager Mauthausen. Dort entging er dem fast sicheren Tod ebenso knapp wie Lévy der Deportation. [2]  Lévy und Tillard, beide keine Historiker, waren mutig genug, das damals eher in Vergessenheit geratene bzw. verdrängte Geschehen von 1942 einem breiten Publikum bekannt zu machen. Da die meisten Archive noch nicht zugänglich waren, stützten sie sich vor allem auf Berichte von Zeitzeugen.

Das Buch schlug damals nach den Worten Claude Lévys wie eine Bombe ein, weil hier zum ersten Mal in großer Breite und Eindringlichkeit die Mitverantwortung der Regierung von Vichy und die Beteiligung der französischen Polizei an der großen Razzia dargestellt wurden. Auch die spektakuläre rote Banderole (Die Bartholomäusnacht der Juden von Paris) und das Vorwort des berühmten Reporters Joseph Kessel trugen zur öffentlichen Wahrnehmung des Buches bei.  De Gaulle sprach nach der Lektüre von einer „bouleversant témoignage“ und er bezeichnete die Razzia des Wintervelodroms als „une des pages les plus sinistres de l’histoire, de l’occupation et de la ‚collaboration‘“. [3]

Die Rechte, Teile des Buches vorab zu veröffentlichen, hatte sich die Wochenzeitschrift Le Nouveau Candide gesichert. Die stand politisch rechts, unterstützte General  de Gaulle und engagierte sich gegen „die Gefahren  der Homosexualität“ oder gegen „die Invasion der Schamlosigkeit“ (so in einem Aufmacher über den Minirock), verbunden allerdings mit -für  damalige Zeiten- durchaus  offenherzigen Titelbildern. Die Redaktion erkannte das publizistische Potential des Textes von Lévy und Tillard und veröffentlichte Auszüge des Buches in mehreren Folgen.

Hier das Titelblatt der ersten Folge vom 24. April 1967 mit einem Foto des 9-jährigen Alain Cohen, dem Helden des damals gerade anlaufenden Films Le Vieil Homme et l’Enfant – der Geschichte eines jüdischen Kindes, das während der Occupation auf dem Land versteckt und so gerettet wurde. Der Text kündigt einen Bericht an, der den Franzosen 25 Jahre lang vorenthalten worden sei – auch dies eine publikumswirksame, aber doch auch etwas problematische Feststellung: Einen Bericht, der der Öffentlichkeit hätte vorenthalten werden können, gab es damals ja nicht….

„Die Juden von Paris in der Falle“.

Das reißerische Bild mit Hakenkreuz und Schäferhund entsprach zwar sicherlich den Erwartungen der Leserschaft, aber nicht der Realität und auch nicht dem Text von Lévy und Tillard. Denn bei der großen Razzia waren keine Deutschen (mit oder ohne Hakenkreuzbinde) beteiligt und auch keine Schäferhunde…. Aber selbstverständlich waren es die deutschen „Endlösungs“- Fanatiker, die die Razzia „bestellten“ und für die nachfolgenden Deportationen und Morde verantwortlich sind. Das antisemitische Collaborations-Regime von Vichy hätte sich wohl von sich aus mit einer Ausweisung von ausländischen Juden und einer Ausgrenzung französischer Juden „begnügt“, ließ sich aber bereitwillig als Helfershelfer der deutschen Besatzungsmacht instrumentalisieren. [4] 

Cabu war seit 1964 regelmäßiger Mitarbeiter des Nouvel Candide – auch wenn er dessen Konzeption kaum teilte. Aber, wie seine zweite Frau Véronique Cabu feststellte: Er hatte eine Familie, „il fallait bien faire bouillir la marmite“.[5]

Cabu setzte sein ganzes außerordentliches Talent ein, um das Geschehen vom Juli 1942 anschaulich zu machen: Seine Illustrationen orientieren sich aufs Genaueste an den Szenen, die von Lévy und Tillard geschildert wurden. Und sie sind zentriert auf die Opfer, ihren Schmerz, ihre Angst, aber auch ihre Würde gegenüber der Unerbittlichkeit des Staats- und Vernichtungsapparats.

Nachfolgend werden einige der Zeichnungen Cabus präsentiert. Sie sind aufgenommen im Mémorial  de la Shoah. Allerdings handelt es sich nicht um Fotos der in Vitrinen ausgestellten Originale. Es wurde ausdrücklich darum gebeten, sie nicht zu fotografieren, was ich natürlich respektiert habe. Es handelt sich also um Fotos von an den Wänden des Ausstellungsraums präsentierten vergrößerten und mit Erläuterungen versehenen Kopien. Die jeweiligen Titel der Fotos sind dem Ausstellungskatalog entnommen, die Erläuterungen orientieren sich an den Erläuterungen Laurent Jolys in dem hervorragenden Katalog.

Aux portes des victimes/An den Türen der Opfer

Diese in der ersten Folge der Serie im Nouveau Candide vom 24. April 1967 veröffentlichte Zeichnung zeigt eine Szene vom Beginn der Razzia: Seit dem frühen Morgen des 16. Juli 1942 werden die zur Deportation bestimmten Juden aus ihren Betten geholt. Manchmal kehren die Verhaftungsteams unverrichteter Dinge wieder um, manchmal wird ein Schlosser geholt, um die Türen zu öffnen, manchmal werden sie auch eingetreten. Zahlreiche von der Verhaftung bedrohte Menschen waren vorgewarnt und nicht zu Hause, anderen gelingt in letzter Minute die Flucht wie dieser Familie, die sich mit dem kleinen Mädchen an der Hand des Vaters und dem Säugling in den Armen der Mutter auf das Dach retten konnte. Sie sind nun „Illegale“, werden gesucht wie Verbrecher, müssen sich verstecken. Viele von ihnen werden in den folgenden Wochen und Monaten gefasst und deportiert. Die imposante schwarze Fläche symbolisiert eindrucksvoll die Angst der Flüchtlinge und die Ungewissheit ihrer Zukunft.

Le Nouveau Candide Nr. 313 vom 24. April 1967

In einem Spalier von Polizisten werden die verhafteten Menschen abgeführt. Auffällig ist, dass hier -wie auch in allen anderen Illustrationen Cabus- mit einer einzigen Ausnahme-  nur die jüdischen  Opfer und die französischen Helfershelfer der Nazi-Verantwortlichen gezeigt werden. Kein Zuschauer oder zufälliger Passant ist da, der sich empört oder Empathie zeigt – allerdings auch niemand, der Beifall klatscht. Das Geschehen findet gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Verhafteten und dann Deportierten sind einsam, allein gelassen. Aber Cabu unterstreicht damit auch die  kollektive Amnesie, die bis zur Publikation von Lévy und Tillard den Umgang mit diesem Staatsverbrechen prägte.

La petite fille/Das kleine Mädchen. Le Nouveau Candide Nr. 313 vom 24. April 1967

Mit dieser Zeichnung, die auch als Motiv für das Ausstellungsplakat dient, wollte Cabu sicherlich das Drama der Kinder anschaulich machen, deren Eltern bei der großen Razzia verhaftet wurden.

Konkret bezog sich Cabu dabei auf das Bild und das Schicksal der kleinen Lisa Fajnzylberg, die als 6-Jährige schon den Judenstern tragen musste. Ihre Mutter Ita wurde am 16. Juli 1942 verhaftet. Wigdor, der Vater, war Soldat im Krieg 1939/1940 gewesen, hatte dort ein Bein verloren und war mit mehreren Orden ausgezeichnet worden. Deshalb wurde er zunächst ausgespart. Kurz nach der großen Razzia ließ er sich mit seinen Orden und mit seinen beiden Kindern fotografieren und schickte das Foto an Marschall Pétain mit der Bitte, seine Frau freizugeben.

Das Gesuch wurde abgelehnt. Ita wurde am 23. September 1942 deportiert, Wigdor 18 Monate später. Die Kinder hatte er aber noch vorher auf dem Land unterbringen können. Was allerdings aus der kleinen Lisa geworden ist, weiß man nicht…

La petite fille/Das kleine Mädchen (Detail): Wie Schwerverbrecher werden verhaftete Juden aus dem Haus geholt.
Les centres  de rassemblement/Die Sammelstellen. Le Nouveau Candide Nr. 313 vom 24. April 1967

Diese Zeichnung veranschaulicht eine Szene in einer der Sammelstellen, in die die verhafteten Juden zunächst gebracht wurden. Solche Stellen gab es in jedem Arrondissement. Im 11. Arrondissement war das zum Beispiel die Sporthalle gymnase Japy. Sehr oft dienten aber auch die Polizeistationen, die es im Rathaus jedes Arrondissements gab, als Sammelstelle- so wie auf dieser Zeichnung Cabus. Der Polizist hat sich mit den Insignien seiner Macht vor den verhafteten Juden aufgebaut, die resigniert erwarten, was nun mit ihnen geschehen wird. Es sind „unerwünschte Ausländer“, die so schnell wie möglich entweder nach Drancy oder ins Vel d’Hiver überstellt werden sollen. Verständnis können sie in dieser Situation nicht erwarten: Über dem Tisch des hinter seinem Schreibtisch verschanzten Sekretärs hängt das Portrait des Marschalls Pétain, der der großen Razzia seinen politischen und moralischen „Segen“ gegeben hatte.

L’autobus/Der Bus Le Nouveau Candide Nr. 313 vom 24. April 1967

An den Sammelstellen warteten Busse der Compagnie du métropolitain, der Vorgängerin der heutigen RATP, auf die zur Internierung und Deportation bestimmten Menschen. Männer und Frauen ohne Kinder wurden nach Drancy  gefahren, der letzten Etappe vor der Deportation, Frauen und Familien mit Kindern ins Vel d’Hiv. Als Cabu diese Zeichnung anfertigte, konnte er noch nicht wissen, dass die „Busse der Schande“[6] einmal zum Symbol der großen Razzia werden würden. Denn erst 1990 entdeckte Serge Klarsfeld das einzige authentische Foto der Razzia, das aber 1942 der deutschen Zensur zum Opfer fiel. Da ist eine Reihe von Bussen vor dem Eingang des Vel d’Hiv geparkt und auf dem Gehsteig sind undeutlich einige der Verhafteten zu erkennen. Die Fenster der Busse sind offensichtlich zugehangen. Bei Cabu dagegen kann man -und soll man- ganz deutlich in das Innere des Busses sehen: Die dort zusammengepferchten Menschen sind individuell gezeichnet und ihre Gesichter drücken aus, was sie fühlen: Angst, Niedergeschlagenheit, Unverständnis, Resignation.

Cabus Kollege Riss, der den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebte, hat in der Ausgabe der Zeitschrift vom 22. Juni 2022 die große Bedeutung der individuellen Zeichnung der Opfer durch Cabu herausgestellt: „Dessiner un épisode aussi violent impose au dessinateur de détailler chaque visage, chaque vêtement, chaque homme, chaque femme et chaque enfant. Un dessinateur paresseux se serait contenté de croquer une masse de silhouettes informes et, en le faisant, il ne se serait pas aperçu qu’il aurait poursuivi l’action des bourreaux en niant comme eux la singularité de chaque personne raflée. Cabu a parfaitement compris qu’il fallait au contraire dessiner chaque victime dans sa spécificité, avec son visage unique, sa robe, sa redingote et ses chaussures, chacune différente les unes des autres. Car ce jour-là, ce n’est pas une masse qui a été déportée pour être assassinée, mais un individu plus un individu plus un individu plus un individu plus un individu plus un individu plus un individu… Et à chaque fois, c’est une histoire unique au monde qui était détruite. Le soin pris par Cabu pour dessiner les visages de chaque victime était le seul moyen à sa disposition pour leur redonner leur place dans l’humanité. Celle-là même dont les bourreaux avaient voulu les déposséder.

Hier ein Detail des großen Panoramas der „Hölle des Wintervelodroms“, das im Nouveau Candide Nr. 314 vom 1. Mai 1967 veröffentlicht wurde. Mit wenigen Strichen hat Cabu die Situation im Vel d’Hiv getroffen, so wie sie von Lévy und Tillard beschrieben wurde. Alle Dabei -Gewesenen hätten übereinstimmend berichtet, dass die auf engstem Raum zusammengedrängten Opfer sich kaum hätten bewegen können. Da ist von hysterischen Schreien, von Ohnmachtsanfällen und Nervenzusammenbrüchen die Rede: Bei Cabu wird gerade ein schreiender, wild gestikulierender Mann von Polizisten mit Gewalt auf einer Bahre festgeschnallt.

Dies ist ein weiteres Detail der „Hölle des Wintervelodroms“ aus der Zeichnung Sur la piste/Auf der Rennbahn in Le Nouveau Candide Nr.315 vom 8. Mai 1967

L’épicerie en face du Vel d’Hiv/Der Lebensmittelladen gegenüber dem Wintervelodrom Le Nouveau Candide Nr. 314 vom 1. Mai 1967

Cabu veranschaulicht hier eine Szene vom Nachmittag des 16. Juli: Frauen drängen sich am Ausgang des Velodroms, weil sie keine Milch für ihre Kinder haben und kein Wasser. Die überforderten Polizisten wagen es nicht, ihre Waffen einzusetzen und geben schließlich dem Druck nach. In dem allgemeinen Tohuwabohu gelingt dem damals 14 – jährigen Lazare Pytkowicz die Flucht. Im Gegensatz zu seinen Eltern, seiner Schwester und den Frauen, die wieder zu ihren Kindern im Vel d’Hiv zurückkommen, überlebt er.  

L’évacuation du Vel d’Hiv: de la gare d’Austerlitz vers les camps du Loiret (19-22 juillet 1942)/ Die Räumung des Wintervelodroms: Vom gare d’Austerlitz zu den Lagern im Loiret (19.-22. Juli 1942) Le Nouveau Candide Nr. 314 vom 1. Mai 1967

Am Morgen des 19. Juli beginnt unter der Aufsicht der Gendarmerie und der städtischen Polizei der Abtransport der Opfer aus dem Vel d’Hiv in die Internierungslager Beaune-la-Rolande und Pithiviers im Loiret. Ein erster Konvoi mit etwa 1000 Opfern, überwiegend Frauen und Kindern, verlässt den Bahnhof  fahrplanmäßig um 8.15, der nächste um 11.05 Uhr. Die eigentlich für Tiere vorgesehenen Viehwagen müssen schnell und mit Nachdruck gefüllt werden.

Ein Bahnbediensteter blickt auf seine Uhr: Sein Interesse gilt ganz offensichtlich allein der pünktlichen Abfertigung der „Fracht“…

Le convoi parti de Drancy le 19 juillet 1942/Der Zugkonvoi aus Drancy vom 19. Juli 1942. Le Nouveau Candide Nr. 316 vom15. Mai 1967

Zur gleichen Zeit wird in Drancy, in das die Erwachsenen ohne Kinder eingeliefert worden waren, der erste Konvoi nach Auschwitz organisiert: Auch hier drängte die Zeit, weil auch Drancy von der Masse der zur Deportation bestimmten Menschen völlig überfordert war. Am Morgen des 19. Juli werden 879 Männer und 121 Frauen vom Bahnhof Le  Bourget-Drancy in den Tod gefahren.

Frauen aus dem Frauenblock des Lagers werfen den abgeführten Opfern noch ihre Brotrationen zu, wie Georges Wellers, ein Überlebender des Lagers, in seinem 1946 erschienenen Buch „De Drancy à Auschwitz“ berichtet. Der begleitende Polizist tut mit starrem Blick nur seine Pflicht, ist ungerührt und zeigt keinerlei Anteilnahme.

Le „convoi des femmes“: Pithiviers, le 3 août 1942/Der „Konvoi der Frauen“: Pithiviers, 3. August 1942. Le Nouveau Candide Nr. 316 vom15. Mai 1967

Mit dieser Zeichnung schließt Cabu seine Illustration des Textes von Lévy  und Tillard ab. In dem Lager von Pithiviers (und dem von Beaune-la-Rolande) waren die in der Razzia vom 16./17. Juli verhafteten Familien interniert: In Pithiviers Ende Juli 4700 Menschen, davon 2000 Kinder. In einem ersten Konvoi vom 31. Juli wurden vor allem Männer nach Auschwitz deportiert – die erste Trennung der Familien. Dann die allerschlimmste Trennung, die von Müttern und Kindern: Die Krematorien in Auschwitz sind noch nicht fertig, also fordern die Nazis zunächst nur erwachsene, arbeitsfähige Männer und Frauen an.

Die Kinder klammern sich an ihre Mütter, weinende und schreiende Kinder, auch gerade erst zweijährige sind darunter, werden von den Polizisten gewaltsam von ihren verzweifelten Müttern gerissen und zum Bahnhof von Pithiviers´gebracht. [7] 974 Frauen und Mädchen und 60 Männer werden in Viehwagen verladen. Dort stehen sie, im Schock über das Unfassbare. Nur vier Frauen und ein Mann dieses Konvois überleben die Fahrt und die Hölle von Auschwitz.

Eingestellt am 17. Juli 2022, dem 80. Jahrestag der rafle du Vel d’Hiv

Wolf Jöckel

Zum Weiterlesen:

Cabu, La Rafle du Vel d’Hiv. Dessins présentés par Laurent Joly. Katalog der Ausstellung. Éditions Tallandier 2022

Laurent Joly, La Rafle du Vel d’Hiv. Paris juillet 1942.  Paris: Éditions Grasset 2022. (Eine umfassende, auf intensiver Quellenarbeit beruhende Darstellung.

Claude Lévy/ PaulTillard, La Grande Rafle du Vel d’Hiv. Paris: Éditions Tallandier 2020

Wolf Jöckel,  Vor 80 Jahren: Die große Razzia des Wintervelodroms (Vel d’Hiv), die „Bartholomäusnacht der Pariser Juden“  https://paris-blog.org/2022/07/09/vor-80-jahren-die-grose-razzia-des-wintervelodroms-vel-dhiv/


Anmerkungen:

[1] Bei dem Foto auf dem Umschlag der Originalausgabe des Buches von Lévy und Tillard handelt es sich nicht um eine Aufnahme aus dem Wintervelodrom vom 16./17. Juli 1942, sondern um ein Foto vom August 1944, als Personen, die der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt wurden, im Wintervelodrom interniert waren.

[2] Über seine  Erfahrungen berichtete Paul Tillard 1945 in „Mauthausen“. Zugänglich in: Paul Tillard, Le pain des temps maudits suivie de Mauthausen. Paris: Harmattan 1966

[3] zit. Joly, La Rafle du Vel d’Hiv,  S. 308

[4] Siehe Robert O. Paxton, La France de Vichy 1940-1944. Éditions du Seuil 1973, S. 172

[5]  Zitiert in: Frédéric Potet, La rafle du Vel d’Hiv vue à travers la plume de Cabu. Le Monde, 3./4. Juli 22, S. 27

[6] Siehe: Jean-Marie Dubois und Malka Marcovich,  Les bus de la honte. Éditions Tallandier, 2016

[7] Aus Anlass des 80. Jahrestages der Razzia des Wintervelodroms wurde der Bahnhof von Pithiviers am 17.Juli 2022 als Erinnerungsstätte eingeweiht. https://www.francetvinfo.fr/culture/patrimoine/histoire/l-ancienne-gare-de-pithiviers-devient-un-lieu-de-memoire-de-la-shoah_5251936.html Anwesend war auch Präsident Macron, der eine engagierte Rede gegen den Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart hielt: https://www.leparisien.fr/politique/80-ans-de-la-rafle-du-vel-dhiv-a-pithiviers-macron-veut-poursuivre-le-combat-contre-lantisemitisme-15-07-2022-