Gare du Nord – Hittorffs Triumphbau des Fortschritts. Ein Beitrag von Ulrich Schläger

„Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.  […] In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orleans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee“, schreibt Heinrich Heine am 5. Mai 1843 anlässlich der Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen nach Orléans und Rouen.[1]

Heute, wo wir in nicht einmal 10 Stunden von Frankfurt nach Peking fliegen können, vermögen wir uns kaum noch vorzustellen, was die Eisenbahn im 19. Jahrhundert bedeutete. Sie beschleunigte den Transport von Menschen und Gütern in einem nie gekannten Tempo. Die Entfernungen schrumpften zusammen, die Zeit triumphierte über den Raum.

An die neuen Technologien der Fortbewegung (Eisenbahn & Dampfschifffahrt) wurden Hoffnungen geknüpft, die uns heute, wo wir es besser wissen, euphorisch, wunderlich, zum Teil bizarr, ja absurd erscheinen.

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson sah 1844 die neue Technologie »im Begriff, den Traum der Verfassungsväter einer von Partikularismen befreiten Republik zu verwirklichen. Nun – rund vier Jahrzehnte vor Einführung einer einheitlichen Zonenzeit für die nordamerikanischen Eisenbahnen – schien die Harmonisierung des Kontinents in greifbare Nähe gerückt zu sein. Emerson verglich die neuen Verkehrsmittel mit einer Webmaschine: „Wir beobachten nicht bloß die Auslöschung der Distanz. Gleich dem Schiffchen beim Webstuhl, so gleiten auch unsere Lokomotiven und Kursschiffe täglich über die Tausende von Fäden, die unsere Nation und Arbeit sind, und verwandeln sie in ein einziges Gewebe. Jede Stunde steigert sich dieser Vorgang der Assimilation und bannt damit die Gefahr, dass lokale Besonderheiten und Feindschaften überleben können.“[2]  Wie illusorisch diese Hoffnung war, zeigte der Amerikanische Bürgerkrieg zwanzig Jahre später.

Der viermalige britische Premierminister William Ewart Gladstone schrieb der Eisenbahn beinahe magische Kräfte zu. In einer Rede vor Bahnangestellten formulierte er die Utopie einer Gesellschaft, die, indem sie sich einem einzigen Rhythmus fügt, den Schritt zur eigentlichen Moderne erst recht eigentlich vollzieht. „Während wir uns früher ständig mit der Gefahr der Unordnung konfrontiert sahen, verfügen wir heute über ein Instrument, das nichts anderes als ein geordnetes Leben zulässt (Applaus) – ein Leben, das dem alten monastischen System durchaus ähnelt, in dem alles dem Rhythmus der Uhr und der Kirchenglocke unterlag. Diese feste Ordnung bildet die Seele . . . des riesigen Eisenbahnnetzes, das unser Land nach allen Richtungen überzieht (Applaus).“«[3]

»Für den englischen Eisenbahnexperten Edward Foxwell waren die spätviktorianischen Bahnhöfe Orte der Hoffnung. […] Ähnlich wie Gladstone sah er in der Eisenbahn jene Kraft, die die verwirrende Vielzahl menschlicher Rhythmen miteinander versöhnen sollte. So verband sich auch bei ihm die Erfahrung der Beschleunigung mit der Sehnsucht nach der großen symphonischen Gemeinschaft.« [[4]] Auch diese Hoffnung erfüllte sich, wie die großen Weltkriege zeigten, nicht.

Eines aber ist sicher: Mit dem Ausbau des Schienennetzes wird die Eisenbahn weltweit zu einem der wichtigsten Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung, auch des Tourismus.

Nicht lange nach Heines Imaginationen kann die Pariserin früh morgens am Gare du Nord einen der „trains de plaisir“ zu den Stränden von Dünkirchen oder Saint-Quentin-Plage nehmen, sich in ihrer neusten Standmode präsentieren und spät abends nach Paris zurückzukehren, kurz „une journée à la mer“ (einen Tag am Meer) verbringen. Zweifellos eine Bereicherung des Freizeitvergnügens. Für einen Tag zur Ruhe und Erholung in die Wälder von Compiègne flüchten oder den Nervenkitzel auf der Pferderennbahn in Chantilly suchen: mit der Eisenbahn kein Problem.

Reklameplakat der Nordeisenbahn von Ferdinand Bac, 1897[5]

Die Eisenbahn wird zum Symbol des Fortschrittes, und die Bahnhöfe, zumal der großen Städte, sind ihre Kathedralen.

Allein in Paris entstehen bis 1900 sieben Bahnhöfe. Der erste ist la Gare Saint-Lazare. Der Impressionist Claude Monet ist von ihm fasziniert; er malt ihn zwölfmal!

Claude Monet (1877) – Gare Saint Lazare (Musée d’Orsay)

Es folgen 1840 Gare d’Austerlitz und der erste Gare Montparnasse unter dem Namen Gare de l’Ouest. Schon ein Jahr später beginnt der Bau des ersten Nordbahnhofs. Er wird 1846/47 fertiggestellt und trägt die Bezeichnung Embarcadère du Chemin de Fer du Nord. 1850 kommen Gare de l’Est, 1855 Gare de Lyon und schließlich Gare d’Orsay anlässlich der Weltausstellung von 1900 hinzu.

Alter Nordbahnhof (Embarcadère du Chemin de Fer du Nord) in Paris im „Orangerie-Baustil“ (nach der Orangerie von Versailles). Im Hintergrund ist auf dem Montmartre-Hügel der optische Telegraf von Claude Chappe mit seinen schwenkbaren Signalarmen zur Zeichenübermittlung zu sehen.

Die rasche Ausbreitung des Bahnstreckennetzes mit steigendem Verkehrsaufkommen erfordert, dass der Gare de l’Ouest 1848 bis 1852 durch einen größeren Bahnhof ersetzt werden muss. Und auch der erste Gare du Nord erweist sich angesichts der zunehmenden Zahl der Reisenden von 1.500.000 im Jahr 1858 auf 2.100.000 im Jahr 1863 bald als zu klein, sodass er 1860 abgerissen wird, um einem größerer Neubau Platz zu machen.

Das französische Eisenbahnnetz von 1837 bis 1870

Die Eisenbahngesellschaft Compagnie des chemins de fer du Nord mit Baron James Mayer de Rothschild an der Spitze hatte 1857 die Genehmigung zum Bau eines neuen Bahnhofes an gleicher Stelle auf einem größeren Gelände erhalten. Die Planungsarbeiten für den neuen Bahnhof beginnen 1858 vor dem Hintergrund der großen Haussmannschen Transformation und des Wirtschaftsbooms in der Hauptstadt. Die Architekten der Compagnie des Chemins de Fer du Nord, Jules-Léon Lejeune und Léon Ohnet, erstellen erste Studien für einen U-förmigen Kopfbahnhof, in der damaligen Zeit eine häufige Bahnhofs-form. Damit ist ein Problem vorprogrammiert, denn eingezwängt in diese Gebäudeanordnung lässt sich bei steigendem Verkehrsaufkommen die Zahl der Bahnsteige und Geleise nur begrenzt erweitern, was zu wiederholten Umbauten führen wird.

Die Hauptfassade soll an der Place Roubaix (heute Place Napoleon III) als Eingang für die Vorortpassagiere und das Bahnpersonal liegen, während der Zugang zu den Fernzügen über die Seitenfassade erfolgt, wobei die Abfahrten auf der Westseite und die Ankünfte auf der Ostseite liegen. Da diese Räumlichkeiten nicht die gleichen Zuweisungen und Bedürfnisse haben, kann der Gebäudekomplex nicht symmetrisch sein. Die ersten Entwürfe überzeugen die städtischen Behörden allerdings nicht.

Hittorffs letztes großes Werk

Hittorff wird 1861 von James de Rothschild beim Bau des Bahnhofes hinzugezogen. Er steht vor einer doppelten Aufgabe. Einerseits soll er ein Gebäude errichten, das dem Repräsentationsbedürfnis der Eisenbahngesellschaft entspricht: Der Bahnhof wird sich, wie Hittorff schreibt,  „den Blicken der Öffentlichkeit mit dem Charakter seiner Bestimmung präsentieren. Man kann mit einer imposanten Wirkung rechnen, die auf die Größe des Bahnhofs zurückzuführen ist, und die Fassadengestaltung wird seine immense Ausdehnung verdeutlichen.“ [6]

Andererseits ist neueste Technologie gefordert: Das Empfangsgebäude soll mit einer Halle verbunden sein, die dem großen Raumbedarf mit möglichst vielen Gleisanlagen und dem dazugehörigen Equipment gerecht wird.

Hittorff bereitet sich auf die für ihn neue Aufgabe mit einer Reise nach England, das Mutterland der Eisenbahn, vor. Dort standen nicht nur dank innovativer Verfahren bei der Eisenverhüttung Guss- und Schmiedeeisen in größeren Mengen und besserer Qualität zur Verfügung, sondern es wurden auch schon früher als auf dem Kontinent Konstruktionen aus Eisen, Stahl und Glas errichtet, insbesondere auch imposante Bahnhofshallen.

In Vorbereitung auf den Bau der Halle für die Gleisanlagen des Gare du Nord dürfte Hittorff sicherlich bei seiner Englandreise Joseph Paxtons Crystal Palace, vor allem aber Ingenieursbauten mit weit gespannten Tragwerken wie Londons Paddington-Station und Bristol Temple Meads-Station, beide von Isambard Kingdom Brunei, und Lewis Cubitts Kings Cross-Station und andere technische Bauten studiert haben.

Bahnhof Kings Cross. Photo Hugh Llewelyn. Creative Commons

Die ersten Entwürfe für den Gare du Nord sehen noch einen gemeinsamen Gebäudekomplex für die Verwaltung und den Bahnbetrieb vor. Es erweist sich aber als schwierig, beide Bereiche in einem repräsentativen Bau zu vereinigen. Der größere Platzbedarf für die Bahnanlagen infolge des gestiegenen Verkehrsaufkommens führt schließlich in der weiteren Planung zur Trennung von Verwaltung und Bahnbereich.

Hittorff gelingt es, die Asymmetrie der Baumassen aufgrund des unterschiedlichen Raumbedarfs für die Abfahrt- und Ankunftszone des Bahnhofs durch eine triumphale Prunkfassade mit klassischer symmetrischer Proportion zu verdecken.

Abb. 7: Hittorff (Bleistiftzeichnung) – Endgültiger Entwurf für Gare du Nord 1861 Perspektivische Außenansicht[7]     

Die Arbeiten Hittorffs werden 1866 fertiggestellt. Der Bahnhof wird aber schon 1864 in Betrieb genommen. Das äußere, von Hittorff geschaffene Erscheinungsbild hat sich seither nicht verändert. Später mussten aus besagten Gründen an seiner Ostseite neuere Teile hinzugefügt werden.

Die Verpflichtung von Hittorff, einem der bedeutendsten Pariser Architekten seiner Zeit, ist eine Prestigesache für die Eisenbahngesellschaft und wichtig für den Bahnhof selbst, der nicht allein durch seine Monumentalität beeindrucken soll. Er soll eine Demonstration des weitgespannten Schienennetzwerkes sein und durch seine künstlerische Gestaltung unter den anderen Bahnhöfen der Metropolen herausragen und neue Maßstäbe setzen.

Der nur schmale Fassadenbau verschafft, ohne Treppen zu überwinden, einen direkten Zugang zu den Zügen. Vom Vorplatz mit den Droschken bis zu den Zuggleisen sind es nur wenige Schritte. Aber mehr als diese auf die Funktion des Bauwerks gerichtete Gestaltung ist das Gebäude vor allem ein Repräsentationsbau der Compagnie des chemins de fer du Nord und ein Monument des technischen Fortschritts.

Die Fassade des Empfangsbaus

Wie Thomas von Joest in seinem Betrag über den Gare du Nord nachweist [[8]], kann die Gestaltung der Fassade nicht als alleiniges Werk von Hittorff betrachtet werden. Wesentliche Vorarbeiten zur Grundstruktur der Hauptfassade wurden bereits vom Baubüro der Eisenbahngesellschaft unter der Leitung der Architekten Jules-Léon Lejeune und Léon Ohnet geleistet, wie sich anhand der in den Archiven der staatlichen französische Eisenbahngesellschaft S.N.C.F. (Société nationale des chemins de fer français) befindlichen Zeichnungen belegen lässt.

„Wenn wir auch“, so Thomas von Joest, „Hittorf nicht das   Verdienst zuschreiben können, das Grundkonzept der Fassade kreiert zu haben, so haben wir doch ihre ausgereifte Gestaltung, die die Gliederung des Bauwerkes deutlich zu erkennen gibt, der Erfahrung des Baumeisters und seinem Sinn für Proportionen zu verdanken.“ [[9]]

Die imperiale 180 m lange neoklassizistischen Fassade gliedert sich in einen zentralen riesigen Giebel, der die Konturen der dahinter liegenden Haupthalle aufnimmt und in dessen Mitte sich ein großes Bogenfenster befindet, das von zwei kleineren Glasbögen flankiert wird.

Der zentrale Giebel wird eingerahmt von zweigeschossigen Flügeln, hinter denen sich die Seitenhallen befinden und iegbelständigen Pavillons, ebenfalls mit verglasten Bögen, die beiderseits die Fassade abschließen.

Riesige ionische Pilaster als ornamentaler Schmuck erstrecken sich über zwei Geschosse des zentralen Giebels und der Pavillons. Sie kontrastieren mit der Reihung kannelierter Säulen mit dorischem Kapitell für die Untergeschosse des zentralen Giebel-Teils und der Pavillons sowie für die beiden Geschosse der Seitenflügel.

Das Ensemble wird vervollständigt durch 23 weiblichen Figuren mit einer Mauerkrone auf ihren Häuptern als Sinnbild der Stadtgöttinnen. Sie sind die Personifikationen internationaler und französischer Städte, die von der Nordbahn bedient werden. Dreizehn der besten Künstler Frankreichs werden damit beauftragt. Ein großer Teil von ihnen hatte bereits an der Oper Garnier in Paris gearbeitet.

Abb. 10: Zentraler Giebel der Fassade.[10]

Am Eingang wird der Besucher seit 2015  von dem geflügelten Bären (angel bear) Richard Texiers begrüßt.

Foto: Wolf Jöckel

Die Figuren auf dem Dachfirst versinnbildlichen Paris – im Zentrum und an der Spitze – und die ausländischen Städte (von links nach rechts): Frankfurt und Amsterdam, Warschau und Brüssel,  London und Wien, Berlin und Köln (Cologne).

Die Allegorien von Berlin und Köln. Foto: Wolf Jöckel

Die Statuen im unteren Teil der Fassade repräsentieren die französischen Städte (von links nach rechts): Boulogne und Compiègne, Saint-Quentin und Cambrai, Beauvais und Lille, Amiens und Rouen, Arras und Laon, Calais und Valenciennes, Douai und Dünkirchen.

 Abb. 13: Allegorien der Städte Beauvais, Lille, Amiens, Rouen, Arras  und Laon[11]

Der Empfangsbau wird so zu einem Ort, an dem sich die Nähe mit der Aura der Ferne versieht. Pilaster, Säulen, Statuen und Fensterachsen lockern die langgestreckte Fassade vielfältig durch eine vorherrschend vertikale Gliederung stark auf und erinnern mit ihren vor- und zurückspringenden Partien an eine scena, den Kulissenbau im griechischen Theater. 

In der Gestaltung des Fassadenbaus zeigt sich Hittorff mit seinen Anleihen an klassizistische Elemente in der Tradition der École des beaux arts, die dem Bauwerk über seine Funktion hinaus vor allem Schönheit und Bedeutung geben soll.

Es ist Hittorff mit der Fassade gelungen, die Funktion des Gebäudes ins Macht- und Bedeutungsvolle zu steigern und die Form der dahinter liegenden Halle zum Ausdruck zu bringen.   

Die Konstruktion der Bahnsteighalle

Das 19. Jahrhundert war nicht nur das „Zeitalter des Kampfs der Stile“, „in dem die romantische Kraft der Gotik mit der machtvollen klassischen Tradition rang“, es war „ebenso sehr das Zeitalter des Eisens“[12], das sich nicht nur auf Ingenieurbauwerke wie Eisenbahnstrecken, Brücken, Markthallen, Fabriken, Gewächshäuser u.a.m. beschränkte, sondern Einzug hielt in die Architektur, samt den Vorzügen des Einsatzes standardisierter Bauteile.

Erste Erfahrungen mit der Eisenarchitektur hatte Hittorff als angehender Architekt beim Bau der Metall-Kuppel der Halle au Blé gesammelt.[13]

Abb. 14 : Monuments anciens et modernes – collection formant une histoire de l’architecture des différents peuples à toutes les époques. Tome 4; publiée par Jules Gailhabaud, Paris 1857. Bildquelle: gallica. Bnf.fr/Bibliothèque nationale de France

Dieser 1783 errichtete große Rundbau, heute ein Kunsttempel der Pinault-Sammlung,  diente als Speicher- und Handelsplatz für Getreide. Die über dem offenen Hof der Kornhalle errichtete Holzkuppel war 1802 abgebrannt und sollte nun durch eine Eisenkuppel ersetzt werden., die erste in der Geschichte der Architektur.[14] Als Commis aux attachments et aux écritures, also Mitarbeiter bei der Dokumentation der Arbeitsvorgänge, skizzierte der junge Hittorff die Entwicklung des Baus. [15]

Hittorff bleibt von seinen Erfahrungen mit der Halle au Blé und der Zusammenarbeit mit dem verantwortlichen Architekten Bélanger geprägt. Das Interesse an Eisen in der Architektur zieht sich durch sein gesamtes Werk. Das zeigen auch seine Entwürfe für einen Industriepalast (1852) und einen Palast für die Weltausstellung (1854).

Die Konstruktionszeichnungen in den Archiven der S.N.C.F. und der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule Zürich belegen, dass die Entwürfe für den Dachverband der Bahnsteighalle mit seinem Trägersystem und den Stützpfeilern mit ihren Kapitellen im Baubüro von Jakob Ignaz Hittorff, unterstützt von seinem Sohn Charles, entstanden.

Abb. 24: Die zentrale Einfahrthalle der Gare du Nord. Foto: Wolf Jöckel

Die von Hittorff und seinem Planungsbüro in Zusammenarbeit mit den Eisenbahnarchitekten entworfene Eisenbahnhalle aus Eisen und Glas ist strukturell von den sie umgebenden Steinfassaden getrennt. Ihr Grundriss ist der einer dreischiffigen Basilika mit einem mittleren Teil von 180 Meter Länge und den beiden Flügeln von jeweils 200 Meter Länge.

Foto: Wolf Jöckel

Die Eisenkonstruktion, die das 180 m lange Dach der Haupthalle trägt, überspannt eine Gesamtbreite von 72 m und ermöglicht durch eine optimale Reduktion der Stützelemente die großflächige Einrichtung der Gleise und Bahnsteige.

Abb, 26: Dachträgersystem und Säulen. Bildquelle : Vide en ville; https://videenville.paris › galeries

Zur Überdachung der Halle mit ihrer großen Spannweite wählt Hittorff die Träger-Konstruktion vom Polonceau-Typ. Das Dach der Haupthalle ruht über Stützkonsolen auf nur zwei Reihen von 38 m hohen korinthischen Säulen aus Gusseisen.

Die Säulen werden in Schottland hergestellt, dem einzigen Land zu dieser Zeit, in dem es eine Gießerei gab, die so große Säulen herstellen konnte. Zur Kontrolle der Gussteile schickt Hittorff seinen Sohn Charles nach Glasgow. Auch alle Teile der Dachkonstruktion (Sparren, Druckstützen, Zugbänder, Glas- und Zinkplatten) werden vorgefertigt und können vor Ort schnell durch Bolzen, Steckelemente und Schrauben miteinander verbunden werden. Das beschleunigt den Bau der Halle entscheidend und kommt dem zunehmenden Diktat der Wirtschaftlichkeit des Bauens entgegen.

Gussteile für die Halle des Gare du Nord in der Gießerei in Glasgow.) Aufschrift auf der Rückseite: „To Mr. Hittorff, architect, Paris, from Mr. Gromlay, Glasgow 1862“ [16]

Foto: Wolf Jöckel

Das Trägersystems der unterspannten Dachsparren war eine Erfindung des Eisenbahningenieurs Barthélemy Camille Polonceau, der dieses System erstmals 1838 bei den Dächern für die Bahnhöfe der Eisenbahn von Paris nach Versailles anwandte.[17]

Dieses Trägersystem ermöglichte große Öffnungen im Dach zum Lichteinfall, ohne die Stabilität des Gebäudes zu gefährden. Ein Vorteil war auch, dass kein Seitenschub auf die Wände der Seitenflügel ausgeübt wurde.  Die Stützkonsolen, Streben, Druckstangen- und Zugsbänder waren fast nicht wahrnehmbar, so dass sich ein Eindruck großer Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit ergab.

Abb. 28: Paris Nord – 28. Juni 1960 – Innenansicht mit der Architektur des Glasdachs und der Leichtigkeit des Polonceau-Systems (SNCF-Archiv) [18]

Mit dem Einsatz von Eisen und Glas wurden eine Reihe von Prozessen in Gang gesetzt, die nicht nur eine neue architektonische Ästhetik, neue räumliche Wahrnehmungen erzeugte und ein neues Bauen und einen neuen Baustil hervorbrachte, sondern auch die bisherigen Traditionen in Frage stellte und neue Sehweisen postulierte.

Abb. 31: Glas-Eisen-Konstruktion an der Ausfahrt der Halle. Foto: Wolf Jöckel

„Mit den neuen Materialien, die mit der Industrialisierung entwickelt wurden, vor allem mit Joseph Paxtons legendärem Kristallpalast für die erste Weltausstellung 1851 in London, wurden Hoffnungen auf eine alle materielle Schwere überwindenden Architektur aus neuen Baustoffen geschürt. Das Schrumpfen der Materialmassen im Verhältnis zum umbauten architektonischen Raum durch Eisenkonstruktionen einerseits, die optische Entgrenzung durch Glas andererseits, ließen sich in der Rezeption zur Überwindung der Schwerkraft stilisieren.“[19]

Die Entwicklung des Eisens als konstruktives Material und der Erfindung der Skelettkonstruktion führte zu einer Auflösung und Entmaterialisierung der Außenwand und ihrer Entbindung von ihrer tragenden Funktion. Eine völlige Auslöschung der Wand war dann später beim Eiffelturm zu sehen, der mit seiner Absage an die bisherige Steinbauweise heftige Kontroversen auslöste.

Um die Formlosigkeit und Strenge der reinen Eisenkonstruktion abzufedern, und den bisherigen Sehgewohnheiten entgegenzukommen, wurde der neoklassizistische Stil als ästhetische Strategie eingesetzt.  Dabei wird die „technische Reproduzierbarkeit“ gerade für Produkte aus Gusseisen ausgeschöpft: eiserne Säulen, Träger und Konsolen können samt ihrer Ornamente, anders als in Stein, schnell, preiswert und in großer Zahl hergestellt werden. [20]

Auch Henri Labroustes nutzt bei der Bibliothèque Sainte-Geneviève und dem Lesesaal der Bibliothèque Nationale[21] das Gusseisen bei der Ornamentierung der freiliegenden Metallstrukturen.

Labroustes Bibliothèque Sainte-Geneviève. Bildquelle : Revue générale de l’architecture et des travaux publics. 11.1853 (beschnitten)

Labroustes Lesesaal der Bibliothèque Nationale. Foto: Wolf Jöckel

Und auch Victor Baltard, der Schöpfer der revolutionären Markthallen, ist »zutiefst in der akademischen Tradition der École des beaux-arts verwurzelt, in der ausgebildet zu sein bis ins späteste 19. Jahrhundert unabdingbar war für eine halbwegs anständige Laufbahn in Frankreich. Baltard […] löste sich selbst nie von dieser Tradition, sondern integrierte die industriell produzierten Materialien in den ästhetischen Kanon der akademischen Baukunst. In einem Brief mokiert er sich 1863 über „die Begeisterung des Publikums für Metallkonstruktionen“.«[22]

Auch Hittorff gestaltet die augenfälligsten Elemente der Eisenkonstruktion, die Säulen der Halle, mit besonderer Sorgfalt. Hittorff hat – wie Labrouste  und Baltard – das Eisen in die klassizistische Architektur der École des Beaux-Arts eingebürgert.

Foto: Wolf Jöckel

Wiewohl die neuen Montage- und Konstruktionstechniken in Hittorffs Entwürfen einen festen Platz einnahmen, blieb die klassisch akademische Tradition ein unangefochtener Bezugspunkt.“ Die Inklusion von Technik ist „ein Schachzug ganz im Sinne der Gebietssicherung.“ [23]  

Die Öffnung gegenüber dem Eisen lässt sich insofern als eine Strategie entziffern, als Hittorff das industrielle Material durch seine Kreuzung mit dem akademischen Kanon auf das Feld der Architektur zurechtbog, ohne dabei eine Polarität zwischen dem und dem anderen aufbrechen zu lassen. Ein einprägsames Beispiel stellt Hittorffs korinthischer Kapitell-Entwurf für die gusseisernen, kolumnisierten Stützen der Einfahrtshalle der Gare du Nord dar.

Abb 37: Detail eines Kompositkapitells. Foto: Wolf Jöckel

Sie tragen statt eines Gebälks einen hohen Gitterbinder, der zwischen den horizontalen und vertikalen Tragelementen vermittelt. An diesem Baudetail wird anschaulich, was die Architektur des 19. Jahrhundert insgesamt kennzeichnet: Sie konnte das Neue bejahen, ohne das Alte zu verwerfen. Mehr noch sprengten Kreuzungen und Kreolisierungen von Klassik und Technik jene Grenzen, an denen sonst neue Formen und neue kulturelle Semantiken scheitern. Bei aller Fixierung auf die klassische Kunstdoktrin eignete der Beau-Arts-Architektur im Zeitalter von Technik- und Industrie ein symptomatischer Hybridcharakter, der den Regelkodex beibehielt und doch zugleich produktiv unterwanderte. Anders als in der postmodernen Architektur ging es nicht um Spiel und Ironie, d.h. die Aufkündigung autoritativer Denksysteme und Entwurfstraditionen, sondern um die Hybriden als eine ernstzunehmende Alternative zu reiner Stein- oder Eisenarchitektur.“ [24]

Die Rezeption von Hittorffs Gare du Nord

Charles Rivière – Gare du Chemin de Fer du Nord (Ausschnitt)[25]

Der neue Bahnhof gefiel nicht jedem. Die Reaktionen gingen weit auseinander. Der Architekt Eugène Viollet-le-Duc, bekannt durch seine Vorliebe für die Gotik, den von ihm entworfenen Dachreiter der Kathedrale Notre Dame in Paris und die Restaurierung mittelalterlicher Bauwerke nach seinen idealistischen Vorstellungen von mittelalterlicher Architektur, schmähte die Fassade im Stil à la Grèce:

Der neue Nordbahnhof ist vielleicht der gröbste Fehler, den die von der Akademie gelehrten exklusiven Doktrinen verursacht haben.[26]

Noch weiter geht Jacob Burckhardt in einem Brief an seinen Freund, den Architekten Max Alioth in Basel, vom 01.08.1879:  „Die Fassade der Gare du Nord in Paris ist und bleibt ein Scandal; die ionischen Pilaster von verschiedener Größe, die Dachschrägen welche von den Aufsätzen der kleinern zu denjenigen der großem emporsteigen, und die großen Bogenfenster welche hopopop in die dazwischen liegenden Mauerflächen einschneiden, machen zusammen eine der größten architectonischen Infamien unseres Jahrhunderts aus, was doch etwas sagen will“. [27]

Anatole de Baudot (1834-1915), Architekt, Denkmalpfleger, Architekturhistoriker, ein Schüler von Viollet-le-Duc und Labrouste, später ein glühender Verfechter des strukturellen Rationalismus, lobte zwar die Eisenbahnhalle: „…jedes Element dieser Struktur hat seine genau festgelegte Funktion, keines ist unnütz; in einem Wort: das Werk ist rational…“[28]. Er kritisiert aber schonungslos die Fassade, die nicht rational, nicht zweckmäßig sei; alles „scheint hier der Phantasie entsprungen zu sein, alles wird einem bestimmten Architekturtypus untergeordnet und nach einem dekorativen Prinzip ausgeschmückt, das sich für eine Anwendung in einem Bahnhof angeblich besonders eignen soll.“[29]

Radikaler als bei de Baudet erteilt der englische Kunstkritikers  John Ruskin (1819-1900) dem Eklektizismus mit seinen Ornamenten, noch Folge ununterbrochener alter Traditionen, eine Absage, weil er die „necessities“ verhülle, und er lehnt die künstlerischen Verzierungen der Eisenbahnstationen ab: „not to decorate things belonging to active life“ und „not to mix ornament with business“.[30] Hier kündigen sich schon das Diktum von Adolf Loos (1870-1933) „Ornament und Verbrechen“ und die berühmte Formel der modernen Architektur „form follows function” von Louis H. Sullivan (1856-1924) an, der seinen Partner Dankmar Adler zitiert, der diesen Imperativ seinerseits sinngemäß von Henri Labrouste übernommen hatte.

Wie wir sehen, kam die Kritik an Hittorffs Monumentalbau aus ganz unterschiedlichen Seiten: die einen (Viollet-le-Duc und Burckhardt) schmähten ihn, weil sein Werk nicht dem Kanon der traditionellen Architektur entsprach, während andere (de Baudot) seinen Fassadenbau als unangemessen für die Bauaufgabe verwarfen.

Noch deutlicher ist der Architekturhistoriker Sigfried Giedion, der sich zwar nicht ausdrücklich auf den Gare du Nord bezieht, aber an der Sterilität und Unbeweglichkeit der École des beaux-arts und an der eklektischen Architektur vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Kritik übt und ihr „eine ständig wachsende Isolierung der Künste vom Leben“ vorwirft.[31]

Die Architektur, hier ist die der École des beaux-arts gemeint, sei hinter den aktuellen Neuerungen und Entwicklungen sowohl in der Technik als auch in der Kunst zurückgeblieben und habe zu einer Spaltung zwischen Architektur und Technik, zwischen Architekten und Ingenieur, geführt. Sie habe die Verbindung zwischen den Methoden des Denkens [die Naturwissenschaften; die Methode des Ingenieurs] und den Methoden des Fühlens [die Kunst und Architektur] unterbrochen. „Die Naturwissenschaften – das sogenannte Denken – hätten im 19. Jahrhundert einen enormen Fortschritt erzielt und den wahren Zeitgeist erreicht, während Kunst und Architektur – das sogenannte Fühlen – dies nicht vermochten.“[32]

1877 stellte die Akademie eine Preisfrage über ‚L’union ou la seperation des ingenieurs et des architectes‘ (Die Vereinigung oder Trennung von Ingenieuren und Architekten). Davioud, der Architekt des Trocadéro, gewann den Preis mit folgender Antwort: „Die Vereinigung zwischen Architekten und Ingenieur muss untrennbar sein. Die Lösung wird erst dann wirklich, vollständig, fruchtbar sein, wenn Architekt und Ingenieur, Künstler und Wissenschaftler, in einer Person vereint sind … Wir leben seit langem in der einfältigen Überzeugung, dass die Kunst eine Wesenheit sei, die sich von allen anderen Formen der menschlichen Intelligenz unterscheide, durchaus unabhängig habe sie ihre Quellen und ihre einzige Geburtsstätte in der kapriziösen Phantasie der Künstlerpersönlichkeit.“«[33]

Auch wenn dem vielleicht nicht alle zustimmen, lässt sich von Hittorff sagen, dass er beide in sich vereint hat, den Architekten und den Ingenieur. Aber er agierte nicht im luftleeren Raum. Er konnte nicht allein bei seinen Bauaufgaben entscheiden und er war neben seinen eigenen Vorstellungen auch von jenen anderer beeinflusst, ja auch abhängig.

Thomas von Joest ist zuzustimmen, wenn er schreibt, „Hittorff aus seinen Säulen und Kapitellen einen Vorwurf zu machen, ist Böswilligkeit“.[34] Die Auftraggeber von Hittorff wussten ja, dass er „im Jahre 1861 immer noch dem Geist und den Prinzipien der Baukunst seiner Jugendzeit verhaftet“[35] war. Zu ergänzen ist, dass der Bauherr, die Eisenbahngesellschaft, gerade diesen Architekturstil wünschte.

Spätere Urteile berücksichtigen eben diese Zeitumstände: Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat der Gare du Nord keine größeren Veränderungen erfahren und ist ein großartiges Zeugnis des Selbstbewusstseins und des Erfindungsreichtums des Eisenbahnzeitalters.“ [36]  

Hittorfs Gare du Nord zeigt auf brillante Weise, wie eine Sprache, die sich letztlich an der römischen und griechischen Architektur orientierte, einem großen Eisenbahnterminal in einer Großstadt einen seiner Zeit „angemessenen monumentalen Akzent verleihen konnte“.[37]

Der Gare du Nord stellt sich den Anforderungen

Ohne die Grundstrukturen von Fassade und Halle wesentlich zu verändern, war es immer wieder gelungen, den Bahnhof den Erfordernissen der Zeit anzupassen und Hittorffs Erbe zu bewahren. Anstelle der ursprünglich 8 Geleise, konnten 1884 13 Geleise untergebracht werden, durch eine seitliche Erweiterung nach außen wurde 1889 die Zahl der Geleise zunächst auf 18 und durch eine zweite Erweiterung 1900 auf 28 Gleise erhöht.

Gare du Nord/Ostseite: rechts ist -hinter dem Olympiade-Plakat- die Glas-Eisen-Konstruktion der Bahnsteige der Vorortzüge,  der „Grande Banlieue“, zu sehen. Foto: Wolf Jöckel (Januar 2024)

1977 bis 1982 erfolgt der Ausbau des unterirdischen Bahnhofs. Ein Jahrhundertereignis war 1994 nach Fertigstellung des Kanaltunnels zwischen Dover und Calais die Ankunft des ersten „Eurostar“, der Paris in nur 2 Stunden mit London verbindet. Zuvor dauerte die Fahrt, bei günstigen Wetterbedingungen für die Fähre auf dem Ärmelkanal, sieben Stunden.

Nach Renovierung des Bahnhofsinneren dominieren mit täglich mehrfachen Hin- und Rückfahrten  der „Eurostar“ nach London, der „Thalys“ nach Brüssel, mit Verlängerungen nach Köln oder Amsterdam und die TGVs nach Lille den Fernverkehr.

2001 wurden der hässliche Beton-Parkhaus-Bau, der 1973 an die Stelle der alte Glas-Eisen-Konstruktion für die Bahnsteige der „Grand Banlieue“ bzw der „gare Transilien“ errichtet worden war, abgerissen, eine der alten Hallen restauriert, die andere zerstörte Halle wieder aufgebaut und der Eingangsbereich durch einen leichten Glasbau ersetzt.

Die Geschichte des Bahnhofes ist damit noch lange nicht zu Ende. Bis 2030 wird ein Anstieg der Reisenden von derzeit 700000 auf 900000 erwartet. Schon jetzt ist der Bahnhof, der verkehrsreichste Europas,  überlastet.

Die Auseinandersetzung um das Zukunftsprojekt StatioNord (2019-2021) zeigte zum einen, dass Hittorffs Gare du Nord nichts von seiner Bedeutung verloren hat, und zum anderen, wie leidenschaftlich um den Bahnhof der Zukunft gerungen wird.

„Unverschämt“, „absurd“ und „inakzeptabel“ – das waren nur einige der Adjektive, mit denen ein Architektenkollektiv mit Jean Nouvel, Roland Castro und Dominique Perrault die neuen Pläne für den Gare du Nord anprangerten.[38] Stadtplaner und Gewerkschafter schlossen sich dem Protest an. Die Vorwürfe reichten von einer Kommerzialisierung des Bahnhofes zu einem Shoppingcenter, einer Entstellung von Hittorffs Meisterwerk, einer zusätzlichen Belastung des Quartiers durch Einkaufsverkehr bis hin zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des benachbarten Einzelhandels. Inzwischen ist das schon genehmigte große Projekt wegen aus dem Ruder laufender Kosten- und Zeitperspektiven abgesagt und bis 2024 wurden und werden noch, vor allem im Blick auf die Olympischen Spiele, nur kleinere Änderungen vorgenommen.[39]  

Epilog

Heute ist die Eisenbahn nicht mehr Gegenstand gesellschaftlicher Verklärung und Hoffnung.  Die Bahnhöfe sind längst nicht mehr Orte feierlicher Empfänge und Verabschiedungen hoch-gestellter Personen; nur der Ausdruck „Gäste mit großem Bahnhof begrüßen“ erinnert noch daran. Nicht selten sind die Bahnhöfe zu Hinterhöfen, Rotlicht- und Rauschgiftbezirken herabgesunken und das Reisen mit der Eisenbahn hat mitunter gegenüber Automobil und Flugzeug „den Rang der Drittklassigkeit“[[40]] bekommen.

Wenn sich alle, die Gesellschaft, die Politik und die Eisenbahngesellschaften, auf unsere Umwelt und unser historisches Erbe besinnen,  dann bleiben uns die Bahnhöfe als „die räumliche Inszenierung der Sehnsucht nach der Ferne wie des Heimwehs“[41], als bedeutende Denkmäler der Architektur- und Ingenieurbaukunst erhalten und werden wieder zu attraktiven urbanen Zentren.

Hoffen wir, dass nicht nur die Reisenden aus Köln, der Geburtsstadt Hittorffs, die mit dem Zug Paris am Gare du Nord erreichen, noch lange sein letztes großes Alterswerk mit seinem grandiosen Eklektizismus bewundern können, bei dem sich prunkvolle Architektur in theatralische Effekte hüllt und sich klassische Baukunst mit Eisenarchitektur vermischt.

Literatur:

  • Jean-Roch Dumont Saint-Priest: La coupole métallique de la halle au blé de Paris (1806-1813), une architecture mécanique. ArcHistoR (Architettura Storia Restauro) anno VI (2019) n. 12; DOI: 10.14633/AHR135
  • Andrew Ayers: The Architecture of Paris: An Architectural Guide. Edition Axel Menges, 2004; hier: 10.7  Gare du Nord, Place Napoléon III; Jakob Ignaz Hittorff, Lejeune and léon Ohnet.
  • A.D. Astinus: Die neun größten Bahnhöfe der Architekturgeschichte: Die ganze Welt der Bahnhöfe – Von der Grand Central Station bis zur London Waterloo Station. neobooks, 09.12.2015 – 55 Seiten
  • Karlheinz Stierle: Paris denken – Penser Paris: Deutsch-französische Annäherungen. Suhrkamp Verlag, 2021
  • Klaus Jan Philipp: Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus. 28.03.2010; Deutschlandfunk, Archiv 31. Juli 2023
  • Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022
  • Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister  1792 – 1867. Stuttgart 1968
  • Thomas von Joest: Hittorff und der neue Nordbahnhof Gare du Nord, in: JAKOB IGNAZ HITTORFF – Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Katalog der  Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln, 21.01. – 22.03. 1987.
  • La gare du Nord: monument historique mais grande gare européenne. In : L’histoire des chemins de fer avec un docteur en histoire. Train Consultant Clive Lamming, https://trainconsultant.com  
  • Mathias Küster: Stahltragwerke im Industriebau in der historischen Entwicklung; Bachelor Thesis, Hoch-schule Neubrandenburg – Fachbereich Bauingenieurwesen. https://digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000000604/Bachelorarbeit-Kuester-2010.pdf
  • Oliver Zimmer: Züge wurden mit Engeln verglichen, Bahnhöfe galten als die Kathedralen der Neuzeit. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert waren von hochfliegenden Erwartungen begleitet, in Neue Züricher Zeitung, 10.04.2023
  • Oliver Zimmer: Die Ungeduld mit der Zeit – Britische und deutsche Bahnpassagiere im Eisenbahnzeitalter. University of Oxford – Bodleian Libraries Authenticated; Download Date | 3/19/19 9:49 AM; DOI 10.1515/hzhz-2019-0002
  • Bernhard Schulz: Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst. Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard. Bauwelt. https://www.bauwelt.de  
  • Oliver Lanz: Das Zeitalter des Eisens; http://www.oliverlanz.com  
  • Renaissance der Bahnhöfe: Die Stadt im 21. Jahrhundert: Bund Deutscher Architekten BDA, Deutsche Bahn AG, Förderverein Deutsches Architekturzentrum DAZ in Zusammenarbeit mit Meinhard von Gerkan, Springer-Verlag, 08.03.2013
  • Train Consultant Clive Lamming. La gare du Nord : monument historique mais grande gare européenne. https://trainconsultant.com  
  • SKRIPTUM BAUGESCHICHTE. Studienjahr 2021/22, Departement Architektur, ETZ Zürich. Prof. Dr.-Ing. Stefan M. Holzer, Professur Bauforschung und Konstruktionsgeschichte.
  • Anne Ridao-Tardif, “La préservation du patrimoine architectural lors des restructurations de la gare du Nord et de la gare Saint-Lazare (1990-2010)”, Revue d’histoire des chemins de fer, 54 | 2020, 131-149.
  • Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press
  • Arlette Ortis: Cohabitation entre architectes et ingenieurs: un pari; Ingénieurs et architectes suisses, Band (Jahr): 112 (1986), Heft 24
  • Zeynep Ceylani: SIGFRIED GIEDION‟S “SPACE, TIME AND ARCHITECTURE”: AN ANALYSIS OF MODERN ARCHITECTURAL HISTORIOGRAPHY. A Thesis submitted to the Graduate School of Social Sciences of Middle East technical University. Ankara, September 2008
  • Werner Hofmann: Architektur und »bloßes Bauen«. Merkur, Nr. 198, August 1964
  • Michael Kiene, 1792-1867, Hommage für Hittorff Bilder, Bücher und Würdigungen, ed. Christiane Hoffrath and Michael Kiene, 2020 https://www.academia.edu/41396599/1792_1867_HOMMAGE_F%C3%9CR_HITTORFF?email_work_card=view-paper

Anmerkungen:

[1] Heinrich Heine in „Lutetia – Berichte über Politik, Kunst und Volksleben,  Zweiter Teil“,  LVII, hier S.337-338, in: Heinrich Heine – Sämtliche Werke, Band IV; Artemis & Winkler, 3. Auflage 1997

Titelbild des Beitrags:  Gare du Nord, place Napoléon III, façade principale. Musée Carnavalet, Histoire de Paris. Kaum ein Bild erfasst mehr die Dimensionen von Hittorfs Bau als diese Fotografie von Archille Quinet von 1868.

[2] Oliver Zimmer: Züge wurden mit Engeln verglichen, Bahnhöfe galten als die Kathedralen der Neuzeit. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert waren von hochfliegenden Erwartungen begleitet, in Neue Züricher Zeitung, 10.04.2023 und Oliver Zimmer: Die Ungeduld mit der Zeit – Britische und deutsche Bahnpassagiere im Eisenbahnzeitalter. University of Oxford – Bodleian Libraries Authenticated; Download Date | 3/19/19 9:49 AM; DOI 10.1515/hzhz-2019-0002  Prof.Dr. Oliver Zimmer ist Sanderson Fellow in Modern History, der University of Oxford.

[3] Oliver Zimmer ebd.

[4] Oliver Zimmer ebd.

[5] Bildquelle : Train Consultant Clive Lamming, https://trainconsultant.com › la-gare-du-nord. Textquelle : La gare du Nord: monument historique mais grande gare européenne. In : L’histoire des chemins de fer avec un docteur en histoire. Clive Lamming ist ein französischer Historiker, der vor allem für seine zahlreichen Veröffentlichungen im Bereich der Eisenbahn bekannt ist.

[6]Elle s’offrira au regard du public avec caractère de sa destination. On peut d’ailleurs compter, sur un effet imposant, dû à la grandeur de la gare dont les dispositions de la façde feront comprendre l’immense étendue ! “

Zitiert nach Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff – Ein Pariser Baumeister  1792 – 1867. Hammer zitiert aus den Arch. Nat., Archives de la Compagnie du chemin de fer du Nord, 48 AQ 13, Procès-Verbaux du Conseil d’Administration, Séance vom 11.5.1860

[7] Wallraf-Richartz-Museum Köln G.N. 278

[8] Thomas von Joest: Hittorff und der neue Nordbahnhof Gare du Nord, in: JAKOB IGNAZ HITTORFF – Ein Architekt aus Köln im Paris des 19. Jahrhunderts. Katalog der  Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln, 21.01. – 22.03. 1987.

[9] Thomas von Joest, ebd., S.288 f.

[10] Paris, France. 30/09/2021. Gare du nord. Photography Maxime Gruss. Bildquelle: Paris 1900. L’art nouveau ; https://paris1900.lartnouveau.com

[11] © Yves Talensac / Photononstop https://www.lepoint.fr/societe/gare-du-nord-un-projet-indecent-et-inacceptable-03-09-2019-2333317_23.php

[12] Oliver Lanz: Das Zeitalter des Eisens; http://www.oliverlanz.com  2011/09

[13] Monuments anciens et modernes – collection formant une histoire de l’architecture des différents peuples à toutes les époques. Tome 4; publiée par Jules Gailhabaud, Paris 1857. Bildquelle: gallica. Bnf.fr/Bibliothèque nationale de France

[14] Sophie Flouquet, un monument réinventé. In: Éditions BeauxArts, Bourse de Commerce/Pinault Collection. 2021, S. 66

[[15]] Jean-Roch Dumont Saint-Priest: La coupole métallique de la halle au blé de Paris (1806-1813), une architecture mécanique. ArcHistoR (Architettura Storia Restauro) anno VI (2019) n. 12; DOI: 10.14633/AHR135

[16] (Bildquelle: Wallraf-Richartz-Museum, Köln

[17] Abb.28:  aus: Mathias Küster: Stahltragwerke im  Industriebau in der historischen Entwicklung; Bachelor Thesis, Hochschule Neubrandenburg – Fachbereich Bauingenieurwesen. Urn:nbn:de:gbv: 519-thesis 210-0146-1. Abb. von mir modifiziert.

[18] Les quais de la gare de Paris-Nord, SARDO Centre national des archives historiques SNCF)

[19] [[19]] Monika Wagner – Materialien des ‚Immateriellen‘. Debatten um Baustoffe der Moderne. Hornemann Institut, E-Publication, Tagungsbeitrag

[20] Karlheinz Stierle: Paris denken – Penser Paris: Deutsch-französische Annäherungen. Suhrkamp Verlag, 2021

[21] Zur Bibliothèque Nationale wird es demnächst einen Blog-Beitrag geben.

[22] Bernhard Schulz: Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst. Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard. Bauwelt. https://www.bauwelt.de › themen › Zwischen-Ingenieurskonstruktion… ; Schulz bezieht sich auf die Ausstellung im Musée d’Orsay: „Victor Baltard (1805-1874). Le fer et le pinceau (Eisen und Pinsel)“, October 16th, 2012 to January 13th, 2013)

[23 Salvatore Pisani: Architektenschmiede Paris – Die Karriere des Jakob Ignaz Hittorff. De Gryter Oldenburg, 2022

[24] Salvatore Pisani, ebd., S. 230-231

[25] http://palaisdecompiegne.fr/un-palais-trois-musees/le-musee-national-de-la-voiture

Château de Compiègne – Le musée national de la voiture

[26] „La nouvelle gare du Nord est peut-être l’erreur la plus grossière qu’aient fait commettre les doctrines exclusives professées par l’Académie.“  Zitiert nach: Gare du Nord1861-1866, Paris – Jacques-Ignace Hittorff; Cité de l’architecture & du patrimoine. https://www.citedelarchitecture.fr › documents

[27] Zitiert nach: Klaus Jan Philipp: Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus. 28.03.2010; Deutschlandfunk, Archiv 31. Juli 2023

[28] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.290

[29] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.290

[30] zitiert nach Werner Hofmann: Architektur und »bloßes Bauen«. Merkur, Nr. 198, August 1964

[31] Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press

[32] Zeynep Ceylani: SIGFRIED GIEDION‟S “SPACE, TIME AND ARCHITECTURE”: AN ANALYSIS OF MODERN ARCHITECTURAL HISTORIOGRAPHY. A Thesis submitted to the Graduate School of Social Sciences of Middle East technical University. September 2008

[33] zitiert nach: Sigfried Gideon: Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition. Birkhäuser, 1996 ; erstmals publiziert 1941 unter dem Titel :  Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition,   Harvard University Press; siehe auch: Arlette Ortis: Cohabitation entre architectes et ingenieurs: un pari; Ingenieurs et architectes suisses n“ 24 20 novembre 1986

[34]  zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.291

[35] zitiert nach Thomas von Joest, ebd., S.291

[36] Andrew Ayers: The Architecture of Paris: An Architectural Guide; Edition Axel Menges, 2004, hier S. 182

[37] Encyclopædia Britannica: Classicism, 1830–1930

[38] Bild aus: https://www.archpaper.com/2019/09/gare-du-nord-expansion-questions-modern-train-station/ Kritik siehe:  https://www.lemonde.fr/idees/article/2019/09/03/le-projet-de-transformation-de-la-gare-du-nord-est-inacceptable_5505639_3232.html

[39] https://www.lemoniteur.fr/article/la-gare-du-nord-met-le-cap-sur-2024.2194032

[40] Renaissance der Bahnhöfe: Die Stadt im 21. Jahrhundert: Bund Deutscher Architekten BDA, Deutsche Bahn AG, Förderverein Deutsches Architekturzentrum DAZ in Zusammenarbeit mit Meinhard von Gerkan, Springer-Verlag, 08.03.2013

[41] Renaissance der Bahnhöfe, ebd.

Weitere Beiträge zu Hittorff in Paris:

4 Gedanken zu “Gare du Nord – Hittorffs Triumphbau des Fortschritts. Ein Beitrag von Ulrich Schläger

  1. Anonymous

    jetzt weiß ich endlich, dass der Platz vor der Gare du Nord
    Place Napoléon III heißt!
    Und nicht nur das : DANKE – wieder einmal ! – für den informativ spannenden Beitrag !
    Kathrin Rousseau

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    1. Anonymous

      Die Franzosen haben Napoleon III. für die Niederlage im Krieg 1870/71 verantwortlich gemacht. Die verletzte Ehre Frankreichs wog schwer. Napoleon III war verfemt. Erst am 13. Juni 1990 wurde die Place de Roubaix von Jacques Chirac, damals Bürgermeister von Paris, im Beisein von Prinz Napoleon, Nachfahre des Kaisers, feierlich umbenannt und die Bedeutung Napoleons III. bei der Verwandlung von Paris in die „Hauptstadt des XIX. Jahrhundert“ (Walter Benjamin) gewürdigt.

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  2. Anonymous

    Vielen Dank für diese Wertschätzung eines eindrucksvollen historischen Architekturzeugen der Stadtgeschichte.

    Nicht vergessen werden sollte die Bedeutung der Eisenbahn bei Aufmarsch und Materialtransport in den deutsch-französischen Kriegen, ohne sie wären Materialschlachten und millionenfaches Sterben nicht möglich gewesen.

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    1. Anonymous

      Ja, das ist wahr, dass technische Innovationen auch ihre Kehrseiten haben. Aber was das französische Eisenbahnnetz anbetrifft, so war es für die Franzosen, die sich den deutschen Aggressoren 1914 und 1940 zu erwehren hatten, hilfreich bei ihrer Verteidigung

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