Seit dem 15. Oktober 2022 ist im Pariser Rathaus, dem Hôtel de ville, eine Ausstellung über art urbain zu sehen, die aufgrund der großen Nachfrage noch bis Ende März verlängert wurde. Der nachfolgende Beitrag soll einen Eindruck von dieser Ausstellung vermitteln und zu ihrem Besuch anregen. Und in jedem Fall handelt es sich um einen schönen Überblick über die Geschichte und die Breite der Pariser Street-Art/art urbain…
Foto: Wolf Jöckel
Mit dem Oberbegriff der art urbain werden die eher anarchistische Graffiti- Produktion und die inzwischen eher arrivierte street-art zusammengefasst. Ziel der Ausstellung ist es, einen Überblick über 60 Jahre Straßenkunst in Paris zu geben, „einem der wichtigsten Schauplätze dieser künstlerischen Bewegung“´, wie es in dem Faltblatt zur Ausstellung heißt. Man wird in der Ausstellung manchen „alten Bekannten“ begegnen, Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken wesentlich dazu beigetragen haben, die Stadt zu bereichern und denen man immer wieder begegnet. Es gibt aber auch viel Neues zu entdecken: Insgesamt eine sehr kompakte, übersichtlich und abwechslungsreich gestaltete Ausstellung!
Hier einige Beispiele aus dem historisch angelegten Parcours:
Die Ausstellung beginnt mit Vorläufern der art urbain wie dem 1940 in Paris geborenen Gérard Zlotykamien, der 1963 als erster Künstler überhaupt begann, im öffentlichen Raum zu arbeiten.
Hier sieht man ihn beim -natürlich illegalen- Sprayen 1984 in der Rue Condorcet in Paris. Bekannt wurde er durch seine Strichfiguren, die sogenannten Éphémères (die Vergänglichen/vom baldigen Verschwinden Bedrohten).
Inspiriert wurden diese Figuren durch die eingebrannten Schatten der Menschen nach dem Atombomenabwurf auf Hiroshima und durch die Shoah. In der Ausstellung wird einer der Éphémères aus dem Jahr 1978 gezeigt.
Die 1980-er Jahre war dann die große Zeit der Schablonenmalerei (pochoir): Vorbereitete gezeichnete und dann zurechtgeschnittene Schablonen werden auf dem ausgewählten Untergrund befestigt. Die auf den Schablonen ausgesparten Flächen werden dann mit einer Farbe oder auch mehreren eingesprüht, die den Untergrund entsprechend färben. Diese Technik kann vor Ort mit großer Schnelligkeit angewendet werden: Gerade bei den meist illegalen Aktionen ist das ein erheblicher Vorteil. Außerdem eröffnet die Verwendung von Schablosen einen beträchtlichen Variationsspielraum: Die Farben können verändert, die Schablonen unterschiedlich kombiniert werden. Paris wurde in den 1980-er Jahren ein Zentrum der Schablonenmalerei: Künstler wie Miss Tic, Mosko, Jeff Aérosol, Jérôme Mesnager und viele andere haben das Stadtbild mit ihren Arbeiten bereichert.
Dies ist ein Selbstportrait von Miss Tic (1985), begleitet von einem programmatischen Satz mit einem für sie typischen Wortspiel (art mur – Mauerkunst- und armour -Rüstung, aber auch amour – Liebe): Ich wappne mich mit Mauerkunst, um Herzensworte an die Wände zu sprühen. Vergleicht man in dem beigefügten Text die mehrfach verwendeten Buchstaben, kann man sehr gut die Verwendung der Schablonentechnik erkennen.
Am 22. Mai 2022 ist Miss Tic gestorben, aber ihre Werke sind inzwischen Bestandteil des Pariser Stadtbildes. Sie werden jetzt auch nicht mehr, wie zum Teil noch in den 1980-er Jahren, als Sachbeschädigung gewertet mit entsprechenden juristischen Folgen, sondern eher gehegt und gepflegt wie dieses mit Glas geschützte Bild in der rue de la forge royal im 11. Arrondissement von Paris.
Foto: Wolf Jöckel
Viele der Pariser pochoristes sind inzwischen arrivierte Künstler, deren Werke in Galerien ausgestellt werden und hohe Preise erzielen. Das gilt z.B. für Jérôme Mesnager.
Bonhomme blanc 1987 (Ausschnitt)
Zwei seiner in einer ausgelassenen Stunde geborene weiße Männer sind im Pariser Rathaus zu sehen: Die sind nicht mehr auf Wände gesprüht, sondern auf handliche und transportable Untergründe. Und der Fonds d’Art Contemporain der Stadt Paris hat sie in seine Sammlung aufgenommen.
Die 1980-er Jahre sind auch die Blütezeit der Graffiti. Voraussetzung für die Graffiti wie auch für die Schablonenmalerei sind die Farbdosen, mit denen die Farbe (peinture aérosol) versprüht wird.
Im Französischen heißt das bombarder – und manchmal schienen früher und scheinen manchmal auch heute noch die graffeurs diese Bezeichnung allzu wörtlich zu nehmen. In Paris und Umgebung waren es besonders oft über und über besprühte Lastwagen, Eisenbahn- und Metro- Züge, die die Verbreitung der jeweiligen Tags/Signaturen garantieren sollten.
Ein Wagen von Marktbeschickern im 11. Arrondissement. Die tags werden nicht mehr entfernt, weil sie sonst sofort wieder neu „dekoriert“ würden. (Fotos: Wolf Jöckel, Februar 2023)
Hier wurde direkt mit Sprühdosen, aber auch mit einer Schablone „gearbeitet“.
Besonders Aufsehen-erregend war eine Aktion, der in der Ausstellung sogar ein eigner Abschnitt gewidmet ist: Am 1. Mai 1991 „bombardierten“ drei graffeurs Wände und Statuen der Station Louvre-Rivoli, der schönsten Metro-Station von Paris, wie die Zeitschrift Télérama damals schrieb. Mehrdeutiger Titel ihres Berichts: „Paris sous les bombes“…
Brian Lucas ancien vandale de la station Louvre. [1]
Einer der „Vandalen“ war der damals 19-jährige Brian Lucas (Pseudonym Oeno), der dafür eine Gefängnisstrafe von eineinhalb Monaten absitzen musste. Inzwischen allerdings gehört Oeno -wie die Schablonenmaler/innen der ersten Stunde- zu den anerkannten und arrivierten Personen der Kunstszene[2]: Street Art und Graffiti sind unter dem Dach der art urbain friedlichvereint.
Als Reminiszenz an die wilden Graffiti-Zeiten und Kunstobjekt wird in der Ausstellung ein Metro-Schild von Nasty präsentiert:
Der wurde schon mit einem Arte-Film gewürdigt, und eine Internet Galerie bietet seine Werke für Preise zwischen 180 und 5998 Euro an (Stand Februar 2023)[3]
Auf seinem zum Verkauf angeboten Metro-Plan bezieht sich Nasty mit der ironischen Frage „can you catch me?“ auf das frühere Katz- und Maus-Spiel mit den Verfolgern der graffeurs…[4]
Diese Zeiten gehören wohl eher der Vergangenheit an: Die Tags sind zum Objekt von Kunstliebhabern und Sammlern geworden:
Vues macroscopiques de tags parisiens. Photographie von Nicolas Gzeley (Ausschnitt)
Es ist ein Vorteil der Ausstellung, auf begrenzten Raum einen Überblick über die Pariser Street-Art/Graffiti-Szene zu geben: Einige weitere Beispiele:
Fotos: Wolf Jöckel
Die Geschöpfe von Kraken, dem „Docteur Octopus du street art“[5], gehören zum Pariser Stadtbild. Hier zum Beispiel einer seiner typischen Oktopusse mit den in sich verschlungenen Tentakeln am Boulevard de Belleville.
Zwei seiner Oktopusse hat er auf die Wände der Ausstellungsräume gezeichnet.
C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten französischen Street-Art-Vertreter. Ihm sind auch schon zwei Beiträge auf diesem Blog gewidmet.[6] Vor allem ist C 215 Portraitist. Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte. Mittels eines beigefügten QR-Codes konnte man an Ort und Stelle Näheres über das Schicksal der jeweiligen Person erfahren.
Zu dieser Aktion gehörte auch ein Portrait von Simone Veil an der Metro-Station Saint-Paul, das im Hôtel de Ville ausgestellt ist. Fotos: Wolf Jöckel
Ein ganz außergewöhnlicher Vertreter der Street-art ist der Portugiese Alexandre Farte, alias Vhils. Er ritzt seine Motive, vor allem Portraits, in weiß verputzte Hauswände. Auf diesem Blog ist er uns schon am Gartenhaus der Villa Carmignac auf der Insel Porquerolles begegnet, aber auch in Paris, natürlich im 13. Arrondissement, war er schon aktiv.
Erst aus dem Abstand ist zu erkennen, was da jeweils mit Hammer und Meißel entstanden ist.[7]
Fotos: Wolf Jöckel
In der Pariser Ausstellung ist er auch vertreten. Allerdings konnte er da ja kaum die Wände des Rathauses entsprechend bearbeiten. Als Alternative nutzte er zusammengepresste Kartons:
Wenn man mit etwas Abstand genau hinsieht, erkennt man das auf diesem Untergrund entstandene Gesicht eines alten Mannes….
Es gibt allerdings auch in Paris ein in den Putz gemeißeltes Wandbild von VHILS: Natürlich im 13. Arrondissement, der der rue du château des rentiers:
Vielleicht ein Portrait von Leonard Cohen?
Ein alter Bekannter der Pariser Street-Art-Szene ist Clet Abraham mit seinen verfremdeten Straßenschildern.
Foto: Wolf Jöckel
Bemerkenswert ist, dass sie -hier eines im 11. Arrondissement- nach meiner Beobachtung doch längere Zeit von der Pariser Straßenverwaltung oder Polizei geduldet werden. Aber ein Verkehrsteilnehmer hätte bei einer Missachtung des Durchfahrtsverbots sich sicherlich kaum mit Erfolg auf diese Version des Schildes berufen können….
Hier handelt es sich um ein vom Rost angefressenes und wohl ausrangiertes Schild, das Clet Abraham dann zu einem Kunstobjekt transformiert hat. Und dies mit einer eindeutigen und angesichts der aktuellen Debatten um Panzerlieferungen an die Ukraine brisanten politischen Botschaft.
Am bekanntesten von allen Street-Art-Künstlern der Stadt ist sicherlich der Invader , der deshalb auch in der Ausstellung entsprechend gewürdigt wird.
Auf einem großen Pariser Stadtplan sind alle seine Werke markiert und mit Nummern versehen. Die über 1000 Pariser Invaders haben die Stadt gewissermaßen in ihren Besitz genommen.
Man hat also gute Chancen, beim Bummeln durch die Stadt auf Spuren des Invaders zu stoßen. Und sie sind auch immer unterschiedlich und oft angepasst an den jeweiligen Ort wie dieser schöne Hinweis auf den nahe gelegenen Gare de Lyon, auf dem die Züge in den warmen Süden abfahren. Entdeckt und aufgenommen habe ich diesen Invader im März 2023: Es gibt also nach so vielen Jahren Paris immer noch/wieder Neues!
Das Mosaikbild aus der rue de Montreuil im 11. Arrondissement, das das Ankleben eines Invaders zeigt, dient als Motiv für das Ausstellungsplakat.
Foto: Wolf Jöckel
Alle bisher angeführten Werke der Pariser art urbain sind, soweit sie nicht direkt für Galeriezwecke entstanden sind, in den Straßen der Stadt auf Augenhöhe angebracht – oft, wie bei dem Invader, kurz oberhalb des Erdgeschosses, um sie vor Vandalismus zu schützen – oder auch vor Souvenirjägern….
Die Street-Art-Szene ist aber nicht nur in diesem Bereich sichtbar, sondern auch darunter und darüber. Schon in den 1980-er Jahren war der Pariser Untergrund ein beliebter Ort für Sprayer.
Diesen Raum haben Jerôme Mesnager und der im Untergrund besonders aktive Alexandre Stolypine, alias Psychoze, ausgestaltet.[8]
Vor allem aber geht es inzwischen hoch hinaus mit der Street Art. Großen Street-Art-Wandbildern begegnet man in Paris sehr oft, vor allem natürlich dort, wo es Flächen gibt, die dazu einladen. Das gilt besonders für das 13. Arrondissement mit seinen Neubauten entlang der Hochbahntrasse der Metro-Linie 6 und den Hochhäusern im sogenannten Chinesenviertel. In der Ausstellung werden mit entsprechenden Erläuterungen versehene Fotos einiger besonders markanter Wandbilder gezeigt.
Eines der ersten großen Wandbilder in Paris stammt von dem Amerikaner Keith Haring. Es schmückt seit 1987 einen Turm im Kinderkrankenhaus Necker in Paris. Auf der Gondel eines Krans postiert malte Haring in drei Tagen ein großes farbiges und zum Ort passendes Fresko auf den Beton.
Foto: Wolf Jöckel
Die großformatigen Wandbilder entlang des Boulevard Vincent Auriol, der sich von der Seine bis zur Place d’Italie hinzieht, gehören inzwischen zu den Attraktionen der Stadt. Mit Recht hat man von einer open-air-Kunstgalerie gesprochen, die auch noch ständig weiterentwickelt wird.
Dieses im Hôtel de Ville ausgestellte Plakat zeigt eine Marianne des amerikanischen Künstlers Shepard Fairey. Bei dem originalen Wandbild im 13. Arrondissement handelt es sich um das größte existierende Marianne-Bild: Ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.
Naheliegend also, dass ein Abzug des Bildes an der Wand eines Arbeitszimmers von Präsident Marcron im Elysée-Palast hängt.
Foto: Wolf Jöckel
Auf dem originalen Gemälde weint die Marianne allerdings eine Träne: Überrest einer Aktion von Aktivisten, die auf den Widerspruch zwischen Ideal und Realität der französischen Republik aufmerksam machen wollten.
Zu den bekanntesten großformatigen Wandbilder von Paris gehört auch Seths gamin de Paris/Kind von Paris im 13. Arrondissement. Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt,
Ecke Boulevard Vincent Auriol/rue Jeanne d’Art Foto: Wolf Jöckel
Für Seth, der im banlieue von Paris aufgewachsen ist, repräsentiert der kleine Junge die Kindheit in den großen Metropolen der Welt. Er habe in seiner Jugend die Farben vermisst, aber sie in seiner Lektüre, seinen Spielen und seinen Phantasiereisen gesucht. Der Junge blicke auf die andere Seite der Mauer und Licht und Farbe strahlten auf die umliegenden Gebäude aus. „Das ist die Macht der Phantasie, die das verändert, was uns umgibt.“[9]
In der Ausstellung wird nicht nur ein Photo des Wandgemäldes gezeigt, sondern auch eine leuchtende, gläserne Version des kleinen Jungens. Und es wird hingewiesen auf ein neues Wandbild in der rue Buot, ebenfalls im 13. Arrondissement, das Seth aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine hergestellt hat.
Sicherllich wird „die Macht der Phantasie“ nicht ausreichen, um diesen Krieg zu beenden, aber sicherlich ist sie auch hier unabdingbar….
Man hat das 13. Arrondissement als das „Mauerblümchen der Pariser Stadtviertel“ bezeichnet.[1] Lange Zeit war es geprägt von kleinen Arbeitersiedlungen und Industriebetrieben und galt als eines der ärmsten Viertel von Paris. Dann kamen die Hochhäuser südlich der Place d’Italie, die dann -entgegen der ursprünglichen Konzeption- Ort des Chinesenviertels wurden. Und es kamen die Hochhäuser entlang des Boulevards Vincent Auriol, der sich von der Seine bis zur Place d’Italie hinzieht: Ein breiter Boulevard, aber eher ernüchternd gemessen an romantischen Boulevard-Vorstellungen: Auf seinem breiten Mittelstreifen ist die Stahlkonstruktion der Metro-Linie 6 errichtet, die das südliche Paris von der Place de la Nation bis zur Place de l’Étoile umrundet. In diesem Abschnitt verläuft sie nicht unterirdisch, sondern als Hochbahn.
Foto: Wolf Jöckel
Seit mehreren Jahren gibt es nun eine Initiative, in diesem Viertel eine Freiluftgalerie mit Werken der Street-Art „im XXL-Format“ (Stéphanie Lombard) zu etablieren. Die Initiative geht zurück auf die im 13. Arrondissement ansässige Galerie Itinerrance, die von der Mairie des Arrondissements aufgegriffen und unterstützt wurde und wird.
Inzwischen haben renommierte Street-Art – Künstler aus aller Welt dazu beigetragen, das Viertel auf diese Weise mit Farbe und Leben zu erfüllen. Die Open-Air-Kunstgalerie ist damit zu einer viel beachteten und preisgekrönten Attraktion des 13. Arrondissements geworden.[2]
Kunst gibt es an (je)der Straßenecke. Foto: Wolf Jöckel
Einen ersten, wenn auch flüchtigen Eindruck erhält man, wenn man mit der Linie 6 von der Metrostation Quai de la Gare zur Place d’Italie fährt: Wo hat man schon sonst die Möglichkeit, eine Kunstausstellung vom Metrofenster aus wenigstens flüchtig in Augenschein zu nehmen? Allerdings hat man zu manchen Zeiten nur geringe Chancen, einen Sitzplatz am Fenster zu ergattern; und selbst dann ist die Aussicht ja nur auf eine Seite des Boulevards beschränkt.
Einen geruhsameren und intensiveren Eindruck erhält man, wenn man die Strecke entlang des Boulevard Vincent Auriol mit dem Fahrrad oder -noch besser- zu Fuß zurücklegt. Dann kann man auch noch den einen oder anderen lohnenden Abstecher in eine der Seitenstraßen machen, in denen weitere große Wandgemälde zu sehen sind. Ein solcher Spaziergang wird nachfolgend vorgeschlagen. Allerdings erhebt er keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts der Vielzahl großer Formate im 13. Arrondissement bietet es sich an, den Spaziergang auf den Boulevard Vincent Auriol mit wenigen kleinen Abstechern in Seitenstraßen zu beschränken. Dort ist die „Street-Art-Dichte“ besonders groß und man erhält einen intensiven Eindruck von der thematischen und ästhetischen Vielfalt der Open-air-Galerie des 13. Arrondissements. Da die ausgewählten Street-Art-Werke rechts und links des Boulevards liegen, habe ich jeweils die Straßenseite (von der Seine ausgehend wie die Hausnummern) angegeben.
Eine gute Orientierung bietet auch der Plan der Galerie Itinerrance, der allerdings den Stand von 2019 wiedergibt, sodass neuere Werke nicht berücksichtigt sind:
46, boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)
Unser Spaziergang beginnt mit zwei großformatigen space-invader-Mosaiken, die ganz oben an der Fassade des Hauses Nummer 46 angebracht sind. Es gibt zwar schon vorher ein XXL-Format am Boulevard (Les Yeux/die Augen von Tristan Eaton an einem Wasserturm des Krankenhauses Salpêtrière, 29, boulevard Vincent Auriol), aber die beiden space-invader erscheinen ein idealer Beginn des Spaziergangs.
Der Invader ist nämlich einer der bekanntesten französischen Street-Art-Künstler und mit weit über 1000 Werken allein in Paris sicherlich der mit Abstand präsenteste Street-Artist der Stadt. Er nummeriert alle seine Arbeiten: Hier ist es das Pariser Mosaik Nummer 1240. In Paris begann der Invader 1998, seine Mosaikbilder von Figuren des Videospiels Space Invaders nachts und heimlich anzubringen. Inzwischen ist er international bekannt und gefragt. Er stellt in Galerien aus, ist selbst im Museum of Modern Art in New York vertreten, und wer als Hausbesitzer eine invader-Figur an seiner Hauswand vorweisen kann, wird nicht mehr die Polizei rufen, sondern sich glücklich schätzen.[3]
Foto: Wolf Jöckel
Hat der Invader ein Werk abgeschlossen, spricht er von Invasion. Hier sind space-Invaders gerade dabei, in der Stadt zu landen. Und sie landen gewissermaßen als Vorhut der Street-Art, die dieses Viertel insgesamt „eingenommen“ hat. Was für einen besseren Beginn für unseren Spaziergang könnte es also geben?
2. Inti: Madre secular II
81, boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)
Sonia Branca – Rosoff schreibt zu diesem Bild: Wir nehmen zuerst die Harmonie der Farben Lila und Gelb wahr, die im Pop-Universum der Wandkunst selten sind. Es ist eine „Madonna“, eingehüllt in ihr großes Gewand, blass vor einem dunklen Rosenhimmel. Es ist ein Bild von beruhigender Weiblichkeit, die bescheiden ihren Blick abwendet. Ganz anders als Failes Sprung über die Dächer auf der anderen Seite des Boulevards (siehe Nummer 9 dieses Spaziergangs).
Fotos: Wolf Jöckel
Wenn man sich dem Bild nähert, wird seine Süße morbide. Warum hält diese Frau einen Apfel mit der Aufschrift G (wie Google?) – oder ist der rote Apfel der Giftapfel des Märchens? Und warum ist die Halskette aus Totenköpfen? Was meinte der Chilene Inti (Sonne in Quechua) mit dem Namen Madre secular, der säkularisierten Jungfrau?[4]
3. Conor Harrington: Étreinte et lutte/Umarmung und Kampf
85, boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)
Foto: Sonia Branca-Rosoff
Doppeldeutig wie die Madre secular Intis ist auch das benachbarte große Wandbild des Iren Conor Harrington.[5] Man könnte zunächst vermuten, dass hier zwei Freunde dargestellt sind, die sich umarmen. Aber -wie der Titel unterstreicht- es kann sich auch um einen Kampf handeln.
Foto: Wolf Jöckel
Dafür spricht nicht nur die Fensterreihe, die die beiden trennt. Harrington hat das Werk ausdrücklich auf den französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 bezogen und auf die Zerrissenheit der französischen (und europäischen) Gesellschaft(en).[6]
4. Pantonio: Fragile agile
91, boulevard Vincent Auriol (linke Seitenstraße)
Der von den Azoren stammende Pantonio ist mit seinen Vögeln und Fischen in Paris wohlbekannt. 2014 bemalte er die Seitenfassade eines 66 Meter hohen Hochhauses im Chinesenviertel (13. Arrondissement), das größte Wandbild Europas.[7]
Am Boulevard Vincent Auriol hat er, dem Ort entsprechend und als Kontrapunkt zu den umgebenden Hochhäusern, sein Bild horizontal angelegt, aber genau so leicht und farbig.
Fische, Vögel und Lianen sind spielerisch miteinander verwoben. Pantonio ging es dabei nicht um eine Botschaft, sondern -angeregt von der Kinderkrippe, die in dem Gebäude ihren Platz hat- allein „um die Liebe an der Zeichnung“.[8]
5. David de la Mano: ohne Titel
6, rue Jenner (rechte Seitenstraße)
Fotos: Wolf Jöckel
Dieses Werk wurde von den Bewohnern des Wohnblocks unter drei verschiedenen Entwürfen ausgewählt: Das Profil eines Gesichts, das aus vielen phantasievollen Gestalten gebildet ist.
6. Seth: gamin de Paris/Kind von Paris
Ecke boulevard Vincent Auriol/ 110, rue Jeanne d’Arc (rechte Straßenseite)
Auch Seth (Julien Malland) bereichert seit Jahren die Pariser Street-Art-Szene. Vor allem sind es Kinder, die er in poetischer Weise auf Hauswände malt, wie zum Beispiel dieses Mädchen in der Rue Émile Deslandres im 13. Arrondissement, in der Nähe der Manufacture des Gobelins.
Foto: Wolf Jöckel
Am Boulevard Vincent Auriol ist es ein kleiner Junge, der für ihn die Kindheit in unseren großen Metropolen repräsentiert. Dazu Seth:
„Ich bin in der banlieue von Paris aufgewachsen, in einer grauen Stadt aus Beton und Asphalt. Die Farben, die mich geprägt haben, habe ich in meinen Büchern gesucht, in meinen Spielen und phantasierten Reisen. Dieser neugierige Junge, der auf die andere Seite der Mauer blickt, bestrahlt mit Licht und Farbe die umliegenden Häuser. Die Macht der Vorstellung verändert unsere Umgebung“[9]
Foto: Wolf Jöckel
7. Die Pandas von Nilko/Tignous
107, rue Jeanne d’Arc (rechte Seitenstraße)
Fotos: Wolf Jöckel, September 2022
Seit 2020 gibt es dieses Panda-Wandbild in der rue Jeanne – d’Arc. Es bezieht sich auf den Comic Panda dans la Brume (éd. Glénat, 2010). Der Zeichner und Karikaturist Tignous, der im Januar 2015 bei dem islamistischen Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo ermordet worden war, hatte in diesem Comic am Beispiel der Pandas die Ursachen und Folgen der Umweltzerstörung satirisch veranschaulicht. [10]
Der Street-Artist Nilko hat das Wandbild im Stil der Zeichnungen von Tignous angefertigt.
Hier hat sich einer der letzten Pandas ganz oben auf einen Baum geflüchtet. Aber offensichtlich ist er sich dessen bewusst, dass seine Tage gezählt sind…
8. Jana & JS: Photographes de la rue Jeanne-d’Arc
110, rue Jeanne d’Arc (rechte Seitenstraße)
Gleich in der Nähe findet man die Selbstportraits des französisch-österreichischen Duos Janna und JS: Links Jana knieend, rechts JS, der seine Kamera direkt auf den Betrachter richtet.
Fotos: Wolf Jöckel
Beide sind vor dem Hintergrund bienenwabenartiger Hochhauswohnungen platziert, die -wie bei ihnen üblich- in Schablonentechnik angefertigt sind und die man auch auf dem Quai 36 des Pariser gare du Nord findet.[11]
Foto: Wolf Jöckel
9. FAILLE: Et j’ai retenu mon souffle/Und ich hielt den Atem an
98, rue Jeanne d’Arc (rechte Seitenstraße) )
Hinter dem Künstlernamen FAILE verbirgt sich das amerikanische Street-Art-Duo Patrick McNeil und Patrick Miller. Die beiden leben und arbeiten in Brooklyn. Das Bild stellt eine Tänzerin dar, die sich über der Stadtlandschaft New Yorks in die Lüfte emporschwingt.
Foto: Wolf Jöckel
9 a.Horor: Das galoppierende Pferd (Equus ferus caballus)
121, rue Jeanne d’Arc
Horor ist ein Street- Artist, der sich vor allem auf Tiere und besonders auf große Wandbilder mit Pferden spezialisiert hat.
Foto: Frauke Jöckel
10. Shepard Fairey: Rise above rebel
93, rue Jeanne d’Arc (linke Seitenstraße)
Shepard Fairey, alias Obey, ist einer der Stars der internationalen Street-Art-Szene. Bekannt wurde er vor allem durch „Hope“, das legendäre Portrait von Barack Obama, das Obey für dessen Präsidentschaftskampagne entwarf, die er nach Kräften unterstützte. [12]
Das politische Engagement Obeys ist auch bei dieser Arbeit deutlich zu erkennen.
Foto: Wolf Jöckel
Gemalt ist eine Frau, ein Opfer von Unterdrückung, eingezwängt zwischen Hauskante und Fensterreihe. Als Farben hat Obey schwarz und rot verwendet, die für Gewalt, Angst und Tod stehen, aber auch für den Kampf gegen Unterdrückung: Der Blick der Frau ist nach oben gerichtet auf ein Mandala der Hoffnung und der göttlichen Harmonie.
11. Shepard Fairey: Delicate Balance
60, rue Jeanne d’Arc (linke Seitenstraße, allerdings in etwas größerem Abstand zum Boulevard Vincent Auriol)
Fotos: Wolf Jöckel
Auch dies ist ein Mandala Shepard Faireys: Angelegt in blau-grüner Farbe weist es auf die unserer Welt drohenden Umweltgefahren und mögliche Abhilfen hin.[13]
Ausgehend von diesem Bild entwickelte Fairey seine Installation Earth Crisis unter dem Eiffelturm während der Pariser Uno-Klimakonferenz COP 21.[14]
Wenn man die rue Jeanne d’Arc noch weiter geht bis über die Place Jeanne d’Arc mit der Kirche Notre dame de la Gare hinaus, kann man das ukrainische Mädchen von C 215 sehen. (Siehe Spazierung Nummer 13)
12. Shepard Fairey: Marianne
186 rue Nationale (linke Seitenstraße)
Auf diesem Foto sieht man gleich zwei große Wandbilder- ein Beispiel dafür, wie nah beieinander die „Ausstellungsstücke“ der open-air-Galerie des 13. Arrondissements manchmal liegen.
Foto: Wolf Jöckel (November 2019)
Links ein Katzenkopf von C 215, rechts eine Marianne des uns nun schon bekannten Shepard Fairey. Es handelt sich dabei um das größte existierende Marianne-Bild: ein Geschenk des Künstlers an die Stadt Paris als Zeichen der Solidarität nach den islamistischen Anschlägen von 2015. Das Bild ist auch eine Hommage an die Ideale der Französischen Revolution, deren Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die französische Symbolfigur einrahmt.
Foto: Wolf Jöckel (November 2019)
Im Dezember 2020 ließ eine anonyme Gruppe in einer Aufsehen-erregenden nächtlichen Aktion die Marianne Shepard Faireys (alias Obey) blutige Tränen weinen. Gleichzeitig wurde die Devise der Französischen Revolution mit weißer Farbe übermalt. An der Seite die Worte: Marianne pleure und der Name einer Internetplattform, auf der die Aktion verbreitet und begründet wurde.[15]
Die Aktion verstand sich als Protest gegen die verschärften französischen Sicherheitsgesetze, die als Reaktion auf den islamistischen Terror unter der Präsidentschaft Macrons eingeführt wurden. In einem seiner Büros im Elysée-Palast hängt übrigens eine Kopie des originalen Bildes.[16]
Obey reagierte durchaus verständnisvoll auf diese spektakuläre Aktion: Er sei auf der Seite derer, die sich gegen Ungerechtigkeiten wehrten, vor allem wenn es sich um Menschenrechte handele. Als er seine Marianne wieder in den ursprünglichen Zustand versetzte, fügte er gleichwohl eine (dezente) blaue Träne hinzu.
Foto: Wolf Jöckel (September 2022)
Und den Erlös der Drucke, die er von dem neuen Bild anfertigen ließ, stellte er den Restos du cœur zur Verfügung. Eines dieser allen Bedürftigen offenstehenden Restaurants befindet sich ganz in der Nähe von Obeys Marianne…. [17]
C 215, der mit bürgerlichem Namen Christian Guémy heißt, ist einer der bekanntesten französischen Street-Art-Vertreter. Manchmal wird er sogar als französische Antwort auf Banksky beschrieben. Vor allem ist C 215 Portraitist: Seine Motive sind dabei oft Obdachlose, Straßenkinder und alte Menschen, womit er die Gesellschaft auf die Vergessenen unseres Lebens aufmerksam machen möchte. Kürzlich waren es aus Anlass des 80. Jahrestags der Vel d’Hiv-Razzia Kinder und Jugendliche, Opfer der Judenvernichtung, deren Portraits er in Zusammenarbeit mit dem Mémorial de la Shoah auf Briefkästen des Marais malte bzw. in Schablonentechnik sprühte.
Foto: Wolf Jöckel
Aber auch bedeutende Persönlichkeiten werden von ihm portraitiert: Zum Beispiel berühmte Männer und Frauen des Marais oder des Pantheons, für die er in den Straßen aufgestellte Strom-Verteilerkästen als Unterlage wählte.[18]
Foto: Wolf Jöckel
Am Boulevard Vincent Auriol hatte C 215 eine ganze Hauswand zur Verfügung und als Motiv wählte er eine Katze – ausgewählt wegen ihrer Schönheit, aber auch wegen ihrer Symbolik: einerseits ist sie ein geselliges Haustier, andererseits aber auch auf ihre Unabhängigkeit und Freiheit bedacht…
Foto: Wolf Jöckel
Ebenfalls im 13. Arrondissement, in der rue Patay Nummer 131, hat Christian Guémy nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein großes Wandbild gemalt. Er versteht es nicht nur als Zeichen der Solidarität mit dem ukranischen Volk, sondern auch als „message universel“ gegen den Krieg.
Es handelt sich um das Portrait eines kleinen Mädchens in den ukrainischen Nationalfarben und mit einem landestypischen Kranz aus Blumen. C 215 bezieht sich dabei auf einen Wunsch des ukrainischen Präsidenten, keine Präsidenten-Portraits in den Amtsstuben aufzuhängen, sondern Bilder von Kindern. [18a]
Fotos: F. Jöckel
14. Bomk: Jeune graffeuse avec sa bombe de peinture
126 boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)
Fotos: Wolf Jöckel
15. Add Fuel: untitled
120, boulevard Vincent Auriol
Add Fuel ist ein portugiesischer Künstler. Wesentliche Anregungen für seine Arbeiten erhält er, wie auch hier zu beobachten ist, von den azulejos, den traditionellen portugiesischen Keramikfliesen. Die gestalterische Herausforderung für den Künstler war hier die architektonische Tristesse des Wohnblocks aufgrund des strengen, gleichförmigen Aufbaus der Fassade. Add Fuel durchbrach die Aneinanderreihung horizontaler Fassadenbänder durch die dynamische Verwendung von „Kacheln“ unterschiedlicher Farben und Formen und macht die Fassade damit lebendig.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevards (Nummer 135) gibt es eine weitere Arbeit Add Fuels mit dessen unverkennbarer „Handschrift“.
Auch hier hat sich der Künstler bei der Neugestaltung der Fassade von den traditionellen portugiesischen azulejos inspirieren lassen, mit denen er gewissermaßen das Haus einhüllt. Darauf verweist auch der Titel: Envolvente/umhüllend. Die zweifache Verwendung ähnlicher gestalterischer Mittel versteht Add Fuel als Hinweis auf die große portugiesische Gemeinde in Paris, eine der größten weltweit.
16. Invader: PA 1205 Dr. House
122, boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)
Dies ist ein außergewöhnliches Werk des Invaders: außergewöhnlich wegen seiner Größe und außergewöhnlich auch, weil es sich um eine Auftragsarbeit handelt. Beides hängt insofern zusammen, als ein aus kleinen Kacheln zusammengesetztes Mosaik dieser Größe nur mit einem erheblichen Aufwand – zum Beispiel einem Gerüst- hergestellt werden kann und eine längere Arbeitszeit erfordert: keine Voraussetzungen also für eine nächtliche illegale Aktion. Das Mosaik gehört damit nach den Worten des Invaders in die Kategorie seines „1% legal“, zu dem einen Prozent seiner Arbeiten also, die in aller Legalität entstanden sind.[19]
Foto: Wolf Jöckel
Es handelt sich um die Figur des Dr. House, der einer populären Fernsehserie seinen Namen gegeben hat. Der etwas schräge, aber sehr kompetente Arzt ist mit all seinen Attributen ausgestattet: dem Dreitagebart, dem offenen Hemd und Jackett, den Turnschuhen und dem Stock; ein passendes Motiv also für das hôpital de la Pitié-Salpêtrière, zu dem der vom Invader geschmückte Bau gehört. Das für den Diagnostiker Dr. House unentbehrliche Stethoskop wird von dem gerade anfliegenden space invader gebracht. Diese Figur steht damit zwar nicht im Mittelpunkt wie bei den großen Mosaiken am Anfang dieses Spaziergangs- und bei den meisten Arbeiten des Invaders- aber fehlen darf dieses Erkennungszeichen auch nicht.
Der Invader hat sich selbst zu dieser sehr medienwirksamen Arbeit geäußert: Pourquoi le Dr House ? « J’avais envie de faire un grand portrait, ce qui est difficile à faire de manière non officielle, car cela prend du temps. Ce personnage, que j’aime bien, est un symbole de la culture populaire de notre époque, et le contexte s’y prêtait », s’amuse Invader. Pour l’artiste, il s’agit aussi d’un « exercice de style » : « Aujourd’hui, le carreau de mosaïque et l’esthétique 8 bits, très pixelisée, sont devenus ma signature, plus que les personnages Space Invader eux-mêmes. » [20]
17. MAYE: Étang de Thau/die Lagune von Thau
131, boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)
Die Heimat von MAYE ist Südfrankreich, er stammt aus Montpellier. Sein großes Wandbild am Boulevard Vincent Auriol ist nach dem Étang de Thau benannt, einer großen Lagune bei Sète.
Die Anklänge an den Süden sind unübersehbar: Da ist vor allem der in der Farbe der Melonen gehaltene Untergrund und da ist der Flamingo, der hier einer phantastischen Figur als Reittier dient. Gekleidet ist der Ritter wie ein cavalier camarguais, ein berittener Rinderhirte der Camargue- hier dargestellt gewissermaßen als ein Don Quichotte der Camargue. So bringt MAYE einen Hauch des Südens in die Steinlandschaft des 13. Arrondissements.
18. D*Face: Love won’t tear us apart
10, place Pinel (Platz an der rechten Straßenseite)
Foto: Wolf Jöckel
Der Engländer Dean Stockton, alias D*Face hat ein etwas verstörendes Liebespaar an die Wand gemalt: Ein blondes pin-up-girl, das an Comic-Figuren (oder auch an Roy Lichtenstein) erinnert, umarmt einen jungen Mann mit einem Totenkopf-ähnlichen Gesicht. Die Botschaft, die D*Face damit vermitteln will: Der Totenkopf-Liebhaber stehe für die Personen, die man geliebt habe, die zwar nicht mehr Teil unseres Lebens seien, dafür aber unseres Gedächtnisses.[21] Ich kann das -ehrlich gesagt- nicht ganz nachvollziehen. Aber D*Face fordert ausdrücklich die Betrachter dazu auf, seine Werke auf eigene Weise zu interpretieren. Also: Ich sehe in dem Bild eher einen Todeskuss und würde ihm den Titel: Der Tod und das Mädchen geben…
19. Jorge Rodriguez-Gerada: Portrait Philippe Pinel
4-10, place Pinel
Die place Pinel ist benannt nach dem französischen Psychiater Philippe Pinel (1745-1826). Pinel war von 1792 bis 1794 medicin chef de l’hospice de Bicêtre, eines Gefängnisses und Krankenhauses, danach war er auch in der Salpêtrière tätig. Sein großes Verdiebst war es, die „Irrsinnigen“ nicht mehr wie Zuchthäusler, sondern wie Kranke zu behandeln. Er arbeitete daran, Geisteskrankheiten empirisch zu erfassen und adäquate Behandlungsmethoden zu entwickeln. Damit schuf er die Grundlage für die Anerkennung der Psychiatrie als eines Zweiges der Medizin.
Pinel befreit die Kranken aus der Bicêtre in 1793. Gemälde von Charles Louis Lucien Müller in der Lobby des Académie Nationale de Médecine; Paris [22]
20. ST 4: The project
10, place Pinel
ST 4 ist ein aus Tunesien stammendes Street-Art-Duo. Sie haben ein Haus an der Place Pinel mit einer graphischen Komposition versehen, die auf arabischen Schriftzeichen beruht, allerdings keine konkrete Botschaft enthält. Hier sind es abstrakte Formen, die rein ästhetischen Charakter haben.
Foto: Wolf Jöckel
21. BTOY: Evelyn Nesbit
3, rue Esquirol (rechte Seitenstraße)
Foto: Wolf Jöckel
Das Motiv für dieses Wandbild wurde von den Bewohnern des Hauses selbst ausgewählt. Es handelt sich um Evelyn Nesbit, ein amerikanisches Mannequin/eine Schauspielerin aus der Zeit um 1900. Sie war die schönste und berühmteste Revue-Tänzerin der Gibson Girls. Berühmt wurde sie allerdings vor allem wegen ihres turbulenten Lebens: Als junges Mädchen wurde sie von dem Stararchitekten Stanford White, dem Schöpfer des Madison Square Gardens, vergewaltigt. 1905 heiratete sie Harry Kendall Thaw, den Sohn eines Kohlen- und Straßenbaumagnaten, der nicht nur kokainabhängig und sadistisch war, sondern auch hochgradig eifersüchtig auf die frühere Beziehung Nesbits mit White. Thaw trug immer eine Pistole bei sich, um „seinen Besitz“ zu verteidigen. 1906 erschoss Thaw während einer Theateraufführung im Madison Square Garden White. Thaw wurde verurteilt, genoss aber nach seiner Entlassung „das Ansehen eines Volkshelden, der die Entehrung eines unschuldigen Mädchens gerächt hatte“ – von dem er sich dann allerdings umgehend scheiden ließ… Ist es dieses turbulente Leben, so kann man mit Sonia Branca-Rosoff fragen, das dem Portrait von Evelyn Nesbitt sein melancholisches Flair verleiht? [23]
22. « LA NUEVE DE LA 2E DB »
20, rue Esquirol
Ein paar Schritte weiter gibt es auf der rechten Seite der rue Esquirol ein großes 2020 entstandenes Wandbild zur Erinnerung an die spanischen republikanischen Soldaten, die 1944 bei der Befreiung von Paris eine wesentliche Rolle gespielt haben. „La Nueve“ war die 9. Kompanie der 2. Panzerdivision des Generals Leclerc, die am 24. August in Paris einrückte: Die Spitze bildete die „Colonne Dronne“ mit spanischen Soldaten, die nach der Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg in Frankreich Zuflucht gesucht hatten.
Für die Initiatoren des Wandbildes wird allerdings die Rolle der spanischen Truppen bei der Befreiung von Paris nicht hinreichend gewürdigt. Sie weisen in diesem Zusammenhang auf eine Umfrage unter der Pariser Bevölkerung mit entsprechenden Ergebnissen hin und auf die Wirkung der berühmten Rede de Gaulles, der die Befreiung von Paris allein als Werk von Franzosen dargestellt habe: „Paris martyrisé mais Paris libéré, par lui-même et par la France éternelle.“ [24]
Immerhin gibt es entlang des Einmarschwegs der Division Leclerc eine Reihe von Markierungen, die an die spanischen Soldaten an der Spitze der Befreiungstruppen erinnern.
Hier zum Beispiel eine auf dem Pont d’Austerlitz:
Und jetzt gibt es dieses neue Wandbild, das auch an das lange Exil der spanischen Republikaner erinnert.
Fotos: Wolf Jöckel (September 2022)
23. D*Face: Turncoat
155, Boulevard Vincent Auriol (linke Straßenseite)
Auf der anderen Seite des Boulevard Vincent Auriol befindet sich der jardin de la raffinerie Say, eine kleine Parkanlage auf dem Gelände einer früheren Zuckerraffinerie. Dort hat D*Face 2018 das 25 Meter hohe Bild einer Frau als Comic-Figur an die Hauswand gemalt.
Foto: Wolf Jöckel
Dazu Sonia Branca-Rosoff: „Es gibt wenige Fresken, die ich verabscheue, aber dieses: ja! Große Comic-Köpfe zu produzieren macht für mich keinen Unterschied zur Werbung. Die Zeichnung ist grob, die Farben sind aufdringlich.“
Foto: Wolf Jöckel
Man kann darin -wie Sonia Branca-Rosoff- einen Ausdruck der „américanisation triomphante“ sehen. Allerdings scheinen die beiden Frauen auf den Parkbänken davon unbeeindruckt und unbeeinflusst zu sein…
24. DALeast: The confettier
154, boulevard Vincent Auriol (rechte Straßenseite)
Dies ist ein beeindruckendes Werk des chinesischen Künstlers DALeast. Auf einem blauen Untergrund hat er zwei Leoparden in voller Bewegung dargestellt. Mehdi Ben Cheik, der Direktor der Galerie Itinerrance und Initiator der Open-air-Galerie im 13. Arrondissement, sieht hier sogar einen Bezug zu Delacroix‘ berühmtem Bild La Chasse aux lions (Löwenjagd).
Foto: Wolf Jöckel
Kämpfen die beiden Tiere miteinander? Ist es das Spiel von -immerhin miteinander verbundenen- Jungtieren oder sogar ein Liebesspiel? Dem Betrachter bleibt die Deutung überlassen.
25. Hush: untitled
169, boulevard Vincent Auriol
Am Ende dieses Spaziergangs entlang des boulevard Vincent Auriol sind auf engstem Raum vier große und ganz unterschiedliche Wandbilder zu sehen. Hush, der das nachfolgend abgebildete Fresko gemalt hat, stammt aus England, hat aber viele Jahre in Asien verbracht. Das ist an seinem Beitrag zur open-air-Galerie des 13. Arrondissements deutlich zu erkennen.
Abgebildet ist eine asiatische Frau, eine Geisha, allerdings, was den Kontrast von Farben und Materialien angeht, „fast im Stil von Klimt“. [26]
26. Hownosm, Sun Daze
167, boulevard Vincent Auriol
Hinter dem Künstlernamen Hownosm verbirgt sich ein deutsches Street-Art- Zwillingspaar, das 2019 von der Galerie Itinerrance eingeladen wurde, eine monumentale Wand am boulevard Vincent Auriol zu bemalen: Hier ein Ausschnitt:
Foto: Wolf Jöckel
Der Titel „Sun Daze“ ist ein Wortspiel, weil es an „Sundays“ erinnert. Das soll nach Aussage der Künstler dazu anregen, sich ab und zu – zumindest jedenfalls am Sonntag- „auszustrecken, zu entspannen und wahrzunehmen, dass es mehr im Leben gibt als arbeiten, arbeiten, arbeiten.“ [27]
27. Pakone und Wen2: „Les Perdrix “
167, boulevard Vincent Auriol
Seit 2021 gibt es dieses Wandbild eines französischen Street-Art-Malers aus Brest. Der Titel bezieht sich auf einen Leuchtturm der Bretagne, und dass wir uns in der Nähe des Meeres befinden, ist unverkennbar.
28. Cryptik: Écriture latine calligraphiée, Poème W. Soroyan
171, boulevard Vincent Auriol
Gleich um die Ecke des Wohnblocks ist der Eingang zur Librairie Nicole Maruani, die eine „Lecture Gourmande“ verheißt, also gewissermaßen eine „Feinschmecker-Lektüre“. Und eine ganz besondere Lektüre erwartet hier den Street-Art- Passanten. Denn Cryptik stammt aus Korea und seine bevorzugte künstlerische Ausdrucksform ist die Kalligraphie. Auf der Hauswand über der Buchhandlung hat er eine kalligraphische Botschaft angebracht mit dem Gedicht von William Soroyan The time of your life (1939).
Für mich ist die Schrift zwar sehr schön, aber der Inhalt eher kryptisch. Ich kann das Gedicht auf der Fassade leider nicht entziffern – und anderen wird das vielleicht ja ähnlich ergehen. Ich gebe deshalb den Anfang und das Ende des Gedichts hier wieder:
„In the time of your life, live — so that in that good time there shall be no ugliness or death for yourself or for any life your life touches. Seek goodness everywhere, and when it is found, bring it out of its hiding-place and let it be free and unashamed. (…) „In the time of your life, live — so that in the wondrous time you shall not add to the misery and sorrow of the world, but shall smile to the infinite delight and mystery of it.“[28]
Dies scheint mir ein schöner Abschluss dieses Spaziergangs zu sein.
Wer aber noch Energie, Zeit und Lust auf mehr hat, dem empfehle ich das kleinstädtische Idyll La Butte aux Cailles auf der anderen Seite der place d’Italie: auch ein Eldorado der Street-Art. Allerdings gibt es da nicht die Hochhäuser und passend dazu eher nicht die großen Formate wie entlang des Boulevard Vincent Auriol, sondern hier gibt es vor allem eine kleinformatige Street-Art. Da wird man Künstler wie Seth wiederfinden und dazu andere -wie Miss Tic-, für deren Arbeiten die großen, repräsentativen Formate nicht passen. Mehr dazu bei:
Hier zum Beispiel ein schöner typischer Beitrag Seths zum Krieg in der Ukraine in der Rue Buot (13. Arrondissement)
Verwendete Literatur:
Mehdi Ben Cheikh, Boulevard Paris 13. Paris: Albin Michel/Galerie Itinerance 2020. Vorworte von Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, und Jérôme Coumet, Bürgermeister des 13. Arrondissements
Stéphanie Lombard, Guide du street art à Paris. Paris 2020. Darin Kapitel über die „Formate XXL“ im 13. Arrondissement
Sonia Branca-Rosoff, https://passagedutemps.com/2019/04/19/les-fresques-du-boulevard-vincent-auriol/ (Bei einem Spaziergang mit Sonia Branca-Rosoff lernte ich 2019 die Street-Art entlang des Boulevard Vincent Auriol kennen. Damals sind viele meiner in diesen Beitrag aufgenommenen Fotos entstanden, andere danach bis September 2022. Einige Bilder und Texte habe ich auch dem schönen Blog von Sonia Branca-Rosoff passage du temps entnommen. Merci, Sonia!)
[6] Harrington: „Je pense que la fresque sera plutôt appropieée avec les élections présidentielles qui approchent. La manière dont j’ai peint les personnages (…) est assez significative des changements de la société françaises (et européenne).“ Boulevard Paris 13, S. 60
[8] Pantonio: „je me suis … inspiré de la crèche et des enfants se mouvant derrière mes murs. Je n’avais pas de message prédéfini à faire passer, mais en voyant leurs dessins, j’ai réalisé qu’il n’etait question ici que d’amour du dessin.“ Boulevard Paris 13, S. 36
Fährt oder bummelt man in diesen Herbsttagen des Jahres 2019 durch die Straßen von Paris, dann sind die auf Hauswände geklebten weißen Plakate nicht zu übersehen, auf denen mit großen schwarzen Buchstaben die Morde an Frauen angeprangert werden. So bei uns in der Nähe in der rue Saint Sébastien.
Das Wort féminicide bezeichnet nach dem Wörterbuch „Le Petit Robert“ den Mord an einer Frau oder einem Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Aufgenommen wurde es in dieses Wörterbuch im Jahr 2015, während die Akademie française sich noch ziert – was allerdings bei dieser sehr männerlastigen und konservativen Institution nicht anders zu erwarten ist. [1] Allerdings tun sich auch deutsch-französische Wörterbücher schwer mit dem Wort: Leo musste passen:
„Leider konnten wir zu Ihrem Suchbegriff féminicides keine Übersetzung finden“,
und linguee teilte kurz und bündig mit: „Keine Ergebnisse für féminicides. Bei Pons wurde ich dann aber fündig: féminicide = Frauenmord.“.[2]
103. Mord an Frauen. Eine Unbekannte, 76 Jahre, mit der Axt erschlagen. Rue Picpus, 12. Arrondissement
In Frankreich ist das Wort in den Medien allpräsent und es wird in der aktuellen Plakatierungsaktion ganz selbstverständlich immer wieder verwendet. Dabei werden teilweise auch die Namen der Opfer genannt, wie sie umgebracht wurden und um den wievielten Frauenmord des Jahres es sich handelt.
Monique, mit Schlägen des Gewehrs getötet von ihrem Mann, 104. Mord an Frauen Boulevard Ménilmontant, 11. Arrondissement
Und bei uns in der Ecke in der Rue de la folie Regnault (ebenfalls 11. Arrondissement):
25.10.2019 Shaïna, 15 Jahre, wurde von ihrem Typ erschlagen und verbrannt. Der 125. Mord an Frauen
2.11.2019 Eine Frau von 88 Jahren, von ihrem Mann durch eine Kugel in den Kopf getötet, Der 128. Frauenmord. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement
Auch das Ausmaß der Frauenmorde wird plakatiert wie in der Passage de Ménilmontant im 11. Arrondissement:
Der Männlichkeitswahn tötet alle 48 Stunden
In Frankreich ein Frauenmord alle zwei Tage (Foto von Sonia Branca, aufgenommen Nähe Bastille)
Dieses Plakat gibt es auch auf englisch – hier allerdings in etwas ramponierter Form:
Rue Bouvier, 11. Arrondissement
Die traurige Bilanz des Jahres 2019:
2019: 149 Morde an Frauen. Den Zeiger nicht auf 0 stellen Gymnase Japy, 11. Arrondissement. Aufgenommen im Januar 2020
und noch einmal Berges de la Seine, rive gauche
Die hier angegebenen Zahlen stammen von dem Kollektiv „Feminicides“, das seit 2016 eine Zählung von Frauen vornimmt, die von ihrem (ehemaligen) Partner umgebracht worden sind. Allerdings sind diese Zahlen nicht unumstritten: Le Monde (17. Januar 2020) spricht sogar von einer „bataille des chiffres“. Das hängt damit zusammen, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, eine entsprechende Zuordnung vorzunehmen: Beispielsweise, wenn der entsprechende Mann die Tat leugnet und es (noch) keine Verurteilung gibt, so dass -juristisch exakt- die Unschuldsvermutung gilt. Oder was ist -um ein von Le Monde angeführtes Beispiel zu nennen- mit einem alten Mann, der zunächst seine kranke Frau umbringt. um ihr Leiden zu beenden, und dann sich? Ist das auch ein féminicide im Sinne einer „violonce conjugale“?
Aber unabhängig von solchen Zuordnungsproblemen: Einigkeit besteht darin, dass die Zusammenstellung und Addition von féminicides hilfreich ist, das Bewusstsein für die Problematik häuslicher Gewalt zu schaffen und damit möglichst dazu beizutragen, dass die Zahlen in Zukunft abnehmen…
Und Einigkeit besteht natürlich auch darin, dass jeder Frauenmord einer zu viel ist: „pas une de plus“! Ein Plakat mit der entsprechenden italienischen Parole gibt es auch. Zum Beispiel in der Rue du chemin vert (11. Arrondissement).
Oft beziehen sich die Collagen auch auf die Motive von Frauenmorden. Häufig können es Männer nicht ertragen, wenn ihre Frau sich von ihnen trennt.
Sie verlässt ihn, er tötet sie Rue Étienne Dolet, 20. Arrondissement
Le Monde berichtet in ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 vom Leidensweg einer Frau, deren Mann, mit dem sie 20 Jahre lang verheiratet war, die Trennung nicht ertragen konnte. Ihr Partner drohte ihr mehrfach an, ihr das Gesicht zu verätzen, damit sie nicht mehr für andere Männer attraktiv sei. Er werde das tun, auch wenn er dann 15 Jahre ins Gefängnis müsse. Die Bedrohungen nahmen an Brutalität zu, der Mann kommt einmal für kurze Zeit in Haft und ihm wird der Kontakt mit seiner früheren Frau untersagt. Aber die Bedrohungen gehen weiter, auch die Kinder, die bei der Mutter leben, werden bedroht. Er werde den 4-jährigen Jungen vom Balkon werfen. Mehrfache Anzeigen, mehrfache dringende Eingaben des Rechtsanwalts bei der Justiz bleiben ergebnislos, bis dann der Mann seine Drohung wahr macht und das Gesicht der Frau mit Salzsäure entstellt….
Papa hat Mama getötet Rue des Partants, 20. Arrondissement
Seit September 2019 gibt es diese Anschläge in Paris. Bei den hier abgebildeten handelt es sich um eine völlig zufällige Zusammenstellung, meist in unserer näheren Umgebung fotografiert. Dabei wird aber deutlich, dass es sich um eine ganz spektakuläre Aktion handelt – denn sie ist ja nicht auf unser Viertel beschränkt, sondern in ganz Paris verbreitet. Gewidmet sind sie „den ermordeten Frauen“.
Rue de la Roquette, 11. Arrondissement
Unseren ermordeten Schwestern Rue de la Bidassoa im 20. Arrondissement
Hier hat die Gruppe nous toutes neben dem Straßenschild und über der Collage ein Plakat mit einem alternativen Straßenschild angeklebt, das einer der ermordeten Frauen gewidmet ist:
Rue Chloé, 33 Jahre, am 27. April 2019 von ihrem Ex getötet
Auf der Basis der Juli-Säule in der Mitte der place de la Bastille befindet sich folgende Aufschrift:
Aux femmes assassinées, la patrie indifférente (den ermordeten Frauen, das gleichgültige Vatgerland) – eine Anspielung auf die Widmung des Pantheons: aux grands hommes- la patrie reconnaissante (den großen Männern, das dankbare Vaterland).[3]
Diese Collage passt gut zu der Juli-Säule- denn es geht ja um ermordete Frauen- und die Juli-Säule ist den Opfern der „trois glorieuses“ der Juli-Revolution von 1930 gewidmet, die hier sogar bestattet sind.
Initiatorin der Plakataktion ist Marguerite Stern, eine junge Künstlerin, die dafür engagierte Frauen gewann.[4]
Begonnen hatte sie damit in Marseille, wo sie wohnt, dann aber auch in Paris Mitstreiterinnen gefunden.
Vorbereitungstreffen von Pariser Aktivistinnen im September 2019
Dort startete die Aktion am 30. August und eine Woche später waren schon 250 Collagen geklebt.[5] Heute sind es sicherlich tausende…
Die Aktivistinnen, die diese Plakate bzw. Collagen an die Wände klebten, hatten allerdings ein Problem, das Vertretern der Street-Art nur allzu bekannt ist: Das „wilde“ Plakatieren stört nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern ist auch ein Eingriff in das Privateigentum. Es handelt sich also um eine Ordnungswidrigkeit, die entsprechend geahndet werden kann – und wie beim Invader oder Monsieur Chat auch geahndet wurde.
Dazu veröffentlichte die Zeitung Le Parisien am 7. September 2019 einen Artikel:
Paris : 400 euros pour avoir collé des affiches contre les féminicides
6 militante Feministinnen seien in flagranti beim Plakatieren von städtischen Angestellten beobachtet worden. Man habe ihre Personalien erhoben und ein Bußgeld von insgesamt 400 Euro verhängt.[6]
Die Frauen hatten ein Plakat angeklebt mit der Aufschrift Morde an Frauen: Das große Thema der Legislaturperiode.
Die Pariser Stadtverwaltung rechtfertigte das Vorgehen ihrer Beschäftigten: Man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie eine Entscheidung träfen zwischen verschiedenen Arten wilder Plakatierung. Allerdings hatte die Pariser Bürgermeisterin am 28. August noch höchstpersönlich eine Veranstaltung auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus organisiert, in der sie die Morde an Frauen verurteilt und die Regierung zum höchst überfälligen Handeln aufgefordert hatte.[7]
Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, am Rednerpult vor dem Rathaus
Dazu waren die Namen der Opfer an der Fassade des Rathauses befestigt worden.
94 Frauen sind seit Beginn des Jahres 2019 unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners gestorben
Die Verhängung von Bußgeldern für das Ankleben von Collagen passte dazu natürlich überhaupt nicht. Aber inzwischen scheint sich die Stadtverwaltung dieses eher peinlichen Widerspruchs bewusst geworden zu sein. Dazu haben sicherlich auch Anstöße aus den eigenen Reihen beigetragen, wie etwa ein Beschluss des Stadtrats des 20. Arrondissements: Die Plakatierungs-Aktion liege, so heißt es da, im allgemeinen Interesse und solle deshalb von der Pariser Stadtverwaltung nicht nur geduldet werden.[8] Das scheint inzwischen auch so gehandhabt zu werden. Jedenfalls habe ich von weiteren städtischen oder polizeilichen Interventionen in dieser Sache nichts mehr gehört oder gelesen
Weitere Aktionen
Neben diesen Collagen gab und gibt es in diesem Jahr aber noch weitere Aktionen gegen Frauenmorde. Besonders spektakulär die der militanten Frauengruppe Femen, bekannt durch ihre barbusigen Auftritte – hier eine im Innenhof des Palais Royal in Paris im Mai 2019…[9]
…. und eine weitere am 5. Oktober 2019 auf dem Friedhof von Monparnasse[10]:
Ich habe ihn verlassen, er hat mich getötet; ich wollte nicht sterben; nicht noch eine mehr
Wir alle sind Kämpferinnen. Rue Léon Frot, 11. Arrondissement
Am 19. Oktober 2019 veranstalteten Frauengruppen fünf sogenannte die-ins auf Pariser Plätzen:
Frauen legten sich auf den Boden, um den Tod von Frauen zu veranschaulichen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. (Courrier Picard, 19.10.2019)
Wir sind alle Heldinnen (Foto Sonia Branca)
Auch der Invader, bekannt durch seine an Hauswänden befestigten Mosaike[11], engagierte sich: Er verbreitete einen Aufruf:
„Ob Prinzession, Kriegerin oder Tänzerin, alle zwei Tage stirbt in Frankreich eine Frau unter den Schlägen ihres Partners oder ex-Partners. Heute, am 3. September 2019 -3/9/2019- verbreiten wir die Telefonnummer, die Menschenleben retten kann. Ob Opfer oder Zeuge, die 3919 hört Sie und hilft Ihnen, auf häusliche Gewalt zu reagieren“.[12]
Illustriert war der Aufruf mit einer Zusammenstellung von 9 Frauenmosaiken des Invaders, darunter diesem in der rue du roi doré im Marais.
Frauenmorde in Frankreich: Ein Versagen der Behörden und der Justiz?
Das Thema der Frauenmorde/féminicides ist in den französischen Medien sehr präsent. Ein wesentlicher Grund dafür ist die hohe Zahl der entsprechenden Gewalttaten. 2017 haben 219 000 französische Frauen angegeben, Opfer physischer und/oder sexueller Gewalt gewesen zu sein. Mehr als 12 000 Fälle von Todesdrohungen seien von der Polizei registriert worden. 2018 seien, wie die Zeitung Le Temps berichtete, 121 Frauen in Frankreich unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners umgekommen. Der Figaro gibt für 2018 die Zahl von 107 an.[13] Wie auch immer: Ganz deutlich ist, dass die Zahl der ermordeten Frauen in diesem Jahr deutlich ansteigt: Die Ende Oktober 2019 umgebrachte 15-jährige Shaïna war ja, wie auf einem einer anfänglich gezeigten Collage zu lesen war, schon der 124. Frauenmord dieses Jahres.
Gemäß der europäischen Statistikbehörde Eurostat liegt Frankreich, was die absolute Zahl der Frauenmorde angeht, damit auf einem Spitzenplatz, weit vor Rumänien, Großbritannien und Italien. Den traurigen europäischen Rekord halte aber, wie tv 5 berichtete, Deutschland! Bezogen auf die Bevölkerungszahl sieht das Bild allerdings etwas anders aus: Da liegt Rumänien weit an der Spitze und Deutschland im „Mittelfeld“, allerdings noch vor Frankreich.[14]
Bei der Frage nach den Ursachen des hohen Ausmaßes häuslicher Gewalt wird in Frankreich immer wieder das Verhalten der zuständigen öffentlichen Instanzen infrage gestellt. Im Figaro wird beispielsweise eine in diesem Bereich tätige Soziologin zitiert, die von einer von ihr betreuten Frau berichtet: „Sie hat fünfmal Anzeige erhoben, aber die Todesdrohungen sind alltäglich. Ihr ehemaliger Partner ist gefährlich. Ich ermutige sie, eine sechstes Mal Anzeige zu erheben, aber sie hat nicht das Gefühl dadurch besser geschützt zu werden.“[15]
Häusliche Gewalt. Trägheit der Polizei. Widerstand der Justiz. Daran sind sie gestorben. Rue Bouvier, 11. Arrondissement
Dazu eine aktuelle Meldung aus Le Monde vom 14.11. 2019. Unter der Überschrift FEMINICIDE wird von einer Frau im Département Bas-Rhin berichtet, die von ihrem Partner erstochen wurde. Die Tochter des Opfers, die Augenzeugin des Verbrechens gewesen sei, habe den Vorwurf erhoben, die Polizei habe viel zu lange gebraucht, um am Tatort einzutreffen. „Niemand“, so wird die Frau zitiert, „hat uns helfen wollen.“ Ihre Mutter habe schon die zuständigen Stellen informiert (main courante) und Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet – offensichtlich vergeblich…. Jetzt sei die für die Polizei zuständige Aufsichtsbehörde mit dem Fall befasst.
Und dazu ein aktuelles Plakat in der Rue Chaligny im 11. Arrondissement: Jean-Pierre schlug Valérie mit der Faust. Sie wurde mit dem Tode bedroht, beschimpft, an den Haaren gezogen. Beschwerden wurden von der Polizei zurückgewiesen, die Justiz hat nie Strafen verhängt. Aber ich werde es auch 15 Jahre danach nie vergessen. Papa leugnet seine Gewalttaten. Aber ich schreie sie heraus auf den Mauern, weil Mutter sterben musste.
Insofern soll die nachfolgende Inschrift – er schlägt dich, man glaubt dir- (gefunden in der rue de Charonne im 11. Arrondissement) sicherlich bittere Ironie ausdrücken:
Heftig diskutiert wird in Frankreich die Frage, inwieweit die Justiz und das Strafrecht dem Problem gewachsen sind. Da stehen sich zwei Positionen gegenüber: Einmal die Auffassung, dass das juristische Arsenal ausreichend sei, es allerdings Probleme bei seiner konsequenten Anwendung gäbe[16]. Anderseits gibt es auch die Forderung, den féminicide als eigenständigen Tatbestand in das Strafrecht aufzunehmen, um der Besonderheit der Gewalt gegen Frauen besser gerecht werden zu können, so wie das schon in mehrern Staaten Mittel- und Südamerikas (beginnend mit Costa Rica 2007) der Fall sei.[17]
Es ist allerdings in Frankreich wohl allgemein anerkannt, dass die Polizei sich oft schwer tut, Frauen zu schützen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind (18); und ebemso, dass die Justiz oft –zu oft- unfähig ist, potentielle Mörder daran zu hindern, zur Tat zu schreiten. In ihrer Ausgabe vom 17./18. November 2019 veröffentlichte Le Monde eine zweiseitige Recherche zum Thema:
Féminicides: une justice trop souvent en échec face aux aggresseurs
Frauenmorde: eine Justiz, die allzu oft angesichts von Tätern versagt
Frauenorde: Die Justiz als Komplize Rue de la Roquette, 11. Arrondissement
Sicherlich ist es sehr zugespitzt und polemisch, die Justiz als Komplizen der Frauenmorde zu qualifizieren. Aber die von einem 12-köpfigen (!) Journalist/inn/enteam in Le Monde veröffentlichten Fälle sind schon erschreckend: Da hat man den Eindruck, dass manchmal alle Anzeigen, alle auch rechtsanwaltlichen Interventionen, nichts nützen, und die Justiz erst dann nachhaltig tätig wird, wenn das lange angekündigte Verbrechen schließlich geschehen ist.
Ehren wir die Toten und schützen die Lebenden. Ausgang Métro-Station Jaurès (Foto Sonia Branca)
Die Justizministerin Nicole Belloubet hat am 15. November anlässlich eines Kolloquiums über die Herausforderungen der Justiz anlässlich häuslicher Gewalt selbst eingeräumt, dass die Justiz bei manchen der 1500 Gewalttaten an Frauen in den letzten zehn Jahren versagt habe. Anlass war ein Bericht der „inspection générale de la justice“, die 88 Fälle von Opfern häuslicher Gewalt in den Jahren 2015 und 2016 genau untersuchte. Dabei wurde festgestellt, dass in 65% der Fällen die Opfer sich vorher an die Polizei gewandt hatten. Aber nur in 18% dieser Anzeigen seien an die Justiz weitergereicht worden. Fälle, die dann aber 80% niedergeschlagen habe. Der Generalstaatsanwalt beim obersten französischen Berufungsgericht, François Molins, stellte denn auch selbstkritisch fest, es gebe Anlass über „tout dysfonctinnement“ nachzudenken und sich zu fragen, inwieweit bestimmte gängige juristische Praktiken (wie z.B. Mediation) im Bereich häuslicher Gewalt angemessen seien.[19]
Die Rolle des Staates
Morde an Frauen: Reformen bevor man tot ist Impasse de Mont Louis, 11. Arrondisssement[20]
Angesichts der großen Resonanz, die die häusliche Gewalt in der französischen Öffentlichkeit hat, nahm der Staat dieses Thema auf. Anfang September 2019 initiierte die Regierung ein „Grenelle des violences conjugales“ (Grenelle der häuslichen Gewalt). Der Begriff Grenelle bezieht sich auf die Rue Grenelle in Paris, Sitz des französischen Arbeitsministeriums. Dort trafen sich 1968 Vertreter der Regierung und der Gewerkschaften und schlossen die Grenelle-Vereinbarungen, die wesentliche soziale Verbesserungen beinhalteten und die sozialen Auseinandersetzungen des französischen Mai 68 beendeten. Seitdem wird der Begriff „Grenelle“ für Beratungen und Vereinbarungen grundlegender Bedeutung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen verwendet. So gab es 2007 ein „Grenelle de l’environnement“, bei dem es um die französischen Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels ging. Wenn jetzt von der Regierung ein „Grenelle der häuslichen Gewalt“ ausgerufen wurde, einen bis zum 25. November 2019, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, geplanten Beratungs- und Entscheidungsprozess, dann zeigt das, wie hoch dieses Thema gehandelt wird.
Avenue Diderot, 12. Arrondissement
Die Idee eines solchen Grenelles wurde vor allem von Marlène Schiappa entwickelt, der für die Gleichheit zwischen Männern und Frauen zuständigen Staatssekretärin. Der Begriff Grenelle stehe für oberste nationale Dringlichkeit und für einen Epochenwandel. Das Thema der häuslichen Gewalt solle zu einer großen nationalen Angelegenheit und zu einem „marqueur“, einem prägenden Merkmal der Präsidentschaft Macrons gemacht werden.[21]
Gleich zu Beginn des Grenelle, an dem verschiedene staatliche und gesellschaftliche Institutionen und auch Betroffene teilnahmen, kündigte Premierminister Edouard Philippe höchstpersönlich eine Reihe von Maßnahmen an. Dazu gehörten:
1000 neue Wohnplätze für gefährdete Frauen sollen ab 1.1.2020 zur Verfügung gestellt werden
Ein System der Geolocalisation solle geschaffen werden, das sofort alarmiert, wenn ein vom Gericht verhängtes Annäherungsverbot nicht befolgt wird
Die Polizei solle besser geschult werden, das Ausmaß der von häuslicher Gewalt bedrohten Frauen zu beurteilen
Es sollen bei allen französischen Gerichten auf häusliche Gewalt spezialisierte Staatsanwaltschaften eingerichet und die entsprechenden Verfahren beschleunigt werden
Die Möglichkeit für Opfer häuslicher Gewalt, schon im Krankenhaus Anzeige zu erstatten, solle verbreitert werden
Ebenso so es auch leichter möglich sein, einem häusliche Gewalt ausübenden Elternteil das Erziehungsrecht zu entziehen.[22]
Die Regierung spricht da natürlich von „starken Maßnahmen“. Dass die Aktivistinnen der Frauenbewegung da eher skeptisch sind, zumal es sich eher um schon längst angekündigte oder überfällige Maßnahmen handele, (23) zeigt die nachfolgende Collage.
Macron redet, die Frauenmorde gehen weiter
Es wird also weiter öffentlicher Druck ausgeübt. Die nächste Demonstration ist schon für den 23. November angekündigt:
Samedi 23 novembre, #NousToutes vous donne RDV à Paris pour dire Stop aux violences sexistes et sexuelles.
Am 23.11. gehört die Straße uns allen Ras le viol (Vergewaltigung)!- ein Wortspiel mit ras de bol! (Die Schnauze voll)
Im November 2018 gab es schon einmal eine solche Demonstration gegen häusliche Gewalt, zu der auch die Gewerkschaft CGT aufgerufen hatte.
Wir (Männer) alle mit Ihnen (den Frauen) allen Ich kämpfe für meine zukünftige Tochter
Allerdings war diese Demonstration damals kaum wahrgenommen worden, weil gleichzeitig die Gelbwesten sich auf den Champs Elysées Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und damit die Bilder und Schlagzeilen beherrschten.[24]
Ob es diesmal anders sein wird, ist (leider) nicht garantiert.
rue de la forge royale, 11ème (Mai 2022)
„Nachwort“ aus der rue Bouvier im 11. Arrondissement:
In der FAZ erschien am 2. März 2021 ein Bericht über die Collagen: Luis Jachmann, Wer wegschaut, macht sich schuldig. Gegen sexualisierte Gewalt: In Frankreich kleben Frauen Botschaften an Häuserwände, die manche Männer wütend machen. Feuilleton, S. 11
Vorhergehendes Bild der Aktivistinnen aus: Le Monde vom 14. September 2019: ‚Aux femmes assassinées, la patrie indifférante‘: Les ‚colleuses‘ d’affiches veulent rendre visibles les victimes de féminicides
(18) Dans les affaire de fémicides, les alertes négligées par les forces de l’ordre. In: Le Monde vom 21. Oktober 2019
Am 17.11. wurde in den Abendnachrichten von TV 2 ein ausführlicher Beitrag ausgestrahlt zum Thema „femmes battues. Une épreuve pour se faire entendre“. Es kam dort ausführlich eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau zu Wort. Sie berichtete von ihren Schwierigkeiten, von der Polizei und der Justiz ernst genommen zu werden. Erst nach 3-jährigen Bemühungen sei sie wirklich geschützt worden. Fazit, auch von interviewten Polizisten und Juristen, war die Notwendigkeit eines besseren und schnelleren Schutzes der betroffenen Frauen.
Entsprechend Le Figaro vom 18.11.: Violence conjugales: la justice admet ses échecs
[20]Auch hier gibt es ein alternatives, feministisches Straßenschild – Überbleibsel einer anderen spektakulären Aktion der Gruppe nous toutes aus dem Frühjahr 2019: Da wurde die einseitige geschlechtsspezifische Verteilung von Straßennamen kritisiert und es wurden andere nach prominenten Frauen benannte Straßennamen vorgeschlagen- Hier rue Berthe Morisot, 1841 – 1895, Malerin, Gründungsmitglied der impressionistischen Bewegung. Eine schöne Alternative zu dem nach Ludwig XIV. benannten Impasse Mont-Louis, einer Sackgasse….
(23) Das System der Geolocalisation wird beispielsweise schon seit Jahren in Spanien verwendet, das immer wieder als Musterbeispiel für einen erfolgreichen Kampf gegen den Frauenmord angeführt wird. In Frankreich ist das System seit 2017 bekannt, seine Einführung wurde schon im Juli 2019 von der Justizministerin angekündigt. Siehe: Pourquoi la France échoue à faire baisser le nombre des féminicides. In: L’express vom 6.7.2019