Die Zisterzienser-Abtei von Pontigny, die internationalen Begegnungen (Décades) und Heinrich Mann

Heute finden in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Wahlen für das Europaparlament statt. Ein guter Anlass, wie ich meine, an den leidenschaftlichen Europäer Heinrich Mann und die Begegnungen von Pontigny zu erinnern, bei denen schon vor ca 100 Jahren der Geist der europäischen Verständigung gepflegt wurde.

Wolf Jöckel, 9. Juni 2024

1114 wurde die Abtei von Pontigny als zweites Tochterkloster der zisterziensischen Mutterabtei von Cîteaux gegründet. Es ist, auch wenn viele Klostergebäude nicht mehr existieren, ein imposanter Bau: zwar von der bei den Zisterziensern üblichen Schlichtheit, aber mit einer Grundfläche von 4000 qm2 und einer Länge von 120 Metern – kaum weniger als Notre-Dame von Paris- die größte Zisterzienserkirche der Welt.

Dass ich der Abtei von Pontigny einen Blog-Beitrag widme, hat zwei Gründe: Einmal wegen der Geschichte und Architektur des Baus -die Zisterzienser haben mich schon immer fasziniert- zum anderen wegen der Décades de Pontigny, einem Treffen internationaler Intellektueller in den Jahren zwischen 1910 und 1939.  An ihnen hat als einer der ersten Deutschen 1923 Heinrich Mann teilgenommen, mit dem zu beschäftigen ich vor vielen Jahren bei einem Studienaufenthalt in Besançon angeregt wurde…

Die Abtei von Pontigny

Die imposante Größe der Abteikirche ist Ausdruck der großen Bedeutung, die Pontigny einmal hatte.

Klosterportal mit Blick auf die Fassade der Kirche mit dem Vorraum (Paradies)

Begünstigt wurde die Entwicklung des Klosters durch seine Lage an der Grenze zwischen drei Bistümern (Auxerre, Sens und Langres) und drei Grafschaften. Dies ist der Ursprung der Legende, nach der sich auf der Brücke von Pontigny drei Bischöfe, drei Grafen und ein Abt treffen konnten, ohne ihr Territorium zu verlassen. Deshalb auch die Brücke im Wappen des Klosters.

Pontigny war nicht nur die zweite Tochter von Cîteaux (Clairvaux folgte als dritte Tochter), was ihr einen besonderen Rang verlieh, es gründete auch selbst wieder weitere Klöster. Wenn eine Zisterzienserabtei ausreichend etabliert war, wurden, in Erinnerung an Christus und die 12 Apostel, ein Abt und zwölf Mönche ausgesandt, um eine Tochterabtei zu gründen. Diese Entwicklung war bei Pontigny sehr dynamisch: Bald gehörten zu seiner „Familie“ 43 Klöster, von denen 16 direkt dem Abt des Mutterhauses unterstellt waren. Und wer Abt von Pontigny wurde, hatte Aussicht, in höchste kirchliche Ämter aufzusteigen.

In dem blühenden Pontigny suchten im 12. und 13. Jahrhundert drei Erzbischöfe aus Canterbury Zuflucht. Der erste war Thomas Becket, der aufgrund seiner Verbannung durch den englischen König 1164 nach Pontigny ins Exil ging. Der dritte war Edmond von Abingdon, der 1240 in Pontigny bestattet und 1246 heiliggesprochen wurde. So entwickelte sich Pontigny zum Zentrum der Verehrung des heiligen Edmund (Saint Edme), die den Wohlstand des Klosters erheblich förderte.

Sein prächtiges Grabmal gehört zu dem insgesamt sparsamen Inventar der Kirche. Der Schrein wird von vier muskulösen Engeln getragen.

Vom Baldachin steigt ein weiterer Engel herab, um eine Krone auf das Grab zu legen:

Das Grabmal stammt aus dem 18. Jahrhundert – aus einer Zeit neuer Blüte nach dem von Hungersnöten, Pest und Kriegen verursachten Niedergang vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Vor allem waren es die Hugenotten, die im 16. Jahrhundert dem Bau arg zusetzten, die Kirche anzündeten und die Gräber profanierten – die Reliquien des heiligen Edmund hatten die Mönche allerdings rechtzeitig in Sicherheit bringen können.

Hier ein Grundriss der Klosteranlage aus der Zeit des Neuanfangs im  17. Jahrhundert:

Eine solche weitläufige Klosteranlage an dieser Stelle zu errichten, war ein äußerst schwieriges Unterfangen: Das sumpfige Gelände in der Niederung des Flüsschens Serein musste trockengelegt und urbar gemacht werden; ein Kanal musste gebaut werden, um die Wasserkraft für Mühle und Schmiede zu nutzen, Fischteiche zu füllen, Brunnen zu alimentieren und das Abwasser einzuleiten.

Für die Klostergebäude und die Kirche wählte man den höchsten Punkt des Geländes, das allerdings nicht eben war: eine zusätzliche Herausforderung. Dazu kam während der Bauarbeiten der Einfluss des neuen gotischen Stils, was Umplanungen, aber auch Abriss und Neubau alter romanischer Teile zur Folge hatte.

Das nördliche Seitenschiff. Blick nach Osten.

Entstanden ist so ein eindrucksvoller Kirchenraum von ungeheurer Weite und einem blendend weißen Inneren: Die cremeweiße Farbe des hellen Kalksteins ist wunderbar erhalten und wird durch die Fenster entsprechend beleuchtet: Zum ersten Mal in Burgund wurde das Kreuzrippengewölbe verwendet, das aufgrund seiner größeren Leichtigkeit eine Erhöhung des Kirchenraums und eine Vergrößerung der Fenster ermöglichte. So tägt -neben dem hellen Kalkstein-  auch das  Licht zur festlichen Helligkeit des Raums bei und erfüllt ihn mit Leben; zumal es bei den Zisterziensern keine bunten Glasfenster gab, sondern nur solche aus farblosem Grisailleglas, durch die das Licht ungehindert den Raum erhellen konnte.

Die modernen Fenster sind von den weitgehend verlorenen Originalen inspiriert und wurden nach der Explosion eines deutschen Munitionszuges in der Nähe der Abtei 1943 eingesetzt. Die originalen Fenster gab es allerdings schon vorher nicht mehr.

Über der hohen Vierung, wo sich Langhaus und Querschiff kreuzen, wurde das erste Kreuzrippengewölbe errichtet.

Blick vom Langhaus in den Chorraum der Mönche mit dem Chorgestühl. Das Gewölbe über der Vierung ist deutlich zu erkennen, hervorgehoben auch durch die kreisrunde Öffnung, die für das Heraufziehen von Baumaterial bestimmt war.

Das Vierungsgewölbe ist mit vier Wappen geschmückt, darunter das Wappen des Mutterklosters Cîteaux: Bischofsstab und Mitra über einem Schild mit acht Lilien…

… und natürlich das von Pontigny: Mitra und Bischofsstab über einer Brücke mit Baum:

Im Chor der Kirche ist in den Boden ein Stein eingelassen mit einem Kreuz und drei Lilien in blauer Farbe. Er markiert das Grab der Adèle de Champagne.

Adèle war die Mutter des Königs Philippe Auguste – in Paris vor allem bekannt aufgrund der während seiner Regierungszeit errichteten Stadtmauer, von der noch einige Reste erhalten sind.  Adèle wurde 1205 vom damaligen Abt während zweier Tage mit ihrem Gefolge im Kloster empfangen, was einen Skandal auslöste. Keine Frau, auch keine Königin, war in einem Zisterzienserkloster zugelassen. Sogar der Papst griff ein und der Abt wurde entsprechend gerügt. Allerdings hatte der, wie Kinder in ihrem Kirchenführer schreibt, seinen Ruf nicht umsonst riskiert: Adèle hat nämlich wahrscheinlich den Bau eines neuen monumentalen Chorabschlusses mit Altarraum, Chorumgang, Kapellenkranz und den neuartigen gotischen Strebebögen finanziert…

Dort wurde sie dann auch 1206 beigesetzt.

Blick auf das südliche Querschiff, das noch im romanischen Stil gebaut wurde: Es ist niedriger und es gibt noch keine Strebebögen. Auffällig ist aber die für einen romanischen Bau außergewöhnlich große  Fensterrose: Da deutet sich der Übergang zur Gotik schon an.

Heinrich Mann und die Décade de Pontigny 1923

In der Französischen Revolution wurde das Kloster aufgelöst, seine Besitzungen versteigert. Einige Klostergebäude wurden abgerissen, die Steine benutzte man für den Bau von Häusern im Dorf.  Die Kirche blieb aber als Gotteshaus für die örtliche Gemeinde erhalten. 1906, nach der Trennung von Kirche und Staat, kaufte Paul Desjardins die Klosteranlage und machte sie zwischen 1910 und 1939 zum Ort zehntägiger Treffen von Intellektuellen und Künstlern aus ganz Europa, darunter André Gide, François Mauriac, Raymond Aron, Jean-Paul Sartre, André Malraux, T.S. Elliot, H.G. Wells, Ernst-Robert Curtius, Heinrich und Thomas Mann, Martin Buber … Insgesamt fanden über 70 Dekaden in Pontigny statt.

Desjardins war Lehrer und Professor, Schriftsteller und Journalist. Er war der Auffassung, dass Frankreich an der Schwelle des 20. Jahrhunderts von einer moralische Krise befallen sei, deren wesentliche Ursache für ihn der Materialismus war. Notwendig seien grundlegende Reformen,  eine breit angelegte „weltliche Missionsarbeit“ und der Zusammenschluss aller Menschen guten Willens, vor allem von gleichgesinnten Intellektuellen.  Zu diesem Zweck gründete er 1892 die Union pour l’Action morale. Im Zuge der Dreyfus-Affaire spaltete sich die Gruppe auf: Die Dreyfus -Gegner gründeten die ultranationalistische und antisemitische  Action française, die Dreyfus-Verteidiger mit Desjardins die Union pour la vérité. 1910 initiierte Desjardins die vom Geist des Humanismus und der internationalen intellektuellen Zusammenarbeit geprägten Décades von Pontigny: Dass die gerade in einem ehemaligen Kloster stattfanden, passte sehr gut zum quasi religiösen Ansatz des Agnostikers Desjardins.[1]

Gisèle Freund, Portrait Paul Desjardins in Pontigny 1939 © Estate Gisèle Freund/IMEC Images

Das von Desjardins entwickelte Konzept der Décades sah vor, dass sich mehrmals im Jahr jeweils eine Gruppe ausgewählter Künstler und Intellektueller für 10 Tage in Pontigny treffen sollte, um in einer ungezwungenen Atmosphäre über einen festgelegten Themenschwerpunkt aus den Bereichen der Literatur, der Religion, der Gesellschaft, der Erziehung oder der internationalen Beziehungen zu debattieren. Jede Dekade wurde von einem von Desjardins bestimmten Direktor vorbereitet und geleitet.

Die Décades wurden 1914 durch den Ausbruch des Krieges unterbrochen und 1922 wieder aufgenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten die Décades einen kosmopolitischen Ansatz, um das gemeinsame europäische Fundament des Geistes zu betonen. Es war vor allem André Gide, der dabei eine wesentliche Rolle als aktiver „recruteur“ und Organisator der literarischen Dekaden spielte und der sich besonders für die Wiederaufnahme des deutsch-französischen Dialogs einsetzte. Für die erste literarische Dekade der Nachkriegszeit standen Rainer Maria Rilke, der große Romanist Ernst Robert Curtius und der mit Gide befreundete Bernhard Groethuysen, ein Spezialist der französischen Philosophie des Ancien Régime und Diderots auf Gides „Wunschzettel“. Es war dann Curtius, der als erster Deutscher 1922 nach Pontigny kam: Deutsche einzuladen bzw. einer Einladung Folge zu leisten war ein beiderseitiges Wagnis in einer Zeit, in der der Krieg und der Versailler Vertrag das Denken in Kategorien der „Erbfeindschaft“ noch einmal bestärkt hatten.

1923 folgte dann Heinrich Mann als zweiter deutscher Teilnehmer einer literarischen Dekade. Die Einladung verdankte er dem französischen Germanisten Felix Bertaux, vor allem aber seinem Renommee als frankophilem, politisch engagiertem Schriftsteller. 1918 wurde Heinrich Manns „Untertan“ veröffentlicht, seine schon vor Kriegsbeginn abgeschlossene Abrechnung mit dem wilhelminischen Deutschland. Kurt Tucholsky nannte das Buch „das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Rohheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit.“[2]

Heinrich Mann, gleichermaßen französisch wie deutsch gebildet, war auch ein ausgewiesener Kenner und Liebhaber Frankreichs, seiner Philosophie und Literatur. Das bezeugen zahlreiche Essays, die er schon damals geschrieben hatte (weitere folgten in den 1920-er Jahren), z.B. über Rousseau, Voltaire, Choderlos de Laclos, Flaubert, Georges Sand, Talleyrand… Besonders bedeutsam war der 1915 veröffentlichte programmatische Essay über Zola, den kämpferischen Schriftsteller des „J’accuse“. Klaus Mann, Heinrichs Neffe, schrieb später dazu: „Während die ganze Nation sich an den Heldentaten unserer unbesiegbaren Armee begeisterte, wagte Heinrich Mann, dem unbesiegbaren Geist des französischen Kämpfers und Dichters ein literarisches Denkmal zu setzen.“[3] Gleichzeitig war der Essay eine leidenschaftliche Kampfschrift gegen den Krieg. In seinem einleitenden Worten zu einem Vortrag über den Zola-Essay schrieb Heinrich Mann 1916 über die Zeit Zolas, das Zweite Kaiserreich Napoleons III., aber gleichzeitig damit auch über seine Gegenwart, das Kaiserreich Wilhelms II.:

„Das zweite Kaiserreich nämlich hat schlimm geendet, mit einer Niederlage, einem Zusammenbruch, einer Katastrophe von seltener Vollständigkeit. Da aber die Reiche doch nicht zufällig zusammenbrechen, musste dieses viel gesündigt haben, es musste mit viel Unrecht beladen sein und mit viel Lüge. (…) dies Reich aber war ein Militär- und Klassenstaat, in dem der Volkswille nur gefälscht zur Geltung kam. Das Reich bestand also eigentlich entgegen dem besseren Wissen der Zeit, entgegen ihrem Gewissen. Und nicht anders war es mit dem Reichtum der Wenigen und der Armut der Vielen…“[4]

Und dazu und vor allem war Heinrich Mann ein überzeugter Europäer, tief durchdrungen auch von  der gemeinsamen europäischen Mission Frankreichs und Deutschlands „mit ihren ähnlichen und ineinander verschlungenen Schicksalen“, wie er 1923 in einem Essay über die „Anfänge Europas“ schrieb:

„So feindlich verbrüdert waren immer nur wir. Will Europa denn eins werden: zuerst wir beide! Wir sind die Wurzel. Aus uns der geeinte Kontinent, die anderen können nicht anders als uns folgen. Wir tragen die Verantwortung für uns und für den Rest.“[5]  

Mit diesem politisch-literarischen Opus hatte Heinrich Mann gewissermaßen die Eintrittskarte für die Décade von 1923 erworben und die Einladung dieses deutsch wie französisch gebildeten Schriftstellers war gewissermaßen schon eine Antwort auf das Thema der Dekade: „Gibt es in der Poesie eines Landes einen für Fremde undurchdringlichen Schatz?“.[6a] – aber trotzdem gab es Bedenklichkeiten auf französischer Seite.[6] Und Umgekehrt gab es auch eine „deutsche Missbilligung, wenn ich mit Frankreich verkehrte“, wie Heinrich Mann in seinem Erinnerungsbuch „Ein Zeitalter wird besichtigt“ schrieb.[7] Es war ja gerade die Zeit des Ruhrkampfs, französische Truppen hatten das Ruhrgebiet besetzt, die junge Republik antwortete mit einem Generalstreik,  die Inflation erreichte astronomische Höhen. Die Einladung nach Pontigny erhielt Heinrich Mann in Heringsdorf an der Ostsee: „Um dorthin zu gelangen, hatte ich einen Sack Inflationspapier im Schweiß meines Angesichts von der Bank nach Haus getragen. Schon in Berlin war er leer. Aber damit drei Personen (HM, seine Frau und seine Tochter. W.J.) ein Badehotel bewohnten, genügte ein Dollar täglich: den  hatte ich bei einem amerikanischen Korrespondenten erschrieben. Dennoch waren dies nicht die Umstände, unter denen man leichten Herzens ein reicheres Land besuchte. Überdies war es den meisten Deutschen ein feindliches, wie im Krieg: eher mehr.[8]

Wie große die Feindseligkeiten damals waren, wird auch -im Jahr der Olympischen Spiele von Paris- daran deutlich, dass Deutschland nicht nur 1920, sondern auch noch 1924 von den damaligen Olympischen Spielen von Paris ausgeschlossen war. Carl Diem, damals Generalsekretär des Deutschen Reichsausschussen für Leibesübungen, kommentierte das trotzig so: „Welcher Deutsche würde zu einem weltoffenen Fest nach Paris wollen, solange Neger in französischer Soldatenuniform am deutschen Rhein stehen!“ [8a]

Zunächst sagte Heinrich Mann die Fahrt nach Pontigny ab, nahm aber schließlich -dringlich von seinem Freund Felix Bertaux gebeten- doch an. Mit dem Zug gelangte er von Berlin aus „über eine Strecke, die zwischen Kehl und Straßburg glatt abbrach, in das nahezu verbotene Land.“[9] Weiter ging es nach Paris, wo er von Bertaux empfangen wurde, der ihn auch nach Pontigny begleitete.

Ein für die Décades als Gästehaus genutztes Gebäude im Klostergelände von Pontigny

In einer großen Rede aus dem Jahr 1927 über „Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung“ hat Heinrich Mann ausführlich über seine Zeit in Pontigny berichtet:

„Tags darauf ging es nach Pontigny. Man fährt mehrere Stunden in Richtung von Lyon, dann kurz mit einer Kleinbahn und landet in einem Dorf, das eine große alte Abtei hat. Als die Mönche sie … räumen mussten, zog Herr Paul Desjardins dort ein.. …. Seine Gäste, deren er in jedem Sommer drei Gruppen einlädt, sind jedesmal vierzig oder fünfzig, so viele das große Haus fasst. Sie gehören einigen Nationen an, sie bilden eine pädagogische, eine diplomatische und eine literarische Gruppe. Diese letzte kam diesmal mit demselben Zug vollzählig bei ihm an. … Von meiner Nationalität war ich der einzige, blieb es die ganze Zeit, stellte daher eine Art repräsentativen Musters dar und hatte Haltung zu zeigen. …

Das Innere des Gästehauses

Die Gäste kommen an. Sie beziehen ihre, auf die Gebäude des großen Grundstückes verteilten Zimmer, treffen sich beim Tee in dem gewölbten Refektorium des einstigen Klosters, unterhalten sich weiter in dem langen Laubengang des Gartens und dinieren zusammen. …

Das Refektorium der Laienbrüder[10]

Man rechnete ein wenig ab mit mir und meinem Lande, ich bekam Gelegenheit, Erklärungen zu liefern. … Es wurde als mutig anerkannt, dass ich hier sei.  …

Blick aus dem Gästehaus auf den Kanal, der das Kloster mit Wasser versorgte

Die Vormittage war man frei, draußen oder in der reichen Bibliothek zu verbringen. Ein halbe Stunde nach dem Mittagessen begann die programmäßige Vollversammlung, eine Art von literarischem Parlament. … Über den oder jenen, der jetzt den besten Willen zeigte, erfuhr ich, dass er noch kürzlich gezweifelt hatte, ob man mit Deutschen je wieder werde verkehren können. … Man verstand sich nicht immer. … Gleichwohl ist beachtenswert, dass dies einer der ersten Versuche war, sich ohne Unterschied der nationalen Herkunft zu verständigen, sogar mit soeben noch Verfeindeten. … Mein Besuch in der gotischen Abtei von Pontigny, gelegen in einem französischen Dorf, am Ende einer staubigen Straße, und einer niedrigen, breiten und lückenhaften Häuserreihe, dieser Besuch hat für meine Erinnerung etwas nur halb Wirkliches, weil er so früh kam. Man war der Verständigung, sogar ihrem ersten Vorspiel, noch fern. Wer sie wollte und bekannte, tat es auf seine Gefahr. Unsere Zusammenkunft dort hinten geschah außerhalb der Öffentlichkeit, man könnte sagen: eine Stunde vor Sonnenaufgang.“[11]

Kaminaufsatz mit mittelalterlichen Kacheln aus dem Kloster im sogenannten André Gide-Zimmer im Gästehaus[12]

Der Sonnenaufgang war dann zwei Jahre später die deutsch-französische Verständigung in den Verträgen von Locarno, unterzeichnet von den beiden Außenministern Briand und Stresemann, die ein Jahr später gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden – was gerne vergessen wird, wenn -in der Nachfolge de Gaulles- von einem neuen „30-jährigen Krieg“ von 1914-1945 die Rede ist. Schriftsteller hatten zu der deutsch-französischen Annäherung nach Krieg und Versailles nicht unwesentlich beigetragen, wie Heinrich Mann in seiner Rede von 1927 feststellte – sie waren gewissermaßen die „Vordiplomaten.“[13] Und eine erste Etappe auf dem Weg zur Verständigung war Pontigny.

Neue Perspektiven für Pontigny

Die Tradition der Décades wird inzwischen fortgesetzt von der 1952 gegründeten  Association des Amis de Pontigny-Cerisy (AAPC), die jedes Jahr im Schloss von Cerisy in der Normandie internationale Kolloquien veranstaltet.[14] Die Klosteranlage in Pontigny würde in ihrem derzeitigen Zustand kaum mehr die Durchführung solcher Veranstaltungen ermöglichen.

2022 hat nun die Region Bourgogne Franche-Comté nach langen und kontroversen Debatten die ihr gehörende Klosteranlage von 9 h an die Fondation Schneider verkauft, die im Elsass ein Zentrum zeitgenössischer Kunst betreibt. Der mit dem Mineralwasser von Wattwiller reich gewordene Namensgeber der Stiftung, François Schneider, möchte Pontigny aus seinem Dornröschenschlaf erwecken und ihm neues Leben einhauchen.

Zu diesem auf 10 Jahre ausgelegten Projekt gehören ein 4-Sterne-Hotel mit Spa und Restaurant. Aber es soll auch ein Informationszentrum zu den Zisterziensern geben, Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und ein Zentrum biologischer Landwirtschaft mit einer Destillerie[15]: Damit wird vielleicht auch an die Weinbautradition des Klosters Ponstigny angeknüpft, das bei der Entwicklung des Châblis eine wesentliche Rolle gespielt hat.[16]

Die Kirche ist von dem „pharaonischen Projekt“ direkt nicht betroffen, sie ist im Besitz der Gemeinde. Aber sie soll zum Beispiel durch Konzerte in das Projekt eingebunden werden. Die Orgel wird ja gerade schon restauriert. Einen vielversprechenden Vorgeschmack geben die originellen Reliefs auf den Pfeilern des Gehäuses.

Aber auch jetzt schon gibt es von Zeit zu Zeit große Konzerte in der Kirche und musikalische Begleitung der Besuche…

Und in der Kirche wird auch schon zeitgenössische Kunst präsentiert.

Ausstellung „entre-lacs“ von Nicole Dufour im Mittelschiff der Klosterkirche; bis 30. Oktober 2023

Literatur:

Terryl N. Kinder, Die Abtei von Pontigny. Paris: Centre des monuments nationaux 2016

François Chaubet, Paul Desjardins et les Décades de Pontigny. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaire de Septentrion 2009

François Chaubet, Les Décades de Pontigny et la N.R.F.    https://www.andre-gide.fr/images/Ressources-en-ligne/Par-BAAG/BAAG-116/BAAG116-349-366.pdf

Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1977

Heinrich Mann, Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung. 1927. In Heinrich Mann, Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge. Essays.

Heinrich Mann 1871-1950. Werk und Leben  in Dokumenten und Bildern. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1971

Chantal Simonin, Heinrich Mann et la France. Une biographie intellectuelle.  Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaire de Septentrion 2005


Anmerkungen:

[1] Jean-Pierre Cap, Les Décades de Pontigny et la Nouvelle Revue Française. Paul Desjardins, André Gide et Jean Schlumberger. In: Bulletin des Amis d’André Gide, Vol. 14, No. 69, 1986), S. 21-32

[2] Zit. in: Heinrich Mann 1871-1950. Werk und Leben  in Dokumenten und Bildern. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 14

[3] Klaus Mann 1933 über Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Zit. a.a.O., S. 153

[4] Heinrich Mann: Einleitende Worte zu einem Vortrage. In: Die Aktion. Berlin. Jahrgan 6 vom 8. Juli 1916.

[5] Heinrich Mann, Anfänge Europas. Mai 1923. In: Sieben Jahre, S. 113/114

[6] Chaubet, Paul Desjardins et les décades de Pontigny, S. 114

.[6a] „Y a-t-il dans la poésie d’un peuple un trésor réservé impénétrable aux étrangers?“ a.a.O. S. 114 Curtius und Rilke wären zu diesem Thema natürlich auch prädestiniert gewesen.

[7] Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 170

[8] Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 170

[8a] Zit aus: Hans Joachim Teichler, Nicht dabei, aber dagegen. In dieser Woche vor hundert Jahren begannen die Olympischen Spiele von Paris 1924 in Chamonix. Die Deutschen mussten zu Hause bleiben. Sie schauten grimmig zu und kommentierten bissig. In: FAZ vom 27.1.2024, S. 36

[9] Heinrich Mann, Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung, S. 310

[10] https://www.mairie-pontigny.fr/albums_148_14_1_galerie-photos-le-dortoir-et-le-refectoire-des-convers_fr.html

[11] A.a.O., S. 311-317

[12] Bild aus: https://foucautalain9.wixsite.com/patrimoine-urbain/single-post/2018/09/20/labbaye-de-pontigny

[13] A.a.O., S. 318wa

[14] https://cerisy-colloques.fr/association/

[15] https://journal-du-palais.fr/au-sommaire/hommes-et-chiffres/la-fondation-schneider-devoile-ses-ambitions-pour-l-abbaye-de-pontigny

https://www.lemoniteur.fr/article/yonne-le-domaine-de-pontigny-se-pique-d-art-contemporain.2238441

[16] Bild aus: https://www.tourisme-yonne.com/vignoblesdecouvertes/labbaye-de-pontigny-aux-origines-du-chablis

4 Gedanken zu “Die Zisterzienser-Abtei von Pontigny, die internationalen Begegnungen (Décades) und Heinrich Mann

  1. Anonymous

    Wunderbarer Beitrag über Pontigny, ja! Zu Europa und Heinrich Mann – Zeichen der Hoffnung, ja und schwer…

    Aus dem Zola-Essay Heinrich Manns: „Die Wirklichkeit ist bitter und dunkel (…) Wir können nichts tun als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden, aber von denen abzusehen schimpflich wäre.“

    Ulf Müller

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  2. Anonymous

    „Pontigny“ ist vielleicht der schönste und tiefgründigste Beitrag zum heutigen Tag der Europawahl und ein Symbol für Hoffnung.

    Irmgard Hafner

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