Paris, „capitale mondiale du vélo“, die Welt-Hauptstadt des Fahrrad-Fahrens?

Vielleicht reibt sich manche Leserin/mancher Leser dieses Blog-Beitrags die Augen: Paris, die Welt-Hauptstadt des Fahrrad-Fahrens? Soll das ein Witz sein? Nein, durchaus nicht! 2017 proklamierte nämlich Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin der Stadt, genau dies als Ziel ihrer ehrgeizigen Politik eines klimagerechten Stadtumbaus.[1]  Damals konnte das reichlich großmäulig erscheinen. Da lag nämlich Paris, was die Fahrradfreundlichkeit angeht, noch selbst hinter zahlreichen anderen französischen Städten wie Straßburg, Lyon und Bordeaux, von europäischen Fahrrad-Metropolen ganz zu schweigen. Inzwischen -2022- firmiert Paris, jedenfalls nach dem Copenhagenize-Index, hinter Kopenhagen und Amsterdam -und noch vor Münster, der deutschen Nummer 1, auf einem schmeichelhaften Platz 3 der europäischen Fahrrad-Hitliste.  2019 hatte es dort noch auf Platz 8 gelegen und 2017, als Bürgermeisterin Hidalgo ihr ehrgeiziges Ziel verkündete, auf Platz 13.[2] Einen wichtigen Impuls für diese Aufholjagd hat, wie in anderen Städten auch, die Covid-Epidemie gegeben. „Denn die Angst vor Ansteckungen mit Covid-19 hat in der französischen Metropole eine allgemeine Fahrradbegeisterung ausgelöst. Die Anzahl der Radfahrenden ist 2020 im Vergleich zum Vorjahr auf rund 30 Prozent gestiegen.“[3] Auch Streiks im öffentlichen Nahverkehr haben wesentlich die Nutzung von Fahrrädern in Paris befördert. Das gilt vor allem für die Zeit der Streiks gegen die Rentenreform 2019/2020.[4] Es gibt zwar auch andere Rankings, in denen Paris unter ferner liefen erscheint[5], unbestreitbar ist jedoch, dass Paris sich in den letzten Jahren in teilweise beeindruckender Weise verändert hat und dass davon vor allem Fußgänger und Fahrradfahrer profitieren – zu denen auch wir gehören.  Seit wir uns 2009 in Paris niedergelassen haben, bewegen wir uns in der Stadt nämlich hauptsächlich mit dem Fahrrad fort. Zunächst ausschließlich mit dem Leihfahrrad-System Vélib‘, inzwischen auch mit eigenen Fahrrädern. Wir sind also sicherlich keine unparteiischen Beobachter der aktuellen Entwicklungen, sondern freuen uns über die Fahrrad-freundliche Umgestaltung der Stadt.

Paris hat dafür ja auch außergewöhnlich gute Voraussetzungen. Die Ausdehnung der Stadt intra muros, also innerhalb des Boulevard périphérique ist mit 105qm2 relativ gering: Die Stadt ist flächenmäßig neunmal kleiner als Berlin! Die berühmten Sehenswürdigkeiten liegen nahe beieinander. Wir, beispielsweise, wohnen in der Nähe des Friedhofs Père Lachaise im 11. Arrondissement und sind mit dem Fahrrad in 7 Minuten an der place de la Nation, der place de la République oder der Place de la Bastille; zu Notre Dame, dem Louvre und dem Centre Pompidou sind es 15 Minuten, zur place de l’Étoile eine halbe Stunde. Paris von Ost (Porte Dorée am Bois de Vincennes) nach West (Porte Dauphine am Bois de Boulogne) zu durchqueren: weniger als 20 km! Die Nord-Süd-Verbindung von der Porte de la Chapelle bis zur Porte d’Orléans: sogar weniger als 10 km! Da kann man gut auf die oft überfüllte Métro verzichten! Und mit dem Fahrrad ist man sogar meist schneller unterwegs als mit dem Auto und kann vergnügt an den sich vor Ampeln oft stauenden Fahrzeugkolonnen vorbeiradeln.

Die Politik der Stadt, die Dominanz des Autoverkehrs zu reduzieren und Fußgängern und Fahrradfahrern mehr Raum zu geben, ist keine Erfindung von Anne Hidalgo, sondern wurde schon von ihrem Vorgänger Delanoë in die Wege geleitet- allerdings angesichts großer Widerstände und administrativer Hürden mit einiger Behutsamkeit. Hidalgo hat dann ab 2014 energisch und beharrlich das Projekt durchgesetzt.

Ihr Meisterstück war die Sperrung großer Teile der Seine-Tiefkais für den Autoverkehr. Eine „Zeitenwende“! Immerhin war am 22. Dezember 1967 die 13 Kilometer lange Schnellstraße („voie express“) auf der rechten Seine-Seite zwischen der porte de Saint-Cloud und dem Pont National von dem auto- und fortschrittsbegeisterten Georges Pompidou, dem damaligen Premierminister, eingeweiht worden: Paris sollte -in der Tradition des Baron Haussmann-  den Anforderungen der neuen Zeit angepasst werden;  eine autogerechte Stadt war das Ziel.

Auf der Höhe des Hôtel de Ville“ angebrachte Tafel zur Erinnerung an die Umbenennung der Uferstraße.

1975 wurde die „voie expresse rive droite“ zu Ehren ihres bedeutendsten Promoters in „Voie Georges Pompidou“ umgetauft: Die Seineufer für den Autoverkehr zu erschließen, galt damals als ein höchst verdienstvolles Unternehmen, auf das man glaubte,  stolz sein zu können.  

Dann die radikale Umkehr mit dem Beschluss, den Parisern den Fluss zurückzugeben, wie es Anne Hidalgo formulierte. Der Widerstand war gewaltig. Der kam unter anderem von dem für den Verkehr zuständigen Polizeipräfekten von Paris, der aus Sicherheitsgründen eine Einschränkung des Autoverkehrs bedenklich fand. Le Monde sprach sogar von einem „Fahrradkampf in Paris“, der zwischen der Bürgermeisterin und dem Polizeipräfekten ausgetragen werde.[6] Hidalgo befinde sich, wie der Figaro im August 2017 schrieb, in einem „offenen Krieg gegen die Autos“. Mit ihrer autofeindlichen Politik sei die Pariser Bürgermeisterin zur „Königin der Bobos“ geworden [7]   – obwohl denen doch eher nachgesagt wird, mit modischen Elektroautos oder protzigen SUVs unterwegs zu sein… Sylvain Maillard, Parlamentsabgeordneter von Paris für La République en Marche, die Partei von Präsident Macron, warf der Bürgermeisterin Dogmatismus vor und eine einseitige Förderung des Fahrradverkehrs: „Paris n’est pas l’Inde“ (Paris ist nicht Indien). [8] 

Anne Hidalgo ließ sich aber nicht von ihrem Weg abbringen. Und der Erfolg gab ihr Recht: „Die Uferpromenaden sind innerhalb eines Jahrzehnts zum Paradies für Jogger, Radfahrer und Spaziergänger geworden“, schreibt Michaela Wiegel in der FAZ. [9] „In sommerlichen Nächten werden sie von fröhlichen Restaurant- und Barbesuchern bevölkert“… oder von Menschen wie wir, die es sich mit Rotwein, Baguette und Käse am Seineufer gemütlich machen und sich dabei wie Gott in Frankreich fühlen. Und wenn gerne beklagt wird, Paris sei eine Traumstadt für Reiche aus aller Welt, dann hat man inmitten fröhlicher junger Menschen -und zwar ganz offensichtlich überwiegend Französinnen und Franzosen- diesen Eindruck ganz und gar nicht. Jedenfalls können es sich wohl auch andere politische Konstellationen heute kaum noch erlauben, hier das Rad der Zeit wieder zurückzudrehen.

Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf einer Demonstration für die Sperrung der Voie Pompidou für den Autoverkehr am 10. März 2018 an dem Pont Marie. Der Verkehr war davor schon gesperrt gewesen, zwischenzeitlich per Gerichtsbeschluss aber wieder zugelassen worden. Foto: Wolf Jöckel

Heute ist das einer unserer Lieblingsplätze von Paris. Hier rasten früher die Autos entlang…

Das Auto-freie Seine-Tiefkai rive droite. Rechts eine Kletterwand für Kinder, im Hintergrund die Türme der Conciergerie auf der Île de la Cité. (Foto: Wolf Jöckel März 2024). Insgesamt sind jetzt 7 Kilometer der Seinekais für Fußgänger und Fahrradfahrer reserviert.

winterliches Joggen und Fahrradfahren auf dem Seine-Ufer rive droite. Foto: ville de Paris

An sonnigen Wochenenden sind die Ufer derart beliebt und belegt, dass für Fahrräder kaum noch ein Durchkommen ist. Foto: Wolf Jöckel 6. 6.2024

Die weitgehende Sperrung der Seine-Ufer für den Autoverkehr war Teil eines zuerst 2015 vorgestellten und dann sukzessive ergänzten Plans zur fahrradfreundlichen Umgestaltung von Paris. (plan Vélo)

Plan Vélo von 2015. In dieser Skizze des Plans sind die geplanten Fahrradwege eingezeichnet. Grün und gelb ist wiedergegeben, was bis 2017 umgesetzt worden war. Inzwischen ist dieses System von Rad(schnell)wegen fast vollständig vorhanden. Die Stadt Paris rühmt sich, in den letzten 10 Jahren 550 km neuer Fahrradwege geschaffen zu haben. Zwischen 2019 und 2022 habe der Fahrradverkehr um 71% zugenommen. Einer im April 2024 veröffentlichten Studie zufolge habe das Fahrrad einen deutlich höheren Anteil an den Fortbewegungen in Paris als das Auto: 11,2 gegen 4,3%; den weithaus größten Teil ihrer Wege legen die Pariser allerdings zu Fuß zurück: 53,5%. [10]

Solche Schilder sah und sieht man in Paris an vielen Stellen: „Paris se transforme“ (Paris verändert sich)

Zentraler Bestandteil des Plan Vélo von 2015 war auch die Schaffung von zwei breiten, eigenständigen und durchgängigen Fahrrad-Schnellwegen auf zwei großen Nord-Süd- und Ost-West-Achsen.

Wir richten von Juli 2017 bis März 2018 einen Fahrradweg rue de Rivoli ein

Und dazu gehörte auch die Umwandlung der zentralen, von der Place de la Bastille bis zur Place de la Concorde reichenden rue de Rivoli (und der rue Saint-Antoine) in eine Straße für Fahrräder, Fußgänger und -allerdings nur noch in Ost-West-Richtung- für einen extrem eingeschränkten Autoverkehr (zugelassen sind Busse und Taxis).

Karte der noch vorläufigen Umgestaltung eines zentralen Teilstücks der rue de Rivoli vom Januar 2022.[11]

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist dsc07927-fahrrad-in-paris-5.jpg

rue de Rivoli, auf der Höhe des Kaufhauses Samaritaine (damals noch Baustelle) Foto: Wolf Jöckel, Juli 2020

Inzwischen sind die damals stellenweise noch provisorischen Fahrradspuren dauerhaft angelegt und haben zwei der ehemaligen drei Autofahrspuren übernommen.

Cyclistes, rue de Rivoli.

Die rue de Rivoli zwischen Louvre und der place de la Concorde. Links der Tuilerien-Garten. Bild: Villle de Paris (April 2024)

Die rue die Rivoli ist nicht nur Teilstück der Pariser Ost-West-Axe, und der wiederum Abschnitt des Fahrrad-Schnellwegs 1 (vélopolitain 1, ligne V1). Dieser regionale Fahrrad-Schnellweg verbindet das Geschäftsviertel La Défense mit Vincennes, entspricht also in seinem Verlauf etwa der Métro-Linie 1 (die ja übrigens auch eine automatisierte schnelle Ost-West-Verbindung darstellt.) Hier eine Markierung bei Vincennes.[12]

Der Erfolg ist beträchtlich: Am Hôtel de Ville ist ein Automat aufgestellt, der die vorbeifahrenden  Fahrräder zählt: Die obere Zahl betrifft das Jahr, die untere den Tag. Im Hintergrund der Tour Saint-Jacques.

Die 3979 Fahrräder auf der Anzeige hatten an einem trüben Februar-Tag bis mittags die rue de Rivoli passiert. An schönen Tagen sind es um die 20 000 – und an Streiktagen sicherlich noch mehr -jedenfalls werden dort immer neue Zählrekorde aufgestellt.[13]

Noch deutlich mehr frequentiert ist allerdings die Nord-Süd-Verbindung entlang des Boulevards Sebastopol, obwohl die bei weitem nicht so Fahrrad-freundlich ausgebaut ist. Da ist also angesichts der großen Ambitionen der Stadt durchaus noch Handlungsbedarf!

Daneben wurden und werden zahlreiche weitere Fahrradwege entlang der Boulevards geschaffen, Hier ein Bild von den Bauarbeiten am Boulevard Voltaire im 11. Arrondissement. Der Fahrradweg verbindet die place de la République mit der place de la Nation.

„Wir installieren einen Fahrradweg Boulevard Voltaire“ (2017/2018)

Obwohl die neuen Fahrradwege hier bei weitem nicht so breit sind wie auf der rue de Rivoli und dem Autoverkehr immer noch mehr Platz eingeräumt wird, sind auf dem Boulevard Voltaire inzwischen meist deutlich mehr Fahrräder als Autos unterwegs…. [14]

Foto: Wolf Jöckel März 2024

Interessant sind Versuche mit der Einrichtung von Fahrradstraßen, hier im 12. Arrondissement: Da dürfen zwar noch Autos fahren, jedenfalls in einer Richtung, aber die Fahrräder haben absoluten Vorrang und die Autos haben sich entsprechend anzupassen.

Zusätzliche Impulse erhält die fahrradfreundliche Umgestaltung der Stadt durch das Bemühen, Paris auch unter den Bedingungen des Klimawandels lebenswert zu erhalten: In dem entsprechenden Plan Climat 2024 – 2030 ist ausdrücklich die drastische Reduzierung des privaten Autoverkehrs vorgesehen.[15]

Und parallel dazu sollen bis 2030 180 km neue Fahrradwege in der Stadt entstehen.

Einen zusätzlichen großen Impuls für die fahrradfreundliche Umgestaltung der Stadt haben die Olympischen Spiele 2024 gegeben, die im Juli/August (vor allem) in Paris ausgetragen werden.

Schild an der rue du Faubourg Saint-Antoine „Hier wird auf Dauer eine Fahrradspur eingerichtet – für die Olympischen Spiele und für lange danach“

Eine der größten Befürchtungen und Risiken, die es bezüglich dieses Großereignisses gibt, bezieht sich auf den Verkehr und das sowieso schon notorisch überlastete und teilweise auch fragile System des öffentlichen Nahverkehrs. Als Alternative bietet sich gerade in Paris das Fahrrad an. Angestrebt wird, alle über die Stadt verteilten Wettkampfstätten mit dem Fahrrad zu erreichen. Dafür wird gerade das Netz der Fahrradwege weiter ausgebaut.

Karte der Fahrradwege für die Olympischen Spiele von Paris. [16]

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die fahrradfreundliche Umgestaltung des Quai Jacques Chirac im 7. Arrondissement. Die großen neuen Fahrradwege sollen als „olympisches Erbe“ auch nach den Spielen den Pariserinnen und Parisern -und den Gästen der Stadt- zur Verfügung stehen.[17]

Aber auch nach den Olympischen Spielen soll der Stadtumbau weitergehen: Unmittelbar danach „soll eine erste verkehrsberuhigte Zone eröffnet werden. Sie soll für das Zentrum der Hauptstadt gelten und entspricht den ersten vier Arrondissements sowie Teilen des fünften, sechsten und siebten Arrondissements. Dieses Gebiet soll nach den Plänen Hidalgos für den Durchgangsverkehr geschlossen werden.“[18] Die Fahrradfahrer werden  sich freuen.

Immerhin sind bisher schon an Wochenenden zahlreiche Straßen für den normalen Durchgangsverkehr gesperrt – so die rue de la Roquette in „unserem“ 11. Arrondissement.

Ganz oben auf der Liste des ökologischen und damit auch fahrradfreundlichen Stadtumbaus steht auch die nach den Olympischen Spielen geplante Umgestaltung der Place de la Concorde ….

… und der Umgebung des Eiffelturms (Trocadéro, pont d’Iéna), die ebenfalls begrünt und Fußgänger- und Fahrradfahrer-freundlich umgestaltet werden soll. [19]

Und nach den Olympischen Spielen sollen auch die Champs-Elysées weiter begrünt werden, und es soll mehr Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer geben.

So jedenfalls sollen die Champs-Élysées nach einem aktuellen Vorschlag 2030 aussehen. „Die Straße soll viel grüner werden, mit Oasen des schattigen Verweilens, mit breiteren Radwegen. Aus sechs Spuren sollen vier werden.“ [20]

Zur fahrradfreundlichen Umgestaltung der Stadt tragen aber auch manche weniger spektakuläre Erleichterungen für Fahrradfahrer im „normalen Verkehr“ bei.

So dürfen Fahrradfahrer die meisten Einbahnstraßen auch in Gegenrichtung befahren. Und dies schon seit Jahren, als es noch -jedenfalls bei uns zu Hause in Deutschland- noch nicht üblich war.

Oder sie dürfen an vielen Kreuzungen auch bei Rot rechts abbiegen: vielfach ein erheblicher Vorteil gegenüber dem Autoverkehr. Und die Autos, die dann darauf warten, endlich bei Grün rechts abbiegen zu können, sind gezwungen, den geradeaus fahrenden Fahrradfahrern Vorfahrt zu lassen – die dieses Recht allerdings manchmal nur mit großer Entschiedenheit durchsetzen können… Auch viele Fußgängerüberwege dürfen Fahrräder trotz roter Ampel überfahren, wobei Fußgänger hier natürlich den (nicht immer gewährten) Vortritt haben.

Auf vielen Boulevards dürfen Fahrräder auch die für Busse und Taxis reservierten Fahrspuren benutzen, auch wenn das manchen Automobilisten nicht gefällt. Die Gefahr übrigens, dort von stinkenden und gesundheitsgefährdenden Abgasen benebelt zu werden, verringert sich ständig und spürbar: Ein großer Teil der Pariser Busse fährt elektrisch, Taxis entsprechend.  Den deutsch-französischen Streit über die Umweltfreundlichkeit des in Frankreich überwiegend von Atomkraftwerken erzeugten Stroms klammern wir hier einmal aus. (Dass in Frankreich allerdings mit einiger Häme auf Deutschland geblickt wird, das seine letzten AKWs abgeschaltet hat, nun aber Atomstrom aus Frankreich importiert, sei aber doch angemerkt).

Und wie kommt man zu einem Fahrrad? Ganz einfach! Es gibt vor allem die öffentlich geförderten Vélib‘-Fahrräder. Mehrere interessante Tarif-Varianten stehen zur Auswahl: für eine einzelne Fahrt, für einen oder mehrere Tage; und das jeweils für mechanische oder Elektro-Räder. Und die sind an ihrer Farbe zu erkennen: grün für mechanisch, blau für Elektro.[21]

Stationen zum Ausleihen und wieder Zurückgeben gibt es in Paris in Hülle und Fülle. Es sind insgesamt etwa 1500 in Paris und seinem Umland, nach Vélib‘ „le plus grand réseau de vélos en libre-service du monde.“ (Le Parisien 11.3.2024)

https://www.plandeparis.info/stations-velib-paris/plan-stations-velib-paris.html

Man kann aber auch ein Elektro-Bike eines privaten Anbieters ausleihen. Die stehen (bzw. manchmal auch: liegen) da herum, wo sie der letzte Nutzer hinterlassen hat und man kann sie auch entsprechend wieder loswerden…

Werbung des privaten Anbieters Lime/Uber: Eine Variation des bekannten Slogans Métro/Boulot/Dodo (Metro, Arbeit, Schlaf), der den Tagesablauf des Parisers bezeichnen soll.
Die Stadt Paris fördert den Kauf von Elektrofahrrädern, um so zum Umstieg vom Auto auf das Fahrrad zu motivieren.

Dieses Plakat habe ich 2017 aufgenommen. So lange gibt es also schon diese Förderung; allerdings inzwischen etwas eingeschränkt: Die Fördersumme beträgt jetzt nur noch 400 Euro, und für Elektroscooter gibt es kein Geld mehr. [22] Höher ist die Förderung für Lastenfahrräder, die in Paris sehr beliebt sind. Viele Geschäfte/Warenhausketten wie Monoprix oder Casino bieten inzwischen häusliche Belieferung mit Lastenfahrrädern an.

Lastenfahrrad der Warenhauskette Monoprix [23]

Und es werden nicht nur Lebensmittel und andere Waren mit Lastenfahrrädern transportiert…. Diese Hunde werden tagsüber von einem professionellen „Hunde-Sitter“ betreut. Für ein Foto haben sie auf dem Weg zum Auslauf im Bois de la Vincennes angehalten. Foto: Wolf Jöckel März 2024

Das Fahrrad hat also seinen festen Platz in der Stadt, was sich unter anderem auch daran zeigt, dass es inzwischen schon Gegenstand der Street-Art geworden ist.

Ein Fahrradfahrer des Invaders rue de la Roquette 11. Arrondissement. An ihm fahren wir immer auf dem Weg von der place de la Bastille zurück in unsere Wohnung vorbei. (Aufgenommen Februar 2024)

Als Paris-Souvenire gibt es auch schon Tassen und Tragetaschen mit den entsprechenden Fahrrad-Motiven (Fotos: F.Jöckel)

Und auf dem aktuellen Werbeplakat für die Paris-Aussstellung im Hôtel de ville sieht man hinter den fröhlichen Schwimmern in der sauberen Seine unter dem obligatorischen Eiffelturm und zwischen frischem Grün einen Fahrradfahrer: Das neue Paris!

Ein Paradies für Fahrradfahrer ist Paris aber (noch lange) nicht. Probleme gibt es nämlich durchaus genug.

Da sind zum Beispiel die alten Fahrradwege- die gibt es ja immerhin auch. Aber die sind arg eng: Als die angelegt wurden, gab es ja noch keine schnellen Elektrobikes und noch keine breiten, manchmal sogar dreirädrigen Lastenfahrräder. Da gibt es manchmal ziemlich waghalsige und oft auch nicht durch deutliche Signale angekündigte Überholmanöver, und ich wundere mich, dass es nicht öfters zu Karambolagen zwischen Fahrradfahrern kommt.

Offenbar gibt es sogar schon eine Kampagne, dass Lastenfahrräder nicht mehr die Fahrradwege benutzen sollen. (No -Fahrrad- SUV-Zone) Foto Wolf Jöckel März 2024

Aber die Stadt Paris hat das Problem der vielfach zu engen Fahrradwege erkannt: Manche selbst neu eingerichtete Fahrradspuren wurden -wie hier auf dem Boulevard Henri IV (4. Arrondissement)- inzwischen schon verbreitert. Das war da immerhin relativ leicht möglich, weil nur die alten Markierungen durch neue ersetzt werden mussten.

Ein Problem sind oft auch die Einbahnstraßen.

Rue de Charenton (XIIe)

Es ist ja gut gemeint, dass Fahrräder sie meist auch in Gegenrichtung nutzen können.  Aber wie soll man zum Beispiel hier, wie auch an vielen anderen entsprechenden Stellen, von seinem Recht Gebrauch machen, die Straße in Gegenrichtung zu beradeln? Wenn da ein Auto entgegenkommt, bleibt einem manchmal keine andere Wahl, als auf den (oft auch schmalen) Bürgersteig auszuweichen. Die Fußgänger dort goutieren das verständlicher Weise natürlich nicht…

Ein großes Problem ist auch der Vandalismus, deren Opfer die Vélib‘ – Fahrräder oft sind. Darauf muss man unbedingt achten, wenn man ein Fahrrad ausleiht, auch wenn keine zusätzlichen Kosten entstehen, wenn man das ausgeliehene Fahrrad direkt nach Entdeckung eines Schadens wieder zurückgibt.

Dass der Sattel fehlt, wird man gleich bemerken, aber manchmal fehlt auch die Kette, und eine Überprüfung der Bremsen und der Luft in den Rädern ist unbedingt zu empfehlen.

Für Paris-Besucher, die nur gelegentlich ein Fahrrad ausleihen, ist das kein Problem, für Einheimische oder länger dort Wohnende wie wir aber schon: Für 81% der Pariser, die bisher auf die Anschaffung eines Fahrrads verzichten, ist die Furcht vor Diebstahl bzw. der Mangel an gesicherten Abstellplätzen der ausschlaggebende Faktor. [24] Auch wenn die offiziellen Zahlen das nicht widerspiegeln: Fahrräder sind ein beliebtes Objekt von Diebstählen. Wir haben da selbt leidvolle Erfahrungen gemacht: Ein Fahrrad wurde gegenüber unserer Wohnung nachts gestohlen, obwohl es fest an einem Laternenpfahl angeschlossen war. Ein anderes während einer Chorprobe an einem belebten Platz – allerdings bei  strömendem Regen. Der Clou war dann, dass uns am hellichten Tag ein Fahrrad, neben dem wir standen, auf einer belebten Straße gestohlen wurde, als wir es für einige Sekunden (!) aus dem Auge ließen. Seitdem verstehe ich, warum mein Zeitungshändler mich auffordert, mein Fahrrad selbst dann abzuschließen oder in den Kiosk hineinzunehmen,  wenn ich von dem Pariser Privileg Gebrauch mache, am frühen Nachmittag schon die Ausgabe des kommenden Tages von Le Monde zu kaufen.

Und seitdem schließen wir unsere Räder mit schweren Ketten ab, die fast so teuer waren wie die Fahrräder selbst… Und nachts stellen wir unsere Räder immer in dem kleinen, ursprünglich nur für die Mülltonnen bestimmten Innenhof unseres Hauses ab, der allerdings dem zunehmenden Bedarf an Fahrrad-Abstellplätzen für Hausbewohner kaum noch gewachsen ist…

Aber aller solcher Unbilden zum Trotz: Auch wenn Paris noch nicht die Welthauptstadt des Fahrrads ist – und es vielleicht auch nie werden wird: Vergleicht man 2009, als wir unser pied-à-terre in Paris bezogen haben, mit der Situation heute, hat sich Paris seitdem in atemberaubender Geschwindigkeit verändert: Das Fahrrad hat einen festen, manchmal sogar privilegierten Platz im städtischen Raum erhalten – und auch in unserem Pariser Leben. Meist ist es ein Vergnügen, durch die Stadt zu radeln: Zum Beispiel zum Einkaufen auf dem marché d’Aligre, nach Belleville ins Schwimmbad Alfred Nakache, zu einem Konzert der jeunes talents in die Archives Nationales im Marais, ins Grüne über die Coulée verte zum Lac Daumesnil, zum Kaffeetrinken im Grand Bleu an den Port de l’Arsenal/place de la Bastille,  zur Seine zum abendlichen Picknick… und…und… und…


Anmerkungen:

[1] https://www.lemonde.fr/blog/transports/2019/07/08/paris-capitale-mondiale-du-velo-on-en-est-loin/

http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2017/02/16/01016-20170216ARTFIG00133-le-plan-velo-prend-du-retard-a-paris.php

[2] https://www.bikes.de/magazin/bike-life/reise/fahrradfreundliche-staedte-in-europa

[3] https://www.signal-iduna.de/hausratversicherung/fahrradversicherung/fahrradfreundlichste-staedte-der-welt-blog.php

[4] https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2019/12/20/greve-des-transports-deux-fois-plus-de-velos-que-de-voitures-sur-un-boulevard-de-paris_6023593_4355770.html

[5] Siehe: https://pedalandtringtring.com/2022/08/25/most-bike-friendly-cities-in-the-world-2022-study/ Hier ist die europäische Rangliste:  Utrecht, Münster, Antwerpen, Kopenhagen, Amsterdam, Malmö, Bern, Bremen, Hannover und Straßburg… Paris ist da also noch nicht einmal unter den  ersten 10 europäischen Fahrrad-Städten aufgeführt

[6] „La bataille du vélo à Paris, entre la maire et le  préfet. Hidalgo veut supprimer une voie pour les voitures rue de Rivoli, la police s’en alarme au nom de la sécurité.“ (Le Monde 16. August 2017, S. 9)

[7] http://www.lefigaro.fr/politique/2017/08/25/01002-20170825ARTFIG00053-anne-hidalgo-les-folies-de-la-reine-des-bobos.php

[8] Le Figaro, 25. August 2017, S. 9

[9] Michaela Wiegel, Sie führt Paris ins Grüne. Im Ausland wird sie gefeiert, in Frankreich wird sie angefeindet: Bürgermeisterin Anne Hidalgo erfindet die Stadt neu – rechtzeitig vor den Olympischen Spielen. In: FAZ magazin Februar 2024

[10] Ville de Paris, 10 ans de transformation écologique. mise à jour 25.3.2024 https://www.paris.fr/pages/dix-ans-de-transformation-de-paris-au-service-des-parisiennes-et-des-parisiens-26671?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=s13

https://www.paris.fr/pages/inedit-le-velo-surpasse-la-voiture-a-paris-et-en-petite-couronne-et-de-loin-26832?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=s15

Siehe auch: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/2017/02/16/01016-20170216ARTFIG00133-le-plan-velo-prend-du-retard-a-paris.php und Ville de Paris: Se déplacer sans polluer et en toute sécurité. In: À Paris. Le Magazin. Hiver 2023/2024, S. 20

[11] https://www.paris.fr/pages/la-rue-de-rivoli-reservee-aux-pietons-et-aux-velos-7792

[12] https://fr.wikipedia.org/wiki/V%C3%A9lopolitain von: Chabe01

[13] https://www.bfmtv.com/paris/paris-des-records-de-frequentation-sur-les-pistes-cyclables-en-cette-rentree_AV-202309070377.html

[14] https://www.radiofrance.fr/franceinter/paris-certains-boulevards-sont-dorenavant-plus-empruntes-par-des-velos-que-par-des-voitures-7769764

[15] https://www.paris.fr/pages/plus-vite-plus-local-plus-juste-le-nouveau-plan-climat-de-paris-25469

[16]  Crédit photo:Ville de Paris  https://www.paris.fr/pages/en-2024-tous-les-sites-olympiques-seront-accessibles-a-velo-23154 Dort auch das nachfolgende Bild des Quai Jacques Chirac.

[17] https://www.paris.fr/pages/en-2024-tous-les-sites-olympiques-seront-accessibles-a-velo-23154

[18] Michaela Wiegel, Sie führt Paris ins Grüne. Im Ausland wird sie gefeiert, in Frankreich wird sie angefeindet: Bürgermeisterin Anne Hidalgo erfindet die Stadt neu – rechtzeitig vor den Olympischen Spielen. In: FAZ magazin Februar 2024, S. 33

[19] Bild aus: https://www.paris.fr/pages/plus-vert-plus-pieton-et-apaise-le-secteur-trocadero-iena-va-se-reinventer-26586 

[20] Bild aus Le Parisien vom 28. Mai 2024. Dazu ein Artikel über die Reaktionen auf dieses Projekt: „Parmi les principales mesures proposées ce lundi par le Comité Champs-Élysées pour réenchanter l’avenue figurent l’élargissement des espaces piétons et cyclistes ainsi que la réduction des voies automobilistes. Encore à l’état de projet, ces propositions divisent les usagers“. Siehe auch den Artikel „150 proposition pour réenchanter les Champs-Élysées“ in der gleichen Ausgabe der Zeitung . Zitat aus: Süddeutsche Zeitung: Oh Champs-Élysées. Die berühmte Avenue ist zum Unort geworden, zum touristischen Kommerztempel. Wie Paris es schaffen will, dass sich die Bürger wieder in ihre einstige Prachtstraße verlieben. SZ vom 31.5.2024. Siehe auch: https://www.paris.fr/pages/les-champs-elysees-se-refont-une-beaute-21040

[21] Bild aus Le Parisien vom 10.3.2024 https://www.leparisien.fr/info-paris-ile-de-france-oise/transports/grand-paris-ces-velos-neufs-qui-redorent-un-peu-limage-de-velib-10-03-2024

Genaue Information auf Deutsch zum Ausleihen der Vélib‘-Fahrräder: https://www.parismalanders.com/fahrrad-leihen-paris-velib/

[22]https://parisenselle.fr/subventions/#:~:text=Depuis%20le%2020%20avril%202023,adapt%C3%A9%20jusqu’%C3%A0%201200%20%E2%82%AC

[23] https://www.leparisien.fr/paris-75/a-paris-monoprix-remplace-ses-camionnettes-de-livraison-par-des-velos-cargo-14-12-2020-8414187.php  Siehe auch: https://www.leparisien.fr/paris-75/a-paris-monoprix-remplace-ses-camionnettes-de-livraison-par-des-velos-cargo-14-12-2020-8414187.php 

[24] https://www.paris.fr/pages/un-nouveau-plan-velo-pour-une-ville-100-cyclable-19554 vom 28.3.2024. Zum neuen Fahrradplan der Stadt Paris gehört deshalb auch der Ausbau der gesicherten Abstellmöglichkeiten für Fahrräder.

5 Gedanken zu “Paris, „capitale mondiale du vélo“, die Welt-Hauptstadt des Fahrrad-Fahrens?

  1. Anonymous

    Lieber Herr Jöckel, die Entwicklung von Paris zur Fahrrad-freundlichen Kapitale ist für Leute, die fahrradfahren können, sicherlich erfreulich. Für andere, wie für mich und meine Frau, die dies aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr können, auch öffentliche Verkehrmittel kaum benützen können, zu Fuß nur kurze Strecken be-wältigen können und somit auf das Auto angewiesen sind, ist diese Entwicklung weniger erfreulich: ständige Staus, kaum noch Parkmöglichkeiten, rücksichtslose Fahrradfahrer/innen. Darüberhinaus erlebe ich, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, jedesmal und gleich mehrfach, dass Verkehrsregeln für Fahrradfahrer nicht zu gelten scheinen. Herzlichen Gruß Ulrich Schläger.

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    1. Ja, lieber Herr Schläger, da haben Sie schon Recht. Wir haben Bekannte in Paris, die (noch) älter sind als wir, die nehmen deshalb gerne ein Taxi. Die gibt es reichlich, und sie dürfen auch die weniger stauanfälligen separaten Busspuren benutzen. Das ist natürlich auch eine Frage des Geldes, aber wer kann es sich überhaupt leisten, in Paris zu wohnen… ?! Herzliche Grüße zurück Wolf Jöckel
      (Wir hoffen jedenfalls sehr, dass wir noch möglichst lange in Paris fahrradtauglich sind).

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  2. Pingback: jetzt juni

  3. susanneweyrich

    }

    Lieber Wolf,mal wieder ein toller toller Artikel von dir!!! Habe ihn gleich zweimal gelesen.Liebe Grüße an dich und an Paris!Susanne

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